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Globalisierung und Gesellschaft | APuZ 18/1998 | bpb.de

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APuZ 18/1998 Globalisierung und Gesellschaft Plurale Vorsorge Die Zukunft der sozialen Sicherheit Sind die Deutschen reformscheu? Potentiale der Eigenverantwortung in Deutschland

Globalisierung und Gesellschaft

Franz-Xaver Kaufmann

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit dem Schlag-und Modewort „Globalisierung“ werden unterschiedliche Prozesse bezeichnet: die wachsende Interdependenz der Welt (Globalisierung i. e. S.), der Wirkungsverlust nationaler Grenzen (Internationalisierung) und das Entstehen von staatlicherseits nicht kontrollierbaren Akteuren und Handlungsebenen (Transnationalisierung). Diese Prozesse wirken zusammen und beeinträchtigen die vorherrschende Identifikation von Nationalstaat und Gesellschaft. Dennoch verschwindet der Nationalstaat nicht als zentrale Ebene der Zurechnung politischer Entscheidungen, er verliert jedoch an Autonomie und sieht sich im Interesse seiner Erhaltung zu Souveränitätsverzichten genötigt. Viele der skizzierten Entwicklungen stehen in historischer Kontinuität zu den seit dem Hochmittelalter beobachtbaren Entwicklungen komplexerer und dynamischer Muster sozialer Ordnung. Neu ist dagegen der Autonomiegewinn der Finanzmärkte, deren Transaktionen sich zunehmend staatlicher Kontrolle und Besteuerung entziehen, ja die selbst zur Kontrollinstanz staatlicher Wirtschaftspolitik werden. Globalisierung führt nicht notwendigerweise zur Erosion von Solidarität, sondern zu einer Differenzierung der Solidaritätshorizonte. „Gesellschaft“ als scheinbar einheitlicher und gemeinsamer Horizont von Handlungsmöglichkeiten löst sich auf, nicht aber das menschliche Zusammenleben. Die unterschiedliche Reichweite von verschiedenen Sektoren menschlichen Zusammenlebens wird bewußtseinsfähig. Örtliche, regionale, nationale und transnationale Bezüge treten stärker auseinander. Soll die daraus resultierende Multiplizierung der Solidaritätshorizonte nicht zu blockierenden Entwicklungen führen, so ist eine bewußte Entkoppelung verschiedener politischer Zuständigkeitsebenen anzustreben, d. h., die „Politikverflechtung“ muß reduziert werden.

„Ein Gespenst geht um in Europa -das Gespenst der Globalisierung“, so möchte man 150 Jahre nach dem „Kommunistischen Manifest“ reformulieren. Und die Vorstellung eines Gespenstes erscheint hier noch treffender als damals: Denn aus dem von Karl Marx und Friedrich Engels anvisierten „Bund der Kommunisten“ wurde in der Tat eine soziale Bewegung von Menschen aus Fleisch und Blut, mit denen sich die Staatspolizei herumschlagen konnte. Was die Globalisierung in Bewegung setzt, bleibt dagegen anonym, ja findet in solcher Anonymität seinen charakteristischen Ausdruck: Die telekommunikative Vernetzung bildet die wirksamste Infrastruktur der Globalisierung, die man sich am besten als ununterbrochenen Informationsstrom vorstellen kann: Nachrichten, Bilder und Geldbeträge bewegen sich in einem virtuellen Raum und zeitigen Wirkungen da und dort -im realen Raum! Zeitunterschiede sind weitgehend aufgehoben. Was sich ereignet, geschieht nicht mehr allein in New York, Johannesburg, Taschkent oder Sindelfingen, sondern es wird zum Weltereignis, sofern es nur die Schwellen des Informationsmanagements zu überwinden vermag.

Der Titel „Globalisierung und Gesellschaft“ enthält bereits von der Wortbedeutung her die latente Spannung zwischen Dynamik und Statik; der Prozeßbegriff Globalisierung stellt den Zustands-begriff Gesellschaft in Frage. Und diese semantische Spannung ist auch für die zu besprechenden Sachverhalte durchaus problemaufschließend. Denn die nationalstaatlich verfaßte Gesellschaft erscheint noch immer als unreflektierter Prototyp moderner Gesellschaften. Eben sie wird jedoch durch die Prozesse, welche heute mit dem Wort Globalisierung assoziiert werden, als Sinn und Gemeinschaft stiftender Horizont gesprengt.

I. „Gesellschaft“

Der Gesellschaftsbegriff hat eine weit zurückreichende Geschichte und geht im wesentlichen auf Aristoteles’ Begriff der „Politischen Gemeinschaft“ (koinonia politike) zurück. Die antike Polis blieb das Leitbild der politischen Theorie bis in die Neuzeit und wurde dann vom Nationalstaat abgelöst. Beiden Leitbildern ist die Vorstellung der „Selbstgenügsamkeit“ (Autarkie) gemeinsam, und eben diese wird durch die Globalisierung radikal in Frage gestellt.

Für die Soziologie scheint „Gesellschaft“ zu einer Grundkategorie geworden zu sein, und auch der allgemeine Sprachgebrauch hat sich dem angepaßt. Friedrich Heinrich Tenbruck sprach gar von der „Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie“ Richtiger ist es'wohl, von einer Wechselwirkung zwischen den gesellschaftlichen und den soziologischen Problembestimmungen auszugehen. Das wird an den Unterschieden des Gesellschaftsbegriffs in der deutschen und in der französischen Soziologie besonders deutlich.

