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Was ging uns die DDR-Kulturpolitik an? Biographische Notizen eines „Hineingeborenen“ | APuZ 10/1994 | bpb.de

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APuZ 10/1994 Literatur als Lebenswelt. Frühe Erfahrungen eines späteren Verlegers in der DDR Mein Blick auf die Literatur in der DDR Was ging uns die DDR-Kulturpolitik an? Biographische Notizen eines „Hineingeborenen“ Intellektuelle Opposition und alternative Kultur in der DDR

Was ging uns die DDR-Kulturpolitik an? Biographische Notizen eines „Hineingeborenen“

Thorsten Ahrend

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Für viele aus meiner Generation, die etwa Mitte der siebziger Jahre mit der Berufsausbildung oder dem Studium begannen, hatten staatliche Integrationsmechanismen -wie vor allem bestimmte Privilegien -weitgehend ihren Reiz, und andererseits Drohungen ihre Schärfe verloren. Dissenz zwischen dem einzelnen und der Staatsmacht war nicht Resultat von konkreten Enttäuschungen und schmerzhaftem Illusionsabbau, sondern quasi allgemeine Selbstverständlichkeit. Scharfe staatliche Repressionen richteten sich prononciert gegen dissidente Aktivisten, erschienen aber zunehmend wie ritualisierte Exempel, deren Opfer nahezu jeder werden konnte. Gleichzeitig war das Bemühen der Macht um pragmatische Konfliktentschärfung unübersehbar, indem sie wenigstens nach außen halbwegs ihre unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Formen der Selbstdarstellung aufrechtzuerhalten versuchte. Daß sich für die Entscheidungen der Staatsmacht immer weniger nachvollziehbare Begründungen finden ließen -selbst dann nicht, wenn man sich probehalber in ihre Interessenlage hineinzudenken versuchte -, führte zwingend zu der Erkenntnis, daß eben diese Willkür das eigentliche Instrument einer Macht war, die ihre ideologischen Rechtfertigungen nur noch als Maske vor sich hertrug. Das hatte für den einzelnen die Erfahrung von Rechtlosigkeit und Ausgeliefertsein zur Folge, andererseits aber auch genau das Gegenteil. In absurden Verhältnissen ließ sich sinnvoll weder mit, noch dauerhaft über die Macht reden. Eine Variante zu handeln war daher das spielerische Ignorieren der Drohung. Innerhalb kleinerer Einheiten (Freundeskreise) * für die die Bezeichnung „Nische“ insofern unzutreffend ist, als es um Erhaltung und Beförderung von (auch künstlerischer) Produktivität ging, wurden selbstbestimmte und vertrauensvolle Formen des Zusammenlebens erprobt. Damit wurden Möglichkeiten simuliert, die „real“ (im gesamtgesellschaftlichen Rahmen) nicht gegeben waren. Das trug dazu bei, sie schließlich zu verwirklichen.

I.

„M, 30, sucht Ostfrau, welche ihm sozialistische Arbeiterkampflieder und Parolen vorträgt, Chiffre .. las ich neulich im Anzeigenteil des Berliner Stadtmagazins „zitty“. Entweder, dachte ich spontan, muß dieser bedürftige Herr außer seiner per Annonce artikulierten Vorliebe auch noch gerontophil veranlagt sein, oder er wird allerhand Schwierigkeiten haben, seine Sehnsüchte erfüllt zu bekommen.

Dunkel krame ich aus meinen Erinnerungen noch einige Zeilen der im Musikunterricht einmal gelernten Lieder „Ich trage eine Fahne“ (natürlich eine rote), „Dem Morgenrot entgegen“ und „Brüder zur Sonne zur Freiheit“, das ich seitdem nur noch einmal wieder hörte, Jahre später, und zu meiner großen Verblüffung im Westfernsehen: Daß dieses Lied auch auf Parteitagen der SPD noch gesungen wurde, hatten uns unsere Lehrer damals nicht gesagt, und ich wäre auch im Traum nicht darauf gekommen. Viel mehr Arbeiterkampflieder fallen mir schon vom Titel her nicht ein. Ich vermute, unter den heute etwa 30jährigen wird sich die Kenntnis des sozialistischen Liedgutes in den allermeisten Fällen auf die erste Strophe der „Internationale“ beschränken, mit der im September/Oktober 1989 Zehntausende ebenso beschwingt und vage entschlossen wie voller Angst um den Leipziger Ring liefen.

Nicht unschuldig an meinen Bildungslücken mag schon unsere ehemalige Musiklehrerin sein, die uns Anfang der siebziger Jahre zwischen oder nach „Ich trage eine Fahne“ und „Heut’ ist ein wunderschöner Tag“ eine von ihrem Sohn während einer Moskaureise gekaufte Schallplatte des „VokalniInstrumentalni Ansambl , Bitles 1“ (wahrscheinlich unter geradezu selbstmörderisch weit ausgelegter Interpretation des Lehrplans) vorspielte. Besser gesagt nur den „Song“ „Dewuschka“ („Girl“), nicht ohne uns mehrfach auf das zart gehauchte, seufzende, ja fast gestöhnte „Aah“ jeweils vor dem Refrain hinzuweisen. Wir waren elf Jahre alt und wußten selbstverständlich, daß auch bei der DDR-Plattenfirma AMIGA eine Beatles-LP erschienen war, sogar mehrere Singles -heute würde man unsere Haltung cool nennen, mit der wir die ehrlichen Bemühungen unserer die „Girl“ -Melodie auf dem Klavier nachspielenden Musiklehrerin zur Kenntnis nahmen.

Der Schlager meiner Kindheit in den sechziger Jahren -wahrscheinlich öfter noch gesendet von den Radiostationen als die geheime Hymne unseres Kindergartens, „Rote Lippen soll man küssen“ -hieß: „Sag mir, wo Du stehst“, die klassenkämpferischp Antwort des Oktoberklubs und seines Frontmannes Hartmut König (später im FDJ-Zentralrat für Kultur verantwortlich und gerüchteweise gehandelt als Höpke-Nachfolger) auf Marlene Dietrich und die Unentschiedenheiten von Pazifisten, Blumenkindern und anderen Staatsfeinden. Der Oktoberklub trug seinen Namen nach der russischen Revolution von 1917 und war eine Singe-gruppe, in der junge Leute mit Gitarrenbegleitung politische Lieder vortrugen: „Wir haben ein Recht darauf, dich zu erkennen, /nickende Masken nützen uns nichts. /Wir wollen beim richtigen Namen dich nennen, /darum zeig uns dein wahres Gesicht. /Sag mir, wo du stehst!.. Obwohl der Text dieses Liedes an Klarheit nichts zu wünschen übrigläßt, hielt ich vermutlich die Titelzeile für eine Art Refrain, der zum Versteckspiel bestens geeignet ist („Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muß ...“), und nahm vom Rest gar nichts wahr. In den achtziger Jahren kehrte „Sag mir, wo Du...“ zurück bei diversen Punk-Combos oder auch als Reggae, vorgetragen von der Losen Skiffle Gemeinschaft Leipzig, wieder und wieder der Abräumer bei zahllosen Feten: „Oh baby, baby, zurück oder vorwärts, yeah, yeah, baby, du mußt dich entschließen...“ Selbst das Vorlesen des „Neuen Deutschland“ konnte kaum größere kabarettistische Erfolge erzielen.

1987 erlebte ich im Schweriner Theater, das späte-* stens seit Ende der siebziger Jahre unter Christoph Schroth mit seinen „Entdeckungen“ sogar haupt-städtisches Publikum in die Mecklenburger Provinz zog, einen Abend, an dem nacheinander ein Berlin-Stück von Lothar Trolle, Part 3 und 4 der „Wolokolamsker Chaussee“ Heiner Müllers und schließlich ein Nachtprogramm von FDJ-Liedern aus den Fünfzigern gegeben wurde. Bei letzterem Programmteil betraten nacheinander mehrere ältere Damen und Herren im blauen FDJ-Hemd die Bühne, enthüllten jeweils ein überlebensgroßes Jugendfoto von sich selbst und trugen dann Lieder vor, die sie vielleicht etwa dreißig Jahre früher einmal ernst gemeint hatten. Der Zuschauersaal tobte in schenkelklatschender Heiterkeit; aber mir war es ein Anblick unendlicher Traurigkeit, wie sie da vor ihren alten Bildern standen und die Tragödie in eine Farce zu wenden versuchten. Soviel dazu.

II.

Ich wurde 1960 im mecklenburgischen Wittenberge an der Elbe in wohlbehüteter Atmosphäre geboren als erstes Kind einerjungen Ärztin und des ihr angetrauten Chemikers, der nach einem Studium in Rostock als Absolvent ins Wittenberger Chemiewerk geschickt worden war. Nach kurzem Intermezzo gelang ihm die Rückkehr als Assistent an die Rostokker Universität, was noch vor meinem ersten Geburtstag die Familie zurück in die Küstenstadt brachte. Daß Benno Pludras „Bootsmann auf der Scholle“, sein „Lütt’ Matten und die weiße Muschel“ und „Die Reise nach Sundevit“ unter den ersten Büchern waren, die ich nach Erlernen des Alphabets geradezu verschlang, hat wohl mit diesem Wohnort zu tun, jedenfalls ließ ich bis „Sheriff Teddy“ und „Tambari“ keinen Pludra aus. Grimms Märchen hatten mir meine Eltern immer wieder vorgelesen, als ich selbst mir nur die Bilder dazu ansehen konnte, Tom Sawyer und Huckleberry Finn bewältigten sie kapitelweise vorlesend über Monate an den Sonntagmorgen (sonnabends wurde ja bis mittags gearbeitet) im großen Ehebett, das ich gleich nach dem Wachwerden mit dem Buch in der Hand erwartungsvoll stürmte. Franz Fühmann, „Timm Thaler oder das verkaufte Lachen“, „Die Schatzinsel“, Defoes „Robinson“ und immer wieder Jules Verne waren Lektürehöhepunkte, als ich schon dickere Bücher zu lesen vermochte.

Im „Berliner Rundfunk“ hörte ich täglich die Familiensendung „Was ist denn heut’ bei Findigs los“, bevor ich kurz nach 7. 00 Uhr zur Schule ging; sonntags nachmittags sah ich immer „Flipper“, durfte aber in der Schule nicht darüber erzählen aus irgendeinem Grund, den ich nur verschwommen verstand. Jedenfalls schien es wichtig zu sein, denn wenn es klingelte, mußte die von Vater selbstgebaute Antenne (Aluminiumstreifen auf Holzlatten genagelt) immer schnell ins Schlafzimmer geräumt werden, damit sie keiner sah. Das Bild wurde dann besser, das Programm meist langweiliger. Wie mir ging es vermutlich vielen Mitschülern; daß zu Hause Westfernsehen geguckt wurde, leugneten selbst die wenigen, die sich montags immer über die letzte „Bonanza“ -Folge unterhielten und nicht aufpaßten, wenn die Lehrerin fragte, ob die Fernsehuhr Punkte oder Striche hat. Sehr beliebt war auch der Satz: „Hab'ich bei meiner Oma gesehen“. Erst in höheren Schuljahren änderte sich das, aber selbst da sprach man nicht mit jedem darüber, wer sonnabends bei Ilja Richter in „Disco“ zu Gast war. Daß es gelang, die kleine Tochter der Klassenlehrerin so auszufragen, daß sie sich in dieser Hinsicht verriet, war freilich ein Triumph, der sich rasend schnell herumsprach, hinter vorgehaltener Hand, versteht sich.

Mag sein, daß die mecklenburgische Nicht-Schwatzhaftigkeit diese Verlogenheit und Verbogenheit länger konservierte als andere Mentalitäten -jedenfalls war es ein bemerkenswertes Ereignis, als in einem meiner ersten Seminare an der Leipziger Universität ein Dozent einen Fehler beim Korrigieren eines Testats damit entschuldigte, daß er nebenbei „Tatort“ gesehen hätte und es deshalb an Aufmerksamkeit für unsere Elaborate fehlen ließ.

Ich wuchs also ganz und gar nicht in einer dissidentischen Umgebung auf; mein Kinderhimmel hing sozusagen voller sozialistischer Geigen. Vor härteren Konflikten versuchten meine Eltern mich möglichst zu bewahren. Meine Mutter, Tochter eines Maurers aus Stettin (1945 verschlug es die Familie auf ein mecklenburgisches Dorf), und mein Vater, Sohn eines Hufschmiedes und späteren Werftarbeiters in Rostock, waren im neuen Staat DDR zu „Intelligenzlern“ geworden. Und „Intelligenzler-kinder“, wußte ich früh, lassen sie (der Staat, die Mächtigen, die Partei) nicht gern zur Oberschule; und studieren wollte ich doch? Daß meine Eltern -obwohl angeblich dem Staat zu Dank verpflichtet, hatten sie doch nach offizieller Lesart auf Kosten der Arbeiterklasse studieren dürfen -sich nie entschließen konnten, einer Partei beizutreten, war ein Makel, über den hinaus sie den Staat nur in gemäßigter Weise zu reizen willens waren. Dies weniger aus Sorge um die eigene Karriere als vielmehr meinet-und meines 1968 geborenen Bruders wegen.

Mein früher Berufswunsch hielt sich über Jahre und wird bis heute gern bei verschiedenen Anlässen kolportiert: „Friedensfahrer“ (ein Synonym für Radrennfahrer schlechthin, weil die alljährliche Etappenrundfahrt zwischen Prag, Warschau und Berlin mit Täve Schur als Held der Höhepunkt war)und Dichter. Später transformierte sich das in den Wunsch, Journalist zu werden, , rasender Reporter 1 genauer gesagt. Meine Eltern schafften es mit Beharrlichkeit, mir das auszureden: „Wirst Du denn wirklich Redakteur bei einer Betriebszeitung werden wollen, Junge, wo du dann immerzu über die Produktionserfolge der Werktätigen schreiben und Planerfüllung herbeilügen mußt?!“ Mit fünfzehn/sechzehn dachte ich darüber nach, Jura zu studieren, natürlich mit dem Ziel, Rechtsanwalt zu werden. Bei meinen Eltern schrillten die Alarmglocken. Subtil ließ mich mein Vater selber darauf kommen, daß sozialistisches Recht und Gerechtigkeit mitunter weit auseinanderklaffen können: „Denk nur mal dran, Junge, wenn sie sich plötzlich immer wieder was Neues ausdenken, und was gestern Recht war angeblich ...“ Mehr oder weniger hofften meine Eltern, daß ich irgendwie zur Erweiterten Oberschule (EOS) zugelassen und dann ein möglichst ideologiefernes Fach studieren würde. Am liebsten Medizin, denn wenn der Tod anklopfen würde, käme sogar der Parteisekretär zum Doktor und flüsterte: „Leeiwer god, haP Di ’n annern“.

Der Bücherschrank meiner Eltern war groß, enthielt aber, der sozialen Verhältnisse wegen, denen sie entstammten (bzw. aufgrund der Umstände, unter denen die Familie meiner Mutter aus Stettin nach Mecklenburg gekommen war), fast ausschließlich Bücher, die in der DDR gedruckt worden waren: Traven, Dumas, Scholochow, Nikolajewa, Faulkner, natürlich Goethe, Thomas und Heinrich Mann, Arnold Zweig. Die in der ersten Hälfte der sechziger Jahre vieldiskutierten Romane von neueren Autoren aus der DDR fehlten nicht: Strittmatters „Oie Bienkopp“, Kants „Aula“, einiges von Christa Wolf, Grass’ Blechtrommel als Fischer-Taschenbuch stammte von einem Ungarn-Urlaub. Ich las einiges, bediente mich aber mehr noch der Möglichkeiten der Schul-und Stadtbezirksbibliotheken. Besondere Erinnerungen habe ich an die Lektüre von „Oie Bienkopp“, die mich enorm aufwühlte, weil mir die Hauptfigur imponierte und ich es widerwärtig fand, wie Frieda Simson und überhaupt die Partei ihr mitspielten. Mit zwei Freunden hielt ich -in der zehnten Klasse wohl, also mit fünfzehn -über Bienkopp im Literaturunterricht einen längeren Vortrag, in dessen Anschluß die Klasse allen Ernstes die Frage diskutierte, ob die Partei nun immer recht habe oder nicht. Wahrscheinlich fanden wir uns tollkühn, sie „dialektisch“ zu beantworten: Im Prinzip immer, im Einzelfall nicht immer.

Jedenfalls erfuhr ich bei dieser Gelegenheit, wie man aus Bibliothekskatalogen Sekundärliteratur heraussucht und wie aufregend es sein kann, zehn Jahre alte Zeitungen zu lesen. Ein fast fanatischer Zeitungsleser war ich seit langem; natürlich stand es außerhalb jeden Zweifels, daß die politische Weltlage mich ganz persönlich anging. Den Putsch gegen Allende in Chile empfand ich als etwas, das mit mir unbedingt zu tun hatte -nicht nur, weil an unserer Schule plötzlich ein chilenischer Mitschüler auftauchte. Das Abschlußdokument der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wurde so oft vollständig in den DDR-Zeitungen abgedruckt -einschließlich Korb 3, der aber eben mit vollem Recht, und nicht, wie die Kapitalisten es wollten, an die erste Stelle plaziert wurde, die (vielleicht deshalb?) das ganze Dokument nur an entlegenem Ort publizierten -, daß man fast zwangsläufig auf diesen Korb 3 gestoßen wurde. Als Dreizehnjähriger las ich die vielen Seiten auf der Suche nach den ausgeklügelten Formulierungen, die von den sozialistischen Ländern eben noch hingenommen werden konnten, aber doch schon an Tabus rührten.

Daß die FKP sich von der Forderung nach einer „Diktatur des Proletariats“ trennte und in Italien von einem Eurokommunismus gesprochen wurde, diskutierten wir in den Pausen ebenso erregt wie das Verbot der Rockgruppe Renft und die Ausbürgerung Solschenizyns, von dem niemand je ein Buch gelesen hatte. Ein paar Jahre später, als ich den Glauben endlich losgeworden war, die Medien seien möglicherweise „aus Versehen“ so, wie sie sind, legte sich meine Hoffnung, aus ihnen irgend etwas Relevantes zu erfahren.

Als im November 1976 Wolf Biermann die Rückkehr in die DDR verwehrt wurde, war ich sechzehn und verfolgte gemeinsam mit meinem Vater gebannt vor dem Fernseher die Wiederholung des Kölner Konzerts für diejenigen, die die Erstsendung verpaßt hatten. Die auf das Protestschreiben einiger namhafter DDR-Autoren folgende Kampagne empörte mich maßlos; ausgeschnittene Artikel aus den Tageszeitungen befinden sich noch heute in meinen Karteikästen. So denn die Bücher der „Exkommunizierten“ überhaupt noch zu bekommen waren, las ich alles von Heym, Hermlin, Wolf, Becker, Kunert. Die Folgen der Biermann-Ausbürgerung hielten meine Aufmerksamkeit lange fest; ständig verließen Autoren das Land, deren Bücher ich kannte und schätzte; andere wurden mit hanebüchenen Begründungen aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen oder bekamen Parteistrafen. Zum Entsetzen meiner Eltern bewarb ich mich im Herbst 1977 um die Zulassung zum Studium der Diplomgermanistik in Leipzig. Mein klares Berufsziel: nichts Geringeres als Lektor im Hinstorff Verlag Rostock. Versammelten sich doch dort Autoren wie Franz Fühmann, Jurek Becker, Klaus Schlesinger, Ulrich Plenzdorf, Bernd Jentzsch, Rolf Schneider...

III.

Ich hatte nicht den Mut und nicht den religiösen Hintergrund, den Armeedienst mit der Waffe zu verweigern, war aber einer von wenigen Jungen meines Jahrgangs an der Schule, die nicht bereit waren, über die obligatorischen 18 Monate hinaus der DDR in Uniform zu dienen. Außer daß den „Dreijährigen“ als Unteroffizieren natürlich höherer Sold und während des Studiums ein Stipendium versprochen wurde, bedeutete man uns, die wir nicht freiwillig zu dreijährigem Dienst bereit waren, daß gefragtere Studienplätze für uns nicht in Frage kämen. Eigentlich bewarb ich mich für die Germanistik -die zu den begehrtesten Fächern zählte, weil im ganzen Land jährlich nur etwa 40 Studienplätze zur Verfügung standen -nur, um mir später nicht Vorwürfe machen zu müssen, daß ich es nicht wenigstens versucht hatte.

Die Zusage traf mich ungläubig. Auch rückwirkend ließ sich schwer ein Auswahlprinzip erkennen. In unserer Seminargruppe saßen Söhne und Töchter von Parteifunktionären, Katholiken, Protestanten, von Akademikern, Arbeitern, Bauern, Handwerkern, von Prominenten aus dem Literaturbetrieb, der damals nocht nicht so hieß. Das Abitur hatten alle ziemlich gut hinter sich gebracht, nur zwei von zweiundzwanzig waren SED-Mitglieder, nur einer der Männer hatte einen dreijährigen Armeedienst hinter sich -ausgerechnet derjenige, dessen kirchliches Engagement das mit Abstand intensivste war. Manche hatten sich schon mehrfach erfolglos beworben, andere nur einmal, manche kamen direkt von der EOS, andere hatten schon Berufe wie Maschinenschlosser oder Feinmechaniker gelernt. Falls es ein System bei der Studienzulassung gab -mir war es nicht erkennbar. Wichtig war die Erfahrung: Man muß ihre Drohungen nicht so ernst nehmen; am Ende passiert gar nichts. (Der Vollständigkeit halber an dieser Stelle: Zum Ende des Studiums 1985 war die Parteigruppe auf die Stärke von drei Personen angewachsen, arme Teufel eher, die einem fast leid tun konnten; man schnitt sie ziemlich konsequent. Die Gruppe der Ausreiser, die bald nach dem Studium Wohnung linkselbisch gefunden hatte, übertraf die Stärke der Parteigruppe um eins. Zu den schon zu Studienbeginn vorhandenen Konfessionen gesellte sich die Lehre Bhagwans, die gleich mehrere Anhänger in unserem Umkreis fand.)

Die wichtigeren Begegnungen fanden außerhalb des universitären Rahmens statt. Früh und schnell lernte ich, als ich im Herbst 1980 nach Leipzig ging, Leute kennen, die ich auf öffentlichen Lesungen, in Diskussionsrunden, bei Vorträgen immer wieder traf in Studentenclubs, Räumen der Stadt oder der Kirche. Unvermeidlich, daß man ins Gespräch kommt, wenn Interessen in die gleiche Richtung laufen. Bald wurde ich eingeladen, oder besser: bekam ich Termine gesagt, wann und wo in Privatwohnungen Lesungen namenloser, manchmal auch bekannter „verbotener“ Autoren stattfanden oder Ausstellungseröffnungen junger Künstler, die häufig am Körnerplatz 8 in Happenings mündeten. Die Gäste waren junge Leute, selten über fünfundzwanzig, sie arbeiteten in irgendwelchen Kultur-oder Aussteigerjobs (etwas übertrieben gesagt: Die Hälfte des Freundeskreises verdiente ihr Geld als Essensausträger für alte Menschen bei der „Volks-solidarität“), studierten an der Universität, der Grafikhochschule oder an verschiedenen Fachschulen, bastelten Ohrringe, warteten auf die Genehmigung für ihren Ausreiseantrag, auf Weltuntergang oder -revolution. Wir hatten lange Haare, trugen die Hemden, Hosen und langen Mäntel unserer Großeltern, redeten über das Schreiben, Malen, die Musik; wir schrieben, malten, spielten Theater, machten Musik und fanden uns ungeheuer großartig.

Natürlich wohnten wir (fast) alle in Schwarzwohnungen ohne Genehmigung von Wohnungsämtern, um die wir uns gar nicht erst bemühten, weil das vollkommen sinnlos war. Zum Studienbeginn im Oktober 1980 war mir ein Platz in einem Vierbett-Internatszimmer zugewiesen worden; im Dezember durchstreifte ich Leipziger Abrißgegenden auf der Suche nach Fenstern ohne Gardinen. Im Grunde gab es kaum ein Haus, in dem das nicht vorkam. Beim x-ten Versuch fand ich im Januar eine ältere Dame, die mir konspirativ für ihre Nachbarwohnung den Schlüssel aushändigte gegen die Zusicherung, daß, wenn es Probleme mit der Polizei geben sollte, ich behaupten würde, die Tür aufgebrochen zu haben. Die Möbel wurden aus anderen leerstehenden Wohnungen zusammengesucht. Wir sagten „Abrißhäuser“, aber selbst wenn sie fast zusammenfielen, wohnten meist noch ein oder zwei legale Mieter darin. Niemand hatte Illusionen darüber, daß die Macht, wenn sie es wollte, allemal genug Mittel besaß, um jemanden aus seiner illegalen Bleibe zu vertreiben und Ordnungsstrafen zu verhängen -aber man konnte auf ihren Pragmatismus und das allgemeine Chaos einigermaßen ver­trauen. In aller Regel passierte nur etwas, wenn die „Normalmieter“ Anzeige erstatteten oder ein Haus tatsächlich abgerissen werden sollte; oder wenn ganze Häuser besetzt waren und die Stasi dort „konterrevolutionäre Zentren“ vermutete.

Daß die Stasi ein wachsames Auge auf den stetig wachsenden, dennoch aber überschaubaren Kreis von Künstlern (und die sich dafür hielten) werfen würde, nahmen wir schon an -aber das erhöhte vielleicht mehr unser Selbstwertgefühl, als daß es uns beunruhigte. Wir hegten nicht die Illusion, daß Konspiration möglich sei. SED-Mitglieder gab es sicher nicht sehr zahlreich unter uns, aber von dem einen oder anderen wußte man es doch. Wenn jemand, den man kannte, jemanden mitbrachte, waf das in Ordnung. Überhaupt kannte ich kaum jemanden unter den gleichaltrigen SED-Mitgliedern (auch an der Universität nicht), der sich nicht irgendwie entschuldigen zu müssen glaubte, wenn er seine Parteimitgliedschaft offenbarte. Entweder behandelten die Genossen das als Jugendsünde („Mit achtzehn bin ich aus Naivität eingetreten und jetzt kann ich mir einen Austritt nicht leisten...“), oder sie versuchten es mit: „Wenn man etwas verändern will, dann muß man... Verantwortung.. Für die erste Entschuldigung fand sich normalerweise mehr Verständnis. Wenigstens kleinere Parteistrafen oder -rüffel hatte noch jeder stolz vorzuweisen. Daß ein SED-Mitglied im privaten Kreis die Politik seiner Partei verteidigt hätte, erlebte ich so gut wie nie. An dieser Politik verbale Kritik zu üben, schien fast überflüssig in Ermangelung eines Widerparts. Was die „Staatsmacht“ über ihre Medien verkünden ließ, war dem letzten Deppen nur ein Schulterzukken wert oder einen folgenlosen Zornesausbruch, was ungefähr auf dasselbe hinauslief. Diese anonyme Macht mit Argumenten erziehen zu wollen, hielten wir für ebenso albern wie naiv, zumal die Voraussetzung dafür gewesen wäre, daß man „im Prinzip“ wenigstens in den „Zielen“ übereingestimmt hätte. Diese Voraussetzung bestand nicht.

Warum sollte man sich für eine simulierte Diskussion mißbrauchen lassen? „Wenn du mit ihnen redest, haben sie dich schon“, lautete ein Slogan. Ob sie aus einem Aufmüpfigen durch maßlose Schikane einen Märtyrer machten oder einen Vorzeige-Idioten, an dem sie ihre Großzügigkeit demonstrieren konnten, war weniger Verdienst oder Versagen des einzelnen als vielmehr Resultat staatlichen Handelns. Aus dieser Konstellation die Legitimation abzuleiten, man könne die Spiele der Macht dann ja auch einfach mitspielen, sich gar als ihr Zuträger betätigen, ist ein ganz unlogischer Zynismus. Es kostete nicht viel, das nicht zu tun. Es mußte kein staatlicher Verlag sein, wenn man seine Texte auch dreimal abgeschrieben mit jeweils fünf Durchschlägen unter die Leute bringen, Zeitschriften mit primitivsten technischen Mitteln (Blaupause und Heftklammer) hersteilen konnte. Ungedruckt zu sein (bei staatlichen Verlagen) verlieh einem weit eher die Aura von Interessantheit als den Ruch eines Versagers.

Mehr und mehr öffneten sich in den achtziger Jahren auch offizielle Einrichtungen und ließen beispielsweise die „anderen Bands“ auftreten, also Combos, die meist Punk spielten und sich überhaupt nicht um eine „Einstufung“ oder gar um ein Musikstudium bemühten, was normalerweise als unabdingbare Voraussetzung für öffentliche Konzerte galt. Wozu bei „Amiga“ eine Platte machen, wenn das mit Kompromissen verbunden war? Kassettenvervielfältigung im eigenen Doppeldeck war zwar ein wenig mühsam, aber...

Natürlich war das auch der Versuch, aus der Not eine Tugend zu machen, aber es bedeutete noch mehr. Als sogar die FDJ-Zeitung „Junge Welt“ sich endlich dazu durchrayg, die im offiziellen Raum außerhalb des Jugendradiosenders DT 64 gar nicht existierenden „anderen Bands“ zur Kenntnis zu nehmen, war es längst zu spät. R. L., Musiker der Kultkapellen „Rosa Extra“, „Hardpop“, später „die anderen“, kommentierte einen Interview-Wunsch der Zeitung lapidar: „Der Stürmer kriegt kein Interview.“

Aber um nicht immer nur von Kunst und Literatur zu reden: Warum Wohlverhalten demonstrieren, wenn Entscheidungen der Macht einen doch nur mit der Willkür von Schicksalsschlägen treffen? Abgesehen davon, daß man keineswegs sicher sein konnte, für Wohlverhalten belohnt zu werden, schienen uns die Privilegien, die der Staat zu vergeben hatte, alles andere als attraktiv. Neubauwohnung? Pah. Mit lauter Funktionären auf „Freundschaftsreise“ nach Moskau? Eher ein Alptraum. Gerüchteweise erfuhr man, daß das staatliche Jugendreisebüro einige Reisen nach Österreich und Finnland „vergibt“ (nicht „verkauft“!) -ausgeschlossen, daß unsereiner die Voraussetzungen erfüllt hätte, um ausgewählt zu werden. Aber selbst wenn: Welchen Grund sollte man haben, um sich drei Politschulungen vorher und ellenlange Auswertungen hinterher, mißtrauische Funktionärsgesichter im Reisebus und Museumsbesuche in Zweierreihe anzutun? Anschließend noch das Mißtrauen der Freunde? Vielleicht war es alles auch ganz anders; ich stellte es mir allerdings so vor und geriet nicht eben in Versuchung.Mag sein, daß mit den Jahren die kleinen Erpreßbarkeiten größer geworden wären, die Zwänge stärker; damals hatten wir nicht das Gefühl, auf irgend etwas Erstrebenswertes verzichten zu müssen. Jedenfalls nicht auf etwas, was dieser Staat, wie er nun einmal war, als Privileg gewähren konnte.

Die fortwährende Erfahrung, daß sich für die Entscheidungen der Staatsmacht keine nachvollziehbaren Gründe finden ließen -selbst dann nicht, wenn man sich probehalber in ihre Interessenlage der zynischen Machterhaltung hineinzudenken versuchte -, führte schließlich dazu, eben diese absurde Willkür als das eigentliche Instrument der Macht auszumachen. Die Drohung war eine immerwährende, die ohne Argumente auskam. Das konnte ein Gefühl von Ausgeliefertsein erzeugen, gleichzeitig aber auch von Freiheit. Von denen muß man sich den Spaß noch lange nicht verderben lassen.

Als 1983 mit geradezu mondänem Aufwand der von unserem Freundeskreis initiierte „Prix de Jagot“ in den Sparten Literatur, bildende Kunst, Musik verliehen wurde (wer eigentlich die Jury bildete, wußte man nicht so gengtu), kamen ungefähr 150 persönlich geladene Gäste in Abendgarderobe in ein städtisches Jugendklubhaus, das von einem Mitarbeiter für unsere „geschlossene Veranstaltung“ gemietet worden war. Das Ganze war eine witzige Mischung aus Multimedia-Performance, Okkultismus und Hochkultur; keine Versammlung von „Aussteigern“ -was immer das heißen mochte -, sondern Zentrum eines Netzes, dessen Enden in viele Bereiche reichten. In der Verbands-zeitschrift der bildenden Künstler erschien mit größter Selbstverständlichkeit die sachliche Meldung, Akos Nowacky, Ungarn, habe den Prix de Jagot für bildende Kunst 1983 erhalten. Irgend jemand hatte offenbar einen Draht zur Redaktion. Wir freuten uns darüber ebenso diebisch wie über ein Plakat des FDJ-Studentenklubs der Karl-Marx-Universität, das eine Lesung mit Bernd Igel, Prixde-Jagot-Preisträger für Literatur, ankündigte. Einige von uns luden für Veranstaltungen in die Räume der „Moritzbastei“, eben dieses FDJ-Studentenklubs, Autoren ein, die uns interessierten: Uwe Kolbe, Volker Braun, Christoph Hein, Ulrich Plenzdorf, Elke Erb, Adolf Endler...; manchmal hörte man gerüchteweise von hinter den Kulissen, daß irgendwem irgendwer nicht paßte, aber vielleicht gab es niemand Offiziellen, der das scharf in die Hand nehmen konnte.

Der große Freundeskreis war auch für die ganz banalen Anforderungen des sozialistischen Alltags überaus hilfreich. Die Buchhändlerinnen versorgten uns mit Literatur, die normalerweise schwer zu bekommen war: Christa Wolf, Fühmann, Arno Schmidt, Kafka, Freud, Joyce, Aitmatow, Genet, Woody Allen, Thomas Bernhard... Die Namens-reihe der in der DDR ungedruckten wichtigen Autoren schien etwas kleiner zu werden; Lücken ließen sich in der Deutschen Bücherei schließen. Was dort in den berühmt-berüchtigten „Gift-schränken“ lagerte, konnte man über Freunde, die als Bibliothekare arbeiteten, manchmal sogar außer Haus „entleihen“. Natürlich empörten wir uns furchtbar über die freche Sekretierung von Büchern, natürlich tippten wir uns an die Stirn bei einzelnen Beispielen: „Stell dir vor, die Idioten haben den Gedichtband von xy in den Giftturm gestellt, wohingegen der Tatsachenbericht von yz ganz einfach auszuleihen ist, wohl weil diese Analphabeten dachten, ’s ist ein medizinisches Fachbuch...“ Wenn man das mehrfach „durch“ hatte, konnte man schon an einem hingehauchten Bleistiftdreieck auf der Katalogkarte erkennen, ob man ein bestimmtes Buch ohne informelle Anstrengungen in die Hände bekommen würde.

Es ist mir in meiner Studienzeit nicht passiert, daß ein Professor, den ich fragte, mir seine Unterschrift für den „Nachweis über den wissenschaftlichen Verwendungszweck“, mit dem man dann (fast) alle Bücher bekam, verweigert hätte. Ich hatte den Eindruck, es war ihnen in ihrer Resignation eher ganz angenehm, wenn sich jemand für ihr jeweiliges Gebiet intensiver interessierte. Und zugleich war es ihnen lästig, weil sie die Scheine vom Sektionsdirektor gegenzeichnen lassen mußten. So wurde ich nicht selten aufgefordert, die Themen des „wissenschaftlichen Verwendungszwecks“ möglichst vage und allgemein zu formulieren, damit der Nachweis eine Zeitlang quasi universell nutzbar war -eine erniedrigende Prozedur, selbst wenn man am Ende bekam, was man wollte. Für den Fall der Fälle behielt die Staatsmacht alle Instrumente in der Hand, darüber machte ich mir keine Illusionen. Aber alles war immer noch mickriger, als man es sich vorstellte. Als ich das erste Mal in diesen geheimnisumwitterten „Gift-turm“ gehen konnte/mußte, um etwas zu lesen, saß am Nachbartisch eine junge Frau, die aus irgendeiner westdeutschen Frauenzeitschrift Schnittmuster ausradelte; vielleicht war sie die einzige an einem Modeinstitut, die auf so privilegierte Weise zu ihren Ideen kam, dachte ich damals. Das reguläre Studium empfand ich keineswegs als verlorene Zeit, in der sich nichts lernen ließ. Es gab einen Stundenplan und verschulte Seminare, aber es gab niemanden, der irgend etwas so kontrollierte, daß man dadurch wirklich in Schwierig­keiten geriet. Vielleicht war das offiziell anders gedacht, vielleicht waren die Seminarleiter zu faul, sich zu erkundigen, ob plausible Gründe Vorlagen, wenn jemand länger fehlte. Für mich war wichtig, daß Vorlesungsbesuche in anderen Studienrichtungen problemlos möglich waren. Man mußte nur in Erfahrung bringen, wann wo was lief. Ich bin niemals aus irgendeiner Vorlesung hinausgeworfen worden, obwohl ich mich nie um eine formelle Genehmigung als Gasthörer bemühte. Wirklich systematisch betrieb ich über zehn Semester nur Studien der Philosophiegeschichte -beginnend mit der griechischen Antike, die mir eine Offenbarung war, endend mit zwei Semestern „Kritik der spät-bürgerlichen Philosophie“, die ich nur ertrug, weil ich aus sportlichem Ehrgeiz die reguläre Staatsexamensprüfung ablegen wollte. Mit den jeweiligen Seminarleitern sprach ich meine Seminarteilnahme ab; ob sie sich höheren Ortes Genehmigung einholten, weiß ich nicht; ich wollte lernen, es machte mir niemand Schwierigkeiten. Ich nahm an keinem Studentensommer teil, war bei keinem der alljährlichen Pfingsttreffen der FDJ; falls es überhaupt auffiel, daß ich bei jedem der jährlichen „Wehrsportfeste“, die sie doch immer so wichtig nahmen, fehlte -größeren Ärger gab es nicht. Mag sein, daß es eine geheimnisvolle schützende Hand gab -eher aber war es denkbar, daß die Lethargie dieses Landes und seine-allgemeine Auflösung schon zu weit fortgeschritten waren, um bei solchen Kleinigkeiten Drohungen wahrzumachen. Wer sollte sich darum kümmern, wenn es ihm doch nur selbst Arbeit und Ärger machte?

Die Auflösungserscheinungen betrafen nach 1983 immer stärker auch den Freundeskreis selbst; Ausreiseanträge wurden immer schneller genehmigt. Ließ man sich zuvor von Bekannten aus der Bundesrepublik das eine oder andere Westbuch mitbringen, übernahm man nun stapelweise Bücher von Ausreisern, die sie nicht dorthin mitnehmen wollten, wo sie weniger wert waren. „Gib sie dann weiter“, war der übliche Spruch. Als Abmachung beim gegenseitigen Bücherverleih galt: Bei einer Haussuchung auf die Frage nach dem Woher wird immer jemand genannt, der schon im Westen ist. Wir lasen Orwell und Isaak Deutscher, Hans Mayer, Bloch, Bahro und Heinz Brandt, Ginsberg, Bukowski und Henry Miller oder Klaus Theweleit.

Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ wurde mit unglaublicher Ernsthaftigkeit gelesen, diskutiert und zum internen Forschungsmittelpunkt gemacht. Die französischen Philosophen spielten in den Kreisen, in denen ich mich bewegte, erst in der zweiten Hälfte der achtziger die dominante Rolle, die sie in Berlin schon einige Jahre früher innehatten. Ich beteiligte mich an der Jenaer Gruppe, einer Initiative, welche bildende Künstler bat, durch Spenden eigener Werke, die dann von Gruppen in Leipzig, Jena und Dresden versteigert wurden, nichtstaatliche Solidaritätsprojekte in Südamerika zu fördern. Es beteiligten sich natürlich „Untergrundkünstler“, aber auch viele aus dem Verband. Manche nicht; ob aus Angst vor staatlicher Repression oder wegen Bedenken über unsere Seriosität oder wegen Desinteresses läßt sich nur spekulieren. Autoren wie Uwe Kolbe, Wolfgang Hilbig, Rüdiger Rosenthal traten im Rahmen solcher Veranstaltungen auf, Elke Erb, Volker Braun u. v. a.

Gegen Mitte der achtziger Jahre waren diese Aktionen vorbei, zu viele Protagonisten außer Landes. In Leipzig mutierte die Wohnungsgalerie am Körnerplatz in die Eigen & Art, die am Rande der Legalität Atelierräume eines Künstlers als „private Galerie“ nutzte, sich aber nicht so nennen durfte. Es lagen in den Ausstellungsräumen die Zeitschriften des literarischen Untergrunds aus, die in Kleinstauflagen in Berlin, Dresden, Leipzig und anderswo hergestellt wurden. Die Szene feierte sich selbst; ich glaubte, mich eine Zeitlang herausnehmen zu müssen, ging 1985 nach Rostock, um eine Dissertation zu schreiben und Uwe Johnson zu lesen. Dessen „Mutmaßungen“ von 1958 wurden mir 1987 in einem Päckchen aus Österreich zugeschickt und von der Zollverwaltung konfisziert, Ware: Buch; Stck.: 1.

Wie formuliert man eine Eingabe, wenn es so etwas wie einen Rechtsanspruch nicht gibt und man dennoch nicht die Geste des Bittstellers, der um ein Privileg einkommt, annehmen will? Was tut man in Verhältnissen, die unter aller Kritik sind?

Fussnoten

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Thorsten Ahrend, Dr. phil., geb. 1960 in Wittenberge/Elbe; Studium der Germanistik in Leipzig und Rostock; Lektor für neuere deutsche Literatur bei Reclam Leipzig. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Wolfgang Hilbig: zwischen den paradiesen. Prosa. Lyrik, Leipzig 1992; Zeitschriftenaufsätze, Literaturkritiken.