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Demokratie braucht Literatur. Vom deutschen Umgang mit erzählender Literatur | APuZ 13-14/1996 | bpb.de

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APuZ 13-14/1996 Haben wir uns richtig verstanden? Die Literatur der Bundesrepublik -Erinnerungen aus der DDR Rückblicke auf die Literatur der DDR Demokratie braucht Literatur. Vom deutschen Umgang mit erzählender Literatur Deutsche Identitäten. Gesellschaft und Kultur im vereinten Deutschland Deutsche PEN-Geschichten. Eine Akten-Lese

Demokratie braucht Literatur. Vom deutschen Umgang mit erzählender Literatur

Karl-Rudolf Körte

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der öffentlichkeitswirksame Umgang mit der erzählenden Literatur ist Ausdruck unserer neuen Beliebigkeitskultur. Infotainment macht Literaten zu Showstars und degradiert ihre Texte zur literatur-und politik-fernen Ware. Die deutsche Teilung wies den Literaten Rolle und Themen zu. Seit der staatlichen Einheit haben die Literaten als Intellektuelle in Deutschland ihre Funktion gänzlich eingebüßt. Ihre Rolle als Repräsentanten und gutes Gewissen der bundesrepublikanischen Identität ging mit der deutschen Einheit verloren. Romane sind die einfühlsamen Berichte zur Lage der Nation. Als Souffleure des Zeitgeistes lieferten die Literaten mit ihrer Prosa -und nicht mit ihren Statements -Zeitdiagnosen. Ihre Revue an Deutschland-bildern enthält in kondensierter Form die politische Brisanz der Vereinigung. Lesen ist der Königsweg für Wissenserwerb. Literatur setzt die Wirklichkeitserfahrung in Sprache um. Die lesende Erfahrung mit erzählender Literatur wappnet gegen totalitäre Ansprüche und liefert Rüstzeug für komplexe, differenzierte Identitäten.

I.

These 1: Der spezifische Umgang mit der erzählenden Literatur ist Ausdruck unserer neuen Beliebigkeitskultur. Infotainment macht Literaten zu Showstars und degradiert ihre Texte zur politik-fernen Ware.

Erzählende Literatur ist oft eine Angelegenheit von Minderheiten geblieben Vom ersten Roman Martin Walsers Ein Flugzeug über dem Haus, für den er immerhin den Preis der Gruppe 47 bekam, wurden im ersten Jahr 509 Exemplare verkauft. Der Geschmack der Mehrheit zielte seit jeher auf Unterhaltung und Triviales. Die drei erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren dieses Jahrhunderts belegen dies: Auf Platz 1 Johannes Mario Simmel Es muß nicht immer Kaviar sein mit 64 Millionen in deutscher Auflage; Platz 2 Heinz G. Konsalik Der Arzt von Stalingrad (52 Millionen); Platz 3 Utta Danella, Stella Termogen (49 Millionen) Trotz Anstieg der Buchproduktion auch im Segment der erzählenden Literatur lesen die Deutschen immer weniger: Die durchschnittliche Lese-zeit derjenigen, die angeben, gerade ein Buch gelesen zu haben, betrug 1993 immerhin noch eine Stunde 89 Prozent der Befragten interessieren sich am meisten für Unterhaltungsliteratur; 86 Prozent favorisieren Ratgeber-Bücher.

Das „Leseland DDR“ war offenbar nicht nur ein propagandistischer Mythos. Nach wie vor wird in den neuen Bundesländern mehr gelesen als im Westen -auch wenn die überwiegende Zahl der Ostdeutschen heute angibt, nicht mehr so viel Zeit zum Lesen zu haben wie früher.

Der Literat als Schmuck

Die Rolle des Literaten in der Bundesrepublik sowie der Stellenwert der erzählenden Literatur ist durch keine buchhalterischen Quantifizierungen zu vermessen Mehr Bücher, aber weniger Lektüre -wie paßt das zusammen? Wenn die durchgestylt und zeitgeistgemäß eingebundenen Romane von den sogenannten großen Autoren in vielen Wohnzimmerregalen ungelesen stehen, dann bedeutet das zuallererst: Wir schmücken uns in Wirklichkeit nicht mit den Werken, sondern mit den Autoren.