Im deutschen Sprachraum ist der Gesellschaftsbegriff als Differenzbegriff zum Staate wirksam geworden. Auslösend wurde die Unterscheidung von , Staatund . bürgerlicher Gesellschaft’ in der Rechtsphilosophie Hegels (1821). Hegel reflektierte als erster die Freisetzung des Bürgers von der staatlichen Vormundschaft durch die Französische Revolution und die napoleonische Zivilgesetzgebung; er bezeichnete den damals neu entstehenden Freiraum zwischen dem Staate und der familiären Hausgemeinschaft als „bürgerliche Gesellschaft“, in der jeder frei sei, seinen eigenen individuellen Interessen zu folgen Solch bürgerliche Gesellschaft zuerst in Preußen zu ermöglichen war ein Ziel der Stein-Hardenbergschen Reformen -Fortsetzung der Reformen des konservativen Reichs-freiherrn Karl vom und zum Stein durch Freiherr Karl August Hardenberg mit dem Ziel, den preußischen Staat vom aufgeklärten Absolutismus zum Liberalismus zu führen -, die der Hegelschen Rechtsphilosophie zeitlich unmittelbar vorangingen.

Trotz mancherlei Unterschieden in der Verwendung des Gesellschaftsbegriffs in der deutschen , Socialwissenschaft‘ des 19. Jahrhunderts findet sich durchgängig eine Differenz zum Staate, und es fehlt eine Staat und Gesellschaft übergeordnete Bezeichnung. Vielmehr erscheint der Staat als die einheitsbildende politische und sittliche Kraft, dem die Gesellschaft in der Vielfalt ihrer Interessen gegenübersteht.

In der französischen Soziologie dagegen wurde der Gesellschaftsbegriff seit Auguste Comte und erst recht bei Emile Durkheim mit moralischen, um nicht zu sagen religiösen Qualitäten und mit Einheitserwartungenbefrachtet. Auch dies stand in unmittelbarem Zusammenhang mit den politischen Erfahrungen: Absolutismus, Revolutionen und wiederholte Regimewechsel sowie die tiefe politische Spaltung des französischen Volkes ließen im nachrevolutionären Frankreich die Vorstellung einer primär politischen Herstellung des sozialen Bandesgar nicht aufkommen. Dieses mußte vielmehr auf moralischen und damit kulturellen Voraussetzungen beruhen. In diesem Sinne wurde die Gesellschaft zur einigenden, quasi religiösen Kraft hypostasiert, welche über den Individuen und ihren Interessen stehe

Im angelsächsischen Raum blieb die aristotelische Vorstellung einer Einheit des politischen und sozialen Raumes am ungebrochensten erhalten, was sich dort in einer schwachen Ausbildung des Staatskonzeptes manifestierte. Die Beziehungen der Menschen untereinander wurden vor allem utilitaristisch gedeutet, und die politische Gewalt demzufolge vertragstheoretisch begründet. Trotz der liberalen Betonung des Freihandels orientierte sich der Gesellschaftsbegriff weiterhin am Merkmal der Autarkie, so insbesondere im amerikanischen Struktur-Funktionalismus: Gesellschaft ist diejenige soziale Einheit, welche all ihre Funktionen aus sich selbst heraus zu erfüllen vermag.

Jede dieser drei Denktraditionen betonte somit ein anderes Moment dessen, was für den heute gängigen Gesellschaftsbegriff charakteristisch ist: die politische Konstituierung der gesellschaftlichen Einheit im deutschen Falle, die kulturell-moralische Konstituierung im französischen Falle und das Merkmal der Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit von anderen sozialen Einheiten im angelsächsischen Falle. Charakteristischerweise verbinden sich diese drei Vorstellungen im Programmdes Nationalstaates: Er wird verstanden als die politische Einheit eines durch kulturelle und moralische Bande verbundenen . Volkes , das seine Unabhängigkeit in der Form des souveränen Staatesbehauptet. Der Nationalstaat und die National-gesellschaft weisen dem Begriff nach dieselben Grenzen auf. Und es gehört zur Souveränitätsvorstellung dieses Staates, seine Grenzen zu behaupten und alle grenzüberschreitenden Transaktionen zu kontrollieren. Die politischen Grenzen werden zum Horizont der Gesellschaft.

Unter der Voraussetzung einer territorialen und personellen Identität von , Staat ´ und . Zivilgesellschafterscheint auch die Demokratisierung des Staatskonzeptes unproblematisch, ja geradezu konsequent; denn die demokratische Partizipation am politischen Gemeinwesen verkörpert die Einheit von Staat und Gesellschaft, ohne ihre Differenz aufzuheben.

II. Die Entstehung von National-gesellschaften

Die uns heute selbstverständlichen europäischen Nationalstaaten sind ein vergleichsweise junges Ergebnis der europäischen Geschichte und zumeist in recht konfliktreichen Prozessen entstanden. Zwischen 1500 und 1900 hat sich die Zahl der selbständigen politischen Einheiten in Europa von rund 500 auf 25 reduziert und diese politischen , Vereinnahmungen waren nur ausnahmsweise das Ergebnis freiwilliger Zusammenschlüsse, sondern weit häufiger von Kriegen und den daran anschließenden Friedensschlüssen unter den bereits dominierenden Mächten.

Es gehört zu den optischen Täuschungen unserer Zeit, daß wir uns vergangene Epochen als weitgehend statisch vorstellen. Das trifft zwar für deren kulturelle Selbstdeutungen zu, welche stets die Würde des Althergebrachten und die Dauerhaftigkeit der Traditionen beschworen. Aber in Wirklichkeit befand sich Europa seit dem Hochmittelalter in fortgesetzter Entwicklung. Diese Dynamik beschränkte sich jedoch zunächst im wesentlichen auf die Städte und die zwischen ihnen sich verdichtenden Beziehungen auf den Gebieten des Handels und des Geistes. Neben der Intensivierung von Handel und Verkehr kam in diesem Zusammenhang vor allem der Erfindung des Buchdrucks und der dadurch erleichterten Verbreitung von Ideen auslösende Bedeutung für die weitere Entwicklung zu.

Halten wir hinsichtlich dieser ökonomischen und kulturellen Faktoren fest, daß sie keineswegs auf die Entstehung einer trennenden Struktur von Nationalstaaten zielten: Die von der hochmittelalterlichen Scholastik ausgehende geistige Bewegung war tendenziell universalistisch, wie das Chri-stentum, und staatskritisch, da sie im Kampf zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt auf der Seite der Kirche stand. Von ihr führt ein direkter Weg zu den natur-und menschenrechtlichen Doktrinen der Aufklärung, welche ebenfalls universalistisch dachte. Auch der Calvinismus blieb überwiegend staatskritisch, förderte er doch die Idee der Volkssouveränität. Daß Handel und Verkehr in den politischen Grenzen eine unerwünschte Beeinträchtigung sahen, galt schon, bevor Adam Smith die immanente Rationalität des Freihandels begründete. Die Entstehung der Nationalstaaten vollzog sich somit sozusagen „gegen den Wind“ liberaler und universalistischer Tendenzen und bleibt erklärungsbedürftig.

In der hier gebotenen Vereinfachung können wir zwei konvergierende Teilprozesse unterscheiden, die in nahezu allen Fällen eine erhebliche Rolle gespielt haben: die Entwicklung eines modernen Staatswesens und die Entfaltung eines nationalen’ Kollektivbewußtseins.

Die Entwicklung des modernen Staates vollzog sich als Entmachtung der seit dem 13. Jahrhundert aufstrebenden Stände (Klerus, Adel, Städte) durch die Konzentration der militärischen Machtmittel, durch Zusammenlegen der beherrschten Territorien, durch die Vereinheitlichung der Rechtsordnung und durch die Schaffung eines vom Privathaushalt des Fürsten unabhängigen Finanzwesens sowie eines sich seiner Willkür zunehmend entziehenden Beamtenstandes. Wirtschaftspolitisch bedeutungsvoll wurde die Abschaffung der inneren Zölle und damit die Herstellung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes. So gab es Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Gebiet des Deutschen Reiches zirka 1 800 Zollgebiete, allein innerhalb Preußens 67. Das preußische Zollgesetz von 1818 schaffte diese Binnenzölle ab und ersetzte sie durch einheitliche Grenzzölle. Der 1833 geschaffene Deutsche Zollverein schloß dann die meisten deutschen Länder (unter Ausschluß Österreichs!) zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet zusammen. Auch wenn die Entwicklung zunächst -von wenigen Ausnahmen wie den Niederlanden und England abgesehen -auf eine unbeschränkte (absolutistische") Fürstenherrschaft hinlief, gelang die angestrebte Vereinheitlichung der staatlichen Ordnung doch erst mit dem Übergang zum Verfassungsstaat und der damit verbundenen Einschränkung staatlicher Kompetenzen bzw.der Freisetzung der „bürgerlichen Gesellschaft“. Die staatliche Vereinheitlichung der Rechtsordnung und der Abbau aller Privilegien wurden nur um den Preis einer Selbstbegrenzung des staatlichen Gestaltungsanspruchs politisch durchsetzbar

Nicht weniger einflußreich und umstritten verlief zumeist die Formierung eines gemeinsamen Nationalbewußtseins. Die sozialen Identifikationen der Bevölkerung richteten sich bis dahin im wesentlichen auf den unmittelbar erfahrbaren Raum und nicht auf die abstrakte Ebene des immer größer werdenden staatlichen Gemeinwesens. Die Nation als „vorgestellte politische Gemeinschaft -vorgestellt als begrenzt und souverän“ -ist eine , Erfindung‘ des 18. und 19. Jahrhunderts, welche von meist bürgerlichen Publizisten propagiert wurde. In den meisten Ländern wurde das Bürgertum zum Träger der nationalen Bewegung, welche sich gleichermaßen gegen den Adel und die katholische Kirche richtete. In Deutschland hat auch die lutherische Anerkennung des Fürsten als Kirchenoberhaupt zur kulturellen Stabilisierung des Staates beigetragen. Wichtigste Voraussetzung des entstehenden Nationalbewußtseins war eine gemeinsame Sprache. Die Hochsprache hat sich bereits in der frühen Neuzeit zunächst meist als Verwaltungssprache sowie in der Form von Bibelübersetzungen etabliert, denen im protestantischen Gottesdienst zentrale Bedeutung zukam. Eine weitere Voraussetzung war die Verbreitung der Fähigkeit zu lesen und das Entstehen einer publizistischen Öffentlichkeit. Als institutioneile Voraussetzung sind in diesem Zusammenhang das Schul-und das Postwesen zu erwähnen, welche von den Staaten selbst gefördert wurden.

In der Fachliteratur zum Thema Nation und Nationalismus wird die Priorität des Staates vor der Nation betont, das Gemeinschaftsbewußtsein werde durch „social-engeneering“, also insbesondere durch das Militär als „Schule der Nation“ und durch das Bildungswesen geschaffen Demgegenüber ist auf die staatsbildende Bedeutung der nationalen Bewegung im Falle Italiens, der Schweiz und Deutschlands hinzuweisen. Die Staatsentwicklung und die Entwicklung eines Nationalbewußtseins haben somit unterschiedliche Ausgangskonstellationen, konvergieren jedoch in ihrer Wirkung, der Hervorbringung einer kulturell und rechtlich vereinheitlichten, durch eine kollektive, politisch repräsentierte Identität gekennzeichneten „Gesellschaft“.

Von da an vollzog sich die Geschichte als Nationalgeschichte, wurde die ihrem Ansatz nach kos-mopolitische Ökonomie zur Nationalökonomie, und es entwickelten sich auch nationale Wissenschaftskulturen. Der Nationalstaat verdrängte den tendenziellen Universalismus und Kosmopolitismus der Aufklärung. Die Beziehungen zwischen den Staaten wurden nunmehr völkerrechtlich konstruiert und damit inter-, national‘.

Die enge Verknüpfung von Staat und Volk als , Nation 1 wurde durch die seit Mitte des 19. Jahrhunderts fortschreitende Demokratisierung wesentlich gestärkt, und im 20. Jahrhundert, insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg, hat die sozial-oder wohlfahrtsstaatliche Entwicklung zur Legitimierung des Nationalstaates nachhaltig beigetragen. Die Demokratisierung schuf die Rolle des Staatsbürgers, die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung diejenige des Sozialbürgers. In beiden Rollen erfährt sich das Individuum nunmehr als in eine gesellschaftliche Solidarität eingebunden, welche staatlich konstituiert ist.

III. „Globalisierung“

Globalisierung hat offensichtlich mit der Überwindung der Grenzen nationalstaatlicher Gesellschaften zu tun, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Dabei empfiehlt es sich, zunächst drei grundsätzlich verschiedene Prozeßarten zu unterscheiden: Internationalisierung, Globalisierung und Trans-nationalisierung a) Mit Internationalisierung sollen diejenigen Prozesse bezeichnet werden, welche die trennende Bedeutung der Grenzen aushöhlen und die Bedeutung grenzüberschreitender Transaktionen für eine Nationalgesellschaft erhöhen. So internationalisiert sich die Wirtschaft nach Maßgabe des Anteils der Importe und Exporte; die Bevölkerung internationalisiert sich mit wachsendem Ausländeranteil; die Wissenschaft internationalisiert sich, wo das Gewicht ausländischer Experten für die nationale Reputation der Wissenschaftler zunimmt; die öffentliche Meinung internationalisiert sich, je mehr ausländische Radio-und Fernsehprogramme empfangen werden können. b) Globalisierung bedeutet die Entstehung weltweiter Kommunikation und die Intensivierung weltregionsübergreifender Austauschbeziehungen. Dank technischer Fortschritte, internationaler Abkommen und politischer Liberalisierungen führt die weltweite Vernetzung von Informationsund Verkehrsmitteln zu einem Schrumpfen der Übermittlungszeiten und zum Bedeutungsverlust räumlicher Distanzen, so daß immer mehr Ereignisse weltweit gleichzeitig wahrgenommen und mit immer kürzeren Verzögerungen an unterschiedlichen Orten der Welt wirksam werden können. Daraus resultieren weltweite Konfliktlagen wie Umweltprobleme, Menschenrechtskonflikte und Konfrontationen von Reichtum und Armut, für deren Bearbeitung geeignete Verfahren noch weitgehend fehlen. c) Von Transnationalisierung schließlich ist dort zu sprechen, wo und kollektive Akteure entstehen, die die nationalstaatlichen Rechtsordnungen übergreifen. Hierzu gehören zum einen völkerrechtliche Verträge, welche einen teilweisen Souveränitätsverzicht beinhalten, so insbesondere die Einbindung in multilaterale Bündnisse wie die NATO oder die Europäische Union. Transnational werden andererseits auch Wirtschaftsunternehmen, die sich eine von bestimmten nationalen Standorten weitgehend unabhängige Ordnung und Struktur gegeben haben und als „globale Spieler“ für jede ihrer Aktivitäten nach dem jeweils günstigsten Wirt suchen: zum Beispiel Produktion in Indien, Verkauf in Deutschland und Versteuerung auf den Virgin Islands. Von größter politischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Verwandlung von Großbanken und Versicherungsgesellschaften in transnationale Finanz-und Devisenmakler und damit verbunden die Entstehung weltweit operierender Finanzmärkte (vgl. Kapitel IV). Es entstehen aber auch transnationale Verbände (sogenannte Nicht-Regierungs-Organisationen -NGOs) und nicht zuletzt transnationale Netzwerke von Migranten, deren Wirkungen noch weitgehend unerforscht sind

Betrachten wir diese Entwicklungstendenzen im historischen Zusammenhang, so zeigt sich, daß jede für sich genommen in einer historischen Kontinuitätsteht. Seit dem Hochmittelalter können wir die Entstehung und allmähliche Verdichtung überregionaler Verkehrsnetze beobachten, wobei sich die Transportmittel allmählich beschleunigen, zuverlässiger werden und immer größere Menschen-und Gütermengen zu bewegen vermögen. Die jüngsten Entwicklungen einer grundsätzlich multimedialen Vernetzung der Welt und der Ausbau der Kapazitäten der Informationsvermittlung stellen ebenso wie die Verdichtung der Verkehrs-und Transportnetze nichts grundsätzlich Neues, sondern lediglich eine Beschleunigung und Intensivierung der seit Jahrhunderten zu beobachtendenTrends dar. Dennoch schlägt hier Quantität insofern in Qualität um, als dadurch der Anteil grenzüberschreitender Transaktionen überproportional gesteigert werden kann, was eine Vorbedingung zunehmender Internationalisierung ist.

