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Von der ökologischen Vorsorge zur ökonomischen Selbstbegrenzung | APuZ 37/1994 | bpb.de

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APuZ 37/1994 Das Dilemma der Umweltpolitik. Die Rückkehr der Verteilungskonflikte Von der ökologischen Vorsorge zur ökonomischen Selbstbegrenzung Von der ökologischen Vorsorge zur ökonomischen Selbstbegrenzung Verkehrspolitik und Ökologie. Umweltfreundlichere Gestaltung von Mobilität Grüne Arbeitsplätze. Umweltpolitik und Strukturwandel der Beschäftigung

Von der ökologischen Vorsorge zur ökonomischen Selbstbegrenzung

Gerd Winter

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In den letzten zwanzig Jahren ist in der Bundesrepublik Deutschland ein Umweltrecht von beachtlicher Differenziertheit und Strenge entstanden. Wenn es dennoch vielfach gerade im Hinblick auf die langfristige Subsistenz nicht greift, so erklärt sich das aus den gegenläufigen Nutzungsinteressen. Das Umweltrecht setzt diesen Interessen Grenzen, scheitert jedoch in der Praxis, wenn nur Besorgnisse, aber keine harten Fakten vorliegen. Der Druck der Nutzungsinteressen könnte gesenkt werden, wenn verlangt würde, daß sie sich einem Diskurs über ihre eigenen Ziele aussetzen. Ein solcher Diskurs ist seit der Lösung des Individuums aus den Banden religiöser, staatlicher und moralischer Bedürfniskontrolle tabuisiert und durch die Ergebnisse ständischer, faschistischer und sozialistischer Varianten zusätzlich desavouiert. Varianten eines Diskurses über Zwecke von Produktion und Konsum, die mit einem freiheitlichen Gemeinwesen vereinbar sind, könnten durch Aufarbeitung historischer Konventionen wie der altgriechischen Askese oder Selbst-begrenzung neu auf den Weg gebracht werden. In einer Demokratie werden gesellschaftliche Diskurse auch zu politischen, und politische Diskurse können -piece meal -in Gesetzgebung münden, was nicht mit Ökodiktatur gleichzusetzen ist. Vielmehr zeigt sich, daß Bedarfsprüfung bereits gesetzlich vorgesehen ist und auch praktiziert wird, und zwar zum Beispiel beim Bau von Infrastrukturvorhaben und bei der Zulassung von umweltgefährdenden Produkten. Dabei wird eine Art umweltschützendes Verhältnismäßigkeitsprinzip angewendet, das neben das klassische grundrechtschützende Verhältnismäßigkeitsprinzip tritt und mit ihm in Übereinstimmung gebracht werden muß.

I. Das Potential des Umweltrechts

In den letzten 20 Jahren ist in der Bundesrepublik Deutschland ein Umweltrecht von beachtlicher Differenziertheit und Strenge entstanden. Es fehlt ihm zwar noch an innerer Systematik, und der Verbesserungsmöglichkeiten ist ohnehin kein Ende, aber im großen und ganzen ist die Umwelt rechtlich ziemlich präsent.

Der Grund dafür liegt vor allem in der Ablösung des Gefahrvermeidungsprinzips durch den Vorsorgegrundsatz. Ersteres nimmt nur Gefahren wahr, letzterer berücksichtigt auch Risiken. Gefahren sind nach polizeirechtlicher Tradition definiert durch fünf Elemente: ein erheblicher Schaden, und zwar an Gesundheit oder Sachen von Menschen, eine räumliche und zeitliche Nähe zwischen Ursache und Schaden, ein hinreichend wahrscheinlicher Eintritt des Schadens und ein verläßliches Wissen hierüber. Alle fünf Elemente müssen gegeben sein, um das -dann allerdings unbedingte -Vermeidungsgebot auszulösen Fehlt nur eines, so liegt keine Gefahr vor. Früher war dann nichts zu veranlassen. Heute wird die „ 5 minus 1-Situation“ als Risiko registriert. Wenn der Schaden gering ist, wenn es sich um vom Menschen nicht angeeignete Naturgüter handelt, wenn Ursache und Schaden zeitlich oder räumlich weit auseinanderliegen, wenn die Wahrscheinlichkeit des Schadens gering ist oder wenn das Wissen darum nicht verläßlich ist, so muß das Risiko dennoch „vorsorglich“ weiter verringert werden. Das Vorsorgegebot ist allerdings nicht unbedingt wie das Gefahrvermeidungsgebot. Wie weit es reicht, bestimmt sich nach einer Abwägung zwischen der Höhe des verbleibenden Risikos und den Kosten der weiteren Verringerung; auch müssen die strengungen nicht über den Stand der Technik hinausgehen. Was übrig bleibt und hinzunehmen ist, ist das sogenannte Restrisiko.

Das Vorsorgegebot hat zwei, heute noch häufig aufgestellte Forderungen bereits weitgehend erfüllt. Es hat den anthropozentrischen Ansatz, wonach der Mensch im Mittelpunkt steht, überwunden und folgt im Grunde bereits einem Denken in Eigenrechten der Natur. Denn immer mehr Gesetze nennen als Schutzobjekte nicht mehr nur „die Besitzer und Bewohner der benachbarten Grundstücke oder ... das Publikum überhaupt“, wie es Paragraph 16 der Gewerbeordnung von 1869 tat. So zählt zum Beispiel das Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung von 1990 neben den Menschen auch „Tiere und Pflanzen, Boden, Wasser, Luft, Klima und Landschaft, einschließlich der jeweiligen Wechselwirkungen“ auf eine eindrucksvolle Liste. Sicherlich, manche Gesetze wie das Immissionsschutzgesetz schützen die Natur nur, soweit die Einwirkungen auf diese zugleich Nachteile für Menschen verursachen. Aber „Nachteil“ ist ein durchaus deutungsfähiger Begriff. Die juristische Auslegungskunst muß nicht strapaziert werden, wenn man als Nachteil auch gelten lassen will, daß ein Stück Natur statt der physischen Reproduktion des Menschen „lediglich“ der menschlichen Anschauung, Muße oder spielerischen Verwendung entzogen wird, wenn also zum Beispiel die Blütenvielfalt auf der stadtnahen Wiese den Abgasimmissionen zum Opfer fällt.

Das andere Desideratum, das das Vorsorgeprinzip erfüllt hat, besteht in der Ermöglichung von Entscheidungen trotz Ungewißheit des Schadenseintritts -Ungewißheit in ihren beiden (häufig nicht klar genug unterschiedenen) Dimensionen des (subjektiven) Wissens und der (objektiven) Wahrscheinlichkeit. Wenn nur erste Untersuchungen die Umweltgefährlichkeit eines Stoffes vorliegen und sich daraus Anhaltspunkte für eine Schädlichkeit ergeben, wenn also das Wissen noch unsicher ist, sollen dennoch Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden. Dasselbe gilt, wenn nach u. U. Vielen Untersuchungen feststeht, daß die Eintritts-wahrscheinlichkeit nur gering ist. Das Vorgehen nach Versuch und Irrtum ist also rechtlich überholt. Es gibt noch weitere Zugewinne auf der Textebene des Umweltrechts. Ich skizziere nur einige: -Das Vorsorgeprinzip gilt nicht nur für die Zulassung neuer, sondern auch für die Beseitigung alter Umweltbelastungen; dabei ist der Bestandsschutz für die Verursacher eingeschränkt, und zwar in ausgreifenden Fassungen wie dem Immissionsschutzgesetz so radikal, daß eine Schließung von solchen Anlagen in Kauf genommen wird, die durch die Sanierungskosten unrentabel geworden sind. -Das Vorsorgeprinzip wird dadurch verdoppelt, daß es nicht allein dort ansetzt, wo die Schadstoffe in die Umwelt übertreten, also zum Beispiel beim Untergrund der Abfalldeponie, sondern schon vorher, nämlich bei der Vermarktung und Erzeugung der Stoffe. -Für Fälle, in denen das Vorsorgeprinzip nicht gelten kann, weil Natur für andere Vorhaben geopfert wird, ist eine weitreichende Kompensationspflicht geschaffen worden. Für bewußte Eingriffe in Natur und Landschaft z. B. durch Straßenbau gilt, daß das zerstörte Biotop an anderer Stelle wieder erstehen muß. Bei unbeabsichtigten Zerstörungen etwa durch Unfälle ist die Natur zu restituieren, und zwar nicht nur, soweit sie im Eigentum einer Person steht, sondern auch, soweit sie „herrenlos ist“. Die sogenannten ökologischen Schäden sind inzwischen in gewissem Umfang haftungsrechtlich erfaßt. -Da die Behörden Vorsorge und Kompensation nur betreiben können, wenn sie über Verursachung und mögliche Schäden informiert werden, verwendet das Umweltrecht große Sorgfalt darauf, einen entsprechenden Datenfluß zu organisieren. Besonders differenziert sind die Vorschriften über Risiken aus normalbetrieblichen Umweltfolgen und Unfallrisiken von bestimmten gefährlichen Anlagen ausgestaltet, ebenso die Vorschriften über die Risiken von bestimmten gefährlichen Stoffen, Zubereitungen und Produkten.

Der Command-and-control-Ansatz, der das klassische Umweltrecht -seinen Text, nicht unbedingt auch seinen Vollzug -charakterisiert, ist durch subtilere Instrumente der Beeinflussung der umweltbelastenden Akteure flankiert worden, wie die Abwasserabgabe, den Betriebsbeauftragten für Umweltschutz, die Produktkennzeichnung und zu-'künftig das Umweltaudit.

II. Umweltnutzungsinteressen und ihre Rechtfertigung

Man sieht, das Umweltrecht steht in voller Blüte. Doch die Früchte, die es getragen hat, sind schnell aufgezählt: Die Schwefeldioxid-, Staub-und Blei-emissionen sind erheblich zurückgegangen, das Abwasser wird im Westen fast ausnahmslos mechanisch und biologisch gereinigt, der Katalysator hat sich durchgesetzt, die Vermarktung einiger gefährlicher Stoffe ist beschränkt worden, einige Naturgebiete wurden unter Schutz gestellt. Aber auf das geltende Umweltrecht könnten noch viel weiterreichende Maßnahmen gestützt werden. Es wäre beispielsweise benutzbar, um -Produkte, die als Abfall nicht eindeutig schadlos beseitigt werden können, z. B. alle PVC-Produkte, von der Vermarktung auszuschließen;

-den Individualverkehr in den Städten weitgehend einzustellen; -den Bau von Straßen, Flughäfen, Kanälen etc.

nur zuzulassen, wenn versiegelte Flächen gleichen Umfangs renaturiert werden; -Herstellungsverfahren, die nicht verwertbaren Sonderabfall verursachen, zu verbieten; -für jedes Abwasser auch die dritte Stufe, die chemische Reinigung, vorzuschreiben; -Betriebe, die mehr Abgase und Abwasser emittieren als der Stand der Rückhalte-und Vermeidungstechnik noch nötigmacht, zu schließen; -in weiten Bereichen des Landes naturnahe Landwirtschaft vorzuschreiben.

Warum geschieht all’ dies nicht? Warum werden, wie der Bericht der Bundesregierung für die Konferenz in Rio eingesteht in den alten Bundesländern täglich weiterhin 90 Hektar Landschaft verbraucht, warum sind nur noch 35 Prozent der Bäume ohne erkennbare Schäden, warum sind 50 Prozent aller Wirbeltierarten gefährdet, warum dünnt die Ozonschicht aus, warum ist der Benzinverbrauch nicht zurückgegangen, warum haben der Katalysator und die Abgasreinigung den Kohlendioxid-und Stickoxidausstoß kaum gemindert, warum wächst die Kontamination des Bodens und Grundwassers mit Schadstoffen, warum akkumu­ lieren die jährlich 30 Millionen Tonnen Hausmüll, 152 Millionen Tonnen produktionsspezifischer Abfälle, 50 Millionen Tonnen Klärschlämme und 10 Millionen Tonnen Sonderabfälle, warum sind mittlerweile 6500 Tonnen hochradioaktiver und 110000 Tonnen mittel-und schwachradioaktiver Abfälle ohne Rücksicht auf ihre Entsorgungsmöglichkeit produziert worden und warum hat es kein Bewenden damit, sondern werden wieder Milliarden in eine neue Kraftwerklinie gepumpt statt in die Nutzung regenerierbarer Energiequellen?

Am Umweltrecht liegt dies nur in geringem Maß. Der Grund liegt auf der Hand und wird vom Um-weltrecht dennoch negiert: Soziologisch betrachtet sind es schlicht die entgegenstehenden Interessen an der Nutzung der natürlichen Ressourcen und argumentationslogisch betrachtet ist es die Hinnahme, ja Tabuisierung der Ziele, die mit den vielfältigen umweltbelastenden Aktivitäten verfolgt werden. Das Recht setzt diesen Aktivitäten Grenzen, wo die Umwelt beeinträchtigt ist; es verlangt jedoch nicht, daß sie sich zunächst im Hinblick auf ihre eigenen Ziele und Mittel selbst rechtfertigen. Es prüft die Aktivitäten unter dem Gesichtspunkt, ob sie der Umwelt schaden, nicht auch, ob sie einen sinnvollen Zweck erfüllen, mit anderen Worten, ob wir sie eigentlich brauchen.

Wenn heute jemand in eine Produktion investieren will, öffnet ihm das Paßwort Arbeitsplatzbeschaffung die Türen zur staatlichen Förderung und Genehmigung. Wer von der Investition schädliche Auswirkungen auf die Umwelt befürchtet, kann Sicherheitsanalysen und Umweltverträglichkeitsprüfungen anhäufen -er wird meist ins Leere laufen, wenn es nur Besorgnisse und keine harten Fakten gibt. Jedoch, statt in der gewohnten Weise die externen Kosten zu reklamieren, könnte man die interne Logik der Investition, ihre Rechtfertigung mit der Arbeitsplatzbeschaffung, in Zweifel ziehen: An Ideen mangelt es nicht, wie die bloß quantitative Fixierung auf Arbeitsplatzvermehrung und die damit verbundene immer stärker ausgeweitete Warenproduktion vermieden werden könnten. Zwei Vorschläge, die fast vergessen aber nach wie vor aktuell sind, möchte ich nennen:

Der erste setzt an der Wertschöpfungstheorie an. Für ihn bringen nur Arbeitsplätze privaten Verdienst, erfüllen den Generationenvertrag und sichern die Staatseinkünfte. Zugrunde liegt die Arbeitswerttheorie. Karl Marx hat recht behalten: Die lebendige Arbeit gilt als die einzige Schöpferin des Mehrwerts, der für Lohn, Sozialleistung und Steuer herangezogen werden kann. Aber Theorien sind gesellschaftsabhängig. Die Arbeitswerttheorie ist die Theorie der Manufaktur, wie die physiokratische Bodenwerttheorie diejenige der Agrarproduktion war. Heute sind Technik und Information die hervorragenden Produktionsfaktoren. Warum also keine Theorie der Mehrwertschaffung durch Technik und Information? Gälte sie, müßte nicht jeder 39 Stunden in der Woche arbeiten, sondern ließe sich die Arbeit weiter aufteilen, weil Technik und Information den Wert schöpfen. Gälte sie, könnten die Beiträge zur Sozialversicherung wie auch die Steuern statt auf die Arbeitsleistung auf die technische und informatorische Ausstattung der Unternehmen berechnet werden, etwa in Gestalt des Maschinenbeitrags, der Anfang der achtziger Jahre erörtert aber dann vergessen worden ist.

Dieser erste Vorschlag, der mit umverteilter und abnehmender Arbeit rechnet, wird um Vorstellungen ergänzt, jenseits des Reichs der (zeitlich begrenzten) Notwendigkeit der entfremdeten Warenproduktion werde ein Reich der Freiheit für künstlerische u. a. Betätigungen entstehen Demgegenüber setzt ein zweiter Vorschlag auf eine Veränderung der Art und Weise der Produktion selbst, etwa eine Entdifferenzierung der Arbeitsteilung eine Verkleinerung der Produktionseinheiten, die Einführung „alternativer“ Formen der Betriebsorganisation und des Eigentums am Betrieb sowie eine Neubestimmung von Dienstleistungen als produktiver statt autoritativer Beziehungen zwischen Arzt und Patient etc. -Veränderungen, die zugleich mit vermehrten, aber umweltverträglichen Arbeitsplätzen verbunden sein könnten.

Werden solche Ideen beiseitegeschoben, so bleibt als Motiv immer neuer Arbeitsplatzbeschaffung nur die „Beschäftigung“, ein Wort das -ungewollt signifikant -eine gewisse Ziellosigkeit, ein Ar-beiten um beliebiger Ziele willen zum Ausdruck bringt, und das in seiner transitiven Fassung die staatliche Sorge, daß auch alle etwas zu tun haben, um nicht auf Schlechtes zu sinnen, reflektiert. Der amerikanische Karikaturist Robert Crumb hat dieses „keep trucking“ seiner großbeschuhten und kleinbekopften Pflastertreter immer wieder gezeichnet. Sinnkrise, Ausstieg, Sekten, Drogengebrauch zeigen an, daß das Ethos der Arbeit als Mittel beliebiger Ziele nicht mehr überzeugt, andererseits aber die begründende Rede über Ziele unentwickelt bleibt.

