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Der Mythos von 1954 | APuZ 24/1994 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 24/1994 Von Bern bis Los Angeles. Die politische Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft Der Mythos von 1954 Warum ist der Ball nicht überall rund? Der Homo ludens in vergleichender Perspektive Die „success-story" des modernen Sports und seine Metamorphosen. Fitneß, Ästhetik und individuelle Selbstdarstellung

Der Mythos von 1954

Jürgen Busche

/ 7 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 im Berner Wankdorf-Stadion ist bis heute von einer mythischen Aura umgeben. Eingefleischte Fußball-Fans können jede Einzelheit auf dem Weg zu diesem Sieg detailliert schildern. Fritz Walters technokratisch-pragmatisches Diktum über Sepp Herberger als Chef („Der Chef sagte immer...“) wurde zur Leitvorstellung deutscher Daseinsbewältigung. Diese auf eine Persönlichkeit des Fußballs gemünzte Charakterisierung paßte aber haargenau auch auf den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer. Er war im wahrsten Sinne des Wortes Regierungschef -nicht mehr und nicht weniger. Die Autorität dieser „Chefs“ kam aus ihrer Persönlichkeit. Trotzdem wurden sie ganz unromantisch abserviert: der eine nach dem Bau der Berliner Mauer 1961, der andere nach dem Desaster bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1962 in Chile. Die sich darin symbolisierende Zäsur wurde damals als solche aber nicht erkannt. Der Sport jedenfalls hatte schon eine neue Bedeutung für die im Entstehen begriffene Zivilgesellschaft; sie spürte es schon, wußte es aber noch nicht.

Goethes Wort vom Stolz, dabei gewesen zu sein, wenn sichtbar eine neue Epoche beginnt, hat in der Folge vor allem als Stimulanz gewirkt, jedwede Veränderung als großen Umbruch zu deuten; das macht ein Miterleben wichtig. Man kann dieses Wort allerdings auch zu kleinerer Münze umprägen, es gleichsam als Taschengeld einer jeden Generation ausgeben. Dann stimmt es immer noch, oder: es stimmt ein paarmal mehr, was ja auch nicht zu verachten ist.

20 Jahre später: Fußballweltmeister 1974

Heute ist es jedem Denkenden völlig klar, daß mit dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft durch eine deutsche Nationalmannschaft im Jahre 1954 ein bedeutsames Gründungsdatum für die sich formierende Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland geschaffen wurde. Der Charakter einer Zäsur, der diesem Ereignis einmal attestiert werden sollte, war damals wohl niemandem deutlich. Das zeigt nebenbei, wie schwierig es ist, einen solchen historischen Einschnitt zu erkennen und damit -wie Goethe -recht zu behalten. Man hat wohl rasch das Ungewöhnliche und Nachwirkende dieses sportlichen Erfolges gesehen, aber man hat sich zur Bezeichnung seiner Eigenart eines Begriffs bedient, der ebenso populär wie ungenau ist.

Man sprach und spricht vom Mythos. Vom Wunder von Bern zu sprechen, verbot bald schon das Selbstbewußtsein. Aber das, was die Männer von Bundestrainer Sepp Herberger bei der Fußball-weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz und zuletzt im Endspiel im Berner Wankdorf-Stadion zustande gebracht hatten, trug doch alle Züge einer Heldengeschichte, die nur durch das Zusammenwirken mythischer, das heißt durch den Mythos allen Erklärungsversuchen entzogener Kräfte geleistet werden konnte und so als Heldengeschichte für die kollektive Erinnerung zu vereinnahmen ist.

Bis heute kennen daher die zwischen 1930 und 1950 geborenen Westdeutschen die elf Namen der „Helden von Bern“. Fußballfreunde heben sich von der Allgemeinheit dadurch ab, daß ihnen auch die Namen der Reservespieler vertraut sind, die im Finale nicht zum Einsatz kamen. Fußballfachleute wissen zudem die Mannschaftsaufstellung des Finalgegners Ungarn zu nennen und können über das weitere Schicksal auch der ungarischen Spieler Auskunft geben. Selbstverständlich -auch für einen größeren Kreis -ist die Kenntnis des Weges der Herberger-Truppe durch das Turnier und Details der großen Spiele, wie gegen die Jugoslawen, die Türken und die Österreicher. Signifikant sind auch die Weistümer, die ihren Rang der Tatsache verdanken, daß sie von der Aura jener Tage und Wochen bestimmt sind. Das geht bei Kleinigkeiten los. Am 4. Juli 1954 regnete es in Bern. „Das ist dem Fritz sein Wetter“, soll Herberger mit Blick auf seinen schon etwas älteren Mannschaftskapitän, den Pfälzer Fritz Walter, gesagt und auf diese Weise für zuversichtliche Stimmung gesorgt haben. Seither macht man sich vor privaten Großeinsätzen, wenn es zu regnen droht oder schon anfängt zu nieseln, gern Mut mit eben diesem Satz: „Das ist dem Fritz sein Wetter.“ Umgekehrt hat sich Fritz Walter, seit langem schon der Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft, prägsam revanchiert, indem der die Floskel „Der Chef sagte immer...“ sprichwörtlich werden ließ. Die Amtssprache des deutschen Sports hat lange gebraucht, bis sie zu nüchternen Wörtern wie dem vom „Chef“ kam, vielfach ist sie dort bis heute nicht angelangt. Hier muß zum ersten Mal übergewechselt werden zur großen Politik. Spätestens seit dem deutschen Expressionismus wird der Mann an der Spitze als Führer verklärt, schon vorher war der Ausdruck in der Arbeiterbewegung, auch in der katholischen, mit großem Pathos gesprochen, gang und gäbe. Der „Chef“ hatte dagegen etwas Technokratisches. Beim Militär war der Chef des Stabes der, den man nicht sah. Die Figur an der Spitze war der Kommandierende, und der kam gleich nach Gott. Aber mit Fritz Walters Diktum über Herberger als Chef ist das Technokratisch-Pragmatische zur Leitvorstellung deutscher Daseinsbewältigung geworden. Der Mann an der Spitze ist auf seine Stellung im Geschäft reduziert. Der Bundeskanzler etwa ist der Regierungschef. Und exakt das war Konrad Adenauer, nicht mehr und nicht weniger. Natürlich und natürlicherweise hängt die Autorität eines Chefs an seiner Persönlichkeit, und die wird nach wie vor durch pathosfähige Merkmale mit-dargestellt. Aber es sind nun Merkmale des Individuums, nicht mehr Attribute der Stellung oder der Hierarchie. Bei Herberger wie bei Adenauer wares zunächst einmal das Alter, das ihnen, da sie damit umgehen konnten, Autorität verschuf. Beide konnten das mit ihrem Alter verbundene Erscheinungsbild sprachlich in eine frappierende Lakonik kleiden. Diese stand in einem geradezu eklatanten Gegensatz zu der wortreichen Schwadroniererei früherer politischer Größen von Bismarck und Wilhelm II. bis zu den Großdeutschland-Plärrern. „Die Lage war noch nie so ernst“ (Adenauer) und „Der nächste Gegner ist immer der schwerste“ (Herberger) sind Losungen von düpierender Schlichtheit -„ergreifende Schlichtheit“ zu sagen, wie in früheren Zeiten gewohnheitsmäßig, ist, das wissen wir nun, eine Contradictio in adjecto (Widerspruch in sich).

Es darf nicht verschwiegen werden, daß mit Sepp Herberger aus Mannheim eine klar durch den demokratischen Westen geprägte Figur in der Kikker-Elite den Ton angab, ein Ton, der durchaus ein ungraziler war („Männer!“). Auch das ist eine bedeutungsvolle Parallele zu Adenauer. Für beide galt freilich auch das Wort: „Demokratie ist gut, aber Ordnung muß sein.“

Ein Lavater redivivus könnte die Physiognomien, die zerfurchten Gesichter dieser alten Männer analysieren. Die Deutschen waren beeindruckt, aber auf gänzlich unromantische Weise. Gänzlich unromantisch wurden diese alten Männer dann auch abserviert, als ihre Zeit unzweifelhaft vorbei war: Adenauer mit einiger Verzögerung nach dem Bau der Berliner Mauer 1961, Herberger nach dem Desaster bei der Weltmeisterschaft in Chile 1962. Wie sehr allerdings beide ihren Platz in den Herzen der Deutschen gefunden hatten, zeigte sich in den anrührenden Reaktionen auf ihren Tod.