Die wachsende Internationalisierung betrifft nicht die Gesellschaft als Ganzes, sondern im wesentlichen bestimmte Teilbereiche. Sehr unterschiedlich ausgeprägt sind die Migrationsströme, von denen Deutschland besonders betroffen ist. Weltweit überproportional zugenommen hat in den letzten Jahrzehnten der internationale Warenaustausch, doch erreichte der Anteil des Außenhandels im Verhältnis zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung vor dem Ersten Weltkrieg in vielen Ländern bereits ähnliche Größenordnungen. Das Ausmaß des internationalen Handels ist eng mit dem herrschenden Währungssystem verbunden. Zur Zeit des internationalen Goldstandards (1885-1914) war die Konvertibilität der Währungen mindestens ebenso gut gesichert wie heute. Auch der wissenschaftliche Austausch war um die Jahrhundertwende bereits lebhaft. Nur in der Epoche zwischen den beiden Weltkriegen erwiesen sich die nationalen Grenzen als radikale Interdependenzunterbrecher. Neuartig erscheint dagegen auf den ersten Blick das Entstehen transnationaler kollektiver Akteure. In der Tat konnte der souveräne Nationalstaat keine Macht über sich anerkennen, daher die fortgesetzten Spannungen zum ersten trans-nationalen Akteur, der katholischen Kirche. Völkerrechtliche Verträge führten stets nur zu spezifischen Verpflichtungen. Gebilde wie die Europäische Union oder auch die NATO sind mit dem herkömmlichen Souveränitätsverständnis nicht vereinbar. Verbandsmäßige Zusammenschlüsse von Staaten stellen jedoch keinen grundsätzlich anderen Vorgang dar, als er auch im Rahmen der nationalstaatlichen Zusammenschlüsse Italiens, der Schweiz oder Deutschlands zu beobachten war. Die europäische Integration kann daher sowohl als Ausdruck transnationaler Entwicklungen als auch als Versuch einer politisch-sozialen Reintegration auf europäischer Ebene verstanden werden.

IV. Gehen wir einer transnationalen Dominanz des Geldes entgegen?

Tatsächlich neu ist hingegen der Autonomiegewinn der Geld-und Finanzwirtschaft, welche sich zunehmend nicht nur der staatlichen Kontrolle und Besteuerung entzieht, sondern über die inter-nationalen Finanz-und Devisenmärkte geradezu selbst zur Kontrollinstanz staatlicher Wirtschaftspolitik wird. Dies bedarf einer verdeutlichenden Darstellung.

Daß „Geld die Welt regiert“, ist eine alte Volksweisheit, die jedoch bis dato keine wissenschaftliche Dignität beanspruchen konnte. Zwar hatte schon die marxistische Gesellschaftsanalyse die „Herrschaft des Kapitals“ zu belegen versucht, doch ist die marxistische Unterschätzung des „bürgerlichen Staates“ für das Jahrhundert zwischen 1870 und 1970 notorisch. Die Demokratisierung des Staates und der ihr bald vorausgehende, bald nachfolgende Ausbau von sozialen Schutz-und Sicherungssystemen wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg die staatliche Beschäftigungspolitik vermochten die Folgen der wirtschaftlichen Konkurrenz zu dämpfen, ohne diese aufzuheben. Die führenden europäischen Nationalstaaten erwiesen sich nun als stark genug, um durch eine autonome Währungs-und Finanzpolitik innerhalb ihrer Grenzen annähernde wirtschaftliche und soziale Gleichgewichte aufrechtzuerhalten. Tonangebend waren in den meisten Staaten christlich-demokratische und/oder sozialdemokratische Parteien, welche nach dem Motto „Weder Kapitalismus noch Sozialismus“ nach einem dritten, zumeist als wohlfahrtsstaatlich bezeichneten Weg suchten, der auch basalen moralischen Ansprüchen entsprechen sollte.

Unter Außerachtlassung durchaus vorhandener nationaler Unterschiede läßt sich das „wohlfahrtsstaatliche Arrangement“ wie folgt typisieren:

In der Produktionssphäre bleiben das Privateigentum und die unternehmerische Dispositionsfreiheit grundsätzlich gewahrt; beide werden allerdings einschränkenden Bedingungen unterworfen, um die Machtdifferenz zwischen den Unternehmern und ihren Arbeitskräften zu relativieren und um unerwünschte Effekte, das heißt außerhalb der Kostenrechnungen der Betriebe anfallende „soziale Kosten“, zu reduzieren. In der Verteilungssphärewird die nach marktwirtschaftlichen Prinzipien ausschließlich am Entgelt für Produktionsfaktoren orientierte primäre Einkommensverteilung durch eine staatlich organisierte sekundäre Einkommensverteilung korrigiert, welche auch den nichterwerbstätigen und unvermögenden Bevölkerungsgruppen (Alte, Behinderte, Kinder, Arbeitslose) ein Einkommen sichert. In der Reproduktionssphäre werden die Leistungen der privaten Haushalte durch öffentlich subventionierte oder voll finanzierte Dienstleistungen des Bildungs-, Gesundheits-und Sozialwesens ergänzt und unterstützt. Das wohlfahrtsstaatliche Arrangement beruht somit auf einem autonomen, das heißt wirtschafts-und sozialpolitisch steuerungs7 fähigen Staat, einer funktionierenden Marktwirtschaft und einem ausgebauten Sozialsektor, der die Wohlfahrtsproduktion der Privathaushalte ergänzt und unterstützt

Die wachsende Anteile des Volkseinkommens absorbierende wohlfahrtsstaatliche Entwicklung vollzog sich im wesentlichen in einer historisch einmaligen langfristigen Wachstumsphase der europäischen Volkswirtschaften, welche durch die Überbewertung des Dollars im Währungssystem von Bretton Woods (1948) und damit verbunden durch außergewöhnlich günstige internationale Austauschverhältnisse stabilisiert wurde. Zwei zeitlich nahe beieinander liegende Ereignisse haben diese Konstellation aufgelöst: die Kündigung der Goldbindung des Dollars durch die USA (1971) und die massive Erhöhung der internationalen Ölpreise durch das Kartell der erdölproduzierenden Staaten (1973). Seither bestimmt sich der relative Wert der nationalen Währungen durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf den Devisenmärkten, es gibt keine dem Goldpreis vergleichbare gemeinsame Basis mehr. Die Ölpreiserhöhungen verschlechterten die internationalen Austauschverhältnisse für die auf Ölimport angewiesenen Staaten direkt; gleichzeitig erwirtschafteten die ölproduzierenden Länder Zahlungsbilanzüberschüsse in Milliardenhöhe, welche deren Eliten im eigenen Land nicht investieren konnten oder wollten. So wurden die „Petrodollars“ das erste Beispiel transnationaler vagabundierender’ Finanzkapitale, die in größerem Umfang zu Währungsspekulationen eingesetzt werden.

Bekanntlich steigt in Europa seit 1974 die Arbeitslosigkeit trendmäßig mit jedem neuen Konjunkturzyklus an, und ein Ende ist nicht abzusehen. Über die Ursachen und erst recht über mögliche Therapien sind die Gelehrten wie auch die Politiker tief zerstritten. Offensichtlich ist nur, daß die Beschäftigungslosigkeit in der Regel nicht die gut qualifizierten und hochbezahlten Arbeitskräfte trifft, sondern die weniger Produktiven oder Anpassungsfähigen, deren Anteil an der Erwerbs-bevölkerung sowohl aus Gründen der Produktivitätsentwicklung wie auch aus demographischen Gründen zunimmt. Der Anteil der zu Marktbedingungen langfristig Beschäftigten geht zurück, und der Anteil der unter instabilen Beschäftigungsverhältnissen Lebenden wie auch derjenige der völlig von Sozialleistungen Abhängigen nimmt zu. Das verschärft die innerstaatlichen Verteilungskonflikte.

Diese durch die Internationalisierung der Güter-märkte wie auch durch tarifpolitische Starrheiten und die Veränderung der privaten Lebensformen induzierten Beschäftigungs-und Verteilungsprobleme würden die europäischen Nationalgesellschaften auch dann unter Druck setzen, wenn es keine globalen Finanzmärkte gäbe. Die Liberalisierung des Kapitalverkehrs in Europa, als deren Marksteine die Deregulierung des Londoner Finanzmarktes („Big Bang“ 1986) und die völlige Liberalisierung des Kapitalverkehrs in der Europäischen Union (1990) gelten können, überlagert und verschärft jedoch die innenpolitischen Probleme nachhaltig.

Mehr und mehr scheinen sich die Inhaber großer Kapitalien von Transaktionen auf den Finanzmärkten größere Gewinne zu erhoffen als von Investitionen, das heißt, ihre Liquiditätspräferenz nimmt zu, was tendenziell das Beschäftigungsniveau beeinträchtigt. So stieg zwischen 1990 und 1995 die weltweite Güterproduktion um ein Drittel, die Exporte vermehrten sich um die Hälfte, die Umsätze auf den Finanzmärkten dagegen stiegen um 230 Prozent; bezogen auf das Jahr 1972 hat sich die Weltproduktion verachtfacht, das Volumen der Exporte verdreizehnfacht, die Umsätze auf den Finanzmärkten dagegen sind um das 43fache gestiegen Der Finanzsektor ist im übrigen auch der am stärksten wachsende Sektor der Weltwirtschaft, so daß man von einer wachsenden „Entstofflichung der Weltwirtschaft“ sprechen kann

Bezogen auf die Probleme der Nationalgesellschaften sind drei Wirkungen dieser neuen , unstofflichen'Weltwirtschaft hervorzuheben: Die Transnationalisierung der Finanzmärkte erleichtert es erstens jedermann, sein Kapital der Kontrolle eines bestimmten Staates zu entziehen und mögliche Standortvorteile (zum Beispiel geringe Steuern) zu nutzen. Und die Banken, Versicherungen, Pensionsfonds u. ä.setzen bei ihren Aktivitäten auch die Ersparnisse von Personen ein, die zu solchem Tun weder motiviert noch in der Lage wären. Die gesteigerte Mobilität des Kapitals bewirkt zweitens einen erheblichen Machtgewinn auf der Kapitalseite, und zwar sowohl in der Führungsphilosophie der Unternehmungen („shareholder value“) als auch in Tarifverhandlungen und schließlich im Bereich der politischen Rücksichtnahme auf Kapitalinteressen aus sogenannten Standortgründen. Drittens -und dies ist wahr-scheinlich die weitreichendste Konsequenz -geraten erhebliche Teile nationaler Politik in eine indirekte Abhängigkeit von den internationalen Finanzmärkten: Das Urteil der internationalen Finanzexperten über die wirtschaftliche Stärke bestimmter Länder und die wirtschaftspolitische Disziplin ihrer Regierungen steuert die Spekulation auf den internationalen Devisenmärkten, wie zuletzt das Beispiel der ostasiatischen , Tigerstaatengezeigt hat.

Es findet mit anderen Worten ein Autonomieverlust der nationalen Regierungen statt, der vom ausdrücklichen Souveränitätsverzicht im Zusammenhang mit transnationalen Verbandsbildungen zu unterscheiden ist. Beides zusammen bewirkt jedoch, daß die Vorstellung vom Nationalstaat als einer demokratisch sich selbst steuernden Schicksalsgemeinschaft immer unrealistischer wird. Damit wird auch die herkömmliche Vorstellung der Nationalgesellschaft fragwürdig. Die unterschiedlichen Sektoren menschlichen Zusammenlebens bekommen eine unterschiedliche räumliche Reichweite, sie decken sich real und zunehmend auch bewußtseinsmäßig immer weniger mit den Grenzen des Nationalstaates. Einerseits gewinnen regionale und örtliche Interessen an Bedeutung, andererseits transnationale. Dennoch wird die politische Ebene des Nationalstaates ihre Bedeutung nicht verlieren, sondern nach wie vor als Zurechnungszentrum von politischen Entscheidungen eine zentrale Rolle spielen. Nur -über die Entscheidungsbedingungen kann dort immer weniger verfügt werden

V. Kulturelle Konsequenzen

Auf die Dauer sind hier auch Konsequenzen für das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit zu erwarten. Diese als „Entsolidarisierung“ zu bezeichnen ist allerdings zu einfach, auch wenn entsprechende Beispiele offenkundig sind. Der Haupttrend ist wohl eine Differenzierung der Solidaritätshorizonte -vom Familialen und Örtlichen bis zum Globalen, und daher ermöglichen ethische Rechtfertigungen eine größere Flexibilität. Die nationale Solidarität verliert an Gewicht, und eben dies wird als „Krise von Gesellschaft“ wahrgenommen.