Als prompte Poeten gehören einige Schriftsteller überdies seit Jahren zur schnellen Eingreiftruppe des Feuilletons. Schriftsteller-Statements sind populär: Martin Walser, vor der wild-romantischen Kulisse des Bodensees, spricht über transatlantische Beziehungen. Günter Grass bewertet kritisch den Somalia-Einsatz der Bundeswehr. Hans Magnus Enzensberger kommentiert die Arbeitslosenstatistik aus Nürnberg. Redaktionen schmükken sich dabei weniger mit der Kompetenz der Literaten, als mit ihrer Prominenz. Ihr Statement erhält Gewicht, weil in der neuen Unübersichtlichkeit und Beliebigkeit inhaltliche Maßstäbe fehlen Der Boulevardisierung der Medienlandschaft begegnen wir mit einer Ästhetisierung des Buchrückens: schöne Bücher für schöne Wohnzimmer. Das ist offenbar die Antwort der Bildungsbürger auf die strukturelle Analphabetisierung unserer Gesellschaft. Mit der Ästhetisierung verschwindet jedoch auch der politische Gehalt

Wir verwerten die Schriftsteller „live-haftig“ Das Wort tritt vor dem Bild zurück; Text-Häppchen werden als eye-catcher vermarktet: Stets kleine Blöcke, nur nichts Langes und Schweres, denn das versteht die breite Masse nicht; alles ist zum an-tippenden, halbbewußten Schnellerfassen: fastfood. Daran haben wir uns gewöhnt, während in anderen Ländern Literaten als Präsidentschaftskandidaten antreten.

Auffallen um jeden Preis

Immer dann, wenn die großen Literaten das angestammte Terrain verlassen, haben sie die größte Wirkung. Wer liest schon auflagenschwache Kulturzeitschriften? Der polemische Essay, das freche Pamphlet im „Spiegel“ oder „Focus“ zeigt (neben den finanziellen Vorteilen für die Autoren) die gewünschte Wirkung. Der Veröffentlichungsort ist relevant, nicht so sehr der Text: Wer hat schon den „Anschwellenden Bocksgesang“ von Botho Strauß im „Spiegel“ vollständig gelesen? Wer liest noch das Buch von Peter Handke, wenn er die Kurzfassung in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Gerechtigkeit für Serbien“ bereits kennt?

Literaturkritik oder das Hören und Sehen aus zweiter Hand

Längst bestimmt nicht mehr die Literatur unser Bild von Literatur, sondern die Literaturkritik Das Fernsehen hat sich mit seinen Formen der Vermittlung verselbständigt: Schnelligkeit und Prominenz bestimmen den Marktwert, nicht die Qualität der Kritik. Noch vor der Auslieferung in die Buchläden muß die Meinung des Chef-Kritikers vorliegen. Hinzu kommt -auch unter Vermarktungsgesichtspunkten -die Flut von Literaturpodien. Wir reden über Bücher, ohne sie gelesen zu haben. Dieses Reden ist zumeist medial entrückt und flüchtig im Gegensatz zum festen Text des Romans. Der Fernsehkritiker wirkt durch das gesprochene, nicht durch das geschriebene Wort. Er ist kein Schriftsteller, sondern Unterhaltungsstar. Er macht junge Literaten beim leisesten Genieverdacht zu neuen Stars und vice versa. Das sind die Regeln der Talkshow-Belletristik

Debatten über Debatten Es ist die Inszenierung des Disputs, die nachwirkt, nicht der Inhalt. Die anstößige Wortmeldung eines prominenten Intellektuellen wird -nach einer zumeist eher flüchtigen inhaltlichen Auseinandersetzung -zum Symptom für besorgniserregende Tendenzen des Zeitgeists hochstilisiert. Im Falle der Wortmeldung eines Gesinnungsfreundes steigert sich die Besorgnis und Empörung Zwar gehört diese Praxis zum Repertoire der habituellen Intellektuellenfehde, doch verleiht die Epochenwende von 1989 den anschwellenden Debatten einen besonders unversöhnlichen Charakter Ein weites Feld von Günter Grass lieferte ein gutes Beispiel: Die Debatte über die Debatte, nicht jedoch der Text des Buches -schon gar nicht literaturästhetische Gesichtspunkte -bestimmte das Deutschlandbild für einige Wochen im In-und Ausland. Mitunter sprach man erneut von einem deutschen Sonderweg der Literaturkritik. Ein Bewertungsmuster kehrte dabei stereotyp wieder: Kampagnen und Empörungen schwellen an, sobald sich an das schlimmste deutsche Kapitel des Nationalsozialismus anknüpfen läßt.

