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Friedenspolitik ohne Königsweg Eine Problemskizze zur Vision europäischer Sicherheitsidentität | APuZ 33-34/1996 | bpb.de

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APuZ 33-34/1996 Militarisierung deutscher Außenpolitik? Friedenspolitik ohne Königsweg Eine Problemskizze zur Vision europäischer Sicherheitsidentität Vom reaktiven Krisenmanagement zur präventiven Konfliktbearbeitung? Not und Intervention in einer Welt des Umbruchs Zu Imperativen und Fallstricken humanitärer Einmischung

Friedenspolitik ohne Königsweg Eine Problemskizze zur Vision europäischer Sicherheitsidentität

Manfred Funke

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Epochenbruch zu Beginn des Jahrzehnts mobilisierte eine Fülle neuer sicherheitspolitischer Ideen. Sie führten zu strukturellen Veränderungen in den etablierten Institutionen und setzten Impulse frei für eine neue europäische Sicherheitsidentität. Deren Herstellung konfrontiert Europa und besonders Deutschland, das sich den Export von Stabilität zur Aufgabe gemacht hat, mit ernüchternden Risikolagen. Dazu zählen die instabile Südflanke Europas, die unzureichende Berechenbarkeit Rußlands und der Wunsch mittelosteuropäischer Staaten, in EU und NATO aufgenommen zu werden. Die damit eintretende Verschiebung der gewohnten geostrategischen Kraftfelder zeigt in ihrer Rezeption durch die Mitglieder der NATO und WEU eine fortdauernde Konkurrenz nationaler und supranationaler Interessen. Folglich gilt es, den Transformationsprozeß sehr behutsam unter dem Gebot der Machbarkeit zu gestalten und Visionen zu disziplinieren. Dabei kommt Deutschland eine tragende Rolle zu, weil es als Friedensmacht besonders glaubwürdig wirken kann, da es über keine strukturellen Angriffspotentiale verfügt. Voraussetzung für Deutschlands wirksamen Beitrag zum Kampf gegen Instabilitäten in Europa ist die Bewältigung der Instabilität im eigenen Land. Dazu zählt auch das Gebot einer stärkeren Konsensbildung zwischen Gesellschaft und Bundeswehr über ihr gemeinsames Auftragsspektrum.

Verglühte Ideologien, Blockzerfall, verschwundene Feindbilder und deutsche Einheit reichern die Friedenspolitik in Europa mit neuen, oft visionären Verheißungen an. Sie lauten stichwortartig: Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik (GASP), Sicherheitsidentität, Globalisierung deutscher Außenpolitik, Ausbau des europäischen Pfeilers in einer Neuen NATO sowie deren Öffnung und Erweiterung. Innerhalb des Allianz-Rahmens sollen „europäische Handlungsfähigkeit“ (Volker Rühe) sichtbar und funktionstüchtig ausgestaltet, der Beitrittswunsch zur NATO von zur Zeit elf Ländern geprüft und die „Partnerschaft für den Frieden“ zwischen 27 Staaten (darunter alle Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts) inklusive Rußland ausgebaut werden. Der IFOR-Einsatz von 60 000 Soldaten unter Beteiligung einer russischen Brigade im Prozeß „transition to peace“ für Bosnien-Herzegowina gibt Hoffnung für eine Europäisierung des Krisen-Managements.

Ernüchterung erzwingen hingegen die russische Obstruktion gegen die NATO-Öffnung, die Knappheit der Mittel zur Bereitstellung von Combined Joint Task Forces (CJTF) für spezifische europäische NATO-Operationen, das Fehlen einer einheitlichen strategischen Auffassung innerhalb der NATO selbst sowie das Fortwirken nationaler, oft geostrategisch bedingter Vorbehalte im supranationalen Interessenverbund.

Die folgende Problemskizze sucht die Chancen und Grenzen, die Bestimmungsfaktoren, Hemmnisse und Risikolagen im Streben nach einer einheitlichen europäischen Sicherheitspolitik zu erläutern und dabei die Position Deutschlands zu beschreiben. Denn die Bundesregierung ist bestrebt, die kollektive Verteidigung als „Kernauftrag der Allianz“ wahrzunehmen und sie zu befähigen, „Krisen zu bewältigen und Sicherheit und Stabilität in ganz Europa zu gewährleisten“ (Helmut Kohl). Dabei gelte es, so der Bundeskanzler, „die russischen Besorgnisse“ ernst zu nehmen und diese durch „Vertiefung der Zusammenarbeit“ auszuräumen. Das Denken in Bedrohungskategorien habe ausgedient. „Der Feind von heute heißt Instabilität -und unsere Antwort kann nicht in der Balance militärischer Potentiale liegen, sondern muß auf politische Integration ausgerichtet sein. Stabilität erfordert eine gesunde Gesellschaft, in der die Menschenrechte respektiert werden, demokratische Strukturen funktionieren und freie Marktwirtschaft gedeiht.“ Nur so lasse sich die Lage auf dem Balkan, im Kaukasus, im Nahen Osten oder in Nordafrika verbessern. Das „Auftragsspektrum“ verlange die Eindämmung von Instabilität in Mittel-und Osteuropa, aber im wachsenden Maße auch im Mittelmeer-Raum. „Entweder wir exportieren Stabilität oder die Instabilität kommt zu uns“ (Volker Rühe)

Trotz der seit 1990/91 insgesamt wesentlich geänderten und verbesserten Ausgangslage stehen wir der Tatsache gegenüber, „daß die Gefahr von regionalen Krisen und Konflikten innerhalb und außerhalb Europas, die auch Deutschlands Sicherheit betreffen, zugenommen hat“ Die Bundesrepublik muß deshalb mit ihren Streitkräften in der Lage sein,

-Deutschland als Teil des Bündnisgebiets gemeinsam mit den Verbündeten zu verteidigen; -im Bündnisgebiet Beistand zu leisten, wenn dies zur kollektiven Verteidigung oder im Rahmen der Krisenbewältigung durch NATO oder WEU nötig ist;

-an der internationalen Krisenbewältigung und Konfliktverhinderung teilzunehmen und

-in Katastrophenfällen zu helfen und Menschen aus Notlagen zu befreien Dies solle künftig effizienter als bisher geschehen durch eine einheitliche multinationale NATO-Kommandostruktur, „die die strategische Lage in Europa widerspiegelt und alle Verbündeten zu vol-ler Teilnahme befähigt“, aber auch zugleich dazu instand setzt, „Nicht-Artikel-5-Operationen der NATO durchzuführen“, d. h., im Rahmen des CJTF-Konzepts auf dem Kontinent „Eventualfalloperationen“ ohne die unmittelbare Teilnahme von US-Kräften durchzuführen

