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Umbruch -Wende -Revolution Deutungsmuster des deutschen Herbstes 1989 | APuZ 40-41/1997 | bpb.de

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APuZ 40-41/1997 Der Besuch September 1987: Honecker in der Bundesrepublik Umbruch -Wende -Revolution Deutungsmuster des deutschen Herbstes 1989 Innere Einheit -aber wo liegt sie? Eine Bestandsaufnahme im siebten Jahr nach der Wiedervereinigung Deutschlands Vereinigungsbilanzen Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften Sieben Jahre deutsche Einheit: Rückblick und Perspektiven in fiskalischer Sicht Artikel 1

Umbruch -Wende -Revolution Deutungsmuster des deutschen Herbstes 1989

Ludger Kühnhardt

/ 19 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Zur Charakterisierung von „ 1989“ haben sich alltagssprachlich eher die Begriffe „Umbruch“ oder „Wende“ durchgesetzt. Weder aber sind sie normativ-ideologisch unstrittig, noch können sie ausreichende analytische Kraft entfalten, um die Grundwelle der Veränderungen, ihre Ursachen und Folgen zu erfassen. Der Revolutionsbegriff greift tiefer und holt weiter aus. Im Rückgriff auf die Revolutionstheorie von Hannah Arendt bedarf es indessen einer Neureflexion über den Revolutionsbegriff, um ihn als analytische Kategorie zur Beschreibung der deutschen und europäischen Umwälzungen von 1989/90 brauchbar werden zu lassen und seiner ideologischen Prägungen zu entkleiden. Es gilt, zwischen „guten“ und „schlechten“ Revolutionen zu unterscheiden -jenen, die konstitutionell gebändigt werden, und solchen, die als permanenter sozialer Unruheherd weiterschwelen. In diesem Sinne war „ 1989“ für Deutschland eine „gute“ Revolution.

I. Vorbemerkungen

Otto von Bismarck hat die Zusammenschau seiner politischen Erfahrungen und Reflexionen nach dem Ausscheiden aus dem Amt als Reichskanzler unter dem eigentümlich verqueren Titel „Gedanken und Erinnerungen“ zusammengefaßt Wäre es nicht logisch korrekter gewesen, von „Erinnerungen und Gedanken“ zu sprechen? Kommt nicht erst die Erinnerung und dann ihre gedankliche Reflexion? Gerade weil dies so ist, hat es der Begriff „Revolution“ offenbar schwer, sich zur Charakterisierung der großen politischen Umbrüche in Deutschland 1989/90 durchzusetzen. Denn die gedankliche Reflexion über jene „Wendezeit der Geschichte“, eine Wortprägung des Historikers Karl Dietrich Bracher vollzog sich in den seither vergangenen Jahren eher anhand der zeitgeschichtlichen Zeugenschaft als aufgrund analytischer Reflexionen.

Bundeskanzler Helmut Kohl, beispielsweise, ließ seine semiautobiographische Darstellung der ebenso faszinierenden wie dramatischen Ereignisse von 1989/90 betiteln: „Ich wollte Deutschlands Einheit“ Horst Teltschik, damals sein engster außenpolitischer Mitarbeiter, benannte seinen Tagebuchbericht „ 329 Tage. Innenansichten der Einigung“ und Wolfgang Schäuble, als Bundesinnenminister der Architekt des deutschen Einigungsvertrages, zog seine erinnernde Bilanz unter dem Titel „Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte“

Mit dem Begriff des Einigungsvertrages wird das Faktum der Einigung der lange getrennten zwei deutschen Teilstaaten zum Kern der politischen Umwälzungen 1989 und ihrer Folgen 1990 gemacht. Wenn Wolf Lepenies mit Blick auf die Aufgaben der Einigung, die sich aus der Einheit ergeben haben, von den „Folgen einer unerhörten Begebenheit“ sprach, so nähm auch er als Referenzpunkt seiner essayistischen Betrachtungen das Faktum des staatlichen Zusammenschlusses und des nachfolgenden gesellschaftlichen Zusammenwachsens. Ob Einheit, Einigung oder Vereinigung -nur noch selten wurde der Begriff der Wiedervereinigung verwendet -, von den Ursachen und Zusammenhängen, in denen dieser staatspolitische und gesellschaftliche Vorgang stand, war kaum mehr die Rede. Im Vordergrund standen die Folgen, nicht aber die Ursachen und Umstände der deutschen Variante von „ 1989“.

Wolfgang Schäuble brachte in seinem Bericht eine Sichtweise auf den Punkt, die geradezu einen Gegensatz zwischen dem Vorgang der staatsrechtlichen Einigung und der Deutung der ihr vorausgegangenen Ereignisse und Prozesse als einer Revolution nahelegte: „Revolutionen, das zeigt die Geschichte, beschleunigen sich, werden mächtiger, reißen dann wie Lawinen alles mit sich. Die deutsche Revolution war, so gesehen, keine richtige Revolution. Und das war gut so -im Interesse der Einheit. Wäre Blut geflossen, hätten wir, meiner Ansicht nach, die Vereinigung nicht erreicht.“ Das entsprechende Kapitel von Schäubles Buch ist überschrieben: „Unvollendete Revolution. Die friedliche Überwindung des SED-Staates“. Die Einheit wird als Antithese zur Revolution gedeutet, denn diese war auch für Schäuble nur mit fließendem Blut vorstellbar.

II. „Umbruch“ oder „Wende“ -zwei unscharfe Begriffe

In der wissenschaftlichen Literatur, die sich mit „ 1989“ und dem Weg zur deutschen Einheit befaßt, finden sich gewöhnlicherweise Begriffe wie „Umbruch“ oder „Wende“, oder auch Charakterisierungen wie „Zuspitzung der Krise“ und „Zusammenbruch“ Der Begriff des „Umbruchs“ entspringt in diesem Zusammenhang wohl eher dem Vokabular der seinerzeitigen Medienberichterstattung, gehört aber auch zu jenen Kategorien des politischen Vokabulars, die den Niedergang des kommunistischen Totalitarismus in der DDR noch im nachhinein eher beschönigen -oder auch nur frühere Publikationen der entsprechenden Autoren über diese Vergangenheit! -und die neuen Verhältnisse als Folge eines sozialplanerischen, harmlosen Umbauprozesses zu charakterisieren wünschen. Ganz zugespitzt findet sich diese Position in jener Literatur, in der der „Umbau der DDR“ als Strategie gegen die deutsche Einheit postuliert worden ist

Maßvoller, analytischer und unideologischer wird der Begriff des „Umbruchs“ in wissenschaftlichen Studien verwendet, die Einzelaspekte der Veränderung empirisch zu erfassen suchen oder in solchen Veröffentlichungen, die ganz bewußt auf eine präzise Begriffsbestimmung verzichten, um den Gesamtzusammenhang der Veränderungen um und nach „ 1989“ durch die Verwendung des Wortes „Umbruch“ sprachlich zu bewahren Als analytische Kategorie zur vollen Entschlüsselung der Vorgänge, die 1989 ihren Höhepunkt erreichten, reicht der Begriff des Umbruchs nicht aus. Hans Maier hat in einer Betrachtung über „Geistige Umbrüche in Deutschland 1945-1995“ darauf hingewiesen, daß der Begriff des „Umbruchs“ ebenso unscharf ist wie der von Historikern gerne und häufig verwendete Begriff der „Epoche“. Letzterer meinte in seinem griechischen Ursprungsbegriff „... ein Anhalten, eine Pause, eine Unterbrechung“ Wer Bestehendes anhält und wer den Gang der Dinge unterbricht, ehe eine neue Konstellation sich einstellt, bleibt sowohl bei der Verwendung des Begriffs „Umbruch“ als auch des Begriffs „Epoche“ ungeklärt. „Beide Worte“, so Hans Maier, „haben eine Tendenz zum Anonymen, Unpersönlichen. Umbrüche sind nur in bescheidenem Maße zurechenbar. Sie lassen sich nicht ohne Umschweife auf persönlich Verantwortliche oder gar Schuldige zurückführen.“

Der Begriff der „Wende“ hat sich im Zusammenhang mit den Vorgängen von 1989/90 und dem Weg zur deutschen Einheit vielerorts eingebürgert. Er geht so rasch und leicht über die Lippen, erscheint unkontrovers, harmlos und „irgendwie“ nicht falsch. Dabei haftet ihm, mehr noch als jedem anderen in diesem Zusammenhang verwendeten Wort, bei genauerer Betrachtung eine ärgerliche ideologische Konnotation an. Geprägt wurde das Wort von der „Wende“ nämlich nicht von behutsamen Interpreten des Gewesenen, sondern von Akteuren der Verhinderung einer wirklichen Veränderung. Genauer gesagt von Egon Krenz. Am 18. Oktober 1989 wurde dieser vom Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zum Generalsekretär und damit in dieser Funktion zum Nachfolger von Erich Honecker berufen. In seiner ersten Rede beschwor er „die längst als unglaubwürdig diskreditierte -Politik der Einheit von Kontinuität und Erneuerung, nicht ohne dabei uneingeschränkt das politisch-ideologische Herrschaftsmonopol der Partei zu reklamieren“ In diesem Zusammenhang benutzte Krenz den Begriff der „Wende“, die er einleiten wolle, und stellte „Zugeständnisse in Aussicht, die wenige Monate zuvor noch breite Zustimmung gefunden hätten -eine Erneuerung des politischen Systems, eine Reform in Wirtschaft und Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit, Verfassungsgerichtsbarkeit, eine Amnestie, eine neue Medienpolitik, Reiseerleichterungen -, aber sie kamen zu spät“ Bald machte das Wort von den „Wendehälsen“ die Runde.

Krenz’ „Wende“ beschleunigte die Veränderungsprozesse entgegen seiner eigentlichen Zielsetzung. Der Begriff der „Wende“ aber überlebte die DDR und wird seither umgangssprachlich sowohl zur Charakterisierung der Veränderungen in der krisenhaften Endphase der DDR als auch zur Benennung des gesamten Prozesses, einschließlich der deutschen Einheit, verwendet. Das „Copyright“ von Krenz und die damit intendierte Politik eines „gewendeten Sozialismus“ sind weithin vergessen. Analytische Schärfe besitzt der Begriff ohnehin nicht. Im Gegenteil: Noch eindeutiger, als dies für gewisse Verwendungen des Begriffs „Umbruch“ gilt, ist der Begriff der „Wende“ in seiner seiner-zeitigen politischen Absicht zu erkennen; er ist eine Verharmlosungsformel gegenüber Charakter und Qualität der DDR.

III. Verwendung und Interpretation des Begriffs „Revolution“

Bleibt der Begriff der „Revolution“. Eingebürgert hat sich die Verwendung des Revolutionsbegriffs in Verbindung mit dem Epitheton „friedlich“ Damit wird vor allem auf die gewaltfreien Massendemonstrationen hingewiesen und auf die maßvolle Zurückhaltung der DDR-Staatsmacht in ihren Gegenmaßnahmen. Es kam zu keinem deutschen Tien-amen-Massaker. In diesem Sinne wurden die Demonstranten und Aktivisten der DDR-Bürgerbewegungen zu Trägern einer „friedlichen Revolution“ erklärt, zumeist deskriptiv in den Massenmedien

Zuweilen fiel eine ironische Verwendung des Revolutionsbegriffs auf, die aus der Retrospektive die These von einer „abgebrochenen“ oder sogar „verratenen“ Revolution untermauern sollte Differenzierter war da schon die Analyse von Jürgen Habermas, der eine Aufsatzsammlung mit dem Titel „Die nachholende Revolution“ versah und damit die Veränderungen im Sinne einer Art linker Selbstkritik materialistisch und modernisierungstheoretisch deuten wollte

Revolutionszeiten ist stets die Vieldeutigkeit ihrer Interpretation zu eigen gewesen. Zumeist klärt sich der Blick erst mit gebührender Distanz auf die Ereignisse. Von Mao Tse-tung ist das Bonmot überliefert, er könne die Wirkungen der Französischen Revolution noch nicht abschließend beurteilen -dafür sei es noch zu früh! Die üblichen Verwendungen des Begriffs „Revolution“ zur Deutung der großen Veränderungen in Deutschland und Europa 1989/90 lassen sich in drei Kategorien einteilen: 1. Revolution als bürgerschaftlicher Aufbruch gegen die Diktaturen des spättotalitären Kommunismus, wobei sich die machtpolitischen Ambitionen dieses Aufbegehrens im Zuge der Entwicklung erst schrittweise verfestigten und radikalisierten; 2. Revolution im Sinne eines prinzipiellen Systemwechsels, der aufgrund des gewaltfreien Charakters im Regelfall mit dem Beiwort „friedlich“ verbunden, um nicht zu sagen geschmückt wird; 3. Revolution als Vision einer ganz anderen Welt, die sich überall dort nicht von ihrer ursprünglich linken, antikapitalistischen und latent antiparlamentarischen Ursprungsidee lösen konnte, wo nach dem Vollzug der deutschen Einheit das Wort von der „abgebrochenen“

oder gar von der „verratenen“ Revolution auf-kam.

Von diesem letzten, sozialrevolutionär eingefärbten Begriff geht im Grunde -mittelbar oder unmittelbar -auch noch jene Verwendung des Revolutionsbegriffs aus, die Wolfgang Schäuble sich zu eigen machte, um fast erleichtert über die „unvollendete Revolution“ zu reflektieren. Einerseits wurde der prinzipielle Systembruch als revolutionär empfunden, andererseits beherrschte der klassische Begriff marxistischer Revolutionstheorie seinen Zugang zur Verwendung des Wortes „Revolution“: Revolutionen seien schlecht, da sie gewaltsam enden und marxistisch orientierte Linksdiktaturen hinterlassen würden -so lautete die Ausgangsprämisse, auf deren Basis er erleichtert davon Kenntnis nehmen konnte, daß die „friedliche Revolution“ nicht nur „friedlich“, sondern im Sinne der marxistischen Theorie auch „unvollendet“ geblieben war.

Verwirrend bleibt also die Verwendung und Interpretation des Revolutionsbegriffs. Soll er dennoch einen analytischen Zweck bei der Deutung von „ 1989“ gewinnen oder bewahren, bedarf es eines distanzierteren und emotionsfreieren Revolutionsbegriffs als desjenigen, der zwischen plakativer alltagssprachlicher Verwendung als Allerweltsbe-griff -bis hin zur „Revolution in der Kaffeemaschinentechnik“ -und ideologisch vorbelasteter Verwendung im Sinne der marxistischen Revolutionstheorie hin und her pendelt.

1. Hannah Arendts Revolutionstheorie

Die Debatte um den Revolutionsbegriff hat durch die Philosophin Hannah Arendt eine besonders profilierte Akzentuierung erfahren. Sie widmete dem Phänomen politischer Revolutionen Anfang der sechziger Jahre eine sehr dichte und zugleich essayistisch leicht lesbare Monographie Darin arbeitete sie fundamental unterschiedliche Grundbegriffe von der Revolution heraus: zum einen die Revolution als Wegbereiterin und/oder Vollenderin des Strebens nach sozialer Gerechtigkeit, zum anderen die Revolution als Mittel zur Herstellung verfassungsverankerter, rechtsstaatsgesicherter politischer und bürgerlicher Freiheit. In der Französischen Revolution beziehungsweise der Amerikanischen Revolution sah sie die historischen Muster für diese beiden grundsätzlichen Revolutionstypen.

Die unterschiedlichen Revolutionstypen lassen sich unter komparativen historischen Fragestellungen differenziert analysieren Man wird dabei unter anderem auf jenes mechanistische, naturwissenschaftliche Revolutionsverständnis stoßen, das Nikolaus Kopernikus meinte, als er 1543 über die Rückkehr der Sterne am Firmament schrieb: De revolutionibus orbium coelestium. Er verstand das Phänomen der Revolution im Sinne seines ursprünglichen lateinischen Grundbegriffs, das heißt der Rückkehr (revolvere). Die politische Übernahme dieses physikalisch-rationalen Revolutionsbegriffs von Kopernikus findet sich später beispielsweise bei Friedrich Schlegel. Den Sturm auf die Bastille, jenen symbolischen Höhepunkt des Revolutionsjahres 1789, der in seiner Symbol-kraft durchaus mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 analog gesetzt werden kann, nannte Schlegel einen Versuch in der moralischen Chemie.

Beim Blick in die Geschichte des Revolutionsbegriffs wird man in der Renaissancezeit auf die eher unbestimmte Vermischung der Begriffe „revoluzione“ und „rivoltura" stoßen. Bei Machiavelli war im Blick auf die politischen Umwälzungen in Florenz auch von „Mutationen“ die Rede. Man wird auf Edmund Burke stoßen, den ersten großen Kritiker der Französischen Revolution, der meinte, es sei gerade der Sinn einer erfolgreichen Revolution, daß sie keine neuen Ideen hervorbringt, sondern durch eine Verfassungsreform die Radikalisierung hin zu einer sozialen Revolution unterbindet. Man wird schließlich auf Karl Griewanks zeitgenössische wissenschaftliche Studie über den neuzeitlichen Revolutionsbegriff stoßen. Dieser Historiker unseres Jahrhunderts definierte eine Revolution als eine „stoßartige oder rasche Umwälzung mit sozialem Inhalt“ beziehungsweise als „Neuanfang unter entschiedenem Bruch mit der Vergangenheit“ Dies ist wohl die gängige Revolutionsdeutung, wie sie bei den meisten mehr oder minder historisch interessierten und belesenen Zeitgenossen anzufinden sein dürfte.

Damit ist weder etwas über die Richtigkeit dieser Interpretation ausgesagt, noch muß die Theorie allein deshalb falsch sein, weil viele sie als plausibel ansehen. Wer sich unter diesen Vorbehalten indessen auf die Revolutionstheorie der Hannah Arendt einläßt, muß sich bereit erklären, sein Denken neu zu justieren. Denn ihr Kriterium für die Definition ist nicht zu finden in der sozialen Wirkung einer Revolution, sondern in der Wirkung einer Revolution auf den Freiheitsbegriff und den Sinn der Freiheit nach einer Revolution. Sie fragte nicht so sehr danach, ob eine Revolution umwälzend genug war, um als Revolution akzeptiert zu werden, oder ob sie ausreichende soziale Veränderungen zur Folge gehabt hat, um mit dem Attribut des Fortschritts versehen werden zu können. Hannah Arendt suchte nach dem Unterschied zwischen guten und schlechten Revolutionen, nicht nach jenem zwischen konsequenten und unvollendeten Revolutionen oder wie immer die qualifizierenden (oder auch disqualifizierenden) Attribute lauten mögen. 2. Revolutionsfolgen Im Sinne der angedeuteten Sinnzusammenhänge läßt sich die Erfahrung der politischen Umwälzungen von 1989/90 neu reflektieren und auf den Revolutionsbegriff hin beziehen. „Revolutionen“, so hatte Hannah Arendt in ihrer Studie formuliert, „sind die Folgen des politischen Niedergangs eines Staatswesens, sie sind niemals dessen Ursache.“ In diesem Sinne darf man eine Deutungsübertragung vornehmen und sagen: Die Revolutionen von 1989/90 waren die Folge des politischen Niedergangs der kommunistischen Staatswesen. In diesem Sinne waren auch der Niedergang der DDR und die Auflösung des sozialistischen Staates der Arbeiter und Bauern Auslöser und Teil einer Revolution. Es verwundert nicht, daß Deutschlands Einheit, die aus dieser Revolution erwuchs, im Angesicht der über Jahrzehnte ungelösten „deutschen Frage“ zum eigentlichen Kerngehalt dieser Umwälzungen avancierte. Deutschlands Einheit war die Folge der Revolution in der DDR. Da diese Folge den Beginn einer neuen Ära für alle Deutschen markiert hat, war es nur plausibel, daß im gängigen Sprachgebrauch bald nur noch von dieser Folge, aber nur noch selten von den Ursachen und Bedingungen ihres Zustandekommens die Rede war. Aber es war eine Revolution, die auf den Niedergang des Staatswesens in der DDR gefolgt ist.

Der Argumentationslogik von Hannah Arendt zu folgen heißt, die Frage aufzuwerfen, ob es sich im Ergebnis um eine „gute“ oder eine „schlechte“ Revolution gehandelt hat. Ihr Kriterium war die Unterscheidung zwischen konstitutioneller Freiheitssicherung und sozialrevolutionärer Umwälzung. Letzterem haftet stets die Idee des Neuen an; sie wird getragen von einem Bild der Veränderung, das angestrebt wird. Die Irritation darüber, daß den Umwälzungen von 1989/90 im eigentlichen Sinne keine neue Idee zugrunde lag, bedeutet zweierlei: 1. Auf den Niedergang der sozialistischen Staats-und Parteidiktaturen folgten eben keine sozial-ambitionierten Revolutionen, sondern verschiedenerlei Versuche, um die Revolutionsdynamik konstitutionell zu zähmen. 2. Kriterium der Beurteilung, ob es sich im Ergebnis dennoch nicht nur um Revolutionen, sondern sogar um „gute“, das heißt erfolgreiche Revolutionen gehandelt hat, wird damit die Verfassungsfrage.

In diesem Sinne liegen die Dinge mit Blick auf Deutschland offenkundig am einfachsten. Deutschlands Einheit wurde vollzogen auf der Basis des erprobten und bewährten Grundgesetzes. Insofern endete die „friedliche Revolution“ in der DDR tatsächlich konstitutionell und ließe sich mit Hannah Arendts Kategorien aufgrund ihres Abschlusses als eine gute, eine gelungene Revolution charakterisieren. Insofern war diese „friedliche Revolution“ auch nicht „unvollendet“. Vor dem Hintergrund der Möglichkeit, daß Revolutionen konstitutionell enden und freiheitssichernd wirken können oder aber mit sozialveränderungsambitioniertem Antrieb eine unkontrollierbare Dynamik und Permanenz entwickeln können, ließe sich zutreffend am ehesten wohl von einer „gezähmten Revolution“ sprechen

Die „Wende“ in der DDR war nicht bloß ein „Umbruch“, sondern ein Systemzusammenbruch und zugleich eine Freiheitsrevolution, die sich an den menschenrechtlichen und demokratischen Postulaten des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland orientierte. Insofern bedurfte es keiner neuen Ideen, nicht der Suche nach dritten Wegen und künstlichen Konstruktionen einer Art von „Österreich-Lösung“ für die DDR. Die Einheitsidee und der Freiheitsanspruch bedingten sich wechselseitig. Auch wenn das Einheitsfaktum zum Inbegriff der Umwälzungen in Deutschland wurde, so ist die Tatsache doch nicht weniger wesentlich, daß die Einheitsidee aus dem Freiheitsanspruch erwuchs und auf diesen durch die Annahme des Grundgesetzes durch die Menschen in der DDR wieder zurückwirkte. In dem Demonstrationsslogan „Wir sind das Volk“ ertönte die Perspektive programmatisch. „Das Volk“ sah sich als „ein Volk“, aber nur solange und insofern, als die Einheit zur Freiheit im Rahmen des Grundgesetzes führen konnte.

Auf besonders glückliche Weise bot das Grundgesetz den Referenzpunkt für diese dialektische Sichtweise und zugleich den Rahmen, um das Begehren in beiderlei Gestalt aufzunehmen und zur Realität werden zu lassen. Insofern war es nicht nur nicht notwendig, im Zuge der deutschen Einigung eine neue deutsche Verfassung zu konzipieren. Es war schlechterdings überflüssig und hätte den Charakter dieser deutschen Revolution verändert, wenn nicht sogar verfälscht. Romantische Ideen, die 1989/90 in Deutschland über den Sinn einer Neuschreibung der Verfassung kursierten, gab es durchaus. Hinter ihnen schien für einen Augenblick wieder die aus der Französischen Revolutionsgeschichte hinlänglich bekannte Neigung auf, auf soziale Veränderungen unmittelbar mit Veränderungen der staatlichen Verfassung zu antworten Es bedurfte keines neuen deutschen Verfassungsverständnisses, da das Grundgesetz der alten Bundesrepublik sich bewährt hatte und seine Funktion, stellvertretend für alle Deutschen wirksam zu sein, solange die Teilung anhielt, gerade dadurch unter Beweis gestellt hatte, daß die Mehrheit der Menschen in der DDR, als sie es denn vermochten, die deutsche Einheit im Rahmen und unter dem Dach dieses Grundgesetzes suchten und erwirken konnten. Der Begriff des „Verfassungspatriotismus“ trifft seither im Grunde noch eindeutiger zu als zuvor in der alten Bundesrepublik, wo ihm zuweilen ein etwas künstliches, herbeigeredetes Moment angehaftet hatte

Im Vergleich mit den anderen Staaten Mittel-und Osteuropas, in denen 1989/90 die niedergegangenen sozialistischen Diktaturen gestürzt wurden, wird die Plausibilität des Arguments noch deutlicher, daß es sich in Deutschland um eine konstitutionell gezähmte und gerade darin geglückte Revolution gehandelt hat. Am markantesten war der Gegensatz in Rumänien, wo in den Weihnachtstagen 1989 die einzige Blutzeugenschaft des annus mirabilis zu beklagen war. Im Ergebnis bedeutete der Sturz des „Dracula" Ceaucescu nicht mehr als einen Staatsstreich, wenngleich sich die neue Mannschaft, die aus den alten Strukturen stammte, dadurch zu legitimieren suchte, daß sie dem Volk weiszumachen suchte, es handele sich bei ihrer Machtübernahme in Wirklichkeit doch um eine nationale und soziale Revolution. Neue Verfassungsverhältnisse mit rechtsstaatssichernden Mechanismen, Menschenrechtsschutz für Mehrheit und Minderheiten ließen auf sich warten -und soziale Fortschritte übrigens auch.

Der Wahlsieg des bürgerlichen Präsidentschaftskandidaten Constantinescu im November 1996 bedeutete daher in der Tat eine Art „nachholender Revolution“. Erst jetzt konnte ein konsequenter Umbau des politischen Systems in Rumänien begonnen werden, dessen Kern die Herrschaft der Gesetze und die konstitutionelle Garantie von Freiheit, Menschenrechten und Demokratie sein soll. Über das Gelingen dieses beschwerlichen Weges wird erst dann geurteilt werden können, wenn aus der pseudopermanenten nationalen und sozialen Bewegung, die Ceaucescu-Nachfolger Illiescu Rumänien verordnet hatte, nachprüfbare konstitutionelle Stabilität und gefestigte Freiheitsgarantie im Verfassungsrahmen für alle Staatsbürger Rumäniens geworden sein wird.

Die politische Entwicklung in den anderen Staaten, die sich 1989/90 vom Joch der kommunistischen Parteidiktatur gelöst haben, bewegt sich in sehr unterschiedlichen Varianten zwischen den beiden Extremen: der gezähmten Revolution der Deutschen und der extrem verschleppten Revolution der Rumänen. Der Erfolg der konstitutionellen Revolution in Polen, Ungarn und in der Tschechischen Republik, in Slowenien und in den baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen zeigt sich daran, daß diese Staaten sich am Ausgang des 20. Jahrhunderts am konkretesten und intensivsten auf dem Weg in die westeuropäisch-atlantischen Integrationssysteme befinden. Die gelungene Verfassungsrevolution hat diese Länder zu einem Teil des politischen Westens -zum „Osten des Westens“ -werden lassen

Überall dort aber, wo die Transformationsprozesse noch in einem unbestimmten und wohl auch unbestimmbaren Flusse sind, wird man sagen müssen, daß die Verfassungsfrage noch nicht eindeutig und abschließend geklärt ist. Dies gilt in prinzipiell verfassungstheoretischer und verfassungspolitischer Hinsicht etwa in Weißrußland, und es gilt in machtpraktischer Hinsicht beispielsweise in Ruß-land oder in der Slowakei. Ob die Revolution dieser neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts in diesen und einigen anderen Ländern eines Tages von einem neoautoritären „Napoleon“ für beendet erklärt werden wird oder ob die Völker sie in freier Selbstbestimmung in einer rechtsstaatlichen Verfassungsdemokratie auffangen und zähmen werden, wird der Gang der Dinge zeigen müssen. Fürs erste gilt jedenfalls, daß die Beurteilung des Ausgangs dieses Revolutionsjahrzehnts abhängig bleibt von dem Grad an konstitutionell verbürgter Freiheit, den die einzelnen Transformationsländer am Ende als Zugewinn an demokratischer Kultur erlangen können. 3. Begriffsbildungen Geschichte, so wußte der dänische Philosoph Sören Kierkegaard -und gewiß nicht nur er -, wird nach vorne hin gelebt und nach hinten erklärt. Die historische Erklärung des Epochen-jahres „ 1989“ steht noch an. In den neunziger Jahren wird jenen Deutungen, die den Anspruch einlösen, wirklich als „historisch“ gelten zu können, durch Begriffsbildungen und Selbstreflexionen zugearbeitet. Dabei wird einmal mehr deutlich, daß „Schlüsselwörter in der Geschichte“ weder vorgegeben noch unumstritten sind. Jede Generation prägt ihre Inhalte neu, arbeitet an Deutungen und Umdeutungen mit. Zum „spannungsvollen und ambivalenten Verhältnis von Politik und Sprache“ gehört die Frage nach der terminologischen Einordnung des epochalen Sturmjahres „ 1989“ und des Zusammenhangs der Umwälzungen in Deutschland und Europa, die damit bezeichnet werden sollen.

Der Historiker Karl Dietrich Bracher hat mit Blick auf die Gegner des Rechts-und Verfassungsstaates die prägnante Formel vom „Marsch durch die Wörter“ gefunden und als die Absicht beschrieben, „jene grundlegenden Wertkategorien und Wertbegriffe so zu verbiegen daß ihre historische Substanz und ihre politische Wertstellung fast beliebig verwendbar erscheinen“ Über lange Zeit ist dieser „Marsch durch die Wörter“ auch dem Revolutionsbegriff widerfahren, indem er einer sozialrevolutionären Engführung unterworfen worden ist. Die ursprüngliche Bedeutung im Sinne der Rück-beziehungsweise Umkehr der Verhältnisse an einen ursprünglichen Ort der Freiheit verblaßte dabei oder geriet völlig ins Vergessen. Den Begriff der Revolution im ursprünglichen Sinne als Mittel zur Freiheit wiederentdeckt zu haben und gegenüber einer Deutung abzugrenzen, wonach Revolutionen allein als ein Werkzeug der Gleichheit denkbar und nur vom Ertrag der Gleichheit unter den Menschen her zu rechtfertigen seien, ist die bleibende Leistung von Hannah Arendts Revolutionsstudie.

Aus dieser Perspektive gewinnt die Interpretation der Vorgänge, die 1989/90 nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa erschütterten und in Atem hielten, neue Schärfe. Die Hilfsbegriffe „Wende“ beziehungsweise „Umbruch“ entpuppen sich als Krücken oder sogar als ambitionierte Versuche der Verniedlichung, nicht zuletzt, um den Gegenstand der Umwälzungen -die kommunistischen Einparteiendiktaturen -in günstigerem Licht erscheinen zu lassen. Daß sie, die selbsternannten Inbegriffe des sozialrevolutionären Fortschritts, einmal mit ihren eigenen Waffen widerlegt werden sollten, wäre Karl Marx und Wladimir Iljitsch Lenin wohl kaum eingefallen. „Revolution“ konnte in ihren Augen nur genannt werden, was sie selbst ins Werk zu setzen trachteten. „Revolution“ war für sie nur gut, solange sie sozial ambitionierten Fortschrittsmustern folgte. Diese marxistisch-leninistische Revolutionstheorie ist mit ihren eigenen Hervorbringungen untergegangen.

Daß es auch ganz anders geht, konnte Hannah Arendt mit Rückgriff auf die älteren Begriffsbestimmungen der Revolutionsidee zeigen. Dadurch wurde der Revolutionsbegriff von seiner sozialrevolutionären Ideologisierung entbunden und wieder im eigentlichen Sinne als politische Analyse-kategorie brauchbar. Auf dieser Grundlage ist es möglich, ja geradezu zwingend notwendig, die „Wende“ in der seit 1917 verkündeten Sozialrevolution und den „Umbruch“ in den Ländern des kommunistischen „progres“ als die eigentliche Revolution zu charakterisieren. Die Sozialrevolution von 1917 und ihre Nachahmungen nach 1945 werden dadurch zugleich zur Reaktion; sie müssen als das eigentlich Reaktionäre überführt werden.

Revolutionär aber waren die Helden von „ 1989“. Sie werden es bleiben, wie ihre Taten es verdienen, als „Revolution“ bezeichnet zu werden. Nicht Marx und Lenin, sondern Havel und Walesa, nicht Mao und Ho Tschi-minh, sondern die Montagsdemonstranten 1989 in Leipzig und die Bürgerbewegungen in Berlin und Dresden, nicht Castro und Che Guevara, sondern die freiheitsliebenden mutigen Bürger von Belgrad im Winter 1996 sind die bleibenden Revolutionäre des 20. Jahrhunderts. Bleibend nicht allein, weil ihre Revolutionen „friedlich“ verlaufen sind, sondern vor allem, weil sie dem demokratischen Rechts-und Verfassungsstaat zustrebten und ihm ungeachtet aller sozialen Turbulenzen als notwendiger Bedingung der Sicherung der Freiheit verpflichtet geblieben sind. Bleibend sind die Revolutionen des Sturmjahres 1989 und ihre nachholenden Fortsetzungen aber schließlich auch darin, daß ihr Verdienst den demokratischen Rechtsstaaten Europas zum Vermächtnis für eine neue, sich erst langsam in ihren Konturen andeutende Epoche geworden ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. Kritische Ausgabe besorgt von Gerhard Ritter und Rudolf Stadelmann (Friedrichsruher Ausgabe, Band 13), Berlin 1932.

  2. Karl Dietrich Bracher, Wendezeiten der Geschichte. Historisch-politische Essays 1987-1992, Stuttgart 1992.

  3. Helmut Kohl, Ich wollte Deutschlands Einheit. Dargestellt von Kai Diekmann und Rolf Georg Reuth, Berlin 1996.

  4. Horst Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991.

  5. Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991.

  6. Wolf Lepenies, Folgen einer unerhörten Begebenheit. Die Deutschen nach der Vereinigung, Berlin 1992.

  7. W. Schäuble (Anm. 5), S. 15.

  8. So Stefan Wolle, Der Weg in den Zusammenbruch, in: Eckhard Jesse/Armin Mitter (Hrsg.), Die Gestaltung der Deutschen Einheit. Geschichte -Politik -Gesellschaft, Bonn 1992, S. 73 ff.

  9. Vgl. Rainer Land (Hrsg.), Das Umbaupapier (DDR). Argumente gegen die Wiedervereinigung, Berlin 1990.

  10. Dazu gehört beispielsweise: Christiane Lemke, Die Ursachen des Umbruchs 1989. Politische Sozialisation in der ehemaligen DDR, Opladen 1991.

  11. So bei Ludger Kühnhardt, Mitten im Umbruch. Historisch-politische Annäherungen an Zeitfragen, Bonn 1995.

  12. Hans Maier, Geistige Umbrüche in Deutschland 19451995, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.), Deutschland 1945-1995. Betrachtungen über Umbrüche, München 1995, S. 13.

  13. Ebd.

  14. St. Wolle (Anm. 8), S. 68.

  15. Ebd.

  16. So Göttrik Wewer (Hrsg.), DDR. Von der friedlichen Revolution zur deutschen Vereinigung, Opladen 1990. Befremdlich mutete es an, daß ausgerechnet Egon Krenz den Begriff der „friedlichen Revolution“ aufgriff, um seine eigene Rolle zu erklären und zu rechtfertigen: Egon Krenz, Wenn Mauern fallen. Die Friedliche Revolution: Vorgeschichte -Verlauf -Auswirkungen, Wien 1990.

  17. Beispielsweise: Marlies Menge, „Ohne uns läuft nichts mehr“. Die Revolution in der DDR, Stuttgart 1990; aus amerikanischer Perspektive: Melvin J. Lasky, Wortmeldung zu einer Revolution. Der Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Ostdeutschland, Frankfurt am Main 1991.

  18. Beispielsweise: Heinz Kallabis, Ade DDR!, Berlin 1990, oder noch zugespitzter: Michael Schneider, Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie, Berlin 1990.

  19. Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution. Kleine Politische Schriften VII, Frankfurt am Main 1990: „Nachholen will man, was den westlichen Teil Deutschlands vom östlichen vier Jahrzehnte getrennt hat -die politisch glücklichere und ökonomisch erfolgreichere Entwicklung.“ (S. 181). Noch in die Kritik an den Fehlurteilen der Linken über die DDR mischte sich bei Habermas eine eigentümlich „unkritische Kritik“ an der Grundordnung der DDR -es war eben nicht ein geradezu deterministischer Zustand, der die westdeutschen Verhältnisse einfach „politisch glücklicher und ökonomisch erfolgreicher“ enden ließ. Bezeichnend ist indessen der neue Grundkonsens, der darin zum Ausdruck kam, daß auch Jürgen Habermas sich nun als Verfassungspatriot bekannte -ein Begriff, den schon Jahrzehnte zuvor Dolf Stemberger in eindeutig liberal-konservativer Konnotation eingeführt hatte. Habermas ließ ein gewisses Unbehagen darüber nicht los, daß diese „nachholende Revolution“ ohne eigene neue Ideen auskam -eine für Denker des Fortschrittsglaubens geradezu häretische Vorstellung.

  20. Vgl. Hannah Arendt, Über die Revolution, München 19742.

  21. Vgl. Ludger Kühnhardt, Revolutionszeiten. Das Umbruchjahr 1989 im geschichtlichen Zusammenhang, München 1994.

  22. Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Geschichte, Frankfurt am Main 1973, S. 18 und S. 20.

  23. H. Arendt (Anm. 20), S. 148.

  24. So L. Kühnhardt (Anm. 21), S. 257 ff.

  25. Vgl. beispielsweise Ulrich K. Preuß, Revolution, Fortschritt und Verfassung. Zu einem neuen deutschen Verfassungsverständnis. Berlin 1990.

  26. Urheber des Begriffs war der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger. Anläßlich eines Symposiums zu seinen Ehren formulierte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 6. November 1987 in der Universität Heidelberg: „Ein Patriotismus, der sich der Verfassung verpflichtet fühlt, taugt nicht dazu, Massen zu begeistern. Er dient auch nicht dem Zweck, uns in gute und schlechte Patrioten auseinanderzusortieren. Er hilft vielmehr, einen nüchternen Gemeinschaftssinn zu entwickeln, der Gegensätze und Standpunkte nicht verschleiert, aber die Gemeinschaft auch nicht der Gegensätze wegen aufkündigt.“ Richard von Weizsäcker, Reden und Interviews (4), hrsg. vom Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1988, S. 134.

  27. Vgl. Ludger Kühnhardt, Der Osten des Westens und die russische Frage, in: ders. (Anm. 11), S. 207 ff.

  28. Karl Dietrich Bracher, Schlüsselwörter in der Geschichte, Düsseldorf 1978.

  29. Ebd., S. 9.

  30. Ebd.. S. 94.

Weitere Inhalte

Ludger Kühnhardt, Dr. phil. habil., geb. 1958; 1991-1997 Ordinarius für Politikwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; ab Oktober 1997 Direktor des Zentrums für Europäische Integrationsforschung, Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Revolutionszeiten. Das Umbruchjahr 1989 im geschichtlichen Zusammenhang, München 1994; Mitten im Umbruch. Historisch-politische Annäherungen an Zeitfragen, Bonn 1995; Von der ewigen Suche nach Frieden. Immanuel Kants Vision und Europas Wirklichkeit, Bonn 1996.