„Gesellschaft“ als einheitlicher und gemeinsamer Horizont von Handlungsmöglichkeiten löst sich auf, nicht aber das menschliche Zusammenleben.

Ob man die gegenwärtige Entwicklung als Entwicklung zu einer „Weltgesellschaft“ bezeichnen soll, steht auf einem anderen Blatt. Auf jeden Fall würde dann der Gesellschaftsbegriff einen anderen Sinn als den bisherigen gewinnen Realistischer scheint es zu sein, die unterschiedliche Reichweite relevanter Interaktionszusammenhänge systematisch in Betracht zu ziehen.

Die größte Reichweite kommt den Finanz-und den massenmedialen Informationsströmen zu; sie werden tendenziell weltweit und beruhen zunehmend auf vereinheitlichten technischen Standards. Es entsteht somit tatsächlich eine universelle , Weltkultur 4, die sich zum Beispiel in einer einheitlichen Zeitrechnung, in gleichförmigen Standards für Maße, Gewichte, Geld, mediale Netzwerke oder in international einheitlichen Orientierungssymbolen (Icons) manifestiert. Im Gegensatz zu den Hoffnungen der Aufklärung bleibt diese Welt-kultur jedoch auf lebensdienliche Trivialitäten beschränkt und führt nicht zu einheitlichen normativen Leitvorstellungen, wie dies einem emphatischen Kulturbegriff entspräche. Statt dessen steigt die Konfrontation mit dem Fremden, Andersartigen im kulturellen Bereich, aber auch die Einsicht in nationsübergreifende, jedoch nicht globale kulturelle Gemeinsamkeiten, etwa einer , islamischen 4 oder abendländischen’ Kultur. Zwar entwickelt sich innerhalb dieser Kulturen ein wachsendes , Weltbewußtsein 4, doch ist es eine durchaus offene Frage, inwieweit diese Vorstellungen konvergieren. Vor allem im asiatischen Raum läßt sich der Versuch beobachten, zwar die ursprünglich westlichen naturwissenschaftlich-technischen Errungenschaften zu übernehmen, sie jedoch dem eigenen kulturellen Kontext zu adaptieren ´

Die heute hervortretenden transnationalen kulturellen Grenzen sind in den Tiefen millenärer Vergangenheiten verankert, wobei vor allem religiöse Differenzen erstaunliche Langzeitwirkungen zeitigen. Daraus braucht allerdings kein politischer Kulturkonflikt zu entstehen; vielmehr bleiben innerhalb dieser kulturellen Horizonte die Nationalstaaten die wichtigsten kollektiven Akteure, wobei jedoch das kulturprägende Moment staatlicher Politik zurückgeht und eine größere kultu-teile Heterogenität -von der Regionalkultur bis zu transnationalen Bewegungen -öffentlich wird

Deutlicher als bisher dürften jedoch auch subnationale Gemeinsamkeiten wiederum interessenformierend wirken; das gilt insbesondere für die großen Staatswesen Europas wie Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien. Dort gewinnen seit längerem regionale Bewegungen an Gewicht, in Deutschland verstärkt durch die bereits bestehende politische Struktur der Länder. Es fällt auf, daß es vor allem kleinere Staaten (zum Beispiel die Niederlande, die Schweiz und Schweden) sind, welche zum Teil schmerzhafte Anpassungsprozesse an die veränderten globalen Konkurrenzbedingungen ohne größere innere Konflikte durchlaufen haben. Offensichtlich sind hier interessenübergreifende Bindungskräfte in höherem Maße wirksam als in größeren oder durch historisch bedingte Regionalkonflikte geteilten Staaten (zum Beispiel Belgien, neuerdings auch die vereinte Bundesrepublik). Die Politik der Europäischen Union zielt denn auch auf die Stärkung der Regionen, was sich auf die Dauer auch als Schwächung der nationalen Solidaritäten auswirken kann.

Offen scheint derzeit die Frage, inwieweit mit dem Wegfall des , äußeren Feindes 4 seit dem Zerfall des Warschauer Paktes erneut weltanschauliche Gegensätze in Westeuropa aufbrechen. Zweifellos hat die Angst vor dem Sozialismus in Wirtschaftskreisen zu einer erhöhten Akzeptanz sozialpolitischer Forderungen geführt, und so überrascht es wenig, daß seit dem Ende des Sozialismus die von den Vereinigten Staaten ausgehende liberale Wirtschaftsdoktrin auch innerhalb der europäischen Wirtschaft und Politik eine wachsende Anhängerschaft findet. Inwieweit sich die bestehenden Interessengegensätze zu weltanschaulichen Gegensätzen hochschaukeln, ist damit noch nicht entschieden. Es erscheint jedoch nicht unplausibel, daß die starke Dethematisierung kulturell-normativer Unterschiede in der , Postmoderne 1 nicht das letzte Wort der europäischen Kulturgeschichte ist. Vor allem die Frage nach den Bildungsinhalten läßt in absehbarer Zeit neue Kontroversen erwarten. Angesichts der Vernachlässigung der Bildungspolitik in Deutschland könnte in diesem Zusammenhang auch das weitgehende Bildungsmonopol der Staatsschulen in Frage gestellt werden

