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Universalismus versus Partikularismus Die Menschenrechte der dritten Generation | APuZ 46-47/1998 | bpb.de

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APuZ 46-47/1998 Die Vereinten Nationen und der internationale Schutz der Menschenrechte Eine Bestandsaufnahme Minderheitenpolitik und Völkerrecht Universalismus versus Partikularismus Die Menschenrechte der dritten Generation Menschenrechtsschutz durch Nichtregierungsorganisationen Die Macht der Menschenrechte Zur innenpolitischen Durchsetzung internationaler Normen Artikel 1

Universalismus versus Partikularismus Die Menschenrechte der dritten Generation

Gerhard Stuby

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Menschenrechtsidee, wie sie ihren Niederschlag in den amerikanischen und französischen revolutionären Verfassungsdokumenten gefunden hat. ist ein Produkt der europäischen Aufklärung. Zweifellos wurde und wird sie gegenwärtig auch noch zur Legitimierung neokolonialistischer und neoimperialistischer Zielsetzungen mißbraucht. Ihre universelle humane Botschaft bleibt dennoch bestehen, wie sie die Vereinten Nationen in ihrer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 zum Ausdruck brachten, die sich explizit gegen die Negierung dieser Botschaft durch den Nationalsozialismus in Ideologie und Praxis wandte. Über ideologische (bürgerlich-liberal/sozialistisch-kommunistisch, nicht nur als Ost-West-Konflikt), soziale (Arbeit/Kapital, Industrieländer/Dritte Welt) und kulturelle (Christentum/Islam/Konfuzianismus) Unterschiede hinweg vereinbarte man ein universell verstandenes Menschenrechtsprogramm. In den Menschenrechtspakten von 1966 und den großen Antidiskriminierungskonventionen wurde dieses universalistische Programm bestätigt, erweitert und präzisiert, einschließlich eines internationalen, differenzierten Überwachungsinstrumentariums. Die Menschenrechte der dritten Generation stellen einen Versuch, vornehmlich der Länder der Dritten Welt, dar, die stark vom einzelnen Individuum und Nationalstaat her geprägte Sicht der Menschenrechte der ersten und zweiten Generation den komplexeren Bedingungen der heutigen internationalen Beziehungen durch die Einführung von sozialstaatlichen Solidaritätsaspekten anzupassen. Dieser Prozeß ist noch nicht abgeschlossen, er stagniert sogar im Augenblick, wie z. B. die Ergebnisse’auf der Weltmenschenrechtskonferenz der UNO von 1993 zeigen. Der verbreiteten Interpretation allerdings, daß hier eine Auf-kündigung des universellen Inhalts der Menschenrechte zugunsten einer Berufung auf „kulturelle Differenz“ stattgefunden habe, wird widersprochen. Der universelle Kern der Menschenrechte, der sich nicht nur auf die erste Generation bezieht, sondern die zweite mit enthält und sogar schon Elemente der dritten Generation aufnimmt, wurde vielmehr präzisiert und bestätigt.

I. Einleitung

Eine leichte Bewegung eines schlafenden Elefanten, der seine Lage bequemer machen wolle, könne eine gesamte Kolonie Ameisen zerstören, bemerkte der südafrikanische Vizepräsident Mbeki auf dem gerade zu Ende gegangenen Gipfeltreffen der Blockfreien in Durban. Diese Einschätzung der Folgen der „Globalisierung“ der „freien“ Weltwirtschaft, deren Mechanismen nach dem Wegfall der letzten Hemmnisse sich immer ungehinderter entfalten und der Mehrheit der Weltbevölkerung in der Dritten Welt wenig Gutes verheißen, ist treffend. Diese realistische Einstellung mag dazu beigetragen haben, daß die Erklärungen von Durban hinsichtlich der Menschenrechte auf den ersten Blick eher auf der Linie westlicher Vorstellungen lagen als die der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien von 1993: Menschenrechte seien universell gültig und unteilbar und müßten unabhängig von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Systemen gewahrt werden

Die islamisch-konfuzianische Herausforderung an die Universalität der Menschenrechte, wie sie besonders schwarz Samuel Huntington an die Wand malte, scheint eingedämmt wenn auch die westlichen Befürchtungen hinsichtlich der Menschenrechtssituation in der Dritten Welt weiter bestehen dürften. Denn trotz aller Unterschiede in der Einschätzung der „Bedrohung“ durch asiatische, afrikanische oder gar südamerikanische Werte, einig ist man sich im Verständnis dessen, was unter Universalität der Menschenrechte zu verstehen sei

Unterschiedliche Auffassungen der Menschenrechte bestehen darüber, wie der Herausforderung durch andere Kulturen begegnet werden könnte. Huntington befürwortet, wenn auch als Ultima ratio, eine Sicherung der Universalität durch militärische Gewalt, und, falls eine kollektive Aktion nicht zustande kommt, durch einen amerikanischen Alleingang. Die jüngsten „chirurgischen“ Schläge der Clinton-Administration gegen „islamische Terrorbasen“ und das durchweg positive Echo in den vom Westen beherrschten Medien -in Durban allerdings wurde die amerikanische Antwort weniger freudig begrüßt -belegen, wie sehr Huntington den Konsens der westlichen Eliten wiedergibt. Die Kritik, wenn sie sich denn äußert, ist spärlich und schüchtern und richtet sich zudem nicht gegen das Prinzip humanitärer Intervention bei massiven Menschenrechtsverletzungen -das waren die Anschläge auf amerikanische Botschaften und Einrichtungen zweifellos -, sondern höchstens gegen die nicht eindeutigen Beweise für eine Verknüpfung mit den ausgewählten Vergeltungszielen. Auf weniger „handfester“, dafür mehr theoretischer Ebene befinden sich Empfehlungen, die Diskussion über die Frage der Universalität von Menschenrechten rigoros auf Mindeststandards zu reduzieren, denn jede Inflationierung und Ausweitung des Forderungskatalogs (Recht auf alles) sei kontraproduktiv Wichtiger sei zudem die Effektivierung der Garantie, einschließlich militärisch interventionistischer Maßnahmen Scheinbar völlig entgegengesetzt sind Forderungen, zunächst einmal die grundsätzliche „kulturelle Differenz“, die mit der Einführung asiatischer oder anderer Werte offenbar geworden sei, zu akzeptieren und von der gegenseitigen Akzeptanz der Differenz her gemeinsame Standards zu suchen Auch die beiden zuletzt genannten Positionen gehen mehr oder weniger ebenso wie Huntington davon aus, daß der Universalismus der internationalen Menschenrechte in einem ganz bestimmten, nämlich in einem euro-atlantischen Sinne -die erstere bejahend, die zweite distanziert -zu verstehen sei.