Grenzen einer Sicherheitsidentität

Abbildung 1

Die von der gleichsam natürlichen politischen wie räumlichen Nähe oder Distanz zu Lokal-oder Regionalkonflikten geprägte unterschiedliche Intensität der Betroffenheit und Krisenwahrnehmung verhinderte bislang oft ebenso wie das Problem der verfügbaren Einsatzpotentiale und Ressourcen ein einheitliches Handeln in UNO, EU, OSZE, WEU und NATO. Denn alle kollektiven Maßnahmen müssen anteilig einzelstaatlich mit-entschieden, mitverantwortet, mitfinanziert und innenpolitisch durchgesetzt werden. Dabei sind nationale, gouvernementale und supranationale Interessen im Einzelfall kaum identisch. Entsprechend unterschiedlich werden die Regelmechanismen der Konfiktbewältigung gehandhabt und bewertet.

Dies belegt am deutlichsten das Schicksal der WEU, die einst einen NATO-komplementären Eigenweg westeuropäischer Sicherheitspolitik ermöglichen sollte und von den nationalen Interessen, vor allem denen einiger NATO-Mitglieder in der WEU, in ein Schattendasein abgedrängt wurde. Die Reaktivierung der WEU nach der Petersberger Erklärung von 1992 und die Entwürfe für einen stärkeren europäischen Pfeiler innerhalb der Allianz offenbarten in der Praxis die Fortgeltung der alten verklausulierten Taktiken wechselseitiger Indienstnahme. Dilemmata zeigten sich etwa im Bremsverhalten Londons gegen eine rasche militärpolitische Integration gemäß der GASP, im Bemühen Frankreichs um den Ausbau der WEU zum Schlagarm der EU bei Zurückdrängung des US-Einflusses und zudem im Vorhaben der Bundesregierung, die WEU besonders für humanitäre und friedenssichernde Maßnahmen vorzusehen. Gleichzeitig wird das Umsetzungsgebot einer Vereinheitlichung des Rüstungs-und Ausrüstungsbereichs durch wachsende Finanznot behindert. Statt eines double key müßten in absehbarer Zeit „NATO und WEU auf gemeinsame Strukturen und Kräfte zurückgreifen können“ Bei den Anwendungsfeldern „Adria“, „Donau“ und „Mostar“ waren Schwierigkeiten in der Abstimmung über die Handhabung von national command und operational command aufgetaucht.

Andere Entscheidungsprobleme entstanden, weil von den 15 EU-Mitgliedern nur zehn der WEU angehören, Dänemark in der NATO und in der EU, nicht aber in der WEU ist. Finnland, Irland, Österreich und Schweden zählen zur EU, aber nicht zur NATO, haben indessen WEU-Beobachterstatus. Als Hemmnis wirkt sich der Assoziierten-Status von weiteren neun Ländern mit Sonder-klauseln aus. Zudem wünscht sich England die WEU weniger als eigenständiges Organ denn als NATO-Ergänzung. Bei der Ministerratstagung der WEU in Birmingham im Mai 1996 schloß London eine „Subordination“ der WEU unter die EU ausdrücklich aus. Daneben treten Deutschland, Spanien, Italien, Griechenland, Frankreich, die Niederlande und Luxemburg für eine schrittweise Integration der WEU in die NATO ein. Allerdings bleibt für Spanien nicht die WEU, sondern die NATO alleiniger Sicherheitsgarant.

Weiterhin oszilliert das Erscheinungsbild Frankreichs auf der Bühne der EU. Der Alleingang bei den Atomtest-Serien und bei der Umwandlung seiner Streitkräfte in eine Berufsarmee scheint die bisherige Tradition der Pariser Politik fortzusetzen, „Unabhängigkeit und Solidärität miteinander in Einklang bringen zu wollen“ Ein für die WEU fungibles Eurokorps aus deutschen, belgischen, spanischen, luxemburgischen und französischen Kontingenten mit integrierter multinationaler Kommandostruktur bekommt über ein Koordinationskomitee, das wiederum aus den politischen Direktoren der einzelnen Außenämter und den jeweiligen Generalstabschefs besteht, seine Weisungen nach spezieller Absprache der Einsätze und Kräfte-Unterstellung

Die Neugruppierung von Eurofor und Euromarfor (Italien, Spanien, Frankreich, Portugal) sowie die Etablierung eines französisch-britischen Luftstreit-kräfteverbandes weisen wiederum Organisationsunterschiede zum Eurokorps aus. Die Briten, die im Januar 1996 die WEU-Präsidentschaft übernahmen, achteten bislang sehr darauf, „daß sie in kein zu rigides militärisches Schema eingebunden wurden, das eine gemeinsame europäische Sicherheitsdoktrin bedeutet hätte“. Während das von Mitterrand und Kohl geschaffene Eurokorps vor allem als Impuls und Modell für die Ausgestaltung der GASP gelten sollte, wird es aufgrund eines speziellen Abkommens mit dem SACEUR (dem Obersten Alliierten NATO-Befehlshaber in Europa) praktisch in die bestehenden Strukturen des Bündnisses eingepaßt. Die NATO verfügt mit dem Eurokorps über ein zusätzliches Instrument Um so nachdrücklicher fordert wiederum Rußland die Aufwertung der OSZE zum „Dach“ einer europäischen Sicherheitsgemeinschaft ein, während die NATO die OSZE nur als „Ergänzung“ verstanden wissen will. Europäische Sicherheitsidentität solle zwar sichtbarer werden, aber nur innerhalb der NATO

Zweifellos zeigen sich die alten Strukturen in eine neue Dynamik transferiert, ohne bereits eine durch identische Auffassung gestärkte und belastbare Stabilität des gemeinsamen Handelns in NATO und WEU, in der EU und der OSZE aus-zuweisen.

Risikolage an der Südflanke Europas

Die recht verschlungene, schwer steuerbare Vielfalt der angedeuteten Interessen und Organisationen stellt die Frage nach den Kräften der politischen Kohäsion und nach der Einheit der Auffassungen um so dringlicher, als es keine Sicherheit gibt ohne Stabilität in Osteuropa und im Mittelmeerraum Gerade die Konfliktpotentiale an der europäischen Südflanke haben aus mitteleuropäischer Sicht aufgrund einer auf Osteuropa ausgerichteten Interessenlage noch kaum eine problemadäquate Wahrnehmung gefunden.