Als Konsequenz der skizzierten Entwicklungen ergeben sich neuartige Zumutungen an das menschliche Zusammenleben. Erstens: Wir müssen lernen, bewußt mit geteilten Solidaritäten zu leben, das heißt, uns in verschiedenen Hinsichten mit unterschiedlichen Kollektiven zu identifizieren. Dies haben die meisten Zeitgenossen in hochdifferenzierten Gesellschaften längst gelernt, es muß nun aber bewußt auf die unterschiedlichen Niveaus von Politik ausgedehnt werden. Das gilt auch für Staatstheorien, welche für die Zukunft die Aufgaben des Staates unter explizitem Verzicht auf die Prämisse der Souveränität zu bedenken haben Sodann: Als politisch Verantwortliche müssen wir diese zunehmende Komplexität der Identifikationen bewußt berücksichtigen und die gestiegene Unsicherheit des politischen Konsenses in Rechnung stellen. Stures Beharren auf den eigenen Interessenpositionen wird sich unter solchen Bedingungen immer seltener auszahlen. Und schließlich: Soll die wachsende Vernetzung der Solidaritäten nicht zum Immobilismus führen, so sind strukturelle Reformen im Sinne einer Entkoppelung der Zuständigkeitsbereiche verschiedener politischer Ebenen dringlich. Deutschlands Erfahrungen mit der föderalistischen Politikverflechtung und die daraus resultierenden Reform-blockaden können hier ein warnendes Beispiel sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Friedrich Heinrich Tenbruck, Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie, 10 (1981) 4, S. 330-350.

  2. Vgl. Manfred Riedel, Der Begriff der . Bürgerlichen Gesellschaft'und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs, in: ders., Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1969, S. 135-166.

  3. Vgl. Horst Firsching, Die Sakralisierung der Gesellschaft. Emile Durkheims Soziologie der, Moral* und der . Religion* in der ideenpolitischen Auseinandersetzung der Dritten Republik, in: Volkhard Krech/Hartmann Tyrell (Hrsg.), Religionssoziologie um 1900, Würzburg 1995, S. 159-193.

  4. Vgl. Charles Tilly, Reflections on the History of European State-Making, in: ders. (Hrsg.), The Formation of National States in Western Europe, Princeton, N. J. 1975, S. 15.

  5. Zu den hier nicht im einzelnen nachzuzeichnenden Pha~

  6. So die Definition von Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 19932, S. 15.

  7. So etwa Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, München 1996, S. 21 f.

  8. Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt am Main 1997, S. 118 ff.

  9. Vgl. Christina Blanc-Szanton, Transnationalismus: Ein neuer analytischer Rahmen zum Verständnis von Migration, in: Heinz Kleger (Hrsg.), Transnationale Staatsbürgerschaft, Frankfurt am Main -New York 1997, S. 81-107.

  10. Vgl. F. -X. Kaufmann (Anm. 8), S. 27 ff.

  11. Vgl. Informationsdienst des Instituts der Deutschen Wirtschaft vom 2. Januar 1997, S. 3.

  12. Ulrich Menzel, Die postindustrielle Revolution -Tertiarisierung und Entstofflichung der postmodernen Ökonomie, in: Entwicklung und Zusammenarbeit, 36 (1995) 4, S. 100 ff. Zu diesem Komplex vgl. auch die kontroversen Positionen in: Hans Büttner/Peter Hampe (Hrsg.), Die Globalisierung der Finanzmärkte: Auswirkungen auf den Standort Deutschland, Mainz-München 1997.

  13. Vgl. als systematischen Überblick: Fritz W. Scharpf, Globalisierung als Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten staatlicher Politik, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Discussion Paper 97/1, Köln 1997.

  14. Vgl. zuletzt Rudolf Stichweh, Zur Theorie der Welt-gesellschaft, in: Soziale Systeme -Zeitschrift für soziologische Theorie, 1 (1995) 1, S. 29-45. Kritisch dazu Gerhard Wagner, Die Weltgesellschaft -Zur Überwindung einer soziologischen Fiktion, in: Leviathan, 24 (1996) 4, S. 539-556.

  15. Vgl. z. B. Helmut Buchholt u. a. (Hrsg.), Modernität zwischen Differenzierung und Globalisierung: Kulturelle, wirtschaftliche und politische Transformationsprozesse in der sich globalisierenden Moderne, Münster 1996; sowie grundsätzlicher: Emanuel Richter, Der Zerfall der Welteinheit. Vernunft und Globalisierung in der Moderne, Frankfurt am Main-New York 1992, insb. S. 242 ff.

  16. Vgl. hierzu Peter L. Berger (Hrsg.), Die Grenzen der Gemeinschaft. Konflikt und Vermittlung in pluralistischen Gesellschaften. Ein Bericht der Bertelsmann-Stiftung an den Club of Rome, Gütersloh 1997; ebd. eine kritische Auseinandersetzung mit der Kulturkonfliktthese von Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen -The Clash of Civilizations, München 1996.

  17. Vgl. Konrad Adam, Stärker, nicht besser Wie die Staatsschule Konkurrenz vermeidet, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. März 1998, S. 37.

  18. Vgl. hierzu F. -X. Kaufmann (Anm. 5), S. 33 ff.

Weitere Inhalte

Franz-Xaver Kaufmann, Dr. oec., Dr. theol. h. c., Dr. oec. h. e., geb. 1932; Professor emeritus für Sozialpolitik und Soziologie an der Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie. Jüngste monographische Veröffentlichungen: Zukunft der Familie im vereinten Deutschland. Gesellschaftliche und politische Bedingungen, München 1995; Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt am Main 19982.