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Frankreichs Parteiensystem nach den Parlamentswahlen | APuZ 32/1993 | bpb.de

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APuZ 32/1993 Französische Wirtschaftspolitik in den neunziger Jahren Veränderte Rahmenbedingungen und neue Handlungsansätze Frankreichs Parteiensystem nach den Parlamentswahlen Dezentralisierung in Frankreich: Bilanz und Perspektiven Frankreich und die Dritte Welt Mitterrands Europapolitik oder der lange Abschied vom Gaullismus

Frankreichs Parteiensystem nach den Parlamentswahlen

Vincent Hoffmann-Martinot

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das politische System Frankreichs befindet sich zur Zeit -ähnlich wie in den meisten anderen westlichen Ländern -in einem tiefgreifenden Wandel seiner traditionellen Strukturen. Zu den Hauptmerkmalen dieser Veränderung zählen der zunehmende Abstand zwischen den traditionellen politischen Parteien und den Bürgern (die sich immer weniger in sogenannten konventionellen Formen der politischen Betätigung engagieren), der Legitimitätsverlust der großen Parteien (insbesondere der Linksparteien seit den Regional-und Kantonalwahlen von 1992 und den Parlamentswahlen vom März 1993) sowie schließlich das Auftreten neuer Akteure: der extrem rechten Front National, der Ökologen, die heute von den Verts und G^n^ration Geologie vertreten werden, sowie neuer politischer Einzelakteure, die auf ihre Unabhängigkeit von den Parteiorganisationen pochen.

I. Die wachsende Distanz zwischen Bürgern und politischen Parteien

Tabelle: Wahlen zur Nationalversammlung 1988 und 1993 (1. Wahlgang) Quellen: Le Monde vom 8. Juni 1988; Le Monde, Elections legislatives de mars 1993, Dossiers et documents, April 1993,

Die Wahlen in Frankreich vom 21. und 28. März 1993 haben eine tiefgreifende Veränderung des französischen Parteiensystems bestätigt, die übrigens auch in zahlreichen anderen westlichen politischen Systemen zu beobachten ist. Dieser Wandel äußert sich hauptsächlich in der zunehmenden Distanz zwischen Bürgern und Parteien, dem Legitimitätsschwund der traditionellen Formierungen und dem Auftreten neuer politischer Kräfte.

Seit Ende der achtziger Jahre verzeichnet Frankreich einen Rückgang der konventionellen Formen politischen Engagements und insbesondere der Wahlbeteiligung sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene. Die institutioneilen Dezentralisierungsreformen scheinen das lokalpolitische Engagement der Bürger nicht spürbar gesteigert zu haben. Paradoxerweise scheint das Interesse der Bürger an den lokalen Angelegenheiten trotz des ständig wachsenden Einflusses der Lokalpolitik auf ihr Alltagsleben (Steuerpolitik, Wirtschaft, Erziehung, Umwelt usw.) allmählich nachzulassen, wenn man die Wahlbeteiligung als Kriterium zugrundelegt.

Die Auswirkungen dieser übergreifenden soziopolitischen Entwicklungen auf das Wahlverhalten sind jedoch nicht gleichmäßig auf das französische Staatsgebiet verteilt. Jeder Ort ist durch eine spezifische Sozialstruktur und eine spezifische politische Konfiguration gekennzeichnet, die ihm eine eigene Dynamik verleihen. Die Analyse der jüngsten Kommunalwahlen in allen Städten des französischen Mutterlandes mit über 20000 Einwohnern 1 zeigt, daß bestimmte unabhängige Variablen die Wahlbeteiligung direkt beeinflussen. Die Städte mit der größten Wahlmüdigkeit weisen folgende Merkmale auf: * -eine dezentrierte, instabile Bevölkerungsstruktur; -einen schwachen Anteil aktiver Interessengruppen wie z. B. die örtliche Geschäftswelt oder die Grundeigentümer; -eine Konzentration von Franzosen ausländischer Abstammung, die in der Regel kaum in die Gesamtgesellschaft integriert sind; -eine