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Die Krise der Arbeitsgesellschaft: Machtpolitischer Kampfplatz zweier „Ökonomien“ | APuZ 15/1995 | bpb.de

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APuZ 15/1995 Die Krise der Arbeitsgesellschaft: Machtpolitischer Kampfplatz zweier „Ökonomien“ Hohe Arbeitslosigkeit in den Industrieländern Was sagen die Ökonomen? Die Arbeitsgesellschaft vor den Herausforderungen von Geld und Natur Wege zu mehr Beschäftigung aus der Sicht der Wirtschaft

Die Krise der Arbeitsgesellschaft: Machtpolitischer Kampfplatz zweier „Ökonomien“

Oskar Negt

/ 19 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Es sind nicht mehr die produktiven und plausiblen Einzelvorschläge, um die es bei der Lösung der Krise der Arbeitsgesellschaft geht; in einem jetzt gut ein Jahrzehnt umfassenden Diskussionsprozeß ist. ein kaum überbietbarer Vorrat an Ideen, Projektvorschlägen und Lösungsperspektiven angelegt worden. Völlig Neues ist schwerlich zu erwarten. Was fehlt, ist der Zusammenhang. Auf drei Fragestellungen konzentriert sich dieser Aufsatz: Erstens: In welche „Ökonomie“ fügen sich die einzelnen Projekte? Entwickelt werden die Hauptgesichtspunkte zweier in Konkurrenz zu einander stehender Ökonomien: Die eine ist definiert durch Rationalität (Vernunft) des Gemeinwesens, die andere wesentlich an der betriebswirtschaftlichen Rationalität des Einzelunternehmens orientiert. Zweitens: Welches Menschenbild ist bestimmend für diese zwei „Ökonomien?“ Ist der autonome, eigensinnige, urteilsfähige, mit Zeitsouveränität ausgestattete oder der allseitig flexible, anpassungsfähige und jederzeit einsatzfähige Mensch gewollt? Drittens: Bei der Lösung von Krisen dieses geschichtlichen Ausmaßes geht es um Macht und Herrschaftspositionen; politischer Kampf ist im Spiel. Die alten Klassenkampffronten, die an vielen Punkten noch erkennbar sind, werden freilich immer stärker durch neuartige Koalitionen und Bündnisse überlagert.

I.

Jede Epoche hat ihre vorherrschende Definition vom Menschen, ein zum erstrebenswerten Ideal erhobenes Selbstbild von Eigenschaften, an denen die Zeitgenossen sich untereinander als Gleichgesinnte erkennen. Für die große Zeit der griechischen Stadtstaaten (Polis) ist die aristotelische Bestimmung als „zoon politikon“ (geselliges Lebewesen) gültig; in seinen Wesenseigenschaften gehört der Mensch, Anteil nehmend und aktiv handelnd, zum politischen Gemeinwesen.

Im Humanismus der Renaissance, gut anderthalb Jahrtausende später, tritt ein ganz anderer Prototyp des Menschen auf die geschichtliche Bühne. Ihn zeichnen menschliche Größe, sittliche Freiheit und gesellschaftliche Geltung aus, er ist der universell gebildete Mensch, der kühne Experimentator: „uomo universale“.

Die klassische Periode, das 17. und 18. Jahrhundert, setzt die wesentlichen menschlichen Eigenschaften nach Innen; Persönlichkeitsautonomie ist für diese Zeit Zentralthema, die Achtung der Menschheit in meiner Person, so wie Kant es formuliert.

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der industriellen Zivilisation, daß in dem Augenblick, da die gesellschaftliche Reichtumsproduktion geschichtlich bisher kaum vorstellbare Ausmaße angenommen hat, die Menschen also eine gewaltige Verfügungsmasse über die Objektwelt gewonnen haben, ihr Selbstverständnis immer stärker äußeren, gesellschaftlich produzierten Gesetzmäßigkeiten folgt.

So sind wir, je deutlicher Wirtschaftswachstum und Effizienzkriterien der Produktion und des Managements vorn öffentlichen Bewußtsein Besitz ergreifen, mit einem Selbstbild des Menschen konfrontiert, in dem sich alles aufzulösen beginnt, was an eigensinnige Befestigungen in seinem Lebens-zusammenhang erinnert: kollektive Ruhezeiten (Sonn-und Feiertage), heimatliche Verankerungen am Ort, der Stadt, der Region, gewachsene Bindungen durch Beziehungsarbeit in Familien, Haushalten, Nachbarschaften.

Geht man die in den vergangenen 15 Jahren gemachten Vorschläge zur Lösung der Krise der Arbeitsgesellschaft und zur Beseitigung chronischer Massenarbeitslosigkeit unter Gesichtspunkten der gegenwärtigen Selbstdefinitionsversuche des Menschen durch, stößt man auf wiederkehrende, längst zum Argumentationsritual geronnene Bestimmungen: Ziel in dieser Frontstellung der Suchbewegungen ist selbst für jene, die privat eher eine konservativ geprägte Auffassung vom Menschen und seinen familiären Verwurzelungen vertreten, der universell bewegliche Mensch, völlig ins Funktionale abgerutscht, von innerlichen Bindungen jeglicher Art so weit gelöst, daß er jederzeit die erkannten Marktchancen wahrzunehmen bereit ist.

II.

Ist der Blick für eine Krisenlösung ausschließlich auf die Willensentscheidungen, die Anspruchshaltungen und Qualifikationsmerkmale der lebendigen Arbeitskraft der Arbeitnehmer gerichtet, also jener abhängig tätigen Lohn-und Gehaltsempfänger, die vom unsicheren Verkauf ihrer Arbeitskraft leben, dann ist der Horizont von Organisationsphantasie, von Symbolbegriffen und Fragestellungen von vornherein auf jenes politische Aktionsfeld begrenzt, das die Misere mit eindeutigen Schuld-zuweisungen verknüpft: Es ist die mangelnde Fähigkeit, ja vielleicht sogar der innere, rebellische Widerwille gegen Erwartungen,, sich bereitwillig und bedingungslos als arbeitende Trabanten um die Sonne des Kapitals und der Marktgesetze zu bewegen.

In der Differenzierung der Zeitstrukturen (unter dem seit Anfang der achtziger Jahre konstanten Stichwort „Flexibilität“) liegt die magische Lösungsformel dieser vorwiegend betriebswirtschaftlichen Blickrichtung auf die Krise der Arbeitsgesellschaft. Gegenstand der Klage sind der Modernitätsrückstand der Arbeitskraft, einschließlich ihrer sozialstaatlichen Sicherheitsumklammerung, und vielfältige, durch Gewöhnung an einen relativ hohen Lebensstandard zusätzlich verstärkte Barrieren der Anpassungsfähigkeit und der Anpassungsbereitschaft. In diesem Argumentationszusammenhang geht es um einen spezifischen Diskurs, an dem Politiker ebenso wie Wissenschaftler beteiligt sind. Die erkenntnisleitenden Interessen, die dabei im Spiele sind, ergeben sich aus einer machtpolitischen Vor-entscheidung, die den Einzelvorschlägen, so arbeitnehmerfreundlich sie auch erscheinen mögen, ihre sachliche Neutralität nimmt. Denn alle Rationalitätskriterien, die diesen machtpolitischen Blick „von oben“ lenken, sind der Kapital-und Markt-logik entnommen; deren organisierendes Bewegungszentrum ist die betriebswirtschaftliche Kalkulation.

Bleiben demzufolge die Machtstrukturen dieser dominanten Ökonomie unangetastet, verbunden mit dem trügerischen Schein, als würde eine die Gesamtgesellschaft erfassende Ökonomie lediglich aus der Summe der „schlanker“ gewordenen Einzelbetriebe bestehen, dann zerbrechen selbst die vernünftigsten Lösungsvorschläge an einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, deren eigentümliche, die Lebenswelt der Menschen bestimmende Bewegungsgesetze ja die Widersprüche der Arbeitsgesellschaft und vor allem chronische Massenarbeitslosigkeit in entscheidenden Punkten mitverursacht haben und in ihrer von jeder gesellschaftlichen Kontrolle abgezogenen Wirksamkeit die Misere tagtäglich zementieren.

Ein gewiß gutwilliger, jedenfalls alles andere als zynisch denkender Politiker wie Norbert Blüm bekundet Unverständnis gegenüber einer Welt, die absolut vernünftige Vorschläge, die Vorteile für beide Seiten -Kostenersparnisse für das Kapital, größere Zeitdisposition der Arbeitnehmer, im Sinne der Einschränkung und der schließlichen Aufhebung der Massenarbeitslosigkeit -praktisch nicht umzusetzen imstande ist. „Wir sind fähig“, klagt Blüm in einem Artikel der Frankfurter Rundschau, „Menschen zum Mond zu transportieren, aber wir sind unfähig, eine intelligente Arbeitszeitreform, die die Wünsche der Arbeitnehmer mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten kombiniert, zu finden. Das ist keine Paragraphen-sache, das ist eine Sache des Mutes, der Kreativität der Beteiligten.“ Blüm merkt gar nicht, wie einseitig die Anforderungen sind, die er hinsichtlich der Flexibilität an die Kontrahenten richtet, die sich in ihren Interessen versöhnen sollen. An die Unternehmer appellierte er, das verstärkt zu tun, was sie ohnehin, bei Strafe ihres wirtschaftlichen Ruins, tun müssen: „Die Strukturprobleme müssen in erster Linie von den Unternehmen selbst bewältigt werden: durch ihre technologische Wettbewerbsfähigkeit, Innovationen mit neuen Pro-dukten und Produktionsverfahren, durch die Erschließung neuer Märkte, durch Kostenreduktion und Effizienzsteigerungen.“

Flexibilität im Blick auf die Unternehmer bedeutet also nichts anderes, als im Selbstbild des erfolgreichen, dynamischen Unternehmers, wie ihn Joseph Schumpeter verstanden hatte, bereits enthalten war. Betriebswirtschaftliches Haushalten, „lean production“, „lean management“, Kostenreduktion durch massenhafte Freisetzung lebendiger Arbeitskraft, schnelle Beweglichkeit im Wechsel der Industriestandorte, auch zum Ausland hin, ohne sich durch lokale oder regionale Bindungen verpflichtet zu fühlen -das alles sind doch konstituierende Elemente jener Krise unserer Arbeitsgesellschaft, zu deren Bekämpfung Flexibilität aufgeboten wird.

