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„Lose verkoppelte Anarchie“. Zur aktuellen Situation von Volksparteien am Beispiel der SPD | APuZ 43/1993 | bpb.de

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APuZ 43/1993 Institutionenvertrauen im vereinigten Deutschland Alter, Generationen und Parteipräferenzen Hoffnung auf Reformen? Reformstau und Partizipationsblockaden in den Parteien „Lose verkoppelte Anarchie“. Zur aktuellen Situation von Volksparteien am Beispiel der SPD

„Lose verkoppelte Anarchie“. Zur aktuellen Situation von Volksparteien am Beispiel der SPD

Peter Lösche

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die SPD in ihrem momentanen Zustand, der auch typisch ist für die Volkspartei CDU und möglicherweise für andere westeuropäische Parteien, wird interpretiert als extrem dezentralisierte und fragmentierte, z. T. funktionale, aber überwiegend dysfunktionale Dienstleistungsorganisation auf dem politischen Markt. Diese „lose verkoppelten Fragmente“ oder die „lose verkoppelte Anarchie“ kann wie folgt charakterisiert werden: 1. Die Partei ist stark dezentralisiert, fragmentiert und flexibel. Die lokalen Parteiorganisationen (Ortsvereine und Unterbezirke) erfreuen sich eines hohen Grades an Autonomie. Analytisch kann die SPD als eine große Koalition gesehen werden von lokalen und regionalen Parteiorganisationen, von innerparteilichen Interessengruppen, von traditionellen Parteiflügeln, von Patronagemaschinen und von ad hoc gebildeten innerparteilichen Bürgerinitiativen. Hinzu kommen die verschiedenen sozialdemokratischen Fraktionen, von den Gemeinden und Kreisen über die Landtage bis zur Bundestagsfraktion, sowie die verschiedenen sozialdemokratischen „Regierungsmannschaften“ in den Kommunen und Ländern. 2. Im Vergleich zur sozialdemokratischen Solidargemeinschaft der Weimarer Republik und der fünfziger Jahre ist die soziale Zusammensetzung der Wähler, der Mitglieder und der Funktionäre der zeitgenössischen SPD äußerst heterogen. Nicht mehr Facharbeiter bestimmen die Sozialstruktur, vielmehr findet sich eine bunte Mischung von Arbeitern mit blauem, weißem und grauem Kragen, von Kleinuntemehmem, von einigen Managern, von (wenigen) Studenten, von Hausfrauen und (vielen) Rentnern und Pensionären. 3. Programmatisch und ideologisch stellt sich die heutige SPD mindestens so farbenfreudig dar wie ihre Sozialstruktur. Inhaltlich gibt es nur einen sehr abstrakten, allgemeinen Konsens, ohne daß dieser für die täglichen Politikentscheidungen von Bedeutung wäre. Die SPD spricht und widerspricht sich mit vielen 4. Das Hauptziel der Partei ist, Stimmen zu gewinnen und zu maximieren, eine Wählerkoalition zu bauen, die über Klassen-und Konfessionsgrenzen hinausreicht, um auf diese Weise Macht zu erlangen bzw. zu erhalten.

I. Von der Solidargemeinschaft zur „lose verkoppelten Anarchie“

Im Frühjahr 1992 charakterisierte Otto Graf Lambsdorff, Vorsitzender der FDP und eine der tragenden Säulen der liberal-konservativen Regierung, die „SPD 1992“ als die angenehmste Oppositionspartei, die wir je gehabt haben. Er hatte völlig recht: Die SPD-Führung ist ebenso wie die Mitgliedschaft in fast allen aktuellen politischen Fragen gespalten, so in der der Steuern, der europäischen Integration, des politischen Asyls und der Bekämpfung der Kriminalität („großer Lauschangriff“). Ein programmatischer Konsens ist kaum zu finden. Die Differenzen reichen bis in traditionelle sozialdemokratische Prinzipien hinein, etwa wenn es darum geht, ob -und, falls ja, in welchem Maße -bestimmte Grundrechte eingeschränkt werden sollen. Organisatorisch scheint sich die Partei in einem desolaten Zustand zu befinden. Innerhalb der Parteiführung gibt es wenig Zusammenarbeit, interne Machtkämpfe bestimmen den Alltag in den Bonner Führungsgremien.

Der gegenwärtige kritische Zustand der SPD und ihr negatives Image in der Öffentlichkeit haben jedoch nicht nur etwas mit den Ecken und Kanten der Persönlichkeiten in der Parteiführung zu tun, sondern sie sind auch in der Struktur der Partei -oder vielleicht sollte man besser sagen: in ihrer Unstruktur -verankert, nämlich in dem, was man als „lose verkoppelte Fragmente“ oder (um die darin enthaltene These zuzuspitzen) „lose verkoppelte Anarchie“ bezeichnen könnte

Die heutige SPD unterscheidet sich fundamental von der traditionellen Sozialdemokratie, von der Solidargemeinschaft, die die Partei in der Weima­ rer Republik und auch noch bis in die Mitte der fünfziger Jahre darstellte. Die historische Sozialdemokratie war eine soziale Bewegung: eine •Vereinigung und Organisation vornehmlich gelernter Arbeiter, die sich am Arbeitsplatz konstituierte, aber alle Bereiche der proletarischen Existenz umfaßte -also nicht nur Arbeit, sondern auch Wohnen, Freizeit und Bildung. Ein vielfältiges und komplexes Netzwerk von Freizeit-, Kultur-und Wirtschaftsorganisationen bildete das institutionelle Rückgrat der Sozialdemokratie Robert Michels hat mit Blick auf die SPD vor dem Ersten Weltkrieg diese Partei als hierarchische Organisation beschrieben, in der das „eherne Gesetz der Oligarchie“ sich durchgesetzt habe In der Tat ist Organisationsstärke von der SPD immer als Mittel zur Selbstbehauptung in einer als feindlich erfahrenen kapitalistischen Umwelt angesehen worden. Vor allem aber stellte die sozialdemokratische Subkultur so etwas wie die Vorwegnahme der sozialistischen Zukunft dar, so daß im alltäglichen Organisationsleben die Theorie und Praxis des angestrebten Sozialismus miteinander verschmolzen. Die Sozialdemokratie stellte also zu gleicher Zeit eine soziale Bewegung, eine politische Partei und einen bestimmten Lebensstil dar. Sozialstruktur, das Organisationsnetzwerk und die Ideologie schienen sich bruchlos zueinander zu fügen

Dies trifft auf die gegenwärtige SPD in keiner Weise zu. In ihrer Sozialstruktur sowie organisatorisch und programmatisch hat die Sozialdemokratie des Jahres 1993 fast nichts mit der historischen Partei zu tun. Einige der alten Interpretationen und Stereotype, die zur Analyse der Sozialdemokratie angeführt wurden (so etwa die Vorstellung vom ehernen Gesetz der Oligarchie, von der Allmacht der Parteibürokratie oder vom Gegensatz zwischen proletarischen Massen und Führung), treffen die realen Verhältnisse nicht -wahrscheinlich waren sie auch in der Parteigeschichte mehr ein Mythos denn soziale und politische Wirklichkeit. Die Solidargemeinschaft, in der die verschiedenen proletarischen Lebensbereiche eng miteinander verbunden waren, wurde ersetzt durch -und ich übertreibe, um die These deutlich zu machen -eine extrem dezentralisierte und fragmentierte, z. T. funktionale, aber überwiegend doch dysfunktionale Dienstleistungsorganisation auf dem politischen Markt. Diese „lose verkoppelten Fragmente“ oder die „lose verkoppelte Anarchie“ kann wie folgt charakterisiert werden:

1. Die Partei ist stark dezentralisiert, fragmentiert und flexibel. Die lokalen Parteiorganisationen (Ortsvereine und Unterbezirke) erfreuen sich eines hohen Grades an Autonomie. Die Bezirks-bzw. Landesorganisationen haben großes politisches Gewicht, insbesondere dann, wenn die Par­ tei auf Bundesebene nicht an der Regierung ist. Parteivorstand und Parteipräsidium stehen nicht länger an der Spitze einer zentralistischen, pyramidenförmigen Organisation sondern sie handeln weitgehend unabhängig vom Rest der Partei. Diese drei Parteiebenen -die lokale, die Länderebene und die Bundesebene -stehen fast unverbunden nebeneinander. Analytisch kann die Partei gesehen werden als eine große Koalition von lokalen und regionalen Parteiorganisationen, von verschiedenen innerparteilichen Interessengruppen, den Arbeitsgemeinschaften (wie den Jungsozialisten, der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen oder der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen), von traditionellen Partei-flügeln (von Linken, Rechten und Zentristen), von Patronagemaschinen und von ad hoc gebildeten innerparteilichen Bürgerinitiativen. Hinzu kommen die verschiedenen sozialdemokratischen Fraktionen, von den Gemeinden und Kreisen über die Landtage bis zur Bundestagsfraktion, sowie die verschiedenen sozialdemokratischen „Regierungsmannschaften“ in den Kommunen und Ländern. Etwa 20000 bis 30000 (institutioneile bzw. informell organisierte) Akteure kooperieren und konkurrieren unter dem Dach der SPD mit-und gegeneinander. Und im Mittelpunkt innerparteilicher Entscheidungsprozesse stehen Koalitionsbildungen.

2. Im Vergleich zur Solidargemeinschaft ist die soziale Zusammensetzung der Wähler, der Mitglieder und der Funktionäre der zeitgenössischen SPD äußerst heterogen. Facharbeiter bestimmen nicht mehr die Sozialstruktur, vielmehr findet sich eine bunte Mischung von Arbeitern mit blauem, weißen und grauem Kragen, von Akademikern, von Kleinuntemehmem, von einigen Managern trans-nationaler Konzerne, von (wenigen) Studenten, von Hausfrauen und (vielen) Rentnern und Pensionären.

3. Programmatisch und ideologisch stellt sich die heutige SPD mindestens so farbenfreudig dar wie ihre Sozialstruktur. Inhaltlich gibt es nur einen sehr abstrakten, allgemeinen Konsens, ohne daß dieser für die täglichen Politikentscheidungen von Bedeutung wäre. 4. Das Hauptziel der Partei ist es, Stimmen zu gewinnen und zu maximieren, eine Wählerkoalition zu bauen, die über Klassen-und Konfessionsgrenzen hinaus reicht, um auf diese Weise Macht zu erlangen bzw. zu erhalten

Wenn hier der Begriff „lose verkoppelte Anarchie“ benutzt wird, dann ist damit natürlich nicht der Anarchismus im Sinne eines bombenwerfenden Terroristen gemeint, sondern unter Anarchismus wird ein Organisationsprinzip verstanden, das auf die gegenwärtige SPD angewendet werden kann, die nämlich eine Föderation von Föderationen von Föderationen lokaler Organisationen darstellt In neueren Veröffentlichungen über die SPD ist die organisatorische Fragmentierung, die in politische Vielfalt aber auch in politische Verwirrung mündet, übersehen oder doch unterschätzt worden. Indem ich die Begriffe „lose verkoppelte Fragmente“ oder „lose verkoppelte Anarchie“ benutze, versuche ich genau auf diesen Zusammenhang besonderes Gewicht zu legen. Jedoch bezieht sich dieser Begriff nicht nur auf die sozialdemokratische Organisation, sondern in ihm wird die gesamte widersprüchliche und unübersichtliche Realität der SPD gespiegelt.

Aufgrund der Wiedervereinigung, nicht zuletzt weil fünf neue Landesverbände zu den alten in der Bundesrepublik hinzugekommen sind, ist die SPD noch farbiger, noch heterogener geworden. Da finden sich heute mehr Gebietsverbände, Flügel, Fraktionen, Gruppierungen und Interessen innerhalb der Partei als vor drei Jahren. Und neue (ostdeutsche) Mitglieder und Funktionäre sind in die SPD eingetreten, deren Sozialisation fundamental verschieden war von der, die die westdeutschen Parteimitglieder durchlaufen haben. Durch die Wiedervereinigung ist innerhalb der Sozialdemokratie die allgemein vorhandene Tendenz zu weiterer Fragmentierung, Segmentierung und lose verkoppelter Anarchie noch stärker geworden. Auf die ostdeutsche Parteiorganisation wird gleich noch eingegangen werden.

Vorher wird jedoch gefragt, warum diese Transformation von der Solidargemeinschaft zur „lose verkoppelten Anarchie“ stattgefunden hat. Nur stichwortartig sollen einige Gründe genannt werden: 1. Fundamentale Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur und auf dem Arbeitsmarkt im 20. Jahrhundert, das rapide Schrumpfen des sekundären Bereichs (Massengüterindustrie, Bergbau und Schwerindustrie, allesamt Hochburgen der freien Gewerkschaften und der Sozialdemokratie) und die gleichzeitige Ausdehnung der Dienstleistungsindustrie. Eine zunehmende Spezialisierung und Differenzierung auf dem Arbeitsmarkt hat stattgefunden; es gibt nicht nur Angestellte und Arbeiter, sondern auch unterschiedlichste Arten von Ingenieuren und Spezialisten mit „grauen Kragen“. Insgesamt hat die Bedeutung der neuen Mittel-schichten in der Gesellschaft und entsprechend in der Politik zugenommen. 2. Milderung der Klassengegensätze und sozialen Konflikte durch die Herausbildung eines komplexen und umfassenden Sozialstaates. 3. Die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft, die dazu geführt hat, daß Spannungen und Konflikte zwischen den Konfessionen abgeschwächt worden sind, obwohl im Wahlverhalten religiöse Einstellungen und Kirchenbindung immer noch wichtige Faktoren darstellen. 4. Eine Revolution im Bildungswesen, die in der Bundesrepublik seit Ende der sechziger Jahre stattgefunden hat und sozialen Aufstieg begünstigte. 5. Sich verändernde Einstellungen und politische Verhaltensweisen, die von Soziologen als zunehmende Individualisierung beschrieben werden. 6. Das Ende einer sozialdemokratischen Subkultur, das Zerfallen eines an den Gewerkschaften orientierten sozialmoralischen Milieus, das auf Facharbeitern aufbaute. 7. In jüngerer Zeit die Herausforderung durch die neuen sozialen Fragen, wie sie von der Umwelt-, der Frauen-und der Friedensbewegung aufgenommen worden sind.

Wie sich die SPD heute darstellt, wird im folgenden näher betrachtet. Allerdings sind die in den Mittelpunkt unserer Analyse gerückten Strukturen bzw. Unstrukturen nicht nur typisch für die SPD, sondern sie können -in leicht modifizierter Form -auch bei anderen Volksparteien gefunden werden, z. B. bei der CDU, u. U. aber auch bei anderen europäischen Parteien etwa in Italien oder Großbritannien. Einige der Indikatoren, die die „lose verkoppelte Anarchie“ SPD ausmachen, werden dabei genauer erläutert, nämlich die organisatorische Fragmentierung und der programmatische Pluralismus.

II. Die ostdeutsche SPD

Zunächst wird die ostdeutsche SPD näher untersucht. Um unsere These zuzuspitzen: Man könnte argumentieren, daß es innerhalb der SPD heute zwei Parteien gibt, nämlich die ostdeutsche und die westdeutsche. Die beiden unterscheiden sich in ihrer Geschichte, in der sozialen Zusammensetzung ihrer Mitglieder und Funktionäre, in den politischen Einstellungen und der Sozialisation ihrer Mitglieder, selbst programmatisch sind Differenzen nicht zu übersehen.

Die ostdeutsche Sozialdemokratie ist mehr oder weniger spontan im Spätsommer und Herbst 1989 -und zwar ohne Unterstützung der westdeutschen Partei -gegründet worden Im Unterschied zu anderen Organisationen wie „Neues Forum“ oder „Demokratie Jetzt“ war dies die erste Bürgerrechtsgruppe in der DDR, die eine Institutionalisierung als Partei anstrebte. Von den vier Personen, die die erste halböffentliche Erklärung, eine sozialdemokratische Partei organisieren zu wollen, Unterzeichneten (Markus Meckel, Martin Gutzeit, Amt Noack und Ibrahim Böhme), waren drei Pfarrer: So entstand das Klischee, die ostdeutsche Sozialdemokratie sei eine Partei von Geistlichen. Unter den 43 Gründern, die am 7. Oktober 1989 im Pfarrhaus von Schwante, einem kleinen Dorf in der Nähe Berlins, zusammenkamen, dominierte deutliche Skepsis gegenüber theoretischen Debatten und großartigen programmatischen Konzepten -eine Reaktion auf die stalinistische Orthodoxie, die in den Jahrzehnten zuvor die DDR beherrscht hatte. Obwohl dies Persönlichkeiten waren, die über keinerlei politische Erfahrung verfügten, dominierte politischer Pragmatismus.

Ganz bewußt, um die Autonomie und Unabhängigkeit von der westdeutschen SPD zu unterstreichen, hat die Organisation sich SDP, Sozialdemokratische Partei, genannt. Auch wurden die Statuten der westdeutschen SPD weder übernommen noch imitiert, vielmehr wurden Elemente der direkten Demokratie -Rotation, Rückruf, Begrenzung der Jahre, die man in Parteifunktionen gewählt werden konnte -bewußt in das ostdeutsche Statut aufgenommen. Als weiteren Ausdruck dieser Unabhängigkeit wählte man für die Gebiets-verbände andere Begriffe als die, die in der westdeutschen Partei üblich waren. Anstelle von „Orts-verein“ wurde die unterste Organisationseinheit „Orts “ oder „Basisgruppe“ genannt; die nächsthöhere Organisationseinheit anstatt „Unterbezirk“ „Kreisverband“; und anstelle „Bezirk“ wurde für die Länderorganisation der Begriff „Region“ gewählt. Es geschah auf Druck der Basis und war zunächst nicht Absicht der Parteiführung, daß im Januar 1990 die Partei sich in SPD umbenannte und daß im September 1990 die ost-und die westdeutsche Partei fusionierten.

Im Mittelpunkt der wenigen programmatischen Äußerungen der ostdeutschen SPD standen die Bürgerrechte, die Gleichheit zwischen Mann und Frau, politischer Pluralismus, Gewaltenteilung und Föderalismus -alle verstanden als Vorkehrungen, um die Freiheit des Individuums zu bewahren und Macht und Einfluß des Staates zu begrenzen. In dieser Hinsicht gab es keine Unterschiede zu anderen Bürgerrechtsgruppen in der alten DDR wie „Demokratischer Aufbruch“, „Demokratie Jetzt“ und „Neues Forum“.

Die poetische Sozialisation der Parteifunktionäre in West-und Ostdeutschland unterscheidet sich wesentlich. Traditionen des Kollektivismus, die als Reaktion auf das bürokratische stalinistische System entstanden waren, hatten im Osten eine große Bedeutung. Dieses Gemeinschaftsverständnis wurde entweder halböffentlich in den Büros • und Fabriken oder in der Nachbarschaft oder privat in eng gezogenen Freundeskreisen praktiziert, d. h. in den Nischen des Systems. Wenn man sich heute mit ostdeutschen Sozialdemokraten unterhält, wird man einiges Bedauern darüber finden, daß die alten Freundschaften und das frühere Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Nachbarn verloren gegangen seien und daß die eisige Luft des kapitalistischen Individualismus zunehmend die menschlichen Beziehungen bestimme. Auf der westdeutschen Seite ist die Sozialisation der Parteifunktionäre wesentlich durch die Studentenbewegung, die Bürgerinitiativen und die neuen sozialen Bewegungen, denen eine Tendenz zu mehr Demokratie, aber auch zu mehr Individualismus gemeinsam war, beeinflußt worden.

Entsprechend ihrer je unterschiedlichen Motivation für den Eintritt in die ostdeutsche Partei und dem Zeitpunkt, zu dem er vollzogen wurde, kön-nen drei verschiedene Typen von Parteifunktionären unterschieden werden:

1. Die Gründer, die Bürgerrechtsaktivisten, die glaubten, sie könnten das DDR-System von innen her verändern. Unter ihnen war eine vergleichsweise große Zahl protestantischer Geistlicher und Laien.

2. Die Opportunisten, diejenigen, die eine politische Karriere im Auge hatten und in die Partei zu einem Zeitpunkt eintraten, als die SPD als der sichere Gewinner der Volkskammerwahlen vom März 1990 erschien.

3. Die Pragmatiker, die zur Partei nach deren Niederlage bei den Volkskammerwahlen stießen und die häufig Bürgerrechtsgruppen verließen, um ganz bewußt in einer Partei mitzuarbeiten (dazu gehörten Pfarrer Friedrich Schorlemmer aus Wittenberg und Wolfgang Thierse).

Während des Jahres 1990 ist die Zahl der ostdeutschen Parteimitglieder extrem überschätzt worden. Heute haben die ostdeutschen Landesverbände wenig mehr als 27 000 Mitglieder (im Vergleich zu den etwa 850000 Mitgliedern in Westdeutschland). Trotz aller Organisationsanstrengungen stagnieren seit zwei Jahren die Mitgliederzahlen in den ostdeutschen Landesverbänden. Damit ist die SPD die kleinste der etablierten Parteien in der früheren DDR, allerdings auch die einzige, die ipomentan keine Mitglieder verliert. Die ostdeutsche Partei stellt eine so kleine Organisation dar, daß -abhängig von der jeweiligen Region -70 bis 90 Prozent aller Mitglieder in kommunale Ämter oder in den Landtag gewählt worden sind. Oder anders formuliert: Eine Parteibasis ist eigentlich nicht vorhanden. Und die Zahl der Mitglieder nimmt nur sehr langsam zu. Wo liegen die Gründe dafür, daß die Ostdeutschen nicht der SPD beitreten?

1. Die Ostdeutschen sind nach wie vor -drei Jahre nach der Vereinigung -grundsätzlich skeptisch gegenüber jeder Art des Sozialismus, selbst gegenüber dem demokratischen Sozialismus. Viele Menschen, sogar Parteimitglieder, reagieren fast allergisch auf die Symbole des Sozialismus, wie sie in der westdeutschen SPD heute noch benutzt werden, so gegen die Farbe Rot oder die Anrede „Genosse“.

2. ökonomische und soziale Probleme, insbesondere die Arbeitslosigkeit, beherrschen den Alltag und münden oft in politische Apathie.

3. Die Gewerkschaften in Ostdeutschland sind zwar zahlenmäßig stark, organisatorisch aber immer noch schwach. Qbwohl es in der alten Bundesrepublik erhebliche Spannungen zwischen dem DGB und seinen Gewerkschaften und der SPD im letzten Jahrzehnt gegeben hat, gilt dennoch, daß die Gewerkschaften eine der organisatorischen Säulen der Sozialdemokratie darstellen.

4. Ursprünglich hatte die ostdeutsche SPD ehemalige SED-Mitglieder nicht in ihre Reihen aufgenommen, obwohl es eine bestimmte inhaltlich-programmatische Disposition ehemaliger SED-Mitglieder zum Beitritt gibt. Heute bleibt es den Ortsvereinen überlassen, ob sie frühere SED-Mitglieder aufnehmen oder nicht.

5. Schließlich hat es Erwartungen gegeben, daß die Sozialdemokratie die politisch dominierende Kraft in Ostdeutschland würde. Diese haben sich bekanntlich nicht erfüllt. Daher ist die SPD für jene zunächst nicht attraktiv, die nach einer politischen Karriere Ausschau halten.

In bezug auf Organisation und Mitgliederdichte ähnelt die ostdeutsche SPD einer unterentwickelten Region Bis zum Ende dieses Jahrzehnts wird die Bundespartei jährlich zehn Mio. DM in Ostdeutschland investieren, um die Partei dort aufzubauen.

Bezogen auf die Sozialstruktur der Mitglieder und Funktionäre ist die ostdeutsche SPD allerdings sehr erfolgreich darin gewesen, die technische Intelligenz zu gewinnen, also diejenigen, die die westdeutsche SPD seit 15 Jahren vergeblich zu organisieren sucht. Die Vorstellung, die ostdeutsche Sozialdemokratie sei eine Partei der Pfarrer, ist eine Stereotype, die sich auf ihre Gründungstage bezieht. In Wirklichkeit ist sie heute eine Partei der Ingenieure und der Mediziner, einiger Sozialarbeiter und Lehrer, aber nur sehr weniger Pfarrer. So sind von den 32 Mitgliedern der SPD-Fraktion des Sächsischen Landtages 17 Ingenieure, fünf Mediziner, sechs Lehrer; ein Pfarrer findet sich nicht. Abgesehen von einer Krankenschwester sind alle Fraktionsmitglieder Akademiker. Genaue Daten zur Sozialstruktur der ostdeutschen SPD-Mitglieder existieren nicht. Es ist jedoch bekannt, daß ca. 35 bis 40 Prozent der Mitglieder Angestellte sind (im Vergleich zu 32 Prozent in Westdeutschland), 20 Prozent sind Arbeiter (26 Prozent in Westdeutschland), ungefähr 20 Prozent Rentner, 12 Prozent gehören zum alten Mittelstand; ca. ein Viertel der Mitglieder sind Akademiker

Betrachtet man die Geschichte der ostdeutschen SPD, ihre besondere Sozialstruktur und ihre Organisation, dann ist diese -viel stärker als die westdeutsche SPD -eine Partei der Amateurpolitiker, von Leuten also, die guten Willens sind, aber kaum politische Erfahrungen gesammelt haben. Es fehlt an populären, charismatischen Persönlichkeiten, die neue Mitglieder und Wähler anziehen und in die Partei integrieren könnten. Dabei ist natürlich zu bedenken, daß in vier der fünf neuen Länder die Partei in einer Minderheitsposition ist und sich auf den harten Bänken der Opposition wiederfindet. Es ist daher kein Zufall, daß der einzige sozialdemokratische Ministerpräsident, Manfred Stolpe aus Brandenburg, der populärste ostdeutsche Sozialdemokrat geworden ist. Obwohl er sich gegen Vorwürfe zu verteidigen hat, als Vertreter der evangelischen Kirche unter dem alten Regime zu eng mit der Stasi kooperiert zu haben, verliert er nicht an Popularität, sondern scheint sogar noch zu gewinnen, da er zur Identifikationsfigur für viele Ostdeutsche wird. Aus Stolpes Kabinett hat ferner Sozialministerin Regine Hildebrandt, vor allem wohl durch Berliner Zungenschlag und Schlagfertigkeit, bundesweite Popularität gewonnen. In den letzten 18 Monaten ist schließlich Wolfgang Thierse, stellvertretender Vorsitzender der Partei und der Bundestagsfraktion, zunehmend in den Vordergrund gerückt: Er vermag offensichtlich die Widersprüche zwischen der ost-und der westdeutschen SPD zu überbrücken, und er ist der einzige bekannte Repräsentant des Ostens in den SPD-Bundesgremien. Doch sind in jüngster Zeit Zweifel an seiner Durchsetzungsfähigkeit und an seinem politischen Geschick laut geworden, ihm haftet der Geruch des Schön-und Festredners an.

Folgt man Meinungsumfragen, dann würde die ostdeutsche SPD heute bei Landtagswahlen 10 bis 20 Prozent der Stimmen im Vergleich zu den Wahlen vom Oktober 1990 hinzugewinnen. Dies ist allerdings kein Hinweis auf die organisatorische und politische Stärke der Ost-SPD, sondern hat als politischer Ausdruck der schlechten ökonomischen und sozialen Situation Ostdeutschlands, für die die CDU verantwortlich gemacht wird, zu gelten.

Die ostdeutsche SPD kann somit auf ihre eigene, einzigartige, wenn auch kurze Geschichte zurückblicken, sie ist eine Partei mit eigenem politischem und organisatorischem Profil. Durch die Vereinigung der fünf neuen Landesverbände mit der bundesrepublikanischen SPD ist die Tendenz in der Gesamtpartei zu organisatorischem und politischem Pluralismus, zur „lose verkoppelten Anarchie“ jedoch verstärkt worden.

III. Organisatorische Fragmentierung

Fragmentierung, Segmentierung, Dezentralisierung und funktionale Differenzierung stehen im Mittelpunkt der organisatorischen und politischen Realität innerhalb der zeitgenössischen Sozialdemokratie. Die soziale Vielfalt der SPD wird in den verschiedenen Interessengruppen gespiegelt, die innerhalb der Parteistruktur institutionalisiert sind. Eine funktionale Arbeitsteilung innerparteilicher Entscheidungsprozesse und außerparteilicher Zielgruppenarbeit ist zwischen diesen verschiedenen Interessengruppen etabliert worden Zu ihnen gehören die Arbeitsgemeinschaften für Arbeitnehmerfragen, die Arbeitsgemeinschaft für Selbständige, die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen, die Jungsozialisten, Gruppen von Rechtsanwälten, Lehrern und Kommunalpolitikern. Einfluß und Bedeutung dieser innerparteilichen Gruppen wird in den nächsten Jahren in der Weise steigen, daß sie auf Parteitagen, in Vorständen und Parteiausschüssen stärker als bisher vertreten sein werden. Ferner dürften die Arbeitsgemeinschaften auf den Parteitagen das Recht erhalten, Anträge zu stellen und Abstimmungen zu verlangen. Schließlich dürfte künftig Parteimitgliedschaft keine Voraussetzung mehr für die Mitarbeit in einer Arbeitsgemeinschaft sein, wie dies heute in der Regel der Fall ist.

In aktuellen Organisationsdebatten innerhalb der Partei geht es um eine neue Aufgabendefinition für die verschiedenen Parteiinstitutionen Im Machtzentrum der Bundespartei steht offensichtlich das Parteipräsidium, dem in der Regel der Vorsitzende der Bundestagsfraktion und, soweit die Partei an der Regierung ist, der Kanzler sowie die wichtigsten Minister angehören. Das Präsidium wird durch die Parteibürokratie unterstützt. Der Parteivorstand steht aber keineswegs an der Spitze einer Herrschaftspyramide, er ist kein oligarchisches Führungsorgan. Vielmehr sind in ihm die verschiedenen Gebietsverbände, Flügel und Arbeitsgemeinschaften vertreten, sorgsam in ihrem politischen Gewicht untereinander austariert. Der Vorstand hält -ähnlich wie der Parteirat, das höchste Gremium zwischen den Parteitagen -die auseinanderstrebenden Kräfte zusammen, er integriert die Partei, führt sie aber nicht. Und „der Apparat“, die Parteizentrale im Erich-Ollenhauer-Haus, ist nicht viel mehr als eine Servicestation, von der vor allem zwei Dienstleistungen erbracht werden, nämlich innerparteiliche Kommunikation und Vorbereitung sowie (teilweise) Durchführung von Wahl-kämpfen. Parteivorstände und Parteiausschüsse, die in der Geschichte der Sozialdemokratie als Führungszentren angesehen worden sind, sind immer mehr zu Institutionen geworden, von denen Kontrolle, Interessenaggregation, Gruppenintegration und Legitimation sozialdemokratischer Politik ausgehen. Bemühungen, die Partei zu dezentralisieren und zu regionalisieren und dadurch politische Partizipation an der Basis zu erhöhen, sind im vergangenen Jahrzehnt insgesamt erfolgreich gewesen. In den mehr als 9 000 Ortsvereinen sind Zehntausende von Amateurpolitikem häufig in Ein-Punkt-Politik engagiert. Dies sind nicht mehr die überzeugten Kämpfer für eine neue sozialistische Welt wie in der traditionellen SPD. Vielmehr will man beteiligt sein, Spaß haben, Möglichkeiten für die Selbstveryirklichung finden oder schlicht und einfach Freundschaften schließen. Gerade auf der lokalen Ebene wird deutlich, daß die Sozialdemokratie keineswegs ausschließlich oder auch nur überwiegend auf Machterwerb und Machtausübung aus ist, wie es Max Weber für parteitypisch hielt. Die SPD ist auch eine soziale Organisation. Da gibt es Vereinsmeierei und eben viel Amateurhaftes, das Suchen nach Nestwärme, Heimat und Solidarität aber auch viel Leerlauf und Kompetenzwirrwarr. Es wird spontan improvisiert, aber auch zäh an einem Resolutionstext gearbeitet, der schließlich doch im Papierkorb landet. Daneben bestehen natürlich klare Kompetenzaufteilung, zielgerichtetes Handeln, Professionalität und Effizienz. Das Binnenleben der Partei verläuft widersprüchlich und unstimmig.

Gerade innerhalb der Ortsvereine findet man eine ausgesprochen introvertierte, fast autistische politische Praxis. Parteifunktionäre sind von der Lokal-politik völlig absorbiert, sie kümmern sich kaum um Bundes-oder Weltpolitik die lokale Basis und Bonn sind voneinander getrennt. Dennoch oder vielleicht gerade darum gibt es an der Basis immer wieder das Gefühl und den Eindruck von Entfremdung -offensichtlich hat das einfache Mitglied kaum Einfluß auf innerparteiliche Entscheidungen. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind seit Jahren von verschiedenen Seiten und Persönlichkeiten immer wieder Vorschläge angedeutet und vorgetragen worden, direktdemokratische Elemente in den innerparteilichen Willensbildungsprozeß einzufügen. So schlug die vom Parteivorstand eingesetzte und unter der Leitung des damaligen Vorsitzenden Björn Engholm stehende Projektgruppe „SPD 2000“ unter anderem vor, herausragende Experten oder Vertreter sozialer Gruppen als Repräsentanten der SPD für die kommunalen Räte und die Parlamente zu gewinnen, die nicht den Gang durch die Parteiinstitutionen hinter sich hätten. Es sollte die formale Möglichkeit des „Seiteneinstiegs“ dadurch geschaffen werden, daß der Parteivorstand der jeweiligen Ebene ein Vorschlagsrecht für mindestens zwei der ersten zehn aussichtsreichen Listenplätze erhielt. Ferner sollte die Möglichkeit geschaffen werden, Kandidatinnen und Kandidaten für Kommunalvertretungen, Landtage und den Bundestag per Urwahl zu bestimmen.

Insgesamt gesehen sollen Nichtmitglieder „stärker in die Parteiaktivitäten“ einbezogen werden und die Mitglieder bessere Chancen zur Mitarbeit und mehr Entscheidungsrechte bekommen. In diesem Zusammenhang ist auch an Urabstimmungen und Mitgliederbegehren gedacht worden Schon vor Jahren wurde angeregt, nach amerikanischem Vorbild Vorwahlen (Primaries) einzuführen, so von Helmut Schmidt bezeichnenderweise Anfang der siebziger Jahre, als er noch einfaches Mitglied des Kabinetts Brandt war, und in jüngster Zeit von Ulrich Klose und Peter Glotz. Eigenlich durfte es nicht überraschen, daß nach dem plötzlichen Rücktritt von Björn Engholm der neue Parteivorsitzende Rudolf Scharping im Juni 1993 faktisch in einer Urwahl der Mitglieder bestimmt worden ist. Nur ergab diese Entscheidung sich mehr aus der Ratlosigkeit von Parteipräsidium und Parteivorstand, sie war nicht Teil einer durchdachten Parteireform. Der innerparteiliche Mobilisierungseffekt war überraschend groß, wie die Wahlbeteiligung von 56 Prozent der Mitglieder zeigte. Doch ist die faktische Direktwahl des Parteivorsitzenden natürlich ein Präzedenzfall für weitere innerparteiliche Wahlen und Nominierungen.

Die möglichen Folgen eines solchen Verfahrens sind jedoch offenkundig nicht bedacht worden: Sie können zur innerparteilichen Etablierung von Wahlkampforganisationen einzelner Kandidaten und damit zur weiteren Fragmentierung und Segmentierung der SPD führen. Die Demokratische Partei der Vereinigten Staaten sollte hier als warnendes Beispiel dienen: Sie hatte nämlich in den siebziger Jahren in so vielen Staaten für die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten Vorwahlen eingeführt, daß die Parteiaktivisten und die Partei nicht mehr verantwortlich für den unter dem Parteietikett Nominierten waren. Nominierung und Wahl Jimmy Carters sind hierfür ein Beispiel. Natürlich kann der Vergleich zu den USA nicht mechanistisch vorgenommen werden. Nur hätten die Sozialdemokraten und die Repräsentanten anderer Parteien, die sich von der faktischen Urwahl Scharpings begeistern ließen, zu analysieren, welche gewünschten und nicht gewünschten Konsequenzen sich mit den Primaries verbinden. Auf jeden Fall fügt sich die Wahl Scharpings aber in unsere Argumentation und These, die Sozialdemokratie sei heute auf dem Weg zu dem, was als „lose verkoppelte Anarchie“ bezeichnet werden kann.

Innerparteilicher Pluralismus und Heterogenität sind durch Generationsunterschiede und -konflikte innerhalb der Partei und durch einen Generationswechsel verstärkt worden, der in den letzten 15 Jahren von der Basis bis zur Parteispitze stattgefunden hat. Die „ 68er“ -die Generation der Studentenbewegung und der Bürgerinitiativen, der Jungsozialisten und der außerparlamentarischen Opposition -sind heute an der Macht, in den Ortsvereinen ebenso wie auf der Bundesebene Dazu gehören die Scharpings, die Schröders, die Kloses, die Lafontaines, die Däubler-Gmelins und die Wieczorek-Zeuls. Dies ist die erste Generation, deren politische Sozialisation nicht im sozialdemokratischen Milieu und seinem traditionellen Organisationsnetzwerk stattgefunden hat, sondern in der akademischen Welt, im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) oder Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) und in studentischen Interessenvertretungen. Es ist eine Generation, die bestimmte traditionell sozialdemokratische Prinzipien nicht intemalisiert hat, etwa die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen SPD und Gewerkschaften (wer immer unter prominenten Sozialdemokraten die Aufmerksamkeit der Medien gewinnen will, attackiert heute die Gewerkschaften), den Primat der Sozialpolitik oder die Unumstößlichkeit der Menschen-und Bürgerrechte (wie die Debatte um das politische Asyl und den „großen Lauschangriff“ zeigt).

Dies ist auch die erste Generation, die nicht über eine typische sozialdemokratische Karriere aufgestiegen ist, vom Hauskassierer im Ortsverein, der Mitgliedsbeiträge einsammelt, über Kommunalpolitiker und Landespolitiker zum Mitglied des Bundestages. Übrigens gibt es die typische sozialdemokratische Ochsentour in der heutigen SPD überhaupt nicht mehr. Der Hauskassierer ist durch das Bankeinzugsverfahren ersetzt worden. Und daß man erst Plakate kleben müsse, bevor man Parteifunktionär wird, ist ein Mythos -Werbefirmen lassen für die SPD durch entsprechende Agenturen Plakate kleben. Viele aus der „Enkelgeneration“ haben unkonventionelle Karrierewege eingeschlagen, sie sind zuweilen Seiteneinsteiger gewesen. Im Vergleich zu ihren Vorgängern, den Brandts, Wehners und Erlers, leben die zeitgenössischen sozialdemokratischen Prominenten nicht nur für die Partei, sondern sie genießen bewußt das Leben, sie gehören zur soge-nannten Toskana-Generation. Sie sehen Politik als Beruf, nicht als Berufung oder Lebensstil an, sie sind nicht mehr die Missionare des demokratischen Sozialismus. Politik wird von ihnen professionell betrieben, ohne utopischen und romantischen Überschuß.

Dennoch sind die Parteifunktionäre dieser Generation politisch weit links vom durchschnittlichen Parteimitglied und sozialdemokratischen Wähler einzuordnen. Bezogen auf politisches Verhalten und politische Einstellungen gibt es einen großen Gegensatz zwischen den „ 68ern“ und potentiellen SPD-Wählern: Die APO-Generation ist einfach militanter und weiter links eingestellt, wie der Konflikt um die Wiedervereinigung zeigt, mit der Folge, daß die SPD in traditionellen Facharbeiter-städten größte Schwierigkeiten hat, Wahlen zu gewinnen. Mithin haben wir es nicht nur mit der organisatorischen Fragmentierung innerhalb der Partei zu tun, sondern da gibt es die Segmentierung zwischen Parteifunktionären, Mitgliedern und Wählern.

Die Parteifinanzierung gibt ein anderes Beispiel für die fragmentierte Struktur der Sozialdemokratie. Die Ortsvereine und Unterbezirke sind nicht nur finanziell unabhängig, sondern sie leben recht gut davon, daß sie einen Teil der Mitgliedsbeiträge erhalten sowie regelmäßig Beiträge von Mandatsinhabem und Spenden. Von den Mitgliedsbeiträgen gehen im Durchschnitt 15 Prozent an die Orts-vereine, 12 Prozent an die Unterbezirke, etwa 58 Prozent an die Bezirke (die davon alle hauptamtlichen Parteisekretäre und sonstigen Mitarbeiter in ihrer Region bezahlen) und nur 15 Prozent an die Bundespartei. Von den 1991 insgesamt 23 Mio. DM Spenden waren 12 Mio. DM von den Ortsvereinen, 7 Mio. DM von den Unterbezirken, 3 Mio. DM von den Bezirken und nur 1 Mio. DM von der Bundespartei eingeworben worden. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, daß Ortsvereine und Unterbezirke Guthaben von mehreren Tausend DM haben

Die Landesparteien hingegen und vor allem die Bundespartei benötigen zusätzliche Mittel, häufig sind sie verschuldet bzw. sogar überschuldet, aber sie kommen an die auf der lokalen Ebene ungenutzten Gelder nicht heran. Die Landesparteien und die Bundespartei finanzieren ihre Organisationen (einschließlich der Fraktionen) und die Wahlkämpfe nur zu einem geringen Teil aus Mitgliedsbeiträgen, hauptsächlich aber durch staatliche Mittel, durch einige große Privatspenden und durch Kredite. Um den Punkt, um den es hier geht, durch Übertreibung deutlich zu machen: Die Bundespartei und die Landesparteien leben nicht von den Mitgliedsbeiträgen, sie finanzieren sich überwiegend aus öffentlichen Mitteln -sie können finanziell fast ohne Parteimitglieder auskommen.

IV. Programmatische Vielfalt

Es paßt in das Bild der modernen Sozialdemokratie als einer „lose verkoppelten Anarchie“, daß die programmatischen Positionen der Partei so vielfältig und fragmentiert sind wie die Parteiorganisation selbst: Unter den Parteimitgliedern und Parteiführern findet man weit auseinandergehende Meinungen bei fast allen politischen Streitfragen. Bestimmte Konfliktpunkte spalten die Partei immer mehr, auch nach außen spricht die SPD mit vielen Zungen

Als Beispiel kann die äußerst ambivalente Einstellung der Sozialdemokratie gegenüber der Wiedervereinigung angeführt werden 2109. Geht man von Meinungsumfragen und von den Stimmungen aus, die in den Mitgliederversammlungen der Ortsvereine zu spüren waren, dann war die Basis überwiegend und eindeutig für eine schnelle Wiedervereinigung. Da ist auch die Bereitschaft spürbar gewesen, einen hohen Preis für die Wiedervereinigung zu zahlen, höhere Steuern zu akzeptieren und sogar eine Minderung des eigenen Lebensstandards hinzunehmen. Zur gleichen Zeit war jedoch die Mehrheit der Parteiaktivisten gegen die schnelle Wiedervereinigung und sprach sich für einen langsamen Wiedervereinigungsprozeß aus, der über eine Konföderation führen sollte. Als im Herbst 1989 auf dem Berliner Parteitag der SPD Willy Brandt seine enthusiastische Rede über die Wiedervereinigung hielt („Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört!“), erhielt er nicht die Zustimmung und den Beifall von der Mehrheit der Delegierten -diese schwieg vielmehr. Auch die Parteiführung war in der Wiedervereinigungsfrage gespalten. Brandt, Bahr und andere repräsentierten die Stimmung an der Basis, Lafontaine hingegen die der Mehrheit der Parteifunktionäre.

Die politische Spaltung in der Partei war zugleich Ausdruck für Generationsdifferenzen. Parteimitglieder und -funktionäre bis ca. 35 Jahre interessierten sich kaum für die Wiedervereinigungsfrage. Sie war für sie bestenfalls eines unter mehreren aktuellen Problemen. Parteifunktionäre im Alter von ca. 40 Jahren, politisch in der Studentenbewegung und außerparlamentarischen Opposition sozialisiert, waren skeptisch gegenüber der Wiedervereinigung. Sozialdemokraten hingegen, die älter als 50 Jahre alt waren, die die sozialdemokratische Wiedervereinigungspolitik der fünfziger Jahre miterlebt hatten, sahen in Willy Brandt, einige sogar in Helmut Kohl, ihren politischen Helden. Zugleich wurden in dieser Frage regionale Unterschiede deutlich: Diejenigen, die in der Nähe der DDR lebten, unterstützten den Vereinigungsprozeß. Unter ihnen gab es bekannte Politiker wie Walter Momper, zu jener Zeit Regierender Bürgermeister von Berlin, die aufgrund ihrer Sozialisation skeptisch gegenüber der Vereinigung waren, aber immer mehr unter den Druck der eigenen Basis gerieten und sich deutlich für einen schnellen Vereinigungsprozeß aussprachen. Diejenigen, die in südlichen und westlichen Regionen des Bundesgebietes lebten, blickten nach Westen, nach Paris und Brüssel, nicht nach Osten, nicht nach Leipzig oder Berlin, sie favorisierten häufig eine Konföderation beider deutscher Staaten.

Oskar Lafontaine versucht noch heute zu erklären, daß er immer für die Wiedervereinigung gewesen sei. Im Bundestagswahlkampf 1990 sprach er allerdings fast ausschließlich über die extrem hohen Kosten und sozialen Folgen des Vereinigungsprozesses, so daß man den Eindruck gewinnen mußte, er sei ein Gegner der Wiedervereinigung. Der Kanzlerkandidat und Teile der SPD haben daher die Wahlniederlage vom Dezember 1990 nicht unverdient hinnehmen müssen.

Die zögerliche und widersprüchliche Haltung der SPD während des Vereinigungsprozesses gehört zu den negativen Erbschaften, mit denen es die Partei in Ostdeutschland heute zu tun hat. Zur gleichen Zeit hat sie bei einigen Wählern in Westdeutschland an Popularität gewonnen, weil sie die ökonomischen Probleme, mit denen man es heute zu tun hat, vorhersagte. Ähnliche programmatische Friktionen innerhalb der Partei könnten an anderen politischen Konfliktfragen illustriert werden. Zusätzlich wird die Situation der Sozialdemokratie dadurch erschwert, daß einige Punkte, bei denen innerhalb der Partei Konsens besteht, von der amtierenden Bundesregierung und den sie tragenden Koalitionsparteien übernommen worden sind (z. B. Abrüstung und Waffenreduktion oder die finanzielle Unterstützung Osteuropas), so daß die integrierende und nach außen abgrenzende Funktion dieses Konsenses für die SPD verlorengegangen ist.

Ideologisch dient das Godesberger Programm von 1959 nicht länger der Integration der Parteimitglieder oder der potentiellen sozialdemokratischen Wähler. Und das Berliner Programm (von 1990) hat bisher keinen Ersatz geboten. Zwischen der Alternative hin und her gerissen, sich auf die fundamentalen Prinzipien des demokratischen Sozialismus zu beschränken oder die Vielfalt der brennenden Probleme anzusprechen, haben die verschiedenen Kommissionen, die an diesem Programm gearbeitet haben, sich für eine Art Warenhauskatalog entschieden, der einen Umfang von mehr als 60 Seiten hat. Wie man erwarten konnte, gab es in diesem Programm viele Widersprüche. Einige Abschnitte, von Willy Brandt oder Peter von Oertzen geschrieben, enthalten reformistische Interpretationen der Geschichte und Gesellschaft. Andere Paragraphen hingegen, von Erhard Eppler und Thomas Meyer verfaßt, riechen nach dem Weihrauch des ethischen Sozialismus. Demokratischer Sozialismus als Ziel wird aufrechterhalten, aber wie man dorthin gelangt, nicht erklärt. Der Stil, in dem das Programm abgefaßt ist, ähnelt einer eigenartigen Mischung zwischen der Rede eines Baptistenpredigers, dem Jargon eines Sozialwissenschaftlers und dem Bericht eines Ministerialbürokraten.

Das Berliner Programm hat immerhin einige Bedeutung für die innerparteiliche Integration gehabt, insbesondere die Kapitel über die ökologische Umstrukturierung der Wirtschaft, über die Dritte Welt und über die Abrüstung. Diese waren attraktiv für Sympathisanten der neuen sozialen Bewegungen. Nach außen hat das Programm bislang allerdings keinerlei Wirkung gezeigt. Für die nächsten Bundestagswahlen wird versucht werden ein entsprechendes Wahlprogramm zu formulieren, mit dessen Hilfe die SPD sich als eine Organisation präsentieren will, die zum Träger der Modernisierung wird.

Zusammenfassend läßt sich feststellen: Damit die Spaltungen und Widersprüche zwischen verschiedenen Wählergruppen überbrückt werden können, ist das programmatische Profil der SPD immer unschärfer geworden. Die Partei spricht nach innen und nach außen mit vielen Zungen, sie ist darauf bedacht, potentielle Wähler nicht abzustoßen, eindeutige Positionen werden von ihr häufig nicht eingenommen.

V. Was hält die SPD zusammen?

Was hält nun die Sozialdemokratie gegen 'alle Tendenzen der Fragmentierung und der Segmentierung, die typisch für die „lose verkoppelte Anarchie“ sind, zusammen? Vier Faktoren können genannt werden: 1. Kampf um Macht, oder präziser formuliert: Teilnahme an Wahlen und an Regierungen in dem Versuch, soviel Patronage wie möglich auf der lokalen, der Länder-und der Bundesebene zu erlangen. In einigen Städten und Bezirken vonGroßstädten wie Hamburg und Berlin gibt es sozialdemokratische Parteimaschinen, die durchaus den alten Stadtmaschinen ähneln, die wir aus der amerikanischen Geschichte kennen. Die Bedeutung von Patronage für den Zusammenhang einer Partei, auch der Sozialdemokratie, sollte nicht unterschätzt werden.

2. Symbole, z. B.der symbolische Gebrauch des Parteiprogramms, etwa die Benutzung des Godesberger Programms als eines Signals für Innovation und Modernisierung; oder der symbolische Gebrauch der Parteigeschichte; oder der symbolische Gebrauch der roten Fahne, was allerdings in Ostdeutschland abstoßend wirkt.

3. Charismatische Parteiführer wie Brandt und Schmidt, die in der Lage waren, die Partei zu integrieren. Die neue Generation Parteiführer, die Scharpings, Lafontaines, Kloses und Schröders, sind noch nicht in einer Situation, in der sie mit ihrer Ausstrahlung die Partei Zusammenhalten könnten. Sie sind vielmehr durch innerparteiliche Koalitionsbildung absorbiert, sie stellen sich angesichts der Strukturprobleme mehr als Taktiker, nicht als Strategen dar, wie dies Brandt früher tat. Der Prozeß der Auswahl von Parteiführern hängt häufig vom Zufall ab. Die Wahl von Hans Ulrich Klose zum Vorsitzenden der Bundestagsfraktion ist dafür ein Beispiel.

4. Doch es sind auch inhaltlich-programmatische Aspekte, die die SPD Zusammenhalten. So sehr wir unsere Argumentation auf die programmatische Widersprüchlichkeit, die gleichsam Ausdruck der'lose verkoppelten Anarchie ist, zugespitzt haben, so gilt doch, daß die Sozialdemokratie ein -im einzelnen durchaus diffuses -inhaltliches Profil hat, das sie als Partei links der Mitte ausweist und sie (trotz mancher Überschneidungen) von der konkurrierenden konservativen Volkspartei abgrenzt. Zu diesem inhaltlichen Profil gehören a) die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit in Deutschland und in der Welt, konkret: Hervorhebung von Sozialpolitik im Innern und Förderung der Dritten Welt im internationalen System sowie b) trotz gewisser aktueller Einschränkungen die Betonung der Grundrechte und damit verbunden -vor allem im Vergleich zu anderen etablierten Parteien -das Festhalten an den Prinzipien parlamentarischer Demokratie. Dies macht die Partei durchaus attraktiv für neue Mitglieder und hält traditionsgeleitete Mitglieder (trotz aktuell immer wieder aufschäumender Unzufriedenheit) bei der Stange. Dies gelingt insbesondere dann, wenn bei Wahlen ein Konfliktgegenstand gefunden wird, der in den Mittelpunkt des Wahlkampfes gerückt werden kann, der inhaltliche Identifikation mit der Partei stiftet und zugleich die Abgrenzung zur CDU ermöglicht. Dies war bekanntlich 1972 mit der Ostpolitik der Fall.

VI. Strukturproblem

Die SPD im Jahr 1993: Eine Partei, segmentiert und fragmentiert, absorbiert durch Kommunalpolitik und innerparteiliche Konflikte, eine autistische Partei, eine Partei der ständigen Auseinandersetzung um alle relevanten politischen Fragen, mit nur geringem programmatischem Konsens, eine „lose verkoppelte Anarchie“, eine Partei ohne Zukunft?

Kein Zweifel, das Bild, das skizziert wurde, erscheint recht negativ, enthält viele Grautöne, es fehlen optimistisches Rot oder Rosa. Bewußt wurden einige der Phänomene, die in der zeitgenössischen SPD vorhanden sind, überzeichnet. Uns kam es aber darauf an, deutlich zu machen, daß die zeitgenössische SPD es mit einem Strukturproblem zu tun hat und nicht mit den eher marginalen Fragen der Qualität der einzelnen Parteiführer oder denen der richtigen oder falschen Positionen, die die Partei in bestimmten Politikfeldern einnimmt.

Und es sei wiederholt: Was für die SPD gesagt und analysiert wurde, gilt im Prinzip auch für die CDU trifft vielleicht auf Großparteien in anderen europäischen und nordamerikanischen Ländern zu. Auch in unseren Volksparteien ist die neue Unübersichtlichkeit ausgebrochen. Um ein anderes Bild zu benutzen: SPD und CDU ähneln bunten Flickenteppichen aus höchst verschiedenfarbigen, verschiedenstofflichen, verschieden großen und verschieden geschnittenen Teilen. Diese Stücke sind lose miteinander verknüpft, an einigen Stellen enger, an anderen sehr lose. Dennoch unterscheidet sich der Flickenteppich SPD in Farbe, Machart und Konturen von dem der CDU. Innerparteilich ist bei beiden Großparteien eine Koalitionsbildung notwendig. Wer sich inhaltlich oder personell durchsetzen will, muß sich ad hoc oder auf mittlere Zeit mit anderen Akteuren, mit anderen Organisationsteilen verbinden. Natürlich trägt diese neue Unübersichtlichkeit zur Parteiverdrossenheit bei Der Wahlbürger weiß oft nicht so recht, wo er bei den Großparteien eigentlich dran ist -da gibt es eben tatsächlich viel Widersprüchliches, Ungereimtheiten und Enttäuschungen. Dennoch sollte der jetzige Zustand unserer Volksparteien nicht dramatisiert werden, in diesem drückt sich nämlich auch so etwas wie Normalisierung in dem Sinn aus, daß die Parteien sich an die gesellschaftliche Entwicklung, an die fortschreitende Differenzierung und zunehmende Komplexität der Gesellschaft angepaßt haben und daß sie den Regeln der parlamentarischen Demokratie folgen, nämlich Kompromisse schließen, auf der Suche nach Konsens sind und Koalitionen schmieden.

Für die SPD kommt hinzu, daß sie im Vergleich zu ihrem Hauptkonkurrenten, der CDU/CSU, das, was wir als lose verkoppelte Anarchie gekennzeichnet haben, durchaus zu ihrem Vorteil zu nutzen vermag. Bezogen auf die soziale Zusammensetzung ihrer Mitglieder und ihrer Wähler ist die Sozialdemokratie viel heterogener als die konservativen Parteien -in dieser Beziehung ist sie die modernere Organisation. Gerade weil die Partei in vielen aktuellen Fragen zerstritten und weil ihre Organisation fragmentiert ist, hat die SPD gelernt, innerparteilich, aber auch unter den Wählern Koalitionen zu bilden, nämlich den Spagat zwischen divergierenden Gruppen und Interessen zu vollziehen. Offensichtlich ist es so, daß verschiedene Interessengruppen und Politiker, die höchst unterschiedliche politische Positionen einnehmen, sehr verschiedene Segmente in der Wählerschaft erfolgreich anzusprechen vermögen. Es ist diese Art der Arbeitsteilung in Wahlkämpfen, die Wähler daran hindern könnte, zu den kleinen Parteien auf der Rechten oder Linken abzuwandern oder Wahlenthaltung zu praktizieren.

Will die SPD künftig auch nur annähernd so erfolgreich sein wie 1972, muß es ihr gelingen, ihre autistischen Tendenzen zu überwinden, die Fragmentierung wenigstens teilweise aufzuheben, die für „lose verkoppelte Anarchie“ so typisch ist. Um auf der Bundesebene wieder an die Macht zu kommen, wäre die Parteiorganisation so zu reorganisieren, daß sie als Instrument brauchbar ist, um nationale Wahlkämpfe zu führen.

Programmatisch hätte die Partei jenen Konfliktgegenstand zu finden, der nach innen zu integrieren und Konsens zu stiften vermag und nach außen auf Wähler anziehend wirkt. Angesichts der momentanen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, der Rezession, der Strukturkrise im Osten und der sozialen Folgen der Wiedervereinigung, dürfte für die Wahlkampfstrategie 1994 die Forderung nach Modernisierung mit der nach sozialer Gerechtigkeit verbunden werden. Ferner läge es in der Folgerichtigkeit parlamentarischer Demokratie, wenn die Ämter des Parteivorsitzenden, des Kanzler-kandidaten und des Vorsitzenden der Bundestagsfraktion in einer Person verbunden würden, also ein Weg eingeschlagen würde, den die CDU erfolgreich aus der Opposition gegangen ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zum Forschungsstand über die SPD vgl. Siegfried Heimann, Die Sozialdemokratie: Forschungsstand und offene Fragen, in: Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Stand und Perspektiven der Parteiforschung in Deutschland, Opladen 1993, S. 147-186. Im vorliegenden Beitrag werden Thesen weiterentwickelt, die formuliert worden sind in Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD. Klassenpartei -Volkspartei -Quotenpartei, Darmstadt 1992.

  2. Zum Organisationsnetzwerk der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik vgl. die vier Bände der vom Autor herausgegebenen Reihe „Solidargemeinschaft und Milieu: Sozialistische Kultur-und Freizeitorganisationen in der Weimarer Republik“: Franz Walter, Sozialistische Akademiker-und Intellektuellenorganisation in der Weimarer Republik, Bonn 1990; ders. /Viola Denecke/Cornelia Regin, Sozialistische Gesundheits-und Lebensreformverbände, Bonn 1991; Dietmar Klenke/Peter Lilje/Franz Walter, Arbeitersänger und Volksbühnen in der Weimarer Republik, Bonn 1992; Siegfried Heimann/Franz Walter, Religiöse Sozialisten und Freidenker in der Weimarer Republik, Bonn 1993.

  3. Für Michels war die SPD eine KampfOrganisation, eine Monster-Maschine, die mit der preußischen Heeresorganisation verglichen werden könne, in der Disziplin und Unterordnung herrschten und in der die Sprache der Militärwissenschaft gesprochen werde, an deren Spitze mächtige Führer stünden, Fanatiker des Organisationsgedankens; das Gesetz des demokratischen Zentralismus herrsche: „Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie“, und „Mit zunehmender Organisation ist die Demokratie im Schwinden begriffen“. Vgl. Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Stuttgart 1925", S. 25, 38, 40, 174, 261, 264; Zitate S. 25f.

  4. Zum Begriff der Solidargemeinschaft vgl. Peter Lösche/Michael Scholing, Solidargemeinschaft im Widerstand. Eine Fallstudie über „Blick in die Zeit“, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 19 (1983), S. 517-561; Peter Lösche/Franz Walter, Zur Organisationskultur der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, in: Geschichte und Gesellschaft, 15 (1989), S. 511-536.

  5. Dieser aus der amerikanischen Organisationssoziologie übernommene Begriff ist für die deutsche Forschung erstmals von der unter Leitung von Heino Kaack und Reinhold Roth stehenden „Forschungsgruppe Parteiendemokratie“ benutzt worden. Vgl. Reinhold Roth/Elmar Wiesendahl, Strukturbesonderheiten politischer Parteien. Zur politischen Soziologie der Organisationswirklichkeit von Parteien, Bremen 1985 (Forschungsgruppe Parteiendemokratie, Analysen und Berichte 13); dies., Das Handlungs-und Orientierungssystem politischer Parteien. Eine empirische Fallstudie, Bremen 1986 (Forschungsgruppe Parteiendemokratie, Analysen und Berichte 17). Siehe auch Elmar Wiesendahl, Zu einigen vernachlässigten Aspekten der Organisationswirklichkeit politischer Parteien, in: Jürgen W. Falter u. a. (Hrsg ), Politische Willensbildung und Interessenvermittlung, Opladen 1984, S. 78ff.

  6. Daß der Parteivorstand die Partei beherrsche, war die Kritik der Linken in der Weimarer Republik, vgl. Fritz Bieligk u. a., Die Organisation im Klassenkampf. Die Probleme der politischen Organisation im Klassenkampf, Berlin-Britz 1931. Gegen diese These hatte bereits vor Erscheinen dieses Buches mit Hinweis auf das Potential an innerparteilicher Demokratie, das die ehrenamtlichen Funktionäre darstellten, Alexander Schifrin argumentiert: Parteiapparat und Parteidemokratie, in: Die Gesellschaft, 7 (1930), S. 505-528.

  7. Es liegt auf der Hand, daß in der Beschreibung der SPD als „lose verkoppelte Anarchie“ Überlegungen aufgenommen worden sind, die Otto Kirchheimer in seiner Kategorie von der Catch-All Party entwickelt hat; vgl. Otto Kirchheimer, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift (PVS), 6 (1965), S. 24-41. Allerdings wird von uns stärker als bei Kirchheimer der Akzent auf organisatorische Fragmentierungen und programmatische Widersprüchlichkeit innerhalb der Volkspartei SPD gelegt.

  8. Zum anarchistischen Organisationsverständnis vgl. Peter Lösche, Anarchismus, Darmstadt 19872, S. 17f., 146ff.

  9. Zur ostdeutschen Sozialdemokratie vgl. Dieter Dowe (Hrsg.), Von der Bürgerbewegung zur Partei. Die Gründung der Sozialdemokratie in der DDR (Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Gesprächskreis Geschichte, Heft 3), Bonn 1993.

  10. Zur Organisationsschwäche der ostdeutschen SPD und zur Erosion der dortigen Wählerhochburgen vgl. Franz Walter/Tobis Dürr/Klaus Schmidtke, Die SPD in Sachsen und Thüringen zwischen Hochburg und Diaspora. Untersuchungen auf lokaler Ebene vom Kaiserreich zur Gegenwart, Bonn 1993; Franz Walter, Sachsen -ein Stammland der Sozialdemokratie?, in: PVS, 32 (1991), S. 207-231; ders., Das „rote Mitteldeutschland“. Mythos und historische Realität, in: Perspektiven ds (Perspektiven des Demokratischen Sozialismus), 8 (1991), S. 228-236.

  11. Die Daten stammen aus dem SPD-Parteivorstand.

  12. Vgl.den Abschnitt „Neue Formen der Zielgruppen-arbeit“, in: Karlheinz Blessing (Hrsg.), SPD 2000. Die Modernisierung der SPD, Marburg 1993, S. 133-191.

  13. Zur aktuellen Organisationsdebatte in der SPD vgl. K. Blessing, ebd., S. 9ff.; Peter von Oertzen/Susi Möbbeck, Vorwärts, rückwärts, seitwärts... Das Lesebuch zur SPD-Organisationsreform, Köln 1991; Thema: SPD 2000, in: Arbeitshefte zur sozialistischen Theorie und Praxis. Zeitschrift der Juso-Hochschulgruppen, Heft 90, Dezember 1991; Malte Ristau/Klaus-Jürgen Scherer, Modernisierung der Volksparteien, in: Perspektiven ds, 9 (1992), S. 92-100.

  14. Vgl. Michael Th. Greven, Parteimitglieder. Ein empirischer Essay, Opladen 1987, S. 56ff.

  15. Diese Tendenz ist bereits deutlich geworden in der Anfang der achtziger Jahre durchgeführten Studie über die nordrhein-westfälische SPD; vgl. Horst Becker u. a., Die SPD von innen. Bestandsaufnahme an der Basis der Partei, Bonn 1983, S. 78ff.

  16. Vgl. Informationsdienst der SPD INTERN, Nr. 5 vom 26. 3. 1993.

  17. Dieser Generationswechsel, der mit einer Akademisierung der mittleren Funktionärsschicht einherging, zeigt sich besonders deutlich an den Delegierten zu den Bundespartei-tagen; vgl. Hermann Schmitt, Von den Siebzigern in die achtziger Jahre: Die mittlere Parteielite der SPD im Wandel, Mannheim o. J. (Manuskript).

  18. Zu den hier genannten Daten vgl. Inge Wettig-Danielmeier, Die Wege der Beitragsgroschen, in: Vorwärts, Nr. 8, August 1993, S. 30.

  19. Zur programmatischen Vielfalt vgl. Johano Strasser, Anmerkungen zum programmatischen Erscheinungsbild der SPD, in: Perspektiven ds, 9 (1992), S. 111-121; Peter Grafe, Tradition und Konfusion -SPD, Frankfurt a. M. 1991.

  20. Vgl. zu diesem Problem Peter Lösche, Kleine Geschichte der deutschen Parteien, Stuttgart 1993, S. 184-189. Die fragmentiert-föderalistische Struktur der CDU hat herausgearbeitet Josef Schmid, Die CDU. Organisationsstrukturen, Politiken und Funktionsweisen einer Partei im Föderalismus, Opladen 1990.

  21. Die Literatur über Parteiverdrossenheit droht auszuufem. Daher nur der Hinweis auf einige wenige neuere Publikationen: Elmar Wiesendahl, Volksparteien im Abstieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 34-35/92; Hans Herbert von Arnim, Ist die Kritik an den politischen Parteien berechtigt?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 11/93; Hans Rattinger, Abkehr von den Parteien? Dimensionen der Parteiverdrossenheit;, in: ebd.; Jürgen W. Falter/Siegfried Schumann, Nichtwahl und Protestwahl: Zwei Seiten einer Medaille, in: ebd.; Klaus von Beyme, Der Parteienstaat und die Vertrauenskrise in der Politik, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Politik ohne Projekt? Nachdenken über Deutschland, Frankfurt a. M. 1993, S. 23-42, der sich wohltuend vom allgemeinen Lamentieren über Parteiverdrossenheit unterscheidet.

Weitere Inhalte

Peter Lösche, Dr. phil., geb. 1939; Professor am Seminar für Politikwissenschaft und am Zentrum für Europa-und Nordamerikastudien der Universität Göttingen. Veröffentlichungen: Kleine Geschichte der deutschen Parteien, Stuttgart 1993; (zus. mit Franz Walter) Die SPD. Klassenpartei -Volkspartei -Quotenpartei, Darmstadt 1992; Amerika in Perspektive. Politik und Gesellschaft der Vereinigten Staaten, Darmstadt 1989; zahlreiche Bücher, Aufsätze, Buch-und Handbuchbeiträge über Parteien und Verbände, Partei-und Wahlkampffinanzierung, Politik und Gesellschaft der Vereinigten Staaten.