Vor allem die dramatische Bevölkerungsentwicklung im Mittelmeerraum verweist auf wachsende, gefährliche Instabilitäten: Das Wachstum konzentriert sich zu etwa 95 Prozent am südlichen (afrikanischen) und östlichen Mittelmeer und nur zu 5 Prozent in den mediterranen EU-Ländern. Binnen nur zehn Jahren wird eine Vermehrung der Bevölkerung am Südrand des Mittelmeers um etwa 50 Millionen Menschen erwartet, das ist eine Zunahme um 20 Prozent. Dadurch wird das Real-wachstum der Wirtschaft mehr als aufgesaugt. Die Erschöpfung der Böden, die zunehmende Wassernot bzw. Desertifikation, vor allem aber die hohe und weiter wachsende Arbeitslosigkeit und Verarmung können einen gefährlichen Migrationsdruck in Richtung Norden auslösen, der die Zahlen und Probleme der jetzt schon gegen den Willen der Europäer stattfindenden Zuwanderung noch sehr viel mehr vergrößern wird. Dieser Migrationsdruck durch die Überbevölkerung würde verschärft durch einen Domino-Effekt aufgrund anhaltender Demokratie-Defizite, systemischen Terrors und fundamentalistischer Militanz. Auch eine mögliche Bedrohung Europas mittels mit chemischen oder bakteriologischen Waffen bestückter Raketen als Konsequenz irrationaler Einsatzdoktrinen gehört zur Risikolage Auf der Europa-Mittelmeer-Konferenz Ende November 1995 in Barcelona wurde die Förderung eines gemeinsamen Friedens-und Stabilitätsraums verabredet, der-jedoch die EU zunehmend belasten wird. Die finanzielle Zusammenarbeit zeigt beim Europäischen Rat folgenden Ansatz

Die regionalspezifische Sicherheitslage bewog Spanien zu Sonderabmachungen mit der NATO und den USA, um eine (auch die unter spanischer Hoheit stehenden Hafenstädte an der marokkanischen Küste Ceuta und Melilla einfriedende) Sicherheitslinie Balearen -Gibraltar -Kanaren -Azoren zu gewährleisten.

Mittelost-und Osteuropa als Problemzonen

Die Wahl Boris Jelzins am 3. Juli 1996 wurde im Westen als Richtungsentscheidung gegen den Kommunismus und zugunsten eines demokratischen Aufbaus und Reformgeistes bewertet. Faktisch führt Jelzin ein halb-autoritäres Regiment, das zudem von Kräften der Restauration (volks-patriotischer Block) erheblich bedrängt bleibt. Gerade in der abweisenden Sprache Moskaus zum Thema NATO-Osterweiterung mußte man Konzessionen an die alten Imperialisten und Nationalisten erkennen.

Die aus dem Sowjetreich entlassenen Staaten haben -aufgrund einer gezielten sowjetischen Einwanderungspolitik -25 Millionen Russen auf ihrem Gebiet, die vielleicht als „Fünfte Kolonne“ für geostrategische Vorfeldsicherungen weiterhin propagandistisch disponibel bleiben. Den Krieg in Tschetschenien begründete Moskau nicht zuletzt mit dem Schutz der russischen Bevölkerung in dem um Selbstbestimmung ringenden Land. Auch nach der Wahl erscheint Rußland in einer Analyse der Washington Post vom 5. Juli 1996 als konfuse und verwundete Macht.

Grundsätzlich ist aber Rußland weiterhin befähigt, über das Maß seiner Sicherheitsbedürfnisse allein zu bestimmen, wie die schweren Verstöße gegen internationale Abkommen sichtbar machen. So unterließ Rußland die Anmeldung größerer Truppenbewegungen, obwohl dies der von Moskau unterzeichnete KSE-Vertrag von 1990 vorschreibt. Im Wiener Vertrag über Vertrauens-und Sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM) von 1994 verpflichtete sich Rußland, Einsätze von Luftstreitkräften mit mindestens 9 000 Mann vorher anzukündigen. Dies hat Rußland nicht getan. Nach derselben Vereinbarung unterliegen militärische Einsätze mit mehr als 000 Mann internationaler Beobachtung. Rußland hätte eine entsprechende Einladung 72 Stunden vor dem Einmarsch in Tschetschenien aussprechen müssen. Auch dies hat Rußland versäumt. Zugleich hat Moskau aber von der NATO das Zugeständnis ertrotzt, im Vor-kaukasus und im Petersburger Gebiet erheblich mehr vertragsgebundene Waffen zu stationieren, als im KSE-Vertrag zugestanden worden waren.

In einem Freundschaftsvertrag mit Minsk verpflichtete sich Weißrußland, die militärische Sicherung seiner Grenzen gemeinsam mit Rußland vorzunehmen und Stützpunkte der russischen Luftwaffe zuzulassen. Auch über die wirtschaftliche Abhängigkeit der Ukraine von Rußland vermag Moskau erheblichen Einfluß auszuüben. Ferner hat Rußland Marinestationen auf der Krim sowie Truppenstützpunkte in Moldawien, in Belorus, Georgien, Armenien und Kasachstan. Zudem hat die Zusammenarbeit des Moskauer Generalstabes mit dem NATO-Kooperationsrat in Brüssel das autistisch anmutende Denken, die westliche Allianz sei eine potentielle Bedrohung für Ruß-land, nicht wirklich ändern können 13. Der Oberkommandierende der russischen Landstreitkräfte, Generaloberst Semjonow, warnte Anfang des Jahres vor einer Vorverlegung der NATO-Strukturen in Richtung russische Grenze