Ist hier das Selbstvertrauen der Untemehmerwelt bekräftigt, so wird um so massiver die Lebenswelt der Arbeitnehmer mit Forderungen konfrontiert, die mit entscheidenden Eingriffen in Gewohnheiten, Selbstwerteinschätzungen, Lebensstandardniveaus und mit kulturellen Umorientierungen verbunden sind. Die großen Vorteile der Flexibilität, die in der Fragmentierung der Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse, in Teilzeit-Gleitzeit-Arbeit oder in Spardepots von Sabbatzeiten liegen sollen, haben, wenn sie sich am Ende nicht ausschließlich zu Lasten der lebendigen Arbeitskraft auswirken, ohne einen einzigen zusätzlichen und zukunftssichernden Arbeitsplatz zu schaffen, zur unabdingbaren Voraussetzung eine grundlegende kulturelle und soziale Umorientierung der gesamten industriellen Zivilisation, des Verhältnisses von Arbeit und Muße, der Beziehungen des Privatinteresses zur Öffentlichkeit, der individuellen Bedürfnisse zum Gemeinwohl.

III.

Als Erste Ökonomie möchte ich jenen praktisch-theoretischen Zusammenhang bezeichnen, in dem die Realitätsmacht der über die Produktion und die Arbeitsplätze Verfügenden den suggestiven Schein von naturgesetzlichen Abläufen vermittelt, deren Mechanismus von keinem Menschen zu beeinflussen ist. Die Hauptakteure dieser Ökonomie sind der Überzeugung, selbst lediglich Vollstrecker objektiver „Gesetze“ zu sein, ohne Entscheidungsspielraum. Die Kapital-und Marktlogik, Zentrum dieser Ökonomie, ist allen menschlichen Eingrif-fen entzogen; sie ist härtere Materie als Beton, der irgendwann doch der Erosion zum Opfer fällt.

Die Veränderungspotentiale liegen dieser Ideologie zufolge ausschließlich bei der lebendigen Arbeitskraft, der Lebenswelt der abhängig Tätigen, also der Masse der Arbeitnehmer. Sie sind auf allen Ebenen entscheidende Manövriermasse im Interesse der Funktionserhaltung eines Systems der gesellschaftlichen Produktion von Gütern und Dienstleistungen, dessen Legitimationsgrundlage durchgängig von Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Gemeinwohlorientierung abgespalten ist.

Repräsentiert Blüm eine Position innerhalb der konservativ-liberalen Frontstellung, in der das moralische Problem „Massenarbeitslosigkeit“ Anerkennung findet, aber keinerlei Folgen für die „nach oben“ gerichteten Veränderungsanforderungen an die über die Arbeitsplätze Verfügenden hat, so drücken die strikten Theoretiker der mächtigen Kapitalfraktionen in der konsequenten Nachfolge von Milton Friedman und dessen These von der „natürlichen Rate der Arbeitslosigkeit“ mit großer Offenheit ihre Einstellung zum Arbeitslosenproblem aus, das für sie alles andere als ein bedrohlicher Index menschlicher und ökonomischer Verschwendung ist.

Meinhard Miegel, einer der konsequentesten Exponenten dieser Ersten Ökonomie, ist über Massenarbeitslosigkeit nicht besonders beunruhigt. In einer Großanzeige der Deutschen Bank, veröffentlicht u. a. in allen überregionalen Zeitungen, erörtert Miegel, warum unsere heutige Arbeitsgesellschaft in ihren innovativen Potentialen von einem unaufhebbaren Sockel an Arbeitslosigkeit geradezu zehrt. „Der ungleiche Zugang“, sagt er, „zum Wissens-und Erkenntnisbau einer Gesellschaft (worunter Miegel den , Ideenhaushalt einer Gesellschaft versteht, O. N.) sowie die Ungleichverteilung von individueller Phantasie und Kreativität dürften die wichtigsten Ursachen für die fast ständige unfreiwillige Arbeitslosigkeit eines Teils der Erwerbswilligen sein... Bezogen auf den Arbeitsmarkt heißt das, daß ein gewisses Maß an Arbeitslosigkeit für die Betroffenen zwar hart, für die Bevölkerung insgesamt jedoch eher förderlich ist. Steigt die Arbeitslosigkeit aber über eine kritische Obergrenze, ist sie nur noch Indikator für ein lähmendes Auseinanderdriften von Erwartung und Leistungsfähigkeit. Ob in den hochindustrialisierten Ländern diese Obergrenze bereits überschritten ist, ist ungewiß. Die Arbeitslosenstatistiken sprechen dafür, die soziale Ruhe und Gelassenheit der Bevölkerung einschließlich der Arbeitslosen eher dagegen... Eine Bevölkerung sollte das Ziel der Vollbeschäftigung aktiv verfolgen und sich ihm nach Kräften annähern. Sie sollte aber nicht versuchen, es ganz zu erreichen. Denn der Preis hierfür wäre zu hoch: Stagnation.. ."