Von einer juridischen Position (Habermas) her soll im folgenden gefragt werden, ob diese Auffassung von Universalität im Völkerrecht eine Bestätigung findet. Was ist unter Universalität der Menschenrechte zu verstehen? Welche Hinweise gibt der Entstehungsprozeß der Menschenrechtserklärung von 1948? Welche Veränderungen vollzogen sich im Universalitätsverständnis bei der Ausgestaltung der beiden UN-Pakte von 1966 und der großen Antidiskriminierungskonventionen vom März 1966? Kündigen die Menschenrechte der dritten Generation einen Bruch mit der bisherigen Konzeption von Universalität an?

II. Die vergessene Antwort der Allgemeinen Menschenrechts-erklärung von 1948

Sogar ein Erzähler mit der meisterlichen Kapazität eines Friedrich Dürrenmatt hätte Schwierigkeiten, wenn es um das Thema der Entstehungsgeschichte der Menschenrechte ginge. War denn die Intention der Beglückung der Menschheit in der „paragraphierten Aufklärungsphilosophie“ von 1776 und 1789 nicht von Anfang an doppelbödig und gefährlich gewesen? Wurde denn nicht bestenfalls in „heroischer Selbsttäuschung“ (Marx) ein Programm als allgemein menschlich bezeichnet, das den Profitmechanismus unterstützte nach dem Motto: Was für den Bourgeois gut ist, ist für den Bürger gut, was den Ruhm Frankreichs {gloire de la France) vermehrt, bekommt der Menschheit, später dann profaner, was für Ford gut, ist gut für Amerika und die Welt Mußte denn nicht in heftigen Kämpfen die aufklärerische Borniertheit und Arroganz erst aufgebrochen werden, damit Menschenrechte für Sklaven, Arbeiter, Frauen, Juden, Zigeuner, Schwule und Asylanten erst überhaupt erkannt werden konnten

Dabei war eine banale Dialektik von einebnender und alle Werte vernachlässigender Profitgier auf der einen Seite und einer Emanzipationsschübe erzeugenden Dynamik der Parolen Freiheit und Gleichheit mit ausgleichender Brüderlichkeit auf der anderen entstanden, auf die sich die Arbeiterbewegung aller Schattierungen berief

Die Nationalsozialisten registrierten diesen Prozeß in der Gesellschaft sehr genau, der ihrem Appell an den nackten Machtinstinkt zuwiderlief. 1789 und die ganze seit dieser Epoche vollzogene Entwicklung der Gesellschaft sei rückgängig zu machen, um die großdeutsche Nation zu erneuern, so Josef Goebbels. Nur unter artgleichen Individuen, Gruppen oder Völkern könne es genossenschaftliche Beziehungen, ausgerichtet am Führerprinzip, geben. Andersartige, vor allem die Juden in Deutschland, wegen ihrer Forderungen nach Gleichheit und Integration stellten eine latente Gefahr für den germanischen Rassekern des deutschen Volkes dar Ausgrenzung, Abstoßung, Beseitigung und Vernichtung waren somit gedanklich schon angelegt. Der Nationalsozialismus begriff sich selbst als Angriff auf die bisherige Zivilisation, und die Umsetzung in Aggression und Genozid nach innen und außen in bisher nicht gekannter Konsequenz und Gründlichkeit entsprach der verkündeten Konzeption.

Dies war auch der Erfahrungshorizont, auf den die Alliierten nach ihrem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland mit einem Programm für die Gestaltung der internationalen Beziehungen reagierten. In der Präambel der Charta der Vereinten Nationen ist sie nach wie vor am präzisesten zusammengefaßt: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen sind fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte der Menschen, Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können.“

Hier drückt sich ein Verständnis von Universalität der Menschenrechte aus, das angesichts der genannten Erfahrungen unproblematisch und eindeutig erscheint. Auch die Behauptung der „Widernatürlichkeit“ dieses Bündnisses, der Anti-Hitler-Koalition, wie es damals allgemein genannt wurde, tat der Universalität keinen Abbruch. Angesprochen durch die Kritik war mit Blick auf die Beteiligung der Sowjetunion die Differenz des Gesellschafts-und Staatssystems, insbesondere das unterschiedliche Demokratieverständnis oder anders ausgedrückt die unterschiedliche Auffassung über Entstehung, Stellung und Funktion von Menschenrechten. Einigen konnten sich jedenfalls zu dieser Zeit die „widernatürlichen“ Partner auf ein umfassendes Programm der Behandlung Deutschlands (Potsdamer Abkommen) und in San Francisco auf die Charta der Vereinten Nationen. Der, zugegeben, immer dünner werdende Konsens -er wurde dann zu Beginn des Kalten Krieges 1948 mit der Fulton-Rede Churchills, und zwar unter Berufung auf die (angloamerikanische) Universalität der Menschenrechte, aufgekündigt -reichte gerade noch, um die allgemeine Menschenrechtserklärung zu verabschieden War nun diese Erklärung, die explizit als allgemeine (universelle) bezeichnet wurde, lediglich ein Formelkompromiß, der sich dann nach 1989 mit dem Untergang des als antagonistisch empfundenen kommunistischen Staats-und Gesellschafts-

Systems in einen echten Universalismus verwandelte, oder wurde hier ein dritter Inhalt zwischen den Partnern vereinbart und wenn ja, welcher?