Trotz einer Fülle von an Moskau gerichteten Diskussions-Offerten mußte in einem Informationsbericht Volker Rühes an den Verteidigungsausschuß des Bundestages vom 5. Juni festgestellt werden: „Die Teilnahme an der Partnerschaft für den Frieden und die LJmsetzung des IPP (. Partnerschaft für den Frieden 1) erfolgt derzeit von russischer Seite sehr restriktiv. Es wurden bislang keine substantiellen Fortschritte erzielt.“ Auf der 33. Sitzung des Verteidigungsausschusses am 24. April in Brüssel hatte NATO-Generalsekretär Solana nach seinen Gesprächen in Rußland den deutschen Abgeordneten mitzuteilen, „daß Rußland sich gegen eine NATO-Erweiterung wende“ Der ehemalige Berater Gorbatschows, Wjatscheslaw Daschitschew, warnte gar, daß die Osterweiterung der NATO unvermeidlich zur Spaltung des Kontinents führen würde Solche Obstruktion gegen die NATO-Öffnung nach Osten muß in erster Linie wohl als außenpolitische Kompensationsgeste für eine Fülle von innenpolitischen und geostrategischen Turbulenzen innerhalb der russischen Föderation bewertet werden Eine neue Beweglichkeit bleibt blokkiert durch die weitere Vorherrschaft jener russischer Eliten, die nicht in einer demokratischen Umwelt sozialisiert worden sind Die Tradition machtpolitischen Denkens zeigt sich derzeit darin, „daß alle russischen Überlegungen über die Integration davon ausgehen, daß die anderen GUS-Staaten einen Teil ihrer Souveränität abtreten sollen, nicht jedoch Rußland“

Die innere Unruhe Rußlands überträgt sich auf ein Außenverhalten, das keine verläßlichen Voraussagen über eine Integrationsbereitschaft erlaubt Die Zusicherung des Obersten Alliierten Befehlshabers für Europa (SACEUR), George A. Joulwan, daß „jedwede Erweiterung des Bündnisses für niemanden eine Bedrohung“ sei und im Gegenteil eine Fülle neuer Kooperationen in Aussicht stünden hat russisches Mißtrauen nicht abzubauen vermocht, was wiederum im westlichen Lager unterschiedliche Reaktionen auslöste. So gab Senator Sam Nunn aus US-Perspektive selbstbewußt zu bedenken: „As the Russian leaders and people make their important choices, they should know, that Russian behavior will be a key and relevant factor for NATO’s future." Norwegen zeigte sich vorsichtiger. Es befürwortet weiterhin eine NATO-Osterweiterung, aber dies nur im Einvernehmen mit Rußland, da es mit Norwegen eine gemeinsame Grenze hat. Die Türkei verlangt eine Austarierung der Nord-Süd-und West-Ost-Sicherheitspolitik und will nicht mit den schwierigen Nachbarn Georgien, Armenien, Iran, Irak und Syrien alleingelassen werden

Polen hingegen brennt förmlich auf eine NATO-Aufnahme, weil es nie wieder zwischen zwei Blöcke geraten will oder vom guten wie vom bösen Willen des großen Nachbarn im Osten abhängig sein möchte. Die polnische Einforderung einer Beteiligung am Selbstschutz demokratischer Staaten bedeutet eine moralische Inpflichtnahme des Westens, die sich auch auf weitere Visegrd-Staaten und andere Antragsteller beziehen lassen muß, wenn die NATO ihren eigenen Beschluß vom 5. Juni 1995 durchhalten will, kein Junktim zuzulassen zwischen dem Öffnungsprozeß der NATO und der Ausgestaltung der Beziehungen zu Rußland. Ein Veto Moskaus in NATO-Angelegenheiten werde nicht akzeptiert

Damit bleibt die Schaffung des neuen Stabilitätsankers „östliches Mitteleuropa“ gefährdet. Vor allem Finnland sorgt sich vor möglichen Belastungen seines Verhältnisses zu Moskau infolge einer Vergrößerung der NATO und strebt deshalb derzeit keine Mitgliedschaft in der WEU oder NATO an. Die Balten hingegen drängen auf eine Einbindung in die NATO, weil sie sich als „nahes Ausland“ vor Rußland fürchten und der Westen gerade deswegen angesichts möglicher Konflikte zögert, dem Beitrittswunsch in absehbarer Zeit zu entsprechen Größere Berechenbarkeit läßt gegenwärtig auch die Ukraine nicht erkennen. Ihre Absichten erscheinen ambivalent: Ein NATO-Beitritt verspricht zwar den Aufbau der ersehnten civil society, doch die Sorge vor einer Rollenzuweisung als cordon sanitaire gegen Ruß-land macht Kiew zögerlich und fördert eher die Suche nach Zwischenwegen

Gegenwärtig scheint Polen der entscheidende Testfall zu werden. Aus der Sicht des polnischen Ministerpräsidenten Wlodzimierz Cimoszewicz bildet die NATO „den Schlüssel zur Stabilität im euro-atlantischen Raum“ Die Unterstützung des polnischen Begehrens durch Deutschland wird zugleich Prüfstein sein für die entsprechende Durchsetzungsfähigkeit Bonns Damit verbindet sich die Frage, in welchem Maße die Sicherheitsidentität Europas für Deutschland selbst eine „hard Option“ oder eine „soft Option“ bildet.

Zur Risiko-Perzeption in Deutschland

Der Aufbau einer Sicherheitsidentität für Europa stellt sich als Herausforderung zu einer Zeit, in welcher Deutschland von selbstzufriedener Unzufriedenheit hin zur Angstgesellschaft wegdriftet. Die schwierigen ökonomischen Transformationsprozesse steigern die Befürchtung, daß unser Land in einen nicht mehr kontrollier-und regelbaren Konflikt geraten könnte zwischen internationalem Kapital und Billiglohnländern; daß unserer traditionellen Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht (bzw. abwandert -bei gleichzeitiger stetiger Zuwanderung von Arbeitskräften). Fehlender Wirtschafts-und Sozialpatriotismus, mangelnde Solidarität mit den Benachteiligten des eigenen Landes lassen sich mit Verfassungspatriotismus allein sicherlich nicht ausgleichen. Die Frage, was in dieser zunehmend konfliktgeprägten Situation die deutschen Interessen sind -oder sein könnten -, wird nicht gestellt. Versuchte man dies, so erhöbe sich automatisch der Vorwurf von Anmaßung und neuem Nationalismus. Das menschliche Anrecht auf ein positives Selbstbewußtsein, der Wunsch nach „Normalität“ werden im eigenen Land von einem bestimmenden Großteil der publizistischen Meinungselite konterkariert. Sie mißbraucht die Würde der Opfer und das Vermächtnis der Schuld, wenn sie mit automatenhafter Entrüstungspose gegen das Suchen nach einem differenzierenden und zeitgemäßen Deutschland-Bild den stets griffbereiten Faschismus-Verdacht unter die Ratsuchenden streut, um die Erkundungen nach einem tragfähigen Selbstverständnis zu blockieren.