II.

These 2: Die deutsche Teilung wies den Literaten Rollen und Themen zu. Seit der staatlichen Einheit haben sie diese eingebüßt. Ihre Marktnische als kritische Repräsentanten und Gewissen der bundesrepublikanischen Identität ging mit der deutschen Einheit verloren.

In Deutschland fand eine Revolution statt -die Literaten können sagen, sie sind nicht dabei gewesen Das muß man allerdings differenzieren: Einige DDR-Schriftsteller schlüpften zumindest in einer frühen Phase des Umbruchs bis Dezember 1989 in die Rolle von Revolutionären auf öffentlichen Bühnen. Doch ihr Engagement galt mehr der Freiheit als der Einheit. Indem sie -parallel zu einigen westdeutschen Autoren -die staatliche Vereinigung öffentlich ablehnten, manövrierten sie sich selbst als revolutionäre Elite schließlich ins Abseits. Politisch trafen sie, ebenso wie andere Dissidenten, die falschen Entscheidungen, verfehlten sie die vorherrschende Stimmung War zu DDR-Zeiten der geschickte Widerspruch und die Ermutigung gegen das System für den Leser im sogenannten Leseland lebenswichtig -und wurde dementsprechend das spektakulär Politische im Westen oft über den literarischen Anspruch erhoben -, so veränderte sich nun der Stellenwert des Geschriebenen. Was bleibt, diese Erzählung von Christa Wolf, war der exemplarische Kulminationspunkt des Literaturstreits 1990 und der Bewertung von DDR-Literatur und DDR-Literaten aus westdeutscher Sicht

Im Bewußtsein der Leser verkörperten die Literaten in der DDR immer eine Gegen-Elite zum SED-Regime. Sie erfreuten sich damit einer doppelten Aufmerksamkeit in West wie in Ost. Indem westdeutsche Kritiker während des Schriftsteller-Streits 1990 aber gerade diese Funktion zur Diskussion bzw. in Frage stellten, stießen sie die Autoren gleichzeitig -gewollt oder ungewollt -vom überhöhten Podest. Die ehemalige DDR-Literatur ist inzwischen -ebenso wie die ehemalige Bürgerbewegung -ein politischer Markenartikel von hohem, jedoch überwiegend historischem Wert. Da beim Streit um Kurse in der Regel die Mehrheiten und nicht die Minderheiten entscheiden, verloren die DDR-Literaten ihren politisch bedingten Bonus, der nach der Wende schnell aufgebraucht war. Sie haben, wie alle Ostdeutschen, aus westdeutscher Sicht den Status des Besonderen längst verloren.

Aber auch die Literaten der Bonner Republik haben durch die deutsche Einheit weiter an Einfluß verloren. Zunächst hatten sie -ebenso wie die meisten anderen Exponenten der Deutungskultur -als Orientierungsexperten nichts anzubieten. Zeiten des Umbruchs sind normalerweise Zeiten gesteigerter intellektueller Präsenz. Doch mit dem politischen Wandel erfolgte nicht sprachlicher Wandel, sondern es stellten sich eher Stummheit und Begrenztheit ein

Wichtiger bleibt jedoch, neben diesem situationeilen Versagen, daß die Literaten durch die Einheit ihre Rolle als Repräsentanten bundesrepublikanischer Identität verloren haben Nur wenige schrieben in all den Jahrzehnten unmittelbar über die Deutsche Frage als Problem der gewaltsamen Teilung einer Nation in zwei Staaten Doch zum Selbstverständnis kollektiver Identität der Deutschen gehörten immer auch diese nationalen Fragen: Wer sind wir? Wohin gehören wir? Wohin gehen wir? Ihre Thematisierungsbrisanz lag in der weitgehenden Tabuisierung der Teilung und der Aktualisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands begründet. Westdeutsche Identität lebte auch von der negativen Vergleichs-gesellschaft der DDR. Die Teilung ist aufgehoben, und der Nationalsozialismus als wichtigster Referenzpunkt unseres Geschichtsbewußtseins verliert seine alles überformende Prägewirkung. Was bleibt da noch für Literaten, die früher im Westen dazu aufriefen, Brücken zu schlagen und Verständnis für die andere Seite aufzubringen?