Zunächst einmal war die Übereinstimmung negativ gegen die gerade besiegte Nationalsozialistische Diktatur ausgerichtet. „Ein soziales System bleibt natürlich ausdrücklich von der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen ausgeschlossen: der Faschismus, oder seine deutsche Form -der Nazismus. Für diesen Ausschluß gibt es unverkennbar gesunde philosophische Grundsätze: die faschistischen und nazistischen Philosophien beschränken nicht nur in ihren praktischen Anwendungen, sondern auch formell in ihren Prinzipien Auffassungen wie den Begriff der Menschenverbrüderung, die Anschauung, daß die menschlichen Wesen gleiche und unveräußerliche Rechte haben ohne Rücksicht auf Rasse, Farbe oder Geschlecht und alle philosophischen und geschichtlichen Errungenschaften der Demokratie und des menschlichen Geistes, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert verwirklicht wurden.“

Dieses Zitat auf einem Symposium von Wissenschaftlern aller Fakultäten und Kulturkreise, das die UNESCO zur Vorbereitung der Formulierung der Menschenrechtserklärung 1947 veranstaltete zeigt deutlich, daß die Ablehnung des gemeinsam niedergerungenen nationalsozialistischen Systems sich nicht in der puren Negation erschöpfte. Der Nationalsozialismus wurde als Negation der Zivilisation schlechthin begriffen. Die Negation dieser Negation beinhaltete die Bestätigung des zuvor bedrohten zivilisatorischen gemeinsamen Erbes. Der Rückbezug in Inhalt und Form der Erklärung von 1948 auf die Erklärung von 1789 kam also nicht von ungefähr. Auch der Kontext der Londoner Vereinbarungen der Alliierten vom August 1946 zur Einrichtung eines internationalen Militär-gerichtshofes in Nürnberg zur Aburteilung und Bestrafung der nationalsozialistischen Hauptverbrecher muß in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Die in Art. 6 zusammengefaßten Verbrechenskategorien (Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) stellen den inhaltlichen Kern der Ablehnung der systematischen und massenhaften Menschenrechtsverletzung durch das nationalsozialistische Regime dar. Sie sind sozusagen die negative Folie, auf der das positive Gerüst der Menschenrechtserklärung von 1948 aufgebaut wurde.

Die inhaltliche Übereinstimmung erschöpfte sich nämlich nicht in der Bestätigung der zivilisatorischen Essentials, sondern ging darüber hinaus. Selbstverständlich waren alle traditionellen liberalen Grundrechte angesprochen wie Diskriminierungsverbote und justitielle Grundrechte. Aber in diesem Katalog waren auch schon Rechte aufgenommen. die nicht in allen Staaten bürgerlich-liberaler Tradition üblich waren wie ein Asylrecht und ein Recht auf Staatsangehörigkeit.

Der zweite Teil der Erklärung, der sich auf die historisch folgenden sogenannten Rechte der zweiten Generation bezieht, nämlich die wirtschaftlichen. sozialen und kulturellen Menschenrechte, war nicht nur eine Konzession an die sozialistischen Staaten. Er entsprach genauso westlicher Tradition, wie die Weimarer Verfassung oder gar die mexikanische Verfassung mit ihren sozialistischen Tendenzen zeigt. In Frankreich saßen die Kommunisten in der Regierung und sorgten für Verfassungsergänzungen in der Solidaritätstradition der Jakobiner, in England brachte Labour ganz pragmatisch sozialistische Komponenten in die Verfassungswirklicheit.

Nicht nur diese sogenannte zweite Dimension der Menschenrechte war eine Selbstverständlichkeit der Schöpfer der Menschenrechtserklärung von 1948. Es gab auch Vorschläge aus dem asiatisch-konfuzianischen bzw. islamischen Kulturkreis, die berücksichtigt wurden. In einer Fragebogenaktion versuchte sich die UNESCO einen Überblick über die Vielfalt der Ansichten zu verschaffen. Auf der schon erwähnten Diskussionsveranstaltung der UNESCO meldeten sich einige Vertreter mit Kritik an den bisherigen Vorschlägen zu Wort. Mahatma Gandhi forderte in einem Schreiben, die Pflichten des Individuums nicht zu vergessen, und in anderen Beiträgen wurde eine stärkere Berücksichtigung der Familie gefordert. Derartige Gesichtspunkte wurden auch von katholischen Vertretern wie Jacques Maritain angeführt. Die enge Verbindung von Rechten als subjektive Ansprüche und Pflichten gegenüber anderen und der Gesellschaft wurde in der Erklärung selbst gutgeheißen, und zwar im Art. 29 (Grundpflichten)

In den Diskussionen spielte der Gegensatz von politisch bürgerlich-liberalen Grundrechten und wirtschaftlich-sozialen Grundrechten sicherlich eine nicht zu unterschätzende Rolle, aber nicht reduziert auf einen einfachen Ost-West-Gegensatz, wie es oft dargestellt wird. Außerdem wurden ebenso Argumente angeführt, die heute unter dem Begriff sogenannter kultureller Differenz gehandelt werden Selbst die Rechte der sogenannten „abhängigen Völker“, auch jener in der primitiven Gesellschaftsordnung der indigineous people in Australien, wurden in die Überlegungen einbezogen Das Spektrum der Diskutanten war also sehr breit und berücksichtigte alle relevanten philosophischen und weltanschaulichen Strömungen der damaligen Zeit. Im Schlagabtausch zwischen postmodernen Differenztheoretikern und Kommunitariern heute würde manches als altbekannt erscheinen, wenn man sich einen Blick zurück erlauben würde

Als Fazit muß festgehalten werden: In der damaligen Diskussion um die Entstehung der Menschenrechtserklärung von 1948 wurden die Errungenschaften der europäischen Aufklärung, wie sie sich seit den amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen entwickelt hatten, auch von den Repräsentanten anderer außereuropäischer Traditionen als allgemein menschliches Gut begriffen und nicht als Ausdruck des europäischen Kolonialismus. Daß derartige Bestrebungen sich menschenrechtlicher Bemäntelung bedienten, wurde selbstverständlich nicht übersehen. Eurozentrismus wurde als Pervertierung der europäischen Aufklärung begriffen, nicht jedoch als Grund gesehen, die universell humane Botschaft dieser Tradition zu verkennen und nicht als normativen Inhalt völkerrechtlicher Vereinbarungen zu fordern. Angestrebt war nämlich eine Übereinkunft über eine praktische Anwendung von Menschenrechten und nicht eine Übereinstimmung über Konzeption und Philosophie von Menschenrechten. Deren streckenweise antagonistische Differenz setzte man sogar voraus.

III. Der Zivil-und Sozialpakt von 1966 und die Dekolonisierung

Die Menschenrechtserklärung wurde im Dezember 1948 von der Menschenrechtskommission angenommen. Diese war nach Art. 68 der UN-Charta vom Wirtschafts-und Sozialrat (ECOSOC) eingesetzt worden. Ihr Auftrag lautete, ein verbindliches Menschenrechtsstatut (bill of rights) zu erarbeiten, wobei dieser Entwurf dreierlei enthalten sollte: Zunächst war eine Deklaration notwendig, die als Ausdruck der allgemeinen internationalen Rechtsauffassung dem eigentlichen völkerrechtlichen Abkommen über die Achtung der Menschenrechte (covenant) vorausgestellt werden sollte. Als weiteres Dokument sollte ein Abkommen über Maßnahmen zur Anwendung und Durchführung dieser beiden Instrumente ausgearbeitet werden.

Den ersten Auftrag erledigte die Menschenrechts-kommission relativ schnell, als sie 1948 die Menschenrechtserklärung annahm. Gleichzeitig faßte sie den ihren ursprünglichen Arbeitsauftrag bestätigenden Entschluß, eine Konvention über Menschenrechte auszuarbeiten, die über die Menschenrechtserklärung hinausgehend konkrete völkerrechtliche Verpflichtungen der Staaten zur Gewährung der Menschenrechte begründen sollte. Daß dann in der Folge die Menschenrechtserklärung ein isoliertes und relativ unabhängiges Dokument geblieben ist, lag an der ideologischen Konfrontation durch den Kalten Krieg. Im Laufe dieses Entwicklungsweges verlor sich fast die ursprüngliche Idee des Arbeitsauftrages, den normativen Inhalt von Menschenrechten und dessen völkerrechtliche Garantie durch effektive Überwachungsinstrumente einheitlich und parallel zu gestalten. Ganz verloren ging diese Vision jedoch nicht, denn später wurde sie z. B. durch die Implementierung verschiedener Berichtsverfahren und ansatzweise gerichtsähnlicher Kontrollverfahren wie im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und in dem dazugehörigen Fakultativprotokoll vom Dezember 1966 umgesetzt. Auch die Kontrollinstrumente der großen Antidiskriminierungskonventionen von 1966 seien in diesem Zusammenhang erwähnt (Anti-Apartheid, Anti-Frauendiskriminierung, Anti-Rassendiskriminierung etc.). 18 Jahre vergingen, bis die Arbeiten der Menschenrechtskommission 1966 abgeschlossen werden konnten, und es dauerte weitere 10 Jahre, bis die Ratifizierungen 1976 abgeschlossen waren, so daß die beiden Pakte über Menschenrechte, nämlich der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Bürgerrechtspakt) sowie jener über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) in Kraft traten. Drei Aspekte der äußerst komplizierten Diskussionen, die vom ideologischen Schlagabtausch des Kalten Krieges und vom schmerzhaften Prozeß der Dekolonisierung gezeichnet waren, sollen kurz betrachtet werden: die Spaltung in zwei verschiedene Pakte, die unterschiedlichen Durchsetzungsformen in den beiden Konventionen und drittens die Problematik einer „internationalen Sozialstaatlichkeit“. 1. Spaltung in zwei Pakte und die Klammerfunktion des Selbstbestimmungsrechts Die ursprüngliche Vorstellung der Menschenrechtskommission war es, entsprechend der Menschenrechtserklärung die verschiedenen Kategorien der beiden Menschenrechtsgenerationen in einem Pakt zu verbinden. Es waren zwei Gesichtspunkte, die zur Trennung in zwei verschiedene Pakte führten. Ein sachlicher Grund wurde von Indien vorgetragen. Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte bedürften eines anderen Realisierungssystems als die bürgerlichen und politischen Rechte. Den anderen Grund lieferten die USA mit ihrer Weigerung, überhaupt wirtschaftliche und soziale Rechte weiter auszuformulieren als in der Menschenrechtserklärung von 1948 geschehen. Die Trennung kam derartigen Intentionen insofern entgegen, als man hoffte, die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte auf eine Art Staatszielprogramm mit minderer Verbindlichkeit reduzieren zu können. Das gelang jedoch nur zum Teil. Der beiden Pakten vorausgestellte wortgleiche Art. 1, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker formulierte, dokumentierte die vor allen Dingen von den Ländern der Dritten Welt -und in diesen Intentionen unterstützt von den sozialistischen Staaten -propagierte Verklammerung und sachliche Untrennbarkeit der beiden Kategorien von Menschenrechten. Zudem wurde das Recht auf Selbstbestimmung über die Frage der politischen Unabhängigkeit hinaus präzisiert auf die freie Wahl des politischen Status und die Gestaltungsfreiheit in bezug auf die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. Unter dem Gesichtspunkt, daß beide Pakte keine Aussage über das private Eigentum als Menschenrecht machen, ist hier eine wichtige Aussage hin zur Legitimität der beiden möglichen Gesellschaftsmodelle, nämlich des kapitalistischen Marktwirtschaftsweges und des sozialistischen Planwirtschaftsmodelles, getroffen. Das gilt es jedenfalls angesichts der heutigen Diskussionen festzuhalten. 2. Die verschiedenen Durchsetzungsformen in den beiden Pakten Die beiden Pakte unterscheiden sich unter anderem darin, daß sie verschiedenartige Verpflichtungsmodi auferlegen. Der Zivil-oder Bürgerrechtspakt verlangt von jedem Mitgliedstaat, „die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen ... zu gewährleisten“ (Art. 2 Abs. 1). Damit wird in erster Linie vom Staat gefordert, Eingriffe in die bezeichneten individuellen Freiheiten zu unterlassen. Im Sozialpakt hingegen verpflichten sich die Staaten, „unter Ausschöpfung aller ihrer Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen“ (Art. 2 Abs. 1). Die Gewährleistung dieser Rechte setzt voraus, daß wirtschaftliche und andere Ressourcen vorhanden sind. Über sie verfügen nicht alle Staaten in gleichem Ausmaß. Solche Ressourcen dagegen sind im allgemeinen weniger erforderlich, wenn die Staaten ihren Verpflichtungen hinsichtlich der bürgerlichen und politischen Rechte nachzukommen haben. Insofern trägt die Formulierung im Wirtschafts-und Sozialpakt stärker programmatischen Charakter, ohne jedoch eine mindere Verpflichtung im rechtlichen Sinne zu intendieren.