Auf den Zynismus einer solchen Gesellschaftsbetrachtung will ich nicht eingehen; auch bleibt die Frage offen, wer die Erträglichkeit der Obergrenze von Massenarbeitslosigkeit festlegt und wer zu definieren befugt ist, worin gesellschaftliche Stagnation besteht. Zentral für meinen Argumentationszusammenhang ist, welche Kategorien, erkenntnisleitenden Interessen und Blickrichtungen in einer solchen Ökonomie bereits im Grundansatz ausgegrenzt oder bis zur Bedeutungslosigkeit marginalisiert werden. Im Kern ist diese Ökonomie eine der toten Arbeit, der Maschinensysteme, der Regelungskreise der Kapital-und Marktlogik, aus deren strikt betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen alles ausgeklammert wird, was für die individuelle Lebenswelt und die gedeihliche Gesamtstruktur einer Gesellschaft von Bedeutung ist: das Wohl und Wehe des Gemeinwesens, politische Kultur, ohne die ein innergesellschaftlicher Friedenszustand nicht existieren kann, Moral und Verantwortung, ausgleichende Gerechtigkeit, die seit Aristoteles als wesentliches Moment des gesellschaftlichen Zusammenhalts gilt. Alle diese und andere, die Würde der Menschen betreffenden Kategorien fallen durch die Raster einer Ökonomie, die den betriebswirtschaftlich rational regulierten Einzelbetrieb zur Sozialutopie der gesellschaftlichen Gesamtordnung erhebt -in jüngster Zeit ein einziges Mal versucht, aber nach kurzer Zeit gescheitert: das Berlusconi-Syndrom.

Die entscheidende Barriere für die Übertragung der betriebswirtschaftlichen Mentalität auf die Gesamtgesellschaft besteht darin, daß im schlanker gewordenen Einzelbetrieb die sozialen Kosten auf andere, in der Regel auf das Gemeinwesen abgewälzt werden können, was in der Gesamtgesellschaft ausgeschlossen ist. Die rationalisierten Einzelbetriebe plündern das Gemeinwesen, ihre eingesparten Kosten übernehmen, weil der demokratische und soziale Rechtsstaat Verfassungsprinzip ist, andere; es ist ein ausgeklügeltes, auf organisierter Verantwortungslosigkeit beruhendes System der Kostenverschiebungen, bei dem die öffentliche Armut in gleichem Maße wächst, wie sich der privatkapitalistisch angesammelte Reichtum wie ein Alp auf die Lebensverhältnisse der Menschen legt.

Diese fatale Ökonomie, von der ich spreche, hat sich von allen Gemeinwohlvorstellungen verabschiedet, welche die große bürgerliche Tradition des ökonomischen Denkens von Adam Smith, David Ricardo über John Stuart Mill bis John Mainard Keynes, Walter Eucken -und Ludwig Ehrhard -auszeichnet, der als Ordo-Liberaler durchaus Vorstellungen hatte von einer Marktwirtschaft, die ihre eigenen „countervailing powers“ zu institutionalisieren hatte. Im Übergang zu Fragestellungen der Zweiten Ökonomie, wodurch keine Rangordnung in der Wertehierarchie, sondern des gegenwärtigen Machtgefüges bezeichnet ist, möchte ich diese Traditionslinien kurz ins Gedächtnis rufen.

IV.

Seit in den Anfängen der bürgerlichen Epoche die National-Ökonomie entstanden ist und Überlegungen eine Rolle spielen, wie sich der Wohlstand eines Volkes vergrößern lasse, ist auch ein starkes Erkenntnismotiv gesetzt, den Bewegungsrhythmen in den wechselnden Beziehungen zwischen privater Reichtumsbildung und dem öffentlichen Wohl nachzuspüren. Gemeinwohl, Volkswohlstand, National-Reichtum (Wealth of Nations, die große programmatische Schrift von Adam Smith, am Anfang der wissenschaftlichen Gesellschaftsanalyse), wie sonst auch immer die Sprache der Ökonomie sich verändern mag, drükken stets mehr und anderes aus, als die bloße Summe der Einzelinteressen und der Privatreichtümer. In dieser Geschichte der „Wandlungen in den Auffassungen vom Volkswohlstand“, die Fritz Neumark, der zu Recht als Doyen der modernen Finanzwissenschaft bezeichnete Ökonom, in einem kleinen Büchlein zu beschreiben versucht, ist ein Element der „Ökonomie des ganzen Hauses“, wie Aristoteles und insgesamt die vorbürgerliche Ökonomie das verstanden hatte, mit aufbewahrt. Einer Position wie der, die Mandeville in seiner Bienen-Fabel vertrat: private vices, public benefits, in freier Übersetzung: die Realisierung und Durchsetzung der Eigeninteressen, und seien sie auch Untugenden, führt in der Summe der Konkurrenz dieser Interessen zur Vergrößerung des öffentlichen Wohls, stehen in der gesamten Geschichte der Ökonomie skeptische Überlegungen gegenüber, die Rousseau wohl am deutlichsten formuliert hat: „Comment est-il possible de s’enrichir sans contribuer ä appauvrir autrui?“ (Wie ist es möglich, sich zu bereichern, ohne dazu beizutragen, den anderen ärmer zu machen?) Diese wenig bekannte Schrift von Rousseau trägt den Titel: „Discours sur les richesses", die möglicherweise 1750 entstand.