Trotz der zum Teil massiven Kritik an der Bundesrepublik schufen die Romane Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre eine auch international anerkannte Legitimation der westdeutschen Gesellschaft. Besonders die Gruppe 47 war aus heutiger Sicht eine Produktionsstätte westdeutscher Identität. Die Gruppe kanonisierte und repräsentierte Literatur, die gerade durch die Kritik am restaurativen Klima international zum Anwalt der Nation und zum Repräsentanten wider Willen avancierte. Bei einem demokratisch verläßlichen Partner, wie ihn die Bundesrepublik darstellte, eingebunden in den Westen und wohlstandssaturiert, wartete die Weltgemeinschaft nicht mehr auf kritisch-warnende Deutschlandbilder. Die Anwaltschaft der Literaten für universalistische Prinzipien verlor an Strahlkraft. Rückwärtsgewandt erklärten sie im Prozeß der Vereinigung nunmehr Bonn zum Sinnbild eines demokratischen Wunderlandes Plötzlich stand Bonn für Modernität, westliches Demokratiemodell, europäische Einbindung. Die Dauerkritiker verklärten so im Umbruch die Bonner Demokratie, die nun offenbar nicht mehr bieder, provinziell, klerikal, korrumpierbar war. Der Schriftsteller Patrick Süskind skizzierte den Wandel so: „Das Verhältnis zu dem Staat, in dem wir lebten, war zunächst zurückhaltend skeptisch, später aufmüpfig, dann pragmatisch, und zuletzt vielleicht sogar von distanzierter Sympathie geprägt.“

III.

These 3: Romane sind die einfühlsamen Berichte zur Lage der Nation. Als Souffleure des Zeitgeistes lieferten die Literaten mit ihrer Prosa -und nicht mit ihren Statements -Zeitdiagnose. Ihre Revue an Deutschlandbildern enthält in kondensierter Form die politische Brisanz der Vereinigung.

Die erzählende Literatur zum Deutschland-Thema hält durchaus einen wichtigen Platz; sogenannte Epochenromane sollte man dabei jedoch nicht suchen Den Epochenroman zwischen Wende und Einheit kann es wohl noch nicht geben -und wenn, dann mindestens zwei: nämlich einen aus West-und einen aus Ostsicht. Epochenromane als Gesamtpanorama der gesellschaftlich-politischen Strömungen können angesichts unserer vielschichtigen Wirklichkeit heute nicht mehr entstehen. Die „neue Unübersichtlichkeit“ läßt kein Porträt der Gesellschaft als Ganzes mehr zu. Das war in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre noch anders. Deshalb konnten die großen Zeitromane von Böll, Grass, Johnson oder Lenz entstehen Eine auch politisch bündelnde, richtungsweisende Literatur kann es dagegen im Zeitalter der Postmoderne nicht mehr geben, in der Individualisierung, Pluralisierung, aber auch Ästhetisierung und Moralisierung geistig-universale Perspektiven verkürzen. Geht man jedoch etwas bescheidener ans Werk, so lassen sich zu zentralen Politikfeldern im Umfeld des Deutschland-Themas durchaus literarische Beispiele finden. Wenn im Privaten auch das Politische steckt, dann deuten Figurenkonstellationen und Motivstrukturen in der erzählenden Literatur treffsicher auf diese subjektive Dimension von Politik. Einige exemplarische Beispiele aus der Zeit vor und nach dem Umbruch sollen das dokumentieren:

Das alte Leiden an Teilung und Trennung

Thomas Mann stellte 1946 eine Auswahl seiner Tagebucheintragungen aus den Jahren 1933/34 unter das Motto „Leiden an Deutschland“. Was er in den Anfängen des Dritten Reiches täglich erlebte, hielt er darin fest. Sein Leiden an Deutschland war auf das politische Unrechtsregime ausgerichtet. Das kontinuierliche Wehklagen über die deutsche Nation durchzieht schon immer die deutsche Literaur und verbindet sich mit romantischem Weltschmerz. Da macht Thomas Mann ebensowenig wie Martin Walser eine Ausnahme. Wenn heute Schriftsteller vor den Fernsehkameras Frage und Antwort stehen, bekommen wir in der Regel Passionsgeschichten zu hören. Sie klagen und beschweren sich, sie schmollen und leiden -teils larmoyant, teils würdevoll. Und meist wissen sie auch die Institution zu benennen, die an ihrem Unglück schuld ist. Deutschlandbücher der „Warnliteratur“ gehören in die spezifisch deutsche Tradition. In ihnen erfahren wir unsere Geschichte stets als einen in sich widerspruchsvollen Prozeß, zu dem die Literatur vornehmlich die Leidenszeugnisse liefert. Das individuelle Leiden an der Teilung der Nation durchzieht leitmotivisch seit den fünfziger Jahren zahlreiche Romane in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. In der DDR gab es kaum ein anerkanntes Werk der Literatur, das die Fragestellung nach der deutschen Identität nicht in einer spezifischen Form einbezog. Drei Beispiele sollen dies illustrieren. In Mutmassungen über Jakob (1959) von Uwe Johnson -in der DDR geschrieben, aber nur im Westen zeitgleich mit seiner Übersiedlung veröffentlicht -rückt die Heimatlosigkeit des Eisenbahners Jakob Abs in der DDR und die Fremdheit im Westen in den Mittelpunkt. Jakob kommt unter ungeklärten Umständen ums Leben. Beide Herrschaftssysteme demaskieren sich gegenseitig: die Russen, indem sie den Ungarnaufstand niederschlagen; der freie Westen, indem er sich zum Suez-Abenteuer hinreißen läßt. Stasi-Drohung, IM-Berichte, Konflikte zwischen Bleiben und Republikflucht -das sind die Themen dieser bedrückenden Erzählung. Auch in seinem Roman Zwei Ansichten (1965) greift Johnson zum zeitgeschichtlichen Hintergrund, um an Einzelschicksalen die Teilungsproblematik zu dokumentieren. Hier ist der Bau der Berliner Mauer Mittelpunkt. Christa Wolf hat die-Birnbaum zu pflanzen und mit den Ribbeckern die neue deutsche Einheit zu feiern. Da wird kein Klischee ausgelassen. Der Beschwerdebericht des Ich-Erzählers enthält praktisch nur Enttäuschungen angesichts der Eingemeindung der ehemaligen DDR durch die vormalige Bundesrepublik. Der Westautor Delius überzeichnet hier spektakulär die aus seiner Sicht atemlose Inbesitznahme Ostdeutschlands durch den Westkommerz, der die Westdeutschen zu Marionetten des Wirtschaftssystems degradiert hat. Mitgefühl der „Wessis“ gegenüber den „Ossis“ taucht nur als verkleidete Arroganz auf. Es ist eine Fundgrube an auferstandenen Feindbildern von Ost und West, von der besserwisserischen Arroganz und der Raubgier neokolonialer Herrenmenschen hier, von Arbeitsscheu, Wehleidigkeit, anmaßendem Einfordern immer größerer Unterstützung dort. Andererseits -und leicht ironisch -zeigt Monika Marons Zonophobie (1992), wie man sich als Leidtragender an der zerstörten Idylle hüben und drüben fühlt.

Transformation, Einheits-Alltag und Geschichtskonstruktionen

Die Teilung war in der Argumentation vieler Literaten eine Folge deutscher historischer Schuld. Wenn die Teilung nun nicht mehr besteht, wird somit am Ende die Wiedervereinigung selbst wieder zur Schuld, die künftiges Unheil in sich birgt. Günter Grass hat mit seinem Buch Ein weites Feld (1995) diese Stimmung gebündelt zum Ausdruck gebracht. Es ist das Vermächtnis der sogenannten alten Linken in der Bonner Republik, die der Einheit nie etwas abgewinnen konnten, da sie die Vokabeln „Nation“ und „Deutschland“ stets mit dem Topos „Großdeutschland“ assoziierten. Insofern ist auch dieses Buch ein genaues Abbild der verbreiteten einheitskritischen Haltung vieler Literaten. Grass’ Geschichtskonstruktion, die gezielt nicht der genauen Beobachtung entspricht, sondern ein Abbild seiner politischen Wahrnehmung darstellt, ist legitim. Nicht als verläßliche Quelle historischer Abläufe, doch als politisches Vermächtnis eines für die Bonner Republik typischen Denkmusters. Konkreter und origineller gehen andere vor. Helga Königsdorf läßt Im Schatten des Regenbogens (1993) eine Wohngemeinschaft mit der Einheit hadern. Der Alltag-bleibt grau und trist. Anders bei Hanns-Josef Ortheil. Aus Westsicht hat er erneut private Erfahrungen und zeitgeschichtliche Abläufe romanhaft verarbeitet. Blauer Weg (1996) zeichnet vom Mauerfall bis zum Jahr 1995 individuelles Erleben der Einheit nach. Seine Spurensuche verklärt nichts. Die Gelassenheit und Unbekümmertheit des „Wessis“ als Zuschauer des Umbruchs spiegelt Ortheils Protagonist. Anders im Buch von Volker Braun Wendehals (1995), das sich eher, wie Loest, exemplarisch einer Stadt zuwendet. Diesmal ist es Berlin. Die Stadt dient ihm als Kulisse für die Veränderungen, die das ICH und das ER in der Unterhaltung des Buches durchlaufen. Witziger und ironischer hat sich da Thomas Brussig eingelassen. Helden wie wir (1995) packt das Einheitsspektakel und die Folgen in eine Satire. Immerhin stürzt der Held des Romans eigenhändig die Berliner Mauer um.

Das dient gewiß nicht der Rekonstruktion von tatsächlichem Regierungshandeln. Doch Zeitdiagnose steckt auch in Stimmungen, die sich in der Literatur widerspiegeln. Dafür muß man zwangsläufig Westautoren und Ostautoren parallel lesen. Solange der politisch-kulturelle Unterschied zwischen alten und neuen Bundesländern größer ist, als derjenige zwischen den regionalen Besonderheiten einzelner Bundesländer, kann kein Roman mit gesamtdeutschem Anspruch überzeugend entstehen. Insgesamt haben die Schriftsteller noch nicht den Blick für die Zukunft des Einheitsalltages, können ihn wohl auch noch nicht haben. Die Wahrheitssuche mit den Mitteln der Sprache bleibt bislang in den Vergangenheitsprojekten stecken. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß Untergänge literarisch ergiebiger sind als Siege.

IV.

These 4: Lesen ist der Königsweg für Wissenserwerb. Literatur setzt die Wirklichkeitserfahrung in Sprache um. Die lesende Erfahrung mit erzählender Literatur wappnet gegen totalitäre Ansprüche und liefert Rüstzeug für komplexe Identitäten.

Am Anfang war das Wort, nicht das Bild. Sprach-arm, im Sinne inhaltsleerer, beliebig austauschbarer Phrasen und bildsüchtig -so kann man im Gegensatz dazu unsere Gegenwart charakterisieren. Die Omnipräsenz der Bilder macht ihre Aussagen zumeist unumkehrbar.

Demokratiestiftende Funktionen des Lesens

Wo Bilder wirken, entfalten sie eine Macht, die mit Worten nur schwer aufzuhalten oder zu korrigieren bzw. zu differenzieren ist. Der erzählenden Literatur erwächst angesichts des Machtzuwachses der Bilder im Zeitalter computerisierter Kommu-nikation eine demokratiestiftende Funktion. Sie setzt das zweifelnde, fragende, räsonierende Denken neben die Fähigkeit zum Umgang mit standardisierter Information Individuell kann sich der einzelne dem suggestiven Wahrnehmungs-und Erklärungs-Reflex des Fernsehens entziehen, falsche oder manipulierte kollektive Bilder entlarven. Natürlich kann auch Belletristik manipulieren, irren. Doch nur die lesende Informationsaneignung wappnet den Bürger gegen die Gleichsetzung, daß Wissen und Information identisch seien. Für Platon hieß Wissen „erkennen, was eine Sache ist“. Das „was“ hieß immer auch: „wozu ist es bestimmt“. Nur referentielle Informationsverarbeitung, wie es der Vorgang des Lesens bewirkt, schafft ein Gerüst für das eigentliche Wissen, das intellektuelle Fähigkeiten wie Phantasie, Kreativität oder Abstraktionsgefühl erst ermöglicht Literatur ist zwar kein Gegenbegriff zur Information, aber das Versprechen auf eine ständige Quelle von Information.

Gesellschaftspolitische Funktionen der erzählenden Literatur

Schreiben heißt Benennen von Wirklichkeit. Denn das sprachliche Zeichen ist das Medium der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit Beim Schreiben geht es gleichzeitig um Kommunikation und Interaktion Aus dem gleichgerichteten Habitus der Schriftsteller wie der Politiker, sich zu „veröffentlichen“, schaffen die Literaten immer wieder Sprachbilder, die auch Wirklichkeiten bilden. Literatur ändert so unser Verhältnis zur Welt, ohne damit gleichzeitig den Anspruch zu erheben, daß sich mittels Literatur auch die Verhältnisse ändern. Neben dieser kritischen Gegenwartsorientierung und einem fraglos wichtigen Unterhaltungswert gibt es weitere Funktionen Literatur hat nicht nur eine aufklärende, sondern auch eine konservierende Funktion. Sie schützt vor Vergessen und ist Aufbewahrungsort für Erfahrungen. Die Dominanz der alten Bundesrepublik gegenüber den neuen Bundesländern läßt zumindest in der erzählenden Literatur Spielraum, um in dieser Aufbewahrungs-und Verarbeitungsart Betroffenheiten zu artikulieren. Die Belletristik ist ein einzigartiger Speicher, eine Spuren-Fundgrube, eine Sammlung von Erlebtem und Gedachtem.

Literatur kann schnell altern, aber auch hellsichtig sein. So-kann der richtige Gebrauch von Literatur manchmal auch vor Fehlurteilen und Überraschungen schützen. Ein Beispiel dazu: Schon in Jahrestage berichtet Uwe Johnson über die Existenz der erst 1990 entdeckten Todeslager auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Präzise beschreibt Johnson darin das Todeslager Fünfeichen bei Neu-brandenburg, die Namenslisten der Opfer, die grausamen Praktiken der Täter. Schuld und Versagen der Deutschen unter zwei Diktaturen gestaltet Johnson auf eindringliche Weise -dies bereits vor mehr als 20 Jahren.

Als Souffleure des Zeitgeistes erweisen sich die Literaten mit ihren Werken oft als Vorreiter eines neuen gesellschaftlichen Verständnisses -trotz zahlreicher Fehlprognosen. Literatur kann absichtsvoll wirken, muß es aber nicht. Deutsche erzählende Literatur hat die politische Realität insgesamt wohl eher beiläufig abgebildet und nur in Ausnahmefällen politische Handlungsanweisungen entworfen. Literatur verschiebt dabei immer tendenziell die Aufmerksamkeit vom Wir auf das Ich. Literaten sind keine Animateure der demokratischen Willensbildung. Doch gerade in der Privatheit steckt oft das Politische. Soweit die Protagonisten in diesem politischen System agieren, kann man die Prosa zur Analyse des politischen Systems mit heranziehen.

Als zeitgeschichtliche Quellen sind die Romane auch wissenschaftlich von großem Wert. Ihre soziale und politische Wirkung sollte adäquat eingeschätzt werden: Die Summe aller Bücher bleibt immer Literatur. Auch die pseudosozialistischen Gesellschaften sind nicht an ihren Büchern zugrunde gegangen. Doch ohne die geheimnisvolle und manchmal weltbewegende Macht des geschriebenen Wortes ist keine menschliche Geschichte vorstellbar

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Zahlenangaben bei Siegfried Unseld, Literatur im Abseits? Polemische Antworten eines Verlegers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 18. 8. 1993.

  2. Auflistung der 15 erfolgreichsten Autoren nach bestverkauften Titeln in: Focus, 1993, Nr. 39, S. 108.

  3. Vgl. Umfragedaten bei Stiftung Lesen (Hrsg.), Leseverhalten in Deutschland 1992/93. Repräsentativstudie zum Lese-und Medienverhalten der erwachsenen Bevölkerung im vereinigten Deutschland, Mainz 1993.

  4. Zur Rolle der Intellektuellen vgl. Martin Greiffenhagen, Propheten, Rebellen und Minister. Intellektuelle in der Politik, München 1986.

  5. Dazu soziologisch und kommunikationswissenschaftlich Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985, und Mathias Horx, Trendbuch, Bd. 1 und 2, Düsseldorf 1995.

  6. Vgl. dazu Bernd Guggenberger, Das Verschwinden der Politik, in: Die Zeit vom 7. 10. 1994, Nr. 41, S. 65.

  7. Vgl. Peter von Becker, Die Welt als Bordell. Der letzte Schritt zum Bürgerkrieg in den Medien, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 17. 3. 1993.

  8. Abgedruckt in: Der Spiegel, 1993, Nr. 6, S. 202 ff.

  9. Abgedruckt in: SZ vom 5. /6. und 13. /14. 1. 1996.

  10. Vgl. Sibylle Gramer, Kreuzzüge und Kahlschläge deutscher Kritiker. Zur rituellen Funktion und politischen Dimension von Todesanzeigen, die deutsche Literatur betreffend, in: SZ vom 9. 11. 1994; Willi Winkler, Die Entdeckung der Schnelligkeit. Sechs Kapitel zum Literaturbetrieb, in: Die Zeit vom 6. 10. 1995, Nr. 41.

  11. Details bei Hubert Winkels, Die Vernichtung der Schrift, in: Die Zeit, Nr. 49 vom 3. 12. 1993, S. 66.

  12. Dazu Tobias Claudius Wiethoff, Überlebensstrategien deutscher Intellektueller nach der Wende von 1989 (unveröffentlichtes Manuskript, Wiesbaden 1994).

  13. Vom „Krieg der Intellektuellen“ spricht Hermann Schwengel, Freunde und Feinde, in: Die neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, (1992) 2, S. 162-168.

  14. Vgl. Ulrich Greiner, Keiner weiß mehr, in: Die Zeit, Nr. 46 vom 10. 11. 1989, S. 73.

  15. Zuletzt dazu Paul Noack, Abschottung von der politischen Wirklichkeit. Intellektuelle hüben und drüben, in: Ralf Altendorf/Eckhard Jesse (Hrsg.), Das wiedervereinigte Deutschland, Düsseldorf 1995, S. 307-323.

  16. Vgl. Karl-Rudolf Körte, Über Deutschland schreiben. Schriftsteller sehen ihren Staat, München 1992, S. 75 ff.; Thomas Anz (Hrsg.), Es geht nicht um Christa Wolf. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. München 1991.

  17. Vgl. Paul Noack, Deutschland, deine Intellektuellen. Die Kunst, sich ins Abseits zu stellen, Stuttgart u. a. 1991; Paul Gerhard Klussmann, Antworten der Literatur auf den Prozeß der deutschen Vereinigung, in: Dieter Voigt/Lothar Mertens (Hrsg.), Umgestaltung und Erneuerung im vereinten Deutschland, Berlin 1993, S. 151-165.

  18. Vgl.den Überblick dazu bei Gerd Langguth (Hrsg.), Autor, Macht. Staat. Literatur und Politik in Deutschland. Ein notwendiger Dialog, Düsseldorf 1994.

  19. Beispiele dazu bei Karl-Rudolf Körte, Der Traum vom anderen Deutschland. Schriftsteller leiden am deutschen Weg, in: Deutschland Archiv, 27 (1984) 9, S. 958-962.

  20. Vgl. Claus Heinrich Meyer, Kleines Zimmer -großer Schatz, in: SZ vom 15. 6. 1991; Beispiele bei K. -R. Körte (Anm. 16), S. 83 ff.

  21. Patrick Süskind, Deutschland -Eine Midlife-crisis, in: Der Spiegel, 1990, Nr. 38, S. 116-125.

  22. Vgl. dazu Gustav Seiht in der FAZ vom 25. 6. 1994; ferner Ludger Lütkehaus, Noch einmal „Piep“, in: Die Zeit, Nr. 4 vom 19. 1. 1996, S. 53.

  23. Überblicke und Beispiele bei K. -R. Körte (Anm. 16).

  24. Vgl. zum folgenden Hartmut von Hentig, Die Flucht aus dem Denken ins Wissen, in: FAZ vom 16. 8. 1993.

  25. Vgl. zum Weiteren: Forum Lesen, August 1994, Nr. 23, S. 7 f.

  26. So Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1969.

  27. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht überblicksartig John Lyons, Die Sprache, München 1983.

  28. Vgl. Dankrede von Siegfried Lenz nach der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1988 in der Frankfurter Paulskirche, abgedruckt in: FAZ vom 10. 10. 1988; ders.. Das Lächeln der Macht. Versuch, kompromißlos zu sein: Über das Bild des Politikers in der deutschen Nachkriegsliteratur, in: FAZ vom 26. 8. 1995.

  29. Vgl. dazu „Ein Wort über das Wort“. Die Rede von Vaclav Havel für die Frankfurter Paulskirche, in: FAZ vom 16. 10. 1989.

Weitere Inhalte

Karl-Rudolf Körte, Dr. phil., geb. 1958; Leiter der Forschungsgruppe Deutschland des Centrums für angewandte Politikforschung und Akademischer Rat am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Veröffentlichungen u. a.: Der Standort der Deutschen, Köln 1990; (zus. mit Werner Weidenfeld) Die Deutschen. Profil einer Nation, Stuttgart 1991; Über Deutschland schreiben. Schriftsteller sehen ihren Staat, München 1992; (Mithrsg.) Handbuch zur deutschen Einheit, Frankfurt -New York 1993; Die Chance genutzt? Die Politik zur Einheit Deutschlands, Frankfurt -New York 1994.