Die Unterschiede der beiden Kategorien von Menschenrechten machen sich auch im Kontrollsystem bemerkbar. Gerade weil politische und Bürgerrechte in erster Linie auf Abwehr möglicher Eingriffe von staatlicher Seite ausgerichtet sind, stellt die effektivste Form der Kontrolle ein gerichtsförmiges Verfahren dar, wie es am ausgeprägtesten im System der europäischen Menschenrechtskonvention zu finden ist, insbesondere nach der Reform des elften Protokolls der Konvention im Jahr 1994, das eine unmittelbare Klagebefugnis des betroffenen Individuums am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorsieht. Die mehr programmatisch ausgerichteten Verpflichtungen des Sozialpaktes, die erst noch in konkrete staatliche Leistungsverpflichtungen umgesetzt werden müssen, erscheinen jedoch besser gewährleistet durch ein mehr oder weniger striktes Berichtssystem, das auf kooperative Unterstützung des betroffenen Staates ausgerichtet ist, die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die konkrete Leistungspflicht einzurichten oder auszubauen. Mit der Umgestaltung des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in ein unabhängiges Expertengremium ist auch hier die Kontrollbefugnis effektiviert worden

Läßt man die zum Teil sehr detailliert ausformulierten Menschenrechte in beiden Pakten Revue passieren und vergegenwärtigt man sich die langen und heftigen Auseinandersetzungen, die ihrer endgültigen Ausgestaltung vorangegangen sind, so wird man einen Konflikt zwischen Universalismus einerseits und Regionalismus bzw. Relativismus andererseits vermissen. Von vornherein war die Intention in der Menschenrechtskommission darauf ausgerichtet, ein universell und global geltendes Normenprogramm zu entwickeln. In diesem Rahmen sollte es dann durchaus möglich sein, regionale Selbständigkeit zu entwickeln, wie es in der Amerikanischen Konvention über Menschenrechte von San Jose, der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Banjul-Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker in Afrika geschehen ist, die sich allerdings nicht im Widerspruch zu den UNO-Pakten gesehen haben. Auch waren in der nationalen praktischen Handhabung der universell normierten Standards notwendigerweise erhebliche Spannbreiten angelegt. Die übernommenen Verpflichtungen, Gedanken-, Gewissens-und Religionsfreiheit zu respektieren, werden z. B. in einem laizistischen Staat, wo Staat und Kirche zumindest prinzipiell getrennt sind, sicherlich anders umgesetzt als in einem Staat, der nach eigenem Verständnis auf einer Religion basiert (Gottesstaat). Bekanntlich gehen sogar in der Bundesrepublik die Ansichten über die „Toleranzbreite“ gegenüber religiösen Symbolen (Kreuz oder Kopf-tuch in der Schule) erheblich auseinander. Selbst über den Umfang des Lebensschutzes können in relativ homogenen Gesellschaften konträre Auffassungen auftreten (Abtreibungsdiskussion). Einige Menschenrechtsverletzungen allerdings, wie sie allenthalben diskutiert werden und die sich z. T. auf „kulturelle Differenz“ berufen wie sexuelle Verstümmelungen (Klitorisbeschneidung), besonders rigide Strafvollzugsmaßnahmen (körperliche Strafen bei Diebstahl), aber auch Todesstrafe und erniedrigende Praktiken in Gefäng-nissen westlicher Länder sind entweder völkerrechtswidrige Abweichungen (die Klitorisbeschneidung, falls staatlich gedeckt, sicherlich) oder Unvollkommenheiten (vgl. Eingrenzungsversuche in Art. 6 Abs. 2 Bürgerrechtspakt zur Todesstrafe), die in Zukunft durch Präzisierung und Weiterentwicklung des Normprogrammes der Menschenrechte abzustellen wären. All dies berührt jedoch nicht den grundsätzlich universalistischen Anspruch der formulierten Menschenrechte, sondern den Präzisionsgrad und damit die Interpretationsweite der Normierungen. 3. Menschenrechte als Solidaritätsrechte: Wahrnehmung einer neuen globalen Komplexität Nach der Durchsetzung der politischen Unabhängigkeit durch die Dekolonisierung folgte nämlich der Appell an die Solidarität der ehemaligen Kolonialländer, bei der Beseitigung der strukturellen ökonomischen Abhängigkeit mitzuwirken. Aus heutiger, rein marktwirtschaftlich geprägter internationaler Perspektive mag diese Auffassung unrealistisch genannt werden. Denn eine derartige Unterstützung aus den Metropolen des ehemaligen Kolonialismus war nur bei tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen in den Industrieländern denkbar. Die damals verbreiteten Dependenztheorien reflektierten durchaus derartige Zusammenhänge. Soweit sie konkrete Handlungsanweisungen entwickelten, beschränkten sie sich auf Abkopplungsvorschläge nach dem Beispiel der sozialistischen Länder, die jedoch zu dieser Zeit schon praktisch ihre Rückkehr in das kapitalistische Weltwirtschaftssystem betrieben.

Etwas konkreter, und insofern ihrer Zeit voraus, waren sozialdemokratisch geprägte Kooperationsmodelle. Die Vorschläge der Nord-Süd-Kommission waren in erster Linie wirtschaftlich und sozial-strukturell ausgerichtet. Die großen Konferenzen der Blockfreien (Bandung und Belgrad vor allem) konzentrierten sich darüber hinaus auf Aspekte der völkerrechtlichen Gestaltung der internationalen Beziehungen. Dabei trat Algerien als Wortführer auf Hier begann die Diskussion um die sogenannten Solidaritätsrechte bzw. die Menschenrechte der dritten Generation.

IV. Die Rechte der dritten Generation: hilflose Antwort auf das Phänomen der Unterentwicklung?

1. Zu Begriff und Geschichte Seit etwa zehn Jahren spricht man auch bei uns von Menschenrechten der dritten Generation, und zwar in einem doppelten Sinne Zum einen wird auf die zeitliche Abfolge der Entstehung dieser Diskussion hingewiesen, und zwar entsprechend der sich verändernden geschichtlichen Situationen, zum anderen inhaltlich auf die jeweils neue Dimension der rechtlichen Antwort. Geprägt wurde der Begriff sehr viel früher, nämlich 1979 von Karel Vasak, dem früheren Direktor der Abteilung für Menschenrechte und Frieden der UNESCO Das Problem selbst wurde schon in der Erklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen über Fortschritt und Entwicklung der dekolonisierten Länder vom Dezember 1969 behandelt. Die Forderung nach einem Recht auf Entwicklung ist in die gescheiterte Diskussion um eine neue Weltwirtschaftsordnung während der sechziger und siebziger Jahre eingebettet. Einen vorläufigen Abschluß fand der Prozeß in der Resolution der UN-Generalversammlung vom 4. Dezember 1986, in der das Recht auf Entwicklung als ein unveräußerliches Menschenrecht aufgenommen wurde. Auf der UN-Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien wurde in der Schlußerklärung dieses Ergebnis bestätigt.

Insbesondere von westlicher Seite ist diese Entwicklung zum Teil scharf kritisiert worden, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Franz Nuscheler fürchtet eine Inflationierung zum „Recht auf alles“, das im Grunde nichts bewirke. Er plädiert daher für eine Rückbesinnung auf bestimmte Kernbereiche von unveräußerlichen Menschenrechten, und zwar nicht nur bezogen auf die traditionellen bürgerlichen und politischen Rechte. Ein anderer Strang der Kritik spricht dem Menschen-recht auf Entwicklung schlichtweg den Rechtscharakter ab Hierauf soll etwas näher eingegangen werden. 2. Zur Rechtskonstruktion eines Menschenrechtes auf Entwicklung Rechtstheoretisch betrachtet, und hier ist zunächst kein Unterschied zwischen innerstaatlichem Recht und Völkerrecht zu machen, setzen Rechte Berechtigte auf der einen und Verpflichtete auf der anderen Seite voraus. Berechtigte können das Individuum oder mehrere Individuen als Kollektiv sein, und zwar in jeweils geschichtlich entstandenen menschlichen Situationen, die als untragbar betrachtet werden und auf die reagiert werden muß: Im Falle der Rechte der ersten Generation ist dies z. B. die Behinderung der kapitalistischen Marktentfaltung durch die Festschreibung des privaten Eigentums; in der zweiten Generation die Antwort auf soziales Elend durch die Festlegung eines Rechtes auf soziale Sicherung; auf der Stufe der dritten Generation die Antwort schließlich auf nachkoloniale Verelendung durch Festsetzung eines Rechts auf Entwicklung.

Inhaltlich wird die Berechtigung gesehen als Befugnis, etwas zu tun oder nicht zu tun, also zu unterlassen (Abwehranspruch, z. B. gegenüber Eingriffen in die Meinungsfreiheit oder das private Eigentum), oder als ein Anspruch auf Leistung (z. B. beim Recht auf Sozialversicherung). Dem Anspruchsberechtigten/Leistungsempfänger (Individuum oder Gruppe) steht ein Verhaltens-bzw. Leistungspflichtiger (ein Staat oder bei den Menschenrechten der dritten Generation eine Staaten-gruppe) gegenüber.

Innerstaatlich entsteht ein Recht durch Bezeichnung des Berechtigten, des Verpflichteten und des konkreten Inhaltes, wenn der verfassungsrechtlich Zuständige dies festlegt, also der Gesetzgeber. Völkerrechtlich erfolgt die Rechtsetzung durch Vertrag bzw. Vereinbarung zwischen den völkerrechtlichen Subjekten, nach wie vor die Staaten, wobei gerade bei den Menschenrechten der zweiten Kategorie das Völkerrecht auf den innerstaatlich zuständigen Gesetzgeber zur konkreten Ausgestaltung, d. h. zur materiellen Auffüllung des Leistungsanspruches des Individuums bzw.der Gruppe, verweist.

Probleme können auftreten bei der Ausgestaltung der Rechte der dritten Generation. Sie entstehen weniger hinsichtlich des Inhaltes eines derartigen Rechtes -es handelt sich in erster Linie darum, materielle Ressourcen zur Verfügung zu stellen -als vielmehr, wenn es gilt festzustellen, wer Anspruchsberechtigter und wer Anspruchsverpflichteter ist. Einig ist man sich, daß die eigentliche Funktion eines Menschenrechtes auf Entwicklung zum Beispiel -ähnliches gilt für die in der Diskussion befindlichen Menschenrechte auf Frieden Umwelt u. a. m. -darin besteht, dem einzelnen Individuum bzw.der Gruppe von Individuen in dem jeweils konkreten Staat die geleisteten materiellen Ressourcen für eine menschenwürdige Existenz zukommen zu lassen.