Worin lag nun die Zäsur, die wir nachträglich in dem Gewinn der Weltmeisterschaft und in der Rezeption dieses Ereignisses in Deutschland erkennen? Wohl auch darin, daß das damals gar nicht als Zäsur erkannt werden konnte. Der Sport hatte schon eine neue Bedeutung für die im Entstehen begriffene Zivilgesellschaft, sie spürte es schon, aber sie wußte es noch nicht. Sie wollte es spüren, traute sich aber noch nicht, sich dazu zu bekennen, hatte wohl auch noch nicht die Sprache dafür. Um so fester gruben sich die nackten Daten in die Gemüter ein. In welcher Situation geschah das? Das ist eine Frage, die mit Rücksicht auf diskrete, zum Teil verdrängte Details beantwortet werden muß. Im Gegensatz zur Lage nach dem Ersten Weltkrieg war 1945 den meisten Deutschen das Verdiente ihrer Niederlage völlig klar. Sie waren froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Die Katastrophe wurde als selbstverständlich hingenommen. Besatzungsmächte hatten keine Schwierigkeiten, ihre Verwaltungen zu errichten und mit ihnen zu arbeiten. Über Jahre hinweg hatte Deutschland aufgehört, als Staat mit Staatsbürgern zu existieren.

Das ist bei einem so großen Land mit einer so großen Bevölkerung, mit so großem industriellen Potential und mit einer so langen, in unzähligen Zeugnissen präsenten Geschichte absolut ungewöhnlich. Die Deutschen, im Bewußtsein des Vor-aufgegangenen, lebten damit jahrelang, ohne daß sie die Lage als beunruhigend oder gar beschämend empfanden. Ihr politisches Selbstbewußtsein war noch vollständiger verschwunden als ihre politische Selbstbehauptungskraft. Im nachhinein kann man sagen, daß diese Pause von der Geschichte ganz heilsam war.

Der neue deutsche Staat, die Bundesrepublik, entstand nach dem Vorlauf dieser Jahre. Das kann nicht scharf genug betont werden. Das relativiert die Bedeutung der Heranziehung alter Koryphäen für Leitungsfunktionen in den staatlichen Stellen -erst mit der Intensivierung des Kalten Krieges konnten diese zum Teil wieder an alte Strukturen der politischen Kontrolle der Öffentlichkeit anknüpfen. Nur zögernd und mit tastenden Schritten wagten sich die Deutschen, ungläubig auf den Stil ihres Bundeskanzlers starrend, wieder in die internationale Politik zurück, immer noch bereit, jedem innerlich recht zu geben, der sie harsch anwies, sich zurückzuhalten.

Das war im Politischen plausibel zu machen, nicht jedoch im Sportlichen. An den Olympischen Spielen 1948 hatten die Deutschen noch nicht teilnehmen dürfen, wohl aber an denen in Helsinki 1952. Nach Helsinki war eine deutsche Mannschaft mit 205 Athleten gereist. Diese erkämpften sich sieben silberne und siebzehn bronzene Medaillen, keine einzige goldene. Das war eine Enttäuschung. Sie schien zur Normalität zu gehören -sechzehn Jahre nach den Spielen von Berlin. Aber jenes Berlin hatte nichts mehr mit der Lebenswirklichkeit der Leute zu tun. In die Schweiz reiste die deutsche Fußballnationalmannschaft mit weniger Aussichten, als zwei Jahre zuvor deutsche Leichtathleten in die finnische Hauptstadt gereist waren. Statt des „Festes der Schönheit“, des „Festes der Völker“ in den Bildern der Regisseurin von „Triumph des Willens“ gab es dann aber den „guten Geist von Spiez“, das angenehme, resolute, aber zivile Klima in dem Quartier der Mannschaft von Fritz Walter und Sepp Herberger am Thuner See. Der Chef, ein kleiner, zerknittert wirkender Mann in einer Kleidung, die alles andere als hero isch war, und mit einem Auftreten, bei dem nichts auf imponierende Wirkung berechnet war; Spieler, die wie Arbeiter und Angestellte, nicht wie Studenten oder Soldaten aussahen.

Als der Sportreporter Herbert Zimmermann, fünf Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, sein „Tor, Tor, Tor, Tor“ in der zweiten Halbzeit des Endspiels in den Äther brüllte, jauchzte, heulte, in höchsten Tönen wimmerte, dann erst das „Aus! Aus! Aus! -Deutschland ist Weltmeister!“, da war es wie ein Schrei der Befreiung, der Entlastung, für Millionen Zuhörer Ausdruck der unsicheren, jetzt bestätigten Hoffnung: So, wie es begonnen hatte, könnte es vielleicht weitergehen, ganz anders als alles Frühere. Darin stimmten der Zehnjährige und der Vierzigjährige am Rundfunkgerät plötzlich überein, ohne das darüber hätte ein Wort fallen können. Es war ja nur Fußball.

Fussnoten

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Jürgen Busche, Dr. phil., geb. 1944; Ressortleiter Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung in München. Zahlreiche Veröffentlichungen zu politischen und kulturellen Fragen.