Zudem bringt eine geistige Kleinkariertheit und Reaktionsunfähigkeit gegenüber großen Herausforderungen notwendige Veränderungen in eigentümliche Schieflagen. Einerseits fordert man mit dem Bundespräsidenten an der Spitze die Globalisierung deutscher Außenpolitik, ohne sich andererseits darauf personell und institutionell angemessen vorzubereiten. Wurden beispielsweise 1994 vom Auswärtigen Amt 37 Anwärter für den Höheren Dienst eingestellt, so waren es 1995 nur noch 23 und im Mai 1996 gar nur 15 Nachwuchs-kräfte. In dieser Tendenz des Widerspruchs von weltweiter Präsenz, Sparzwängen und Kleinmut ist auch die Schließung von Goethe-Instituten zu sehen: 1995 waren vier betroffen, 1996 sind es fünf und 1997 werden es wohl ebenfalls fünf sein. Das Goethe-Institut in Paris muß mit einem achtfach geringeren Sockelbetrag für die Programm-Mittel auskommen als die vergleichbare Repräsentanz Schwedens. „Die Universitäten verkümmern -doch wen kümmert das schon?“, fragte DIE ZEIT in ihrem Leitartikel am 17. Mai dieses Jahres. Dabei liegt es angesichts unserer Konkurrenz-und Ressourcen-Situation auf der Hand, daß ohne eine intensive Erziehung von Verantwortungs-und Leistungs-Eliten, die die Schwachen mitzutragen vermögen, für den Sozialstaat das Aus kommt.

Einerseits hat Deutschland bislang 14 Milliarden DM für die Bosnien-Flüchtlinge aufgebracht und zahlt für humanitäre Hilfe mehr als alle anderen EU-Länder, obwohl es sich hier nicht um ein deutsches, sondern um ein gesamteuropäisches Problem handelt. „Andererseits besteht nach wie vor Mißtrauen gegenüber einem machtvollen Deutschland, das Europa , unter seine Fuchtel'nehmen könnte.“ Das heißt letztlich nichts anderes, als daß selbst gigantische Zahlungen -bei katastrophaler interner Überschuldung -von außen nicht als Haltung einer bewundernswerten Solidarität aufgefaßt werden, sondern offenbar als abermaliges Zeichen von (dieses Mal eher „linksorientierter“) Großmannssucht, realitätsleugnender Selbstgefälligkeit und einer jedenfalls bedenklichen Überschätzung der eigenen Möglichkeiten. Oder auch in anderer Interpretation: Das grand design deutscher Außenpolitik scheint darin zu bestehen, everybody’s darling sein zu wollen. Jedenfalls wird im In-und Ausland Achtung zur Verachtung, wenn man auf dem Traumschiff Deutschland die eigenen Planken verfeuert, um für kurze Zeit möglichst vielen Passagieren ein warmes Plätzchen zu bieten. Daß gar Deutschlands Bereitschaft zum Wechsel von Deutscher Mark zum Euro u. a. auch in historisch bedingter Neidbeschwichtigung seiner Nachbarn begründet sein könnte indiziert jedenfalls einmal mehr die Fragilität gemeinsamer Auffassungen

Die innere Abkehr der Bürger von der eigenen Regierung beruht in deren Tabuisierung fundamentaler, immer drängender werdender Probleme sowie in den unaufgelösten Widersprüchen. Während die politische Führung neuen Horizonten zustrebt, bleiben Großteile der Bevölkerung in ihren Erfahrungen der Kriegs-und Nachkriegszeit, der Schuldzuweisungen und der deutschen Teilung eigentümlich verfangen. Geistiger Provinzialismus stellt sich gegen weltbürgerliches Engagement. 1995 erklärten sich für die Übernahme von mehr internationaler (inkl. mehr militärischer) Verantwortung seitens der Bundesrepublik nur 13 Prozent der Ostdeutschen und 30 Prozent der Westdeutschen Eine interne Studie der Bonner Hardthöhe über das Meinungsbild zu den künftigen Aufgaben der Bundeswehr ergab, daß 90 Prozent diese Aufgabe in der Verteidigung innerhalb der Landesgrenzen sehen und nur 41 Prozent die Teilnahme an militärischen UNO-Aktionen befürworten (Stand: Mai 1996). Der fluide Charakter solcher Überzeugungen veranlaßte Elisabeth Noelle-Neumann zum Verweis auf „eine fehlende Debatte in Deutschland“. Anlaß war die Antwort u. a. auf die Frage: „Wenn die NATO in Bosnien eingreifen muß, dann werden höchstwahrscheinlich auch deutsche Tornado-Flugzeuge dort eingesetzt. Sind Sie alles in allem dafür, daß auch deutsche Tornados dort eingesetzt werden?“ In Westdeutschland waren Prozent dafür, in Ostdeutschland 19 Prozent 34. Die IFOR-Stationierung von Bundeswehrsoldaten im ehemaligen Jugoslawien lehnten im Februar 1996 47 Prozent ab, 50 Prozent waren dafür. Aber zugleich waren auch 50 Prozent der Meinung, daß dieser Beitrag zur

Friedenssicherung eine eher geringe Bedeutung habe Gespaltene Auffassung und Lavier-Stil werden auch dadurch belegt, daß 48 Prozent der Deutschen 1995 die NATO-Vollmitgliedschaft Polens befürworteten, aber nur 25 Prozent Bereitschaft bekundeten, im Krisenfall Polens Sicherheit militärisch zu verteidigen Ähnliche Ambivalenzen ließen sich beliebig ergänzen, um das Sperrige im Bemühen Deutschlands zu verdeutlichen, sich „mit allen Kräften für die Schaffung einer echten europäischen Schicksalsgemeinschaft“ einzusetzen und zugleich bekennen zu müssen: „In vielen Bereichen gibt es zur Zeit mehr Fragen als Antworten.“ Gewiß ist nur, daß Deutschlands Engagement gegen die Instabilitäten draußen das Anwachsen der Instabilitäten im Inneren des eigenen Landes nicht wie bisher vernachlässigen oder gar ignorieren bzw. weiter tabuisieren darf. Die Rückkehr Deutschlands auf die Weltbühne bedeutet nur dann die Übernahme einer tragenden Rolle, wenn sich zwischen den Binneninteressen und den Außenverpflichtungen mehr als nur ramponierte Scharniere tagespolitischer Improvisation bewegen. Glaubwürdigkeitslücken und Finanzierungszwänge sind nicht durch das Pathos von Deutschlands neuer Rolle auf Dauer zu verkleiden.