Diese Frage bezog sich bei Rousseau durchaus gleichzeitig auf das Gesamtwohl eines Volkes und auf den einzelnen. Nur selten in der Geschichte des national-ökonomischen Denkens wurde das Wirtschaftswachstum und der Reichtum jener Klassen, welche über Produktion und Produktionsmittel verfügen, mit dem Gemeinwohl und dem Volkswohlstand gleichgesetzt. Daß eine solche Gleichsetzung heute so bruchlos geschehen kann, wie sie sich in den Äußerungen führender Wirtschaftspolitiker und der Sachverständigengremien zeigt, beruht darauf, daß die gesellschaftspolitische Auszehrung zum Standard europäischer Wirtschaftsbetrachtung geworden ist; dringend bedarf es einer Gesamtbetrachtung über gesellschaftlichen Nutzen und gesellschaftliche Kosten, die man als eine „Ökonomie für das ganze Haus“ bezeichnen kann.

Was Jürgen Seifert in der Kritik des Gutachtens des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung anläßlich dessen 25jährigen Jubiläums über die Ausgrenzungsund Unterschlagungsmentalität dieser Gutachter gesagt hat, ist heute aktueller denn je: „Die Bundesrepublik kann sich die Dominanz eines begrenzt-ökonomischen Ansatzes nicht mehr leisten. Sie braucht eine Ökonomie auch für das soziale Ganze und auch für den Haushalt der Natur. Es geht um eine Ökonomie, die nicht das Ökonomische verabsolutiert, sondern im ursprünglichen Sinn des Wortes , oikos‘ (Haus) für das . ganze Haus* sorgt, also für die Arbeitslosen ebenso wie für die Umwelt, für die Alten ebenso wie für die Jugend, für die Gesundheit ebenso wie für die Verteilung von Arbeit zwischen den Geschlechtern. ... Es geht um eine Ökonomie, die das soziale Ganze im Blick hat.“ Und Seifert stellt einen Katalog der von diesem Gremium, und ja keineswegs nur von ihm, unterschlagenen Wirklichkeit auf, wenn er im einzelnen fragt: Warum fehlt die Bilanz der sozialen Asymmetrie? Warum fehlt die Ökologie? Warum fehlt die Analyse der Veränderungen in der Arbeitswelt? Warum fehlt der epochale Wandel im Geschlechterverhältnis? Warum fehlt die soziale Wirklichkeit der Jugendlichen und der Alten? Warum fehlt die reale Situation der Kranken und der Aus-der-Bahn-Geworfenen? Warum fehlt das Problem der sozialen Verödung?

Viele andere Posten dieser unterschlagenen Wirklichkeit wären diesem Katalog des fragmentierten Denkens und der begrenzten Interessenwahrnehmung der Verhältnisse hinzuzufügen. Heide Simonis, Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein, stellt in diesem Zusammenhang die berechtigte Frage: „Man bemüht sich um Technikfolgenabschätzung. Aber warum unternimmt niemand eine Beschäftigungsfolgenabschätzung?“

Immer war mit der Idee des Volkswohlstandes mehr gemeint als die Summe konsumierbarer Güter oder die technischen Anlagen. Es ist bemerkenswert, daß die große politische Ökonomie des Bürgertums von Adam Smith bis David Ricardo ein Gefühl dafür entwickelt hatte, daß auf einem Reichtum, dessen Quelle die Verarmung des anderen ist, gleichsam kein Segen liege; dieser protestantische Geist des Kapitalismus hält sich durch. Vor Adam Smith, der die Harmonie der verschiedenen Nationalwirtschaften als erster theoretisch begründete und als Ziel praktischer Politik die Ökonomie des Haushalts entwarf, war der merkantilistische Erwerbsgeist ohne jeden Skrupel, den Reichtum des eigenen Landes bewußt auf Kosten des Nachbarlandes, ja zu dessen Schaden, zu erweitern, um dessen politischen Handlungsspielraum einzuschränken.

V.

Die Erste Ökonomie, wie ich sie zu charakterisieren versucht habe, ist Ausdruck einer Macht-und Herrschaftsposition. Der linksradikaler Neigungen kaum zu verdächtigende Ralf Dahrendorf hat das in einem Grundsatzreferat auf dem Bamberger Soziologentag von 1982 unmißverständlich ausgesprochen. Die Verfügung über lebendige Arbeitskraft ist auch ein Herrschaftsinstrument. Wenn Arbeit ausgeht, „verlieren die Herren der Arbeitsgesellschaft das Fundament ihrer Macht“. Dahrendorf hat freilich vergessen, dem hinzuzufügen, daß auch die Verfügung über Arbeitslosigkeit ein wichtiges Herrschaftsmittel sein, jedenfalls in vielfacher Hinsicht nutzbar gemacht werden kann, um erworbene und erkämpfte Sozialrechte der Arbeitnehmer, das Lebensniveau und die kulturellen Schutzschichten, die Menschen um sich gebildet haben, durch Aufrechterhaltung eines existentiellen Angstklimas aufjene Punkte zu reduzieren, die von den Arbeitnehmern wenig mehr übriglassen als den Dauerzustand von Betriebsfertigkeit und Einsatzbereitschaft.

Die Zweite Ökonomie greift den abgerissenen Faden des klassischen ökonomischen Denkens wieder auf und rückt den Lebenszusammenhang der Menschen, ihre konkrete Lebenswelt, ins Zentrum der Betrachtungen, um aus dieser Blickrichtung heraus zu urteilen und zu entscheiden, welche Auswege aus der Krise der Arbeitsgesellschaft langfristig sinnvoll sind und wo lediglich technische Manipulationen an Symptomen erfolgen, die Probleme von einem Ressort auf das andere, von einem Aktionsfeld auf das andere verschieben. Da es sich jedoch um eine kulturelle Krise handelt, ist der Blick auf das gesellschaftliche Ganze unabdingbare Voraussetzung für eine Änderung des öffentlichen Bewußtseins.

Welche Berechtigung es auch haben mag, die arbeitsgesellschaftlichen Utopien als ausgeschöpft zu betrachten und das endgültige Ende der Arbeitsgesellschaft zu verkünden: die wirklichen Lebensverhältnisse der Menschen, ihre Hoffnungen und Ängste sprechen eine ganz andere Sprache. Es lassen sich kaum Hinweise darauf finden, daß Erwerbsarbeit, also jene vorherrschende Form bezahlter Arbeitsleistung, über deren gesellschaftliche Anerkennung individuelle Identität und Selbstwertgefühle sich bilden, im vergangenen Jahrzehnt entscheidende Abwertungen erfahren hat. Anläßlich der Niedersachsenwahl am 13. März des vergangenen Jahres ergab eine Umfrage, daß die Themen Arbeit -Arbeitslosigkeit den bei weitem höchsten Rang in der Skala der als lebenswichtig eingeschätzten Handlungsfelder der Politik einnehmen.

Von der großen Masse der Menschen wird Arbeitslosigkeit nach wie vor als ein Gewaltakt empfunden, als ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit der davon Betroffenen. Sie gilt als Raub und Enteignung der Fähigkeiten und Eigenschaften, die innerhalb der Familie, der Schule, der Lehre in der Regel in einem mühsamen und aufwendigen Bildungsprozeß erworben wurden und die jetzt, von ihren gesellschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten abgeschnitten, in Gefahr sind, zu verrotten und dadurch schwere Persönlichkeitszerstörungen hervorzurufen.

Das ist der Grundskandal unserer Gesellschaft. Sie droht an ihrem Reichtum und ihren Überschußprodukten zu ersticken und ist gleichwohl außerstande, Millionen von Menschen das zivilisatorische Minimum für eine menschliche Existenzweise zu sichern: nämlich einen Arbeitsplatz, einen konkreten Ort, an dem sie ihre gesellschaftlich gebildeten Arbeitsvermögen anwenden können, um von bezahlter Leistung zu leben. Ich rücke bewußt dieses moralische und kulturelle Problem der Arbeitslosigkeit in den Vordergrund, die Frage der immer noch wesentlich durch Arbeit vermittelten menschlichen Würde. Denn ist dieser Orientierungspunkt verloren, sind der pragmatischen Phantasie bloß technischer Lösungen keine Grenzen mehr gesetzt. Will man sich nicht darauf einlassen, mit der kompletten Umsetzung von Flexibilisierung und Fragmentierung des Arbeitslebens am Ende einen allseitig verfügbaren und jederzeit manipulierbaren Menschen zu erzeugen, dann müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein:

Die auf die Gesamtgesellschaft ausgeübten Macht-und Herrschaftsverhältnisse, die von der Produktion ausgehen, bedürfen einer grundlegenden Reform. Strukturprobleme dieser herkömmlichen, von Betriebswirtschaft und Kapitallogik geprägten Erwerbsgesellschaft werden nur lösbar sein, wenn der Verfassungsgrundsatz in Artikel 14, Absatz 2: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ wieder Eingang in das unternehmerische Denken findet und sich als eine Art Verantwortungsethik in den Köpfen der ökonomisch Mächtigen zur kulturellen Selbstverständlichkeit befestigt. Solange Wirtschaftsstandort und Lebensstandort verwechselt werden, ist der Erpressungsmacht mit Konkurrenzhinweisen Tür und Tor geöffnet. Die Vorherrschaft einer solchen regulativen Denkweise beschädigt und zerrüttet am Ende das Gemeinwesen.

Aber es wäre eine Verkennung des Ernstes der Situation, wollte man Krisenlösungen in erster Linie einem neuen Kodex ethischer Verpflichtungen aufbürden. Ohne Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und der Reichtumsproduktion, ohne Infragestellung des Produktionsmythos und des Warenfetischismus kann eine Umverteilung von Arbeitsplätzen nicht gelingen. In diesem eingemauerten Kontext des Bestehenden könnte das Resultat nichts anderes sein, als es sich im betrügerischen Wettlauf zwischen Hase und Igel zeigt: ein Arbeitsplatz wird neu geschaffen, drei werden vernichtet. Die mikroelektronische Vernichtungsmaschinerie lebendiger Arbeitskraft ist immer schon am Ziel angekommen.

Lothar Späth und Herbert A. Henzler (ein McKinsey-Untemehmensberater) erwähnen bedrückende Prognosen Würde man den höchsten Stand der heute verfügbaren Technik überall dort realisieren, wo dies möglich ist, fielen von den noch bestehenden 33 Millionen Arbeitsplätzen 9 Millionen weg. Die Arbeitslosigkeit würde auf weit über 30 Prozent ansteigen. Selbst wenn diese Zahle« übertrieben sein sollten, so ist die damit bezeichnete Tendenz doch nicht zu bezweifeln.

VI.

Nicht nur die Krisenfolgen sind neuartig, auch die Struktur der Krise hat sich verändert; die Arbeitslosigkeit als gesellschaftliches Massenphänomen ist von den herkömmlichen Wellenbewegungen von Konjunktur und Rezession abgekoppelt. Es ist aus diesem Grunde immer unwahrscheinlicher, daß das Problem der chronischen Arbeitslosigkeit im begrenzten Horizont betriebswirtschaftlicher Kostenüberlegungen zu lösen ist.

Eine ganz andere Ökonomie wäre erforderlich, um die allmählich ins Unermeßliche wachsenden menschlichen, sozialen und politischen Kosten von Massenarbeitslosigkeit einzudämmen und am Ende überflüssig zu machen. Es ist ein Problem, das das Wohl und Wehe der Gesamtgesellschaft betrifft; deshalb greifen hierarchisch-ökonomische Regelungen zu kurz. Wenn eine Ökonomie im Spiel ist, dann kann es nur eine des „ganzen Hauses“ sein. Die darin zur Sprache gebrachte öffentliche Vernunft hätte die gesamtgesellschaftlichen Kosten zum Ausgangspunkt, Gesellschaftsreform zum Ziel.

Die Arbeitsgesellschaft in der von den Produktions-und Verwertungsregeln des Kapitals geprägten Form aufrechtzuerhalten und förtzuschreiben wird immer kostspieliger, am Ende unbezahlbar. Verschleiert wird das dadurch, daß jedes Ressort, jeder gesellschaftliche Bereich die eigenen Kosten auf andere abzuwälzen versucht und die Selbsterhaltung durch Kredite und Anleihen finanziert. Woher soll denn bei leeren Haushaltskassen und diesem Überschuldungssystem das Geld für Reformen genommen werden? Dem ist die geschichtliche Erfahrung entgegenzuhalten: Nichts ist teurer, als überholte Verhältnisse am Leben zu halten, nichts kostspieliger als die Nicht-Reform.

Aber die Alternative zum System bürgerlicher Erwerbsarbeit, das sich in einem schmerzlichen Prozeß von 500 Jahren, mit eigentümlichen Berufsethiken und vielfachen Bedürfnissen nach gegenständlicher Tätigkeit, herausgebildet hat, ist nicht der illusionäre Idealismus der Aufhebung der Arbeit, sondern der Kampf um die Vervielfältigung und Erweiterung gesellschaftlich anerkannter Formen der Arbeit, die der Eigenproduktion und der Selbstverwirklichung dienen.

In dieser Perspektive kann ein Umbau der Arbeitsgesellschaft nur gelingen, wenn er gleichzeitig beiträgt zur ökonomischen Krisenlösung und zur Erfüllung der Emanzipationswünsche der Men-B sehen. Andre Gorz, der bedeutendste Vordenker einer am Gemeinwesen und dem ökologischen Gleichgewicht orientierten Alternative zur herkömmlichen Erwerbsgesellschaft, trifft den entscheidenden Punkt, wenn er fordert, an die Stelle kapitalfixierter Arbeit müßten ganz andere Arbeitsformen treten, „beziehungsintensive Tätigkeiten, Pflege der Umwelt, der Künste, der Qualität des Zusammenlebens und so weiter, also Tätigkeiten, die keinen Mehrwert schöpfen, nicht instrumentell rationalisierbar sind und jenseits der Lohnarbeitsgesellschaft liegen“ 9. Das wäre aber kein Jenseits der Arbeitsgesellschaft, sondern eine Erweiterung, Vertiefung, Vervielfältigung der kulturell anerkannten Arbeitsformen, die durch den geschichtlich spezifischen und einmaligen Konflikt von Lohnarbeit und Kapital vereinseitigt und verengt wurden.

Dieser Spezialfall neigt sich dem Ende zu. In diesem Sinne gibt es ein Ende der Arbeitsgesellschaft; aber alle Tätigkeiten, die Gorz aufzählt, sind Arbeitsformen, die es immer gegeben hat und ohne die auch heute jede Gesellschaft zerfallen würde. Um ihnen einen höheren gesellschaftlichen Rang geben zu können, bedarf es eines gemeinwesenorientierten Umdenkens, das der sozial-kulturellen Logik folgt.

Nur wenn die von drückender Erwerbsarbeit freigesetzte Lebenszeit einen eigenen, autonomen Gestaltungsraum findet, also wesentlich Emanzipations-und Orientierungszeit ist, werden die Menschen das bestimmte Gefühl haben können, nicht bloßer Verwertungsrohstoff auf anderen Feldern zu sein. Das setzte voraus, daß Kreativität, Eigeninitiative, Unbotmäßigkeit und Mußefähigkeit von Kindesbeinen an ein maßgebender Wert der Erziehung, des Bildens und des Lernens ist. Davon sind wir weit entfernt. Aber viele Schritte führen in die Richtung einer solchen Gesellschaftsreform, die nach meiner Einschätzung einzig und allein aus der gegenwärtigen Kulturkrise Auswege zeigen könnte.

VII.

Für welche der beiden „Ökonomien“ man sich entscheidet, hängt wesentlich davon ab, wie das Bild vom Menschen aussieht, das man sich in seinen Träumen gezeichnet hat und den Vorstellungen entsprechen, die aus Erfahrungen mit Mitmensehen gewonnen sind, denen man im Alltag Anerkennung und Achtung entgegenbringt. Wer den allseitig funktionsfähigen Menschen will, leistungsbewußt, anpassungsfähig, wendig und ohne Bindungen, die ihn am Aufstieg hindern könnten, wird in den Kategorien und Untersuchungsfeldern der Ersten Ökonomie genau jenen Realitätszusammenhang finden, der seinen Erwartungen an eine wünschbare und erstrebenswerte Gesellschaft entspricht. Daß dies keine Idealgesellschaft ist, wird ihn kaum stören, er wird sogar den Typus eines Sozialcharakters in Kauf nehmen, der politisch alle Merkmale eines leistlingsbewußten Mitläufers hat -vorausgesetzt, er ist jederzeit einsatzbereit und störungsfrei funktionsfähig.

Der Mensch der Zweiten Ökonomie hat einen ganz anderen Zuschnitt; er ist eigensinnig, auf autonome Urteilsfähigkeit und eigentümliche Lebens-stile bedacht, die rebellische Elemente enthalten. So können Menschen dieses Typs große Opfer bringen und entschieden kampfbereit sich zeigen, aus keinen anderen Gründen, als dem Gefühl, daß politische Machtverhältnisse gestört sind oder soziale Gerechtigkeit verletzt ist -massiver Widerstand, um die bedrohte Würde zu sichern.

Es ist für mich keine Frage, daß eine hochentwikkelte Industriegesellschaft auf Dauer ohne Demokratiefunktionsunfähigist. Nicht-entfremdete Formen gegenständlicher Tätigkeit, gesellschaftlich anerkannte und bezahlte Erwerbsarbeit in lebenswichtigen Beziehungsbereichen, die heute noch in Schwarzmarktregionen liegen, sind Wesensbestandteil einer innergesellschaftlichen Friedensordnung, in den industriell entwickelten Ländern ebenso wie in jenen Gesellschaftsordnungen, die ihre menschlichen Produktionsprozesse einer durchgängigen Arbeitsgesellschaft noch vor sich haben..

Aber der Kampf dieser beiden Ökonomien erschöpft sich nicht in individuellen Willensentscheidungen; es ist ein politischer Kampf. Die Zweite Ökonomie zur ersten zu machen, wäre Motiv und Ziel einer neuen Gesellschaftsreform. Sie ist überfällig, nicht zuletzt aus Kostengründen. Da es aber um Macht-und Herrschaftsverhältnisse geht, um die sich die Erste Ökonomie organisiert, ist die Veränderung kein leichtes Spiel; auch keine bloße Frage des guten Willens und der überzeugenden Argumente. Es ist eine politische Kampfsituation epochalen Ausmaßes, in der Koalitionspartner in allen gesellschaftlichen Schichten zu suchen und zu finden sind -bei aufgeklärten und verantwortungsbewußten Managern ebenso wie unter Lehrern und Arbeitern; das strategische Bewußtsein für eine solche Kampfsituation ist im Wachsen begriffen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Frankfurter Rundschau vom 5. März 1994.

  2. Ebd.

  3. Meinhard Miegel, Vollbeschäftigung -eine sozialromantische Utopie?, in: Alfred Herrhausen Gesellschaft für internationalen Dialog (Hrsg.), Arbeit der Zukunft. Zukunft der Arbeit, Stuttgart 1994, S. 44 und S. 48/49.

  4. Fritz Neumark, Wandlung in den Auffassungen vom Volkswohlstand, Frankfurt am Main 1964.

  5. Bernard de Mandeville, The fable of the bees, or private vices, public benefits, veröff. 1714.

  6. Jürgen Seifert, Wir brauchen eine „Ökonomie für das ganze Haus“, in: Vorgänge, 28 (1989) 2, S. 25.

  7. Frankfurter Rundschau vom 12. März 1994.

  8. Vgl. Herbert A. Henzler/Lothar Späth, Sind die Deut-sehen noch zu retten?, 1993.

Weitere Inhalte

Oskar Negt, Dr. phil., geb. 1934; Studium der Philosophie und der Soziologie in Frankfurt am Main und Göttingen; seit 1970 Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Hannover. Veröffentlichungen’u. a.: Unbotmäßige Zeitgenossen, 1984; Die Herausforderung der Gewerkschaften, 1989; Kältestrom, 1994.