Klarheit besteht auch hinsichtlich eines zweiten Aspektes. Bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten der zweiten Kategorie besitzt das jeweilige Individuum gegenüber seinem eigenen Staat Rechte. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, daß dieser Staat die materiellen Ressourcen zur Verfügung hat, um die Leistung zu erbringen. Im Kontext der Diskussion um ein Menschenrecht auf Entwicklung fehlen dem Staat des betroffenen Individuums gerade diese materiellen Ressourcen. Die Einräumung eines individuellen, subjektiven Anspruchs auf der Ebene der Menschenrechte der zweiten Generation gegen seinen eigenen Staat würde, inhaltlich leerlaufen. Hier also soll das Menschenrecht der dritten Generation Abhilfe schaffen. Theoretisch wäre dies möglich durch Einräumung eines unmittelbaren Anspruchs des einzelnen Individuums in dem ressourcenarmen Staat gegen den ehemaligen Kolonialstaat oder auch gegen eine Staatengruppe bzw. gegen die internationale Staatengemeinschaft insgesamt. Ein anderer Weg wäre eine Anspruchsbegründung für den jeweiligen Staat, in dem sich die bedürftigen Individuen befinden, gegen die internationale Staatengemeinschaft bzw.den ehemaligen Kolonialstaat oder eine Staatengruppe. Dieser Anspruch könnte nur geltend gemacht werden, bzw. er könnte nur befriedigt werden, wenn gewährleistet ist, daß die gelieferten Ressourcen an die einzelnen bedürftigen Individuen weitergeleitet werden. Die Figur der Prozeßstandschaft, der Reklamierung von Rechten für andere, oder die Ausgestaltung der geltend zu machenden Rechte mit besonderen Auflagen und Verpflichtungen, einschließlich internationaler Kontrollmechanismen, könnte hier Abhilfe schaffen Jedenfalls zeigen all diese Überlegungen, daß die Einwände, juristisch sei ein derartiges Menschenrecht auf Entwicklung zumindest in traditionellen Rechtskategorien nicht denkbar, irreführend sind. Derartige Einwände verdecken vielmehr fehlenden politischen Willen, größere Ressourcen ohne die Möglichkeit einer Wiedergewinnung dieser Mittel mit Profit weiterzuleiten'

Zuzugestehen ist, daß diese neue Komplexität, da sie nach wie vor von wichtigen Staaten bestritten ist, völkerrechtlich noch nicht den Stand erreicht hat, der für die (vereinbarte) Universalität eines Menschenrechtes erforderlich ist. Die Versuche, den Universalitätsstandard durch die Rechte der dritten Generation zu erweitern, sind stecken-geblieben. Es ist aber auch nicht gelungen, den erlangten Standard zurückzudrängen, sei es durch eine einseitige Berufung auf eine „westliche“ Prägung, sei es durch die Behauptung einer kulturellen oder anderen Differenz.

V. Schlußfolgerungen

Menschenrechte sind universalistisch, insoweit dies von den völkerrechtlichen Subjekten, nach wie vor Staaten (soziologisch die jeweils herrschende Schicht im betreffenden Land repräsentierend), vereinbart ist. Das bezieht sich sowohl auf den inhaltlichen Standard der internationalen Menschenrechte als auch auf dessen Garantie durch nationale oder durch internationale Mechanismen oder beides.

Völkerrechtlich vereinbart ist nicht ein bestimmtes Verständnis, eine bestimmte Philosophie oder eine bestimmte Konzeption von Menschenrechten, sondern es sind konkrete Verhaltensweisen und die Garantie ihrer Einhaltung. Die Akzeptanz der Verschiedenheit ist die Basis der Vereinbarung. Die rechtliche Garantie in den Unterschieden von individuellen und kollektiven Verhaltensweisen (Schutz der Andersartigkeit) ist eine Frage des Minderheitenschutzes. Es handelt sich um eine partielle zeitweilige (bis zur Integration) oder ständige Suspension des Gleichheitsgebotes (positive Diskriminierung).

Zum vereinbarten Universalitätsstandard gehört die Gleichrangigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte der verschiedenen Dimensionen bzw. Generationen. Das schließt speziell vereinbarte Standards auf partikularer bzw. regionaler Ebene nicht aus, selbstverständlich im Rahmen des Universalitätsstandards. Universalität beinhaltet verschiedene Verpflichtungsgrade und verschiedenartige Schutzmechanismen je nach Art des jeweiligen Menschenrechtes, z. B. ein mehr gerichtsförmig arbeitendes Kontrollsystem bei Abwehrrechten, andere Garantiearten bei Rechten der zweiten und dritten Generation. Universalität ist nicht statisch aufzufassen. Sie wächst und verändert sich im Laufe der Zeit durch Vereinbarung.

Interessengeleitete Zielsetzungen können sich hinter der Proklamation von Universalität gegenüber partikularer Infragestellung verbergen. Die Beanspruchung von kultureller Differenz gegenüber meist eigenmächtig (einseitig) formulierter Universalität hat in der Zurückweisung dieser Eigenmächtigkeit und Einseitigkeit Berechtigung, kann aber auch massive Menschenrechtsverletzungen bemänteln. Beides ist Menschenrechtspropaganda, pervertiert Menschenrechte und verhöhnt letztlich die Betroffenen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Robert von Lucius, Ameisen und Elefanten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 9. 1998, S. 16.

  2. Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München, 1996°, S. 314; dazu kritisch Norman Paech, Krieg der Zivilisationen oder dritte Dekolonisation?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1994) 3, S. 310 ff.

  3. Verwiesen wird stets auf die drei Vorbereitungskonferenzen für Wien, und zwar in Bangkok für Asien, in Tunis für Afrika und San Jose für Südamerika, vgl. Ruth Klingenbiel, Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien 1993, in: Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hrsg.), Welt-konferenzen und Weltberichte, Bonn 1996, S. 186 ff.

  4. Besonders explizit Franz Nuscheler, Das „Recht auf Entwicklung“. Fortschritt oder Danaergeschenk in der Entwicklung der Menschenrechte?, Blaue Reihe der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN), Nr. 67, Bonn 1966.

  5. Vgl. Rüdiger Wolfrum, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes. Perspektiven nach der Weltmenschenrechtskonferenz von Wien, in: Europa-Archiv, (1993) 23, S. 681 ff.; hinsichtlich militärischer Optionen zurückhaltender Ulrich Fastenrath, Wie die Menschenrechte geschützt werden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 22. 8. 1998.

  6. Zur neueren Diskussion um die sogenannte kulturelle Differenz vgl. Brigitte Hamm, in: INEF-Report, Zur Universalität der Menschenrechte, (1995) 11, S. 18 ff.; dies., Politische Menschenrechte, in: Ingmar Hauchler/Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hrsg.), Globale Trends 1998, Frankfurt a. M. 1997, S. 399 ff.

  7. Einige Autoren beschränken sich nicht nur auf die Menschenrechtserklärung von 1948, sondern beziehen die weitere völkerrechtliche Entwicklung mit ein, vgl. John Galtung, Menschenrechte anders gesehen, Frankfurt a. M. 1997, S. 12.

  8. Einen meisterlich komprimierten Überblick aus marxistischer Sicht über diesen Entwicklungsgang mit ausführlichen Literaturhinweisen bietet Hermann Klenner, Menschenrechte zwischen Krieg und Frieden, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 37 (1989), S. 581 ff.

  9. Hierauf weist Jürgen Habermas, aber nicht nur er, immer wieder mit Emphase hin, z. B.ders., Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte, in: Frankfurter Rundschau vom 4. 2. 1997, S. 10; zur Frauenfrage vgl. das neue Standardwerk von Ute Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997.

  10. Menschenrechte als „Schmiermittel der ökonomischen Hegemonie des Westens“, so eine neuere Formulierung von Wolfgang Welsch, Eurozentrismus oder Universalität?, in: Frankfurter Rundschau vom 3. 9. 1996, S. 10.

  11. Vgl. dazu Norman Paech/Gerhard Stuby, Machtpolitik und Völkerrecht in den internationalen Beziehungen, Baden-Baden 1994, insbes. S. 175 ff.

  12. Ernst Deuerlein, Die deutsche Frage auf der Konferenz von Potsdam, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 34/65, S. 3 ff.

  13. Die sozialistischen Länder UdSSR, Ukraine und Weißrußland und einige andere Länder wie z. B. Südafrika und Saudi-Arabien enthielten sich der Stimme. Den sozialistischen Ländern gingen die Garantien der sozialen Menschenrechte nicht weit genug. Vgl. N. Paech/G. Stuby (Anm. 11), S. 513 f.

  14. John Sommerville, Vergleich zwischen demokratischen Prinzipien der Sowjets und des Westens vom Gesichtspunkt der Menschenrechte aus, in: UNESCO (Hrsg.), Um die Erklärung der Menschenrechte. Ein Symposium mit einer Einführung von Jacques Maritain, Zürich 1951, S. 203.

  15. Das Symposium wurde von der UNESCO mit Philosophen, Juristen, Naturwissenschaftlern und anderen Wissenschaftlern aus allen Kulturkreisen durchgeführt und durch eine umfangreiche Fragebogenaktion flankiert, die der Menschenrechtskommission als Informationsunterlage diente.

  16. Die vom Inter Action Council (Mitglieder u. a. Helmut Schmidt, Jimmy Carter) vorgelegte Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten (vgl. Die Zeit, Nr. 41 vom 3. 10. 1997)

  17. Zu den einzelnen Beiträgen vgl. UNESCO (Anm. 14); zur neueren Diskussion um die sogenannte kulturelle Differenz vgl.den Beitrag von B. Hamm (Anm. 6), S. 18 ff.

  18. Vgl.den Beitrag von A. P. Elkin, S. 298 ff., und Leonhard Barnes, S. 321 ff., in: UNESCO (Anm. 14).

  19. Vgl. zur Auseinandersetzung mit dem Kommunitarismus die informative und differenzierte Darstellung von Lothar Peter, Kommunitarismus und Linke: Unvereinbare Gegensätze?, in: Sozialismus, 24 (1998) 7/8, S. 49 ff.

  20. Vgl. hierzu: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, Bonn 19962, S. 52-92.

  21. Einzelheiten zu der verschiedenen Qualität der Kontrollgremien bei N. Paech/G. Stuby (Anm. 11), S. 522 bzw. 548 ff.

  22. Als Beispiel für Dependenztheorien sei auf die frühen Arbeiten von Dieter Senghaas, Peripherer Kapitalismus -Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung, Frankfurt a. M. 1974, und des Algeriers Madjid Benshik, Droit international du sous-development. Nouvel ordre dans la dpendance, Paris 1983, verwiesen.

  23. Vgl. zu den völkerrechtlichen Positionen der Blockfreien Mohamed Bedjaoui (Hrsg.), Droit international. Bilan et perspectives, 2 Bde., Paris 1991.

  24. Vgl. Eibe Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ), (1989), S. 9 ff.

  25. Vgl. Karel Vasak, Pour les droits de l'homme de la troisieme generation: Les droits de solidarite. Lesson inaugurale, dixieme session d’enseignement, Strasbourg 1979, S. 17; auf diesen Entstehungshintergrund verweist auch Kba Mbaye, in: M. Bedjaoui (Anm. 23), 2. Bd., S. 1116f.; vgl. auch Karel Vasak, La ralit juridique des droits de l’homme, in: UNESCO (Hrsg.), Les dimensions internationals des droits de 1’homme. Paris 1978, S. 2.

  26. Vgl. F. Nuscheler (Anm. 4).

  27. Typisch für grundsätzliche westliche Zweifel am Rechts-charakter derartiger Forderungen: Winfried Brugger, Menschenrechte und Staatenwelt, in: Christian Chwaszeca/Wolfgang Kerstin (Hrsg.), Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, Frankfurt a. M. 1998, S. 153 ff. Dort auch umfangreiche Hinweise auf die wichtigste Literatur.

  28. Kernargumentation gegen ein Menschenrecht auf Frieden nach wie vor bei Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, München 1987, S. 319.

  29. Bedjaoui bewegt sich bei der Frage der Wahrnehmung des individuellen Rechts auf Existenzsicherung durch Staaten in ähnlichen Gedankengängen, vgl. M. Bedjaoui (Anm. 23), Bd. 2, S. 1237 ff. Im Entschädigungsrecht sind derartige Rechtskonstruktionen z. B. in Form der Globalentschädigung an Staaten (Israel u. a.) oder internationale Organisationen (Jewish Agency) seit langem bekannt und üblich.

  30. Vgl. die Skala der Einwendungsargumente bei F. Nuscheler (Anm. 4), S. 20 f.

Weitere Inhalte

Gerhard Stuby, Dr. jur., geb. 1934; Professor für öffentliches Recht und wissenschaftliche Politik an der Universität Bremen. Veröffentlichungen u. a.: „Entfesselte“ Souveränität der Bundesrepublik, Heilbronn 1988; (zus. mit Norman Paech) Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, Baden-Baden 1994; (zus. mit Gerd Hankel) Internationale Strafgerichtsbarkeit, Hamburg 1995.