Es darf zudem nicht verhehlt werden, daß der Preis für den Frieden in Europa vielleicht nicht nur in Schweiß, sondern auch in Blut und Tränen bestehen könnte. Europa redete und verhandelte im ehemaligen Jugoslawien angesichts eines Völkermords, bis Amerika handelte und das Dayton-Abkommen durchsetzte. Wenn eine Seite alles will und tut und die andere ums nackte Überleben kämpft, dann gibt es nichts mehr zu vermitteln, wie das Scheitern der Vermittlungsmissionen von UNO und EU während der Bosnien-Krise bewiesen hat Politischer guter Wille braucht militärischen Flankenschutz mit immensen Kosten, mit möglicherweise großen Opfern. Wenn die schrittweise Öffnung der NATO als „unumkehrbar“ gilt und in dieser westlichen Allianz „ein wichtiger Motor des politischen Wandels“ bestehen soll dann dürfen Bundeswehr und Gesellschaft keine Trennfugen aufweisen, dann muß die Friedenssicherung als gemeinsame Aufgabe politisch, geistig und moralisch angenommen werden.

Fazit und Ausblick

Die Förderung des Friedensprozesses, gerade auch im Kontakt mit den MOE-Staaten und Rußland, obliegt Deutschland nicht nur aus historischer Verpflichtung und natürlichem Eigeninteresse, sondern auch aus seiner Sonderstellung als dominierende Wirtschaftsmacht, die zugleich keine militärischen Druckmittel gegenüber ihren Nachbarn mobilisieren kann. Die deutsche Teilhabe am Friedensprozeß als verdeckten Neoimperialismus zu denunzieren setzt bewußt Ideologie an die Stelle von Realität. Ohne nationale Verfügung über Angriffspotentiale, ohne Pressionsmöglichkeiten nach vertraglichem Verzicht auf ABC-Waffen, ist die Bundeswehr das Instrument einer Friedensmacht. Sie muß Partner und Patenschaften für Europas Sicherheit einwerben. Ein Auftrag freilich, den die Bundesrepublik nur im Bündnis verwirklichen kann.

Die Sorge für eine Sicherheitsgemeinschaft verlangt die Neutralisierung von Imperialismus, Totalitarismus und Diktatur zugunsten von Menschenrechten, freiheitlicher Demokratie und einer Marktwirtschaft, die nicht im Treibsand der Profit-Anarchie versinkt. Es gilt, mit großer Geduld das Wer-gegen-Wen-Denken durch strukturelle Kooperation aggressionsunfähig zu machen und durch eine realitätspflichtige, umsichtig und stetig zu befördernde Integrationstiefe den Traum von der „Sicherheitsidentität“ zu ersetzen. Durch die Herausbildung von Verantwortuhgs-und Leistungseliten, welche nationale Eigeninteressen mit der Ethik einer europäischen Solidargemeinschaft verbinden, kann eine peace community errichtet werden, welche UNO, EU, OSZE, WEU und NATO zu einem „System of interlocking institutions“ befördert.

Die Gestaltung Europas als Friedenszone verlangt jedoch Sicherheits-und Wirtschaftsstrategien samt institutionalisiertem Kontroll-und Regelwerk, die insgesamt von der mittelbaren Fortexistenz der klassischen Nationalstaaten bestimmt bleiben werden. Deren gemeinsame Gefährdung durch ungesteuerte Zuwanderungen, durch ethnische Konflikte, durch Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen erzwingt friedensdienliche gemeinsame Präventionsstrategien. Bei der Rede von der Sicherheitsidentität sollte aber auch unbedingt beachtet werden, daß die USA, China, Indien und Rußland ihre beanspruchten sicherheitspolitischen Prioritäten bis auf weiteres allein durchzusetzen vermögen. Zumindest in Rußland könnte indes durch ein starkes, kohäsives und demokratisch stabiles Europa das alte Denken in machtstaatlichen Kategorien langfristig durch Investitionen von Vertrauen und vor allem Geduld abgebaut werden, um „den freiheitlichen Übergangsprozeß und die Integration eines Staates in ein offenes, ausgewogenes gesamteuropäisches System zu fördern“ Für die entsprechenden Eigen-und Gesamtziele gilt es nach Ansicht des amerikanischen Verteidigungsministers William I. Perry, gemeinsam grenzübergreifend zu arbeiten „not only from the top-down, but from the groundup“

Ein solchermaßen geschaffenes Stabilitätsgeflecht macht gewiß nicht aus unvereinten bald vereinte Nationen, aber es verbessert die bisherigen kommunikativen Strategien -vor allem durch deren Ausbau und Verstetigung über gewisse Moden und Rückschläge im eigenen Lager hinweg, welche die Bündnispartner bewältigen müssen. Der Verweis auf den antieuropäischen Multikulturalismus einer neuen geistigen amerikanischen Führungsschicht mag hier genügen

Ohne die verstärkten Aktivitäten der transatlantischen Wertegemeinschaft würde sich Europa letztlich sicherheitspolitisch marginalisieren und Ruß-lands Anspruch auf einen kontinentalpolitischen Sonderstatus ohne berechenbare Bindungsqualitäten womöglich noch stimulieren. Deshalb muß und darf der friedenspolitische Offensivgeist nicht in geographischen Begriffen verharren. „Die Lebensinteressen der Europäer nach innen und nach außen reichen über das Gleichgewichts-und Machtkalkül der Nationalstaaten hinaus. Ihre eigentliche Basis besitzt die europäische Integration in der Kultur: Europa’ steht für ein kulturelles Konzept, in dem die Normen der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die Bürgergesellschaft, die Traditionen und Mentalitäten wie die Dichte historisch-kultureller Vielfalt zusammenkommen. In diesem Verständnis des Kontinents liegt eine schöpferische Kraft, die es politisch zu organisieren gilt.“ Diese Kraft müßte auch die Tendenz meistern, „Europa“ zu einem bloßem Harmonie-Begriff werden zu lassen, da bei allem Zuwachs an „Identität“ eine Fülle von Konfliktstoff, d. h. von „Resten“ bleibt, die in keiner Berechnung aufgehen und die deshalb unter Kontrolle gehören, weil sie politisch noch lange nicht auflösbar sind. Die Förderung der Einheit Europas steigert sich in der Kontinuität des durchgehaltenen eigenen Strebens nach dieser Einheit; alles andere erscheint utopistisch. Auf die verpflichtende Diagonale des friedlichen Triumphs über das eigene Jahrhundert der Katastrophen und Kriege könnte indessen ein Satz von George B. Shaw hinweisen: „Im Leben gibt es zwei Tragödien. Die eine besteht darin, seinen Herzenswunsch aufgeben zu müssen. Die andere darin, ihn erfüllt zu bekommen.“