III. Zur Geschichte der Entfesselung der Bedürfnisse*

Was immer die Gesellschaft oder die einzelnen erarbeiten und konsumieren, es gilt mit wenigen Ausnahmen als gut, und je mehr es ist, desto besser. Die Ziele werden frei gesetzt und unbefragt hingenommen. Dies war nicht immer so. Es gab einmal Instanzen, die die Ziele bestimmten. Wir sind von ihnen befreit worden und können nun selbst bestimmen. Aber an die Stelle des Diktats jener Instanzen ist kein Diskurs getreten, sondern das Diktat der Beliebigkeit. Blicken wir kurz auf diese Entwicklung zurück. Die Instanzen, die ich meine, sind Religion, Staat und Moral.

Zunächst zur Religion. Das Dogma von der Erbsünde, von Augustinus erfunden, hatte das ganze Leben des Menschen unter die Geißel der Verdammung und notwendigen Buße gestellt, die zudem -doppelte Hoffnungslosigkeit -vergeblich bleibt, weil ohnehin nur höchst wenige, und ohne daß sie es durch ihren Lebenswandel beeinflussen konnten, für die Erlösung prädestiniert waren. Die Aufklärung hat uns aus dieser Unmündigkeit herausgeführt und den Menschen in die Lage versetzt, sich seine Ziele selbst zu setzen. Sie hat aber versäumt zu lehren, wie er die Ziele begründen kann.

Die Kirchenlehre, besonders Thomas von Aquin, hatte den Staat als praeambula gratiae -als Vorbereiter für die höhere Gemeinschaft des Gottesdienstes -eingesetzt. Der Staat hatte danach die Aufgabe, die Menschen zur Tugend zu erziehen. Dagegen waren die Staatsvertragslehren der Neuzeit gerichtet, die den Individuen die Definitionsmacht über die Aufgaben des Staates gaben. Den Pessimisten wie Thomas Hobbes, die der Friedlichkeit oder Reife der menschlichen Natur nicht trauten, geriet der Vertrag allerdings zum Akt der Unterwerfung unter eine autoritäre Staatsgewalt, deren Befugnisse nicht weniger weit reichten als die des Staates der Kirchenlehre. Wegbereiter der bürgerlichen Revolution wurden deshalb die Lehren der Optimisten, die den Menschen die Selbstregierung zutrauten und die Befugnisse des Staates beschränkten, sei es durch Abstecken der Aufgaben, wie es John Locke tat, sei es durch Prozeduren der Willensbildung, wie sie Jean-Jacques Rousseau entwarf (wohlgemerkt am Kleinstaatsmodell, denn er ist zur Rechtfertigung von Plebiszitärem Totalitarismus mißbraucht worden). Das führte zu Konstitutionen, die den Staat -aber gerade nicht das Individuum -zwangen, seine Zwecke und Mittel zu legitimieren.

Neben der Religion und Staatslehre vollzog auch die Moralphilosophie, und zwar ebenfalls im 17. und 18. Jahrhundert, die Wende zur Entfesselung des Individuums. Daß die höchst egoistische Verfolgung von Luxus und Eitelkeit öffentlichen Nutzen, nämlich Arbeitsplätze schafft, dichtete Bernard Mandeville in seiner Fabel vom Bienenstaat und verallgemeinerte Adam Smith zu seiner bekannten Lehre von der unsichtbaren Hand des Marktes. Die Ermutigung, die eigenen Interessen zu verfolgen, hielt auch stand gegenüber dem Kantschen kategorischen Imperativ, der eher ein Modell für die formale Allgemeinheit des Gesetzes wurde, nicht aber ein akzeptiertes Gebot für individuelles, zumal für wirtschaftliches Verhalten, das sein Eigentliches, die Ausbeutung und Übervorteilung anderer, nur mühsam im Gewände der allgemeinen Vertragsfreiheit verbirgt. Auf andere Weise wirkungslos blieben auch die materialen Morallehren, die in reicher Fülle immer wieder formuliert wurden.

Mit der Befreiung des Individuums von religiöser, staatlicher und moralischer Bevormundung war der geistige Boden für eine gewaltige Steigerung der Produktion und damit auch Ressourcennutzung bereitet. Dabei gruppierten sich die Individuen neu in verschiedene Klassen, denen aber gemeinsam war, daß keine die Ziele ihrer neu gewonnenen Freiheit zu rechtfertigen hatte.

Die Klasse der abhängig Arbeitenden hatte überhaupt wenig Anlaß, über Bedürfnisse zu spekulieren, denn ihr mangelte es nach Verlust der bäuerlichen Subsistenz und unter den ausbeuterischen Verhältnissen des Frühkapitalismus an den Mitteln zum Überleben. Die Erinnerung daran, aber natürlich auch die stets prekäre Existenzgrundlage des „variablen Kapitals“, wie Marx dieArbeitskraft nannte, verbieten bis heute eine Bedürfniskritik im Bereich der abhängigen Arbeit.

Die Klasse der Kapitalisten übte sich im zweck-rationalen Kalkül. Dieser enthält zwar den Verzicht auf Leidenschaften und unmittelbare Befriedigung und zähmte in der Tat die Habgier und Willkür der Mächtigen der Feudalgesellschaft denen die religiöse Knute nichts hatte anhaben können. Aber Leidenschaften sind erschöpfbar. Das neue Kalkül hat dagegen mit der Akkumulation von Kapital ein Ziel, das grenzenlos ist, und bei zweckrationaler Verfolgung dieses Ziels wird nicht nach dessen Rechtfertigung, sondern nur nach der Effektivität der Mittel gefragt.

Die sich später herausbildende Klasse oder besser Rolle der Konsumenten schließlich wird bald zum Objekt der Bedürfniswecker der Konsumgesellschaft. Bedürfniskritik bleibt dieser Rolle deshalb fremd. Zwar konnten sich die Konsumenten als Autorität des Marktes fühlen, doch ist das Bild des Königs Kunden selbst schon eine Suggestion der hidden persuaders.

Was ich vorschlagen möchte, ist sicher nicht die Rückkehr in die Unterwerfung unter die höheren Mächte Religion, Staat und Moral, sondern die Belebung eines Diskurses über die Ziele wirtschaftlicher Aktivitäten, das heißt eines Diskurses über Bedarf.

Ich möchte dazu einige Unterscheidungen beisteuern, die eher als Lockerungsübungen zu verstehen sind, denn „Bedarfsprüfung“ klingt bedrohlich nach Bevormunden und Einsperren.

IV. Varianten staatlicher Bedarfskontrolle

Zunächst sollte man in historischer Dimension verschiedene Systeme der staatlichen Bedarfsprüfung unterscheiden, um feststellen zu können, was jedenfalls zu vermeiden ist. Die Zunftverfassung im ständischen Staat kontrollierte die Zulassung zum Bedarf, um eine Überbesetzung der Gewerbe, von der eine Minderung der Produktqualität, aber auch unliebsame Konkurrenz befürchtet wurde, zu verhindern. Solche Kontrollen sind in einem langen Prozeß über landesherrliche Privilegien, über die gesetzliche Einführung der Gewerbefreiheit und -nach dem nationalsozialistischen Rückschlag -durch die grundgesetzliche Filterung von sog. objektiven Berufszulassungsschranken auf einen akzeptierten Rest reduziert worden. Um berufspolitisch motivierte Bedarfsprüfung geht es in unserem Zusammenhang ersichtlich nicht. Die Motivation ist eine umweltpolitische. Im übrigen ist die Berufsausübung, nicht die stärker schutzbedürftige Berufswahl betroffen.

Die Zunftverfassung war eine Form der Selbstkontrolle eines Standes. Von der Warte der gesamten Volkswirtschaft blickte dagegen die nationalsozialistische Investitionskontrolle, die auch eine Bedarfsprüfung implizierte. Ihr Anliegen war es, eine Fehlleitung wirtschaftlicher Ressourcen, die der marktwirtschaftlichen Konkurrenz zugeschrieben wurde, zu vermeiden. Sie war auch beängstigend effektiv darin, und grauenvoll waren die Ziele des Rassismus und des Krieges, deren Verwirklichung sie so perfekt organisierte. Sie wurde in den Augen von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zum Paradigma der Dialektik einer Aufklärung, die nur die Mittel zähmt, nicht auch die Zwecke.

Zu solcher Warnung gibt auch die sozialistische Version Anlaß, obzwar aus ganz anderen Gründen. Das Mittel der Investitions-(und damit auch: Bedürfnis-jKontrolle war zwar in den Plan-wirtschaften ähnlich motiviert, nämlich als Über-windung der Anarchie marktwirtschaftlicher Produktion. Aber die Ziele waren nicht irrational; sie bestanden nicht wie im Faschismus in Rassen-zucht, Völkermord und Eroberungskrieg sondern im gleichen Wohlstand für alle. Der Faschismus scheiterte nicht an seinen Mitteln, sondern an seinen irrationalen Zwecken: Er wurde von denen niedergekämpft, auf deren Vernichtung diese Zwecke gerichtet waren. Demgegenüber scheiterte der praktizierte Sozialismus an seinen Mitteln, daran, daß er -intensiver noch als der Faschismus -zentralistisch und planwirtschaftlich vorging, die private Initiative bremste und so Mangel und Protest im Innern verursachte. Die Warnung, die hieraus entspringt, ist, daß staatliche Bedürfnisprüfung nicht nur an perversen Zielen, sondern auch an überzogenen Mitteln scheitern kann. Das heißt allerdings nicht, daß sich der Staat aus dem Prozeß der Bedürfnisbildung völlig her-aushalten muß. Statt der vollen Kontrolle sind andere Formen der Einflußnahme mit der „leichten Hand“ denkbar.

V. Bedürfniskritik als gesellschaftlicher Diskurs

Bevor aber gefragt wird, welche Formen in Betracht kommen, ist zu betonen, daß der Diskurs über Bedürfnisse zuallererst ein gesellschaftlicher, nicht ein staatlicher sein sollte. Auch zu dem gesellschaftlichen Diskurs möchte ich einige Unterscheidungen nennen, die vielleicht Mißverständnisse vermeiden helfen.

Heuristisch interessant ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Askese. Zwar dürfte dieser Ausdruck für eine Programmatik heute kaum Begeisterung wecken, aber die Begriffsgeschichte ist aufschlußreich. Sie offenbart zwei wesentliche Varianten der Bedürfniskritik.

Die griechische Bedeutung des Wortes ist nicht etwa, wie wir heute vermuten würden, der Verzicht, sondern die Übung. Michel Foucault interpretiert das sokratische Prinzip der äskesis als Einübung in die Begierden, mit dem Ziel, ihnen weder zu verfallen noch sie zu unterdrücken, sondern sich als moralisches Subjekt über ihnen zu konstituieren In Platos Lehre übt das Subjekt Besonnenheit (sophrosyne), die innere Meisterung (enkrateia) der Freuden (hedone) und Begierden (epithymia), ein „besser als man selbst sein“ (kreitto hautou), das gerade nicht in der Unterdrückung eines schlechteren Teils durch den besseren liegt, sondern in einer Zusammenstimmung der Teile (harmonia) Ähnlich heißt es bei Aristoteles der Fehler im Bereich der natürlichen Begierden sei nicht, ihnen nachzugeben -im Gegenteil hält er „Stumpfheit der Sinne“ für „nicht menschlich“ -sondern das Mehr (to pleion), die Übersättigung.

Das Christentum hat der Askese dagegen einen anderen Gehalt gegeben. Die Übungen wurden nun solche des Verzichts, denn die Begierden, zumal die Sexualität, galten als ein Übel, das zu überwinden ist, während sie in der Antike eine Kraft (energeia) waren, die zur selbstverständlichen Existenz gehörte. Foucault faßt dies wie folgt zusammen: „In der christlichen Doktrin vom Fleisch beruht die exzessive Kraft der Lust auf dem Fall und dem Fehl, der seither die menschliche Natur kennzeichnet. Für das klassische griechische Denken ist diese Kraft von Mail tur aus virtuell exzessiv, und die moralische Frage besteht darin, wie man dieser Kraft die Stirn bieten kann, wie sie zu meistern ist und wie weit man sie in einer angemessenen Ökonomie gewähren lassen kann.“

Diese beiden Varianten der Askese ließen sich um die der indischen Philosophie ergänzen, die noch radikaler die Überwindung des Körperlichen predigt/und zwar des Körperlichen insgesamt, nicht nur der Begierden. Der wichtigste Unterschied zur christlichen Askese besteht darin, daß nicht nur die Läuterung der individuellen Persönlichkeit, sondern deren Überwindung und das Einswerden mit dem Kharma erstrebt wird

Askese kann also sehr Verschiedenes bedeuten, und es wäre gut, an die griechische Spielart zu denken, wenn heute über Selbstbegrenzung, Mäßigung als Notwendigkeit gerade in der industrialisierten Gesellschaft gesprochen wird. Denn die christliche Variante, also der Verzicht, steht paradoxerweise am Anfang genau der kapitalistischen Produktionsweise, die wir heute wegen ihrer Maßlosigkeit kritisieren. „Ökonomisch sind die Mönchsgemeinschaften des Abendlandes die ersten rational verwalteten Grundherrschaften und, später, Arbeitsgemeinschaften auf landwirtschaftlichem und gewerblichem Gebiet“ stellt Max Weber fest. Die These Sigmund Freuds, die Unterdrückung der Libido sei der Preis und die Folge des Fortschritts, gilt auch umgekehrt: Der Fortschritt, genauer das Zerstörerische des Fortschritts ist der Preis und die Folge der Zerstörung der Lust. Die Unterdrückung des Selbst führt zur Unterdrükkung der anderen. Wer in seiner Mitwelt und Umwelt keine Entfaltung duldet, und sei es die seiner Kinder oder auch nur die des „Unkrauts“ in seinem Schrebergarten, hat sich vorher vielleicht selbst gequält. Deshalb verfehlt es die inneren Zusammenhänge, wenn zum Beispiel die Abkehr vom Auto als Verzichtsleistung, als Opfer für die Natur propagiert wird. Sie kann als Befreiung erlebbar sein, als neu gewonnene Chance für Erfahrungen.

Freilich liegen die Dinge nicht so, daß der vermeintliche Genuß immer eigentlich Tortur, die vermeintliche Freiheit immer eigentlich Beschränkung ist. Auch Verzicht, Verringerung des Lebensstandards wird notwendig werden. Die Verlängerung der Linien der christlichen Askese führt also in ein Paradox: Einerseits steht die Askese am Ursprung der Maßlosigkeit, und Besinnung auf Lust erscheint als der Ausweg; andererseits scheint die Maßlosigkeit der Ziele nur durch eine neue Verzichtsbereitschaft erreichbar zu sein. Ich glaube, es wäre unfruchtbar, daraufhin in einen Streit zwischen einem neuen Hedonismus und einer neuen Repressivität auszubrechen. Worauf es ankommt, ist die Herausbildung des freien Subjekts, auf das die griechische Askese hinweist, des Subjekts, das in seinen Diskurs auch seine Ziele und Bedürfnisse aufnimmt und sich darin übt, über sie zu disponieren.

Man könnte auch an das künstlerische Prinzip der Selbstbeschränkung denken: Beim Malen, Komponieren, Dichten werden die Farben, die Harmonien, die Themen beschränkt, damit Fülle entstehen kann.

VI. Staatliche Bedarfsprüfung in Teilbereichen

Bedürfniskritik ist, wie gesagt, an erster Stelle Angelegenheit der gesellschaftlichen Diskurse, der einzelnen Person, der Haushalte, der Betriebe, Vereine usw. Aber sie wird vermutlich häufiger auch Gegenstand politischer Debatten werden und schließlich in Rechtsnormen und Verwaltungshandeln erscheinen. Manche sehen damit die Ökodiktatur heraufziehen. So warnt Ernst-Ulrich v. Weizsäcker: „Die Versuchung für den Staat wird groß sein, die begrenzten Ressourcen zu rationieren, das Wirtschaftsgeschehen im Detail zu lenken und von oben festzulegen, was Bürger , um der Umwelt willen'tun und lassen müssen. Experten für Lebensqualität'könnten von oben definieren, was für Bedürfnisse befriedigt werden dürfen. Die Umweltverwaltung kann ihrerseits zur , Megamaschine'werden.“

Weizsäcker will die Freiheit des Handelns bewahren, indem er die Umweltnutzung kostenpflichtig macht In sorgfältig ausgesuchten Sektoren ist dieser Weg sinnvoll, aber als Radikalkur eingesetzt wird er vermutlich lediglich bewirken, daß der Geldumlauf gesteigert wird, ohne daß sich die Umwelt verbessert. Schon die Sage von König Midas warnte davor: Was der König berührte, wurde zu Gold, aber Gold konnte er nicht essen. Auch stellen sich Verteilungsprobleme, denn die Ressourcen werden vor allem von den Zahlungskräftigen genutzt werden können. Die Warnung vor der Ökodiktatur ist ernstzunehmen, aber sie sollte nichts verwischen: Der politische Diskurs ist nicht gleich staatliche Bürokratie, und genau dimensionierte Gesetze und Verwaltung sind noch keine Megamaschine. Das hat früher schon Ivan Illich gesehen und für eine „durch politische Überein-stimmung eingeführte Selbstbegrenzung“ geworben

Ich könnte versuchen abstrakt zu bestimmen, wo der gesellschaftliche Diskurs über Bedürfnisse versagt und deshalb Ansatzpunkte für Politik und Staat vorliegen. Statt diesen Weg zu gehen, möchte ich untersuchen, wo es staatliche Bedarfs-prüfung im ökologischen Kontext tatsächlich schon gibt. Der Beispiele sind nicht wenige Sie beweisen wieder einmal, daß sich das Neue meist unbemerkt im Schoße des Alten herausbildet.

Bedarfsprüfung im Sinne der Suche nach dem wirklich Vordringlichen ist üblich im Bereich der Leistungsverwaltung: der Wirtschaftssubventionen, der Forschungsförderung, der Sozialhilfe. Sie ist weiterhin alltägliches Geschäft in der Raum-und Bauleitplanung. Aber sie findet sich zunehmend auch in der sog. regulativen Verwaltung, aus der ich zwei Beispiele anführen möchte.

Eine ziemlich differenzierte Bedarfsprüfung findet sich im Bereich der Zulassung von Infrastruktur-vorhaben. Wenn ein Flughafen, eine Straße, ein Kanal o. ä. gebaut werden soll, muß zunächst -erstens -ein begründetes Ziel vorliegen, d. h. in concreto ein Verkehrsbedarf nachgewiesen werden. Zweitens muß belegt werden, daß das Vorhaben geeignet ist, das Ziel zu erreichen. Eine Umgehungsstraße, die von den Verkehrsteilnehmern nicht angenommen werden wird, wird z. B. als ungeeignet durchfallen. Drittens muß das Vorhaben für die Zielerreichung erforderlich sein, was nicht der Fall ist, wenn eine andere Variante zur Verfügung steht, die mit weniger schädlichen Nebenfolgen für die Umwelt verbunden ist. Und viertens dürfen die schädlichen Nebenfolgen des an sich geeigneten und erforderlichen Vorhabens in Abwägung mit dem Ziel nicht unverhältnismäßig gewichtig sein. Dieses Ensemble aus Rechtfertigung des Ziels und Geeignetheit, Erforderlichkeit sowie Verhältnismäßigkeit der Mittel ist im Grunde eine Bedarfs-prüfung für das Projekt und nennt sich bekanntlich Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne oder -kürzer -Übermaßverbot. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip wurde zunächst zur Begrenzung polizeilicher Eingriffe in individuelle Freiheitsrechte ersonnen und unter der Geltung des Grundgesetzes zum allgemeinen, auch der Legislative übergeordneten Verfassungsprinzip erhoben. Es interessiert hier nicht, ob diese Überhöhung möglicherweise mit dem Grundsatz der Offenheit der Wirtschaftsverfassung kollidiert. In unserem Zusammenhang interessiert die Regelungstechnik, nämlich die Tatsache, daß das Ensemble des Verhältnismäßigkeitsprizips ein recht wirksames Instrument ist, um Zugriffe auf ein als schutzwürdig angesehenes Gut möglichst gering zu halten. Dieses Gut besteht herkömmlich aus den privaten Freiheitsrechten, aber es könnte auch aus öffentlichen Gütern wie der Natur bestehen. Der Schritt dahin vollzieht sich zur Zeit im geschilderten Recht der Infrastrukturvorhaben. Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips wird zwar offiziell noch damit erklärt, daß solche Vorhaben womöglich zu Enteignungen von Privatpersonen führten und in solchen Fällen zu prüfen sei, ob der Eingriff ein gerechtfertigtes Ziel habe und nur die geringstmöglichen Mittel einsetze. Die Verwaltungspraxis hat aber schon längst zumindest auch den Schutz der natürlichen Ressourcen im Auge, wenn sie bei Infrastrukturvorhaben den Bedarf prüft. Sie hat damit ein umweltschützendes Übermaßverbot entwickelt, das zu dem klassischen grundrechtsschützenden Übermaßverbot hinzutritt.

Eine Kollision zwischen beiden kann bei Infrastrukturvorhaben kaum entstehen, weil diese meist in staatlicher Hand erstellt werden und der Staat sich gegenüber Beschränkungen nach Kriterien des Bedarfs nicht auf Grundrechte und das sie schützende Übermaßverbot berufen kann. Zur Kollision kann es dagegen kommen, wenn das umweltschützende Übermaßverbot auf das Handeln Privater erstreckt werden sollte, genauer auf solches Handeln, das die Umwelt belastet und dementsprechend dem Test der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit unterworfen würde. Dann steht womöglich das Verbot des Übermaßes staatlicher Eingriffe in die Grundrechte im Widerspruch zum Verbot des Übermaßes privater Eingriffe in die Umwelt. Voraussetzung dafür wäre aber, daß das umweltschützende Übermaßverbot bereits Verfassungsrang besitzt. Das ist vorerst nicht der Fall und wird auch kaum zu induzieren sein, wenn Umweltschutz zum objektiven Verfassungsgebot erhoben wird. Im übrigen gibt es auch sonst Kollisionen zwischen Grundrechten und Gemeinschaftsgütern, die im Wege der Konkordanz zu lösen sind. Jedenfalls bedeutet die Tatsache, daß das umweltschützende Übermaßverbot (noch) nicht Verfassungsrang hat, nicht, daß die Einführung von Bedarfsprüfung auf einfachgesetzlicher Ebene verboten ist. Sie muß nicht, aber sie kann unter Ausnutzung des Spielraums parlamentarischer Gesetzgebung und unter Beachtung des grundrechtsschützenden Verhältnismäßigkeitsprinzips vorgesehen werden.

In der Tat gibt es dafür bereits weitreichende Beispiele. Herausgreifen möchte ich die Entscheidung über die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Das Bundesverwaltungsgericht hat das gesetzliche Kriterium, daß nämlich ein Pestizid keine unvertretbaren Auswirkungen auf den Naturhaushalt haben darf, wie folgt ausdifferenziert: Es muß ein Vorteil der Mittelverwendung, also ein gerechtfertigtes Ziel vorliegen, das Mittel darf durch andere, für den Naturhaushalt weniger nachteilige nicht ersetzbar sein, es muß m. a. W. also erforderlich sein, und der mit dem Mittel verbundene Nachteil für den Naturhaushalt darf den Vorteil der Mittelverwendung nicht überwiegen. Nach diesen Kriterien kann und muß die Zulassung eines Pflanzenschutzmittels, das Nebenwirkungen auf den Naturhaushalt hat, verweigert werden, wenn das Produkt im Überfluß vorhanden ist oder wenn das Mittel -z. B. durch mechanische Bodenbearbeitung -ersetzbar ist.

Die bisher genannten Beispiele, die sich vermehren ließen, machen zugleich eine Gefahr deutlich, die gerade auf das Gegenteil der Ökodiktatur weisen, nämlich auf einen Mißbrauch der Bedarfsprüfung für einen Abbau von Umweltschutz. Es besteht die Gefahr, daß die Einführung der Bedarfs-prüfung nicht zu einer Zielkritik, sondern zu einer Affirmation der Ziele führt. Die durch die Betreiber vorgegebenen Ziele könnten unbefragt hingenommen und benutzt werden, um auch schlimme Mittel zu heiligen. In der Tat halten sich Behörden und Gerichte im Recht der Infrastrukturplanung insoweit verdächtig zurück: Es wird fast jede gesteigerte Verkehrsnachfrage schon als Ziel akzeptiert, obwohl die Frage nach dem Bedarf eine Bewertung der Nachfrage erfordern würde, einschließlich des Gesichtspunktes des circulus vitiosus von neuer Verkehrsnachfrage aus erweitertem Angebot. Dem entspricht im Beispiel des Pflan-zenschutzrechts die Zurückhaltung, den Vorteil des Pflanzenschutzes unter dem Aspekt der landwirtschaftlichen Überproduktion niedriger zu gewichten.

Ich möchte schließen mit einer Bemerkung in Richtung Eigenrechte der Natur. Ich hatte angefangen mit einem möglichst kräftigen Kontrapunkt, dem Plädoyer für einen Diskurs der Gesellschaft über sich selbst und gerade nicht über die äußere Natur. Es dürfte im weiteren Verlauf meines Beitrages deutlich geworden sein, daß dieser Diskurs deshalb so dringlich ist, weil wir die Natur überlasten, und daß dieses Motiv auch in die Ausformung des Diskurses eingeht, insofern die Bedarfsermittlung ja den Natureingriff auf seine mögliche Übermäßigkeit prüft. Die Wege bleiben aber getrennt bei der Rechtfertigung der Ziele: Hier sieht die Gesellschaft sich im Spiegel. Hoffen wir, daß der Spiegel wie im Märchen reden kann und der Überflußgesellschaft sagt, daß sie nicht die Schönste im Land ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Beitrag wird im Herbst 1994 auch in dem Sammelband „Ökologischer Rechtsstaat“, hrsg. vom Institut für Umweltrecht, Bremen, erscheinen. Vgl. Michael Kloepfer, Umweltrecht, München 1989, § 3

  2. Bundesumweltminister (Hrsg.), Umweltschutz in Deutschland, Bonn 1992.

  3. Siehe auch den Beitrag von Richard Münch in diesem Heft.

  4. Siehe die Zusammenfassung von Klaus Sieveking, Rechtsformenwandel staatlicher Sicherungsgarantien im Unternehmensbereich. Die Diskussion über den „Maschinen-beitrag“, in: Volkmar Gessner/Gerd Winter (Hrsg.), Rechtsformen der Verflechtung von Staat und Wirtschaft, Opladen 1982, S. 176ff.

  5. Vgl. Andrä Gorz, Wege ins Paradies, Berlin 1983.

  6. Vgl. Charles Sabel, Das Ende der Massenproduktion, Berlin 1985.

  7. Siehe die Beiträge in Öko-Institut (Hrsg.), Arbeiten im Einklang mit der Natur. Bausteine für ein ökologisches Wirtschaften, Freiburg i. Br. 1985.

  8. Vgl. Rolf Richard Grauhan, Kommune als Strukturtypus politischer Produktion, in: ders. /Rudolf Hickel (Hrsg.), Krise des Steuerstaats? Widersprüche, Perspektiven, Ausweichstrategien, Leviathan Sonderheft, (1978) 1, S. 229 ff.

  9. Siehe dazu Albert O. Hirschmann, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1987.

  10. Die entsprechenden Ankündigungen fanden sich in Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1934, S. 434, 446 f. und 731 f.

  11. Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt am Main 1989, S. 60L, 68, 122f.

  12. Platon. Politeia IV 430, 431.

  13. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch III. Kap. 13.

  14. M. Foucault (Anm. 6), S. 68.

  15. Vgl. Heinrich Zimmer, Philosophie und Religion Indiens. Frankfurt am Main 1992 . S. 216-222.

  16. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe. Köln 1964. S. 884.

  17. Ernst Ulrich v. Weizsäcker, Erdpolitik, Darmstadt 1990, S. 269.

  18. Siehe dazu auch den Beitrag von Richard Münch in diesem Heft.

  19. Ivan Illich, Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, Hamburg 1975, S. 185.

  20. Ausführlicher dazu Gerd Winter, Brauchen wir das? Von der Risikominimierung zur Bedarfsprüfung, in: Kritische Justiz, 25 (1992) 4, S. 389-404.

  21. BVerwGE 81, 15ff. (17).

Weitere Inhalte

Gerd Winter, Dr. iur.; Professor für öffentliches Recht und Rechtssoziologie, Kodirektor des Zentrums für Europäische Rechtspolitik (ZERP) an der Universität Bremen. Veröffentlichungen u. a.: Grundprobleme des Gentechnikrechts, Düsseldorf 1993; (Hrsg.) Öffentlichkeit von Umwelt-informationen, Baden-Baden 1990; (Hrsg.) German Environmental Law. Basic Texts and Introduction, Dordrecht (iE.).