Die gefährliche Leutseligkeit dieses Satzes sollte die Möglichkeit im kollektiven Bewußtsein der Europäer verschärfen, daß bei der Einforderung der Friedensverantwortung für Europa Friedens-anstrengungen in gewisser Weise Kriegsanstrengungen gleichkommen könnten. Die Geschichte Europas in diesem Jahrhundert hat einen solchen Zusammenhang mehrfach als unausweichliche Realität verdeutlicht -zuletzt im ehemaligen Jugoslawien. Dabei bilden die Konflikt-Achsen Ost-West und Nord-Süd ohnehin nur erst jüngst vergangene oder gegenwärtig besonders drängende Krisenszenarien vor einem Problem-Horizont ab, zu dem die Stichwörter Bevölkerungsexplosion, Waffenproliferation, politisch-religiöser Totalitarismus, globale Ressourcenverknappung und ökologische Krisen ebenso zählen wie die angelaufenen Konkurrenzkämpfe in den Arenen der Weltwirtschaft

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zum Vorstehenden Volker Rühe, Die Neue NATO. Vision und angestrebte Entwicklung, in: Soldat und Technik, (1995) 6, S. 351 f; Helmut Kohl, Sicherheit für ein kommendes Europa, in: Bulletin, Nr. 15 vom 14. Februar 1996, S. 166; „Einführende Bemerkungen BM Rühe im Pressegespräch am 12. Juni 1996 zur Vorbereitung auf die Frühjahrstagung der NATO-Verteidigungsminister" (Typoskript).

  2. Klaus Naumann (ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und zur Zeit Vorsitzender des NATO-Militärausschusses in Brüssel), Die zukünftige Bundeswehr, in: Europäische Sicherheit, (1995) 7, S. 10.

  3. Volker Rühe, Sicherheitspolitik. Die Rolle der Bundeswehr. in: Internationale Politik, (1995) 4, S. 28.

  4. Kommunique der Ministertagung des Nordatlantikrats, Berlin, 3. Juni 1996, in: Bulletin, Nr. 47, 1996, S. 507.

  5. Volker Rühe, Die Nordatlantische Allianz als Fundament einer neuen europäischen Friedensordnung, Rede vor der Deutschen Atlantischen Gesellschaft am 11. Mai 1995, in: Stichworte zur Sicherheitspolitik, Juni 1995, hrsg. vom Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1995.

  6. Vgl. die Rede von Alain Juppe vor dem Forum für Wehr-kunde am 4. Februar 1995 in München. Text in: Defense Nationale, (1995) 51, S. 5-15 („La France et la scurit europeenne“).

  7. Vgl. Hartmut Bühl, Das Eurokorps. Perspektiven für Europa, in: Wehrtechnik, Sonderheft 1995: Deutsch-Französische Rüstungskooperation, S. 68.

  8. Vgl. im Zusammenhang Jaques Walch, Das EURO-KORPS als Modell und Hartmut Bühl, Instrumentarium für WEU und NATO, in: EUROKORPS, Handbuch II, Strategische Mobilität. Berlin -Bonn 1996, bes. S. 7 und S. 22.

  9. So Klaus Naumann in einer Erklärung vom 24. April 1996 (AP Brüssel, AP-233, 4, pl 340 APD 7018).

  10. „Stabilität im Osten wie im Süden ist ein europäischer Imperativ“ (Roman Herzog), zit. in: Volker Rühe, Mut zur Verantwortung -Deutschland und der Frieden in Europa, in: Information für die Truppe (IFDT), März 1996, S. 38.

  11. Vgl. Josef Janning, Europa und der Maghreb. Sieben Thesen, in: Lennart Souchon/Martin Potthoff (Hrsg.), Die sicherheitspolitische Lage im Mittelmeerraum, Bonn 1994, S. 33 ff. (Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Schriftenreihe zur neuen Sicherheitspolitik 6).

  12. Vgl. Bulletin der Europäischen Union. Beilage 2/1995, S. 73. Vgl. ebenfalls Bulletin der Europäischen Union 11/1995.

  13. Vgl. Generalleutnant a. D. Werner von Scheven, Gemischte Gefühle mit der NATO-Osterweiterung, in: Rissener Rundbrief, (1995) 10, S. 377, 382.

  14. Vgl. Interfax-Interview vom 2. Januar 1996, in: Stichworte zur Sicherheitspolitik, hrsg. v. Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, Februar 1996, S. 14. Am 3. Februar 1996 meinte Andrej Kokoschin (Erster Stellvertretender Verteidigungsminister der Russischen Föderation) in München: „Das Verhältnis zu diesem Prozeß der NATO-Erweiterung ist bei uns in Rußland unzweideutig negativ“ (Rede-Typoskript).

  15. Deutscher Bundestag, Verteidigungsausschuß, Ausschußdrucksache 150, 13. Wahlperiode.

  16. Deutscher Bundestag, Verteidigungsausschuß, Protokoll 33, S. 13.

  17. Vgl. Wjatscheslaw Daschitschew, Die NATO-Erweiterung führt zu neuer Konfrontation in Europa. Aktuelle Kurzanalyse, Nr. 16 vom Juli 1995, DGAP Bonn, S. 3; dazu auch Gerhard Wettig, Die Rolle der NATO aus Moskauer Sicht, in: Aussenpolitik, (1994) 2.

  18. Vgl. Daniil Proektor, Konturen der russischen Sicherheitspolitik in den neunziger Jahren, in: Berichte des Bundesinstituts, für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln, 5/1995.

  19. Vgl. Werner Kaltefleiter, Die neue Herausforderung. Der russische Imperialismus, in: Europäische Sicherheit, (1995) 8, S. 11; dazu auch Boris Orlow, Europas Haltung gegenüber Rußland und der Tschetschenien-Krieg. Eine Stimme aus Moskau, in: Osteuropa, (1995) 45, S. 923.

  20. Olga Alexandrova, Rußland und sein „nahes Ausland“: Integrationsvorstellungen und Ansätze der russischen Integrationspolitik, in: Berichte des Bundesinstituts für ost-wissenschaftliche und internationale Studien, Köln, 20/1995, S. 25.

  21. So das Ergebnis einer internen Studie „Russische Außen-und Sicherheitspolitik im Wandel“ (Mai 1996) der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation, Strausberg.

  22. George A. Joulwan, NATO heute und morgen, in: Europäische Sicherheit, (1995) 8, S. 9.

  23. Sam Nunn, The future of NATO in an uncertain world, in: Vital Speeches of the Day, July 15, 1995, S. 583-586.

  24. So Norwegens Botschafter Mevik und der türkische Botschafter Özceri im Gespräch bei der NATO mit Vertretern des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages am 24. April 1996 in Brüssel, Ausschußprotokoll Nr. 33, S. 33, 39.

  25. Vgl. Informationspapier des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister der Verteidigung, Bernd Wilz, für den Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages, Ausschußdrucksache 150, 13. Wahlperiode.

  26. Vgl. Siegfried Thielbeer, Klare Worte an die baltischen Republiken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 19. Juni 1995.

  27. Vgl. Olga Alexandrova, Die Ukraine und die europäische Sicherheitsarchitektur, in: Aktuelle Analysen, Nr. 57 vom 11. August 1995, Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Köln.

  28. Wlodzimierz Cimoszewicz, Der Aufbau eines Sicherheitssystems für Polen: Die NATO-Mitgliedsehaft als zentrales Ziel, in: NATO-Brief, Mai 1996.

  29. In seinem Vortrag „Stabilität in und für Europa“ am 13. Mai 1996 im Zentrum für Internationale Beziehungen in Warschau hob Volker Rühe hervor: „Polen sucht seinen Platz im Herzen Europas, und es wird ihn dort finden!“ Ferner zitierte Rühe Bundeskanzler Kohl, der vor dem polnischen Sejm im Juli 1995 den Wunsch geäußert hatte, daß Polens Wille zum Beitritt in EU und NATO noch in diesem Jahrhundert erfüllt werde. (Rede-Typoskript, S. 3, 10). Vgl. im Zusammenhang Ludger Kühnhardt, Der Osten des Westens und die „russische Frage“, in: Europa-Archiv, (1994) 9, S. 239 ff.

  30. Rudolf Scharping, Deutsche Außenpolitik muß berechenbar sein, in: Internationale Politik, (1995) 8, S. 39.

  31. Vgl. Hans-Peter Schwarz. Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994, S. 211.

  32. Vgl. zum Vorstehenden bes. Heinrich Fisch, Ist der Sozialstaat noch zu retten? Wenn Markt, Staat und Ethik versagen. Eine kritische Analyse gesellschaftlicher Steuerungssysteme, Freiburg 1996.

  33. Vgl. EMNID-Sicherheitspolitische Lage, 10/1995, BMVg, Presse-/InfoStab SPL ‘ 95.

  34. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Öffentliche Meinung und Außenpolitik. Die fehlende Debatte in Deutschland, in: Internationale Politik, (1995) 8, S. 7.

  35. Vgl. IFDT, (1996) 4. S. 39.

  36. Vgl. Karl-Heinz Kamp, Zwischen Friedenspartnerschaft und Vollmitgliedschaft. Die NATO und die Erweiterungsfrage, in: Interne Studien der Konrad-Adenauer-Stiftung, Juni 1995, S. 34.

  37. So Außenminister Klaus Kinkel in seiner Grundsatzrede am 10. Dezember 1995 in Berlin vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Redetyposkript, Streitkräfteamt. Abt. III, FIZ Bw.

  38. Vgl. Joachim Krause, Fiasko auf dem Balkan, in: Internationale Politik, (1995) 8, S. 46; Jürgen Rose, Allein, es fehlte der Wille, in: Truppenpraxis/Wehrausbildung, (1996) 5.

  39. Volker Rühe, Europas Sicherheit und die Entwicklung der Bundeswehr, Rede am 18. August 1995 in der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, in: Bulletin, Nr. 64 vom 24. August 1995, S. 649.

  40. David Calleo, Europa aus der Sicht der Vereinigten Staaten: Übersetzung des Bundessprachenamtes aus: Politique Etrangre, (1994) 4, S. 1017-1025, zit. aus der dt. Übersetzung, S. 8.

  41. William I. Perry auf der Wehrkunde-Tagung am 4. Februar 1996, zit. aus dem Redetyposkript.

  42. Im April dieses Jahres erörterten die Generalstabschefs der 16 NATO-Staaten sowie von 21 anderen Ländern, vor allem aus Mittel-und Osteuropa, den bisherigen Verlauf des IFOR-Einsatzes. „Der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, der deutsche General Klaus Naumann, bezeichnete die Sitzung als, ermutigend’. Es sei erstaunlich, daß nur wenige Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges die General-stabschefs aus Ost und West so freimütig über ein gemeinsames Krisenmanagement diskutieren konnten. Die NATO informierte ihre Partner über alle in diesem und im nächsten Jahr geplanten Manöver“ (dpa-Meldung vom 24. April 1996).

  43. Vgl. Gerald R. Kleinfeld, Die deutsch-amerikanische Wertegemeinschaft, in: Die Politische Meinung, (1996) 320, S. 55 ff.

  44. Werner Weidenfeld, Europa -Weltmacht im Werden, in: Internationale Politik, (1995) 5, S. 22.

  45. Zit. nach Henry A. Kissinger, Die Vernunft der Nationen, Über das Wesen der Außenpolitik. Berlin 1994, S. 17.

  46. Vgl. die Krisen-Szenarien bei Jörg Schönbohm, Proliferation von Massenvernichtungsmitteln als Herausforderung einer neuen Sicherheitspolitik, in: Bernhard Rabert/Frank Sales (Hrsg.), Proliferation von Nuklearwaffen -eine tickende Zeitbombe?, Strausberg 1995, S. 9 ff.; Karl Kaiser/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.) unter Mitwirkung von Martin Brüning und Georg Schild, Die neue Weltpolitik, Bonn und Baden-Baden 1995.

Weitere Inhalte

Manfred Funke, Dr. phil., geb. 1939; Professor am Seminar für Politische Wissenschaft der Universität Bonn. /Veröffentlichungen zur Weimarer Republik und NS-Diktatur, zur Friedensforschung, Sicherheitspolitik, zu Totalitarismus, Extremismus, Terrorismus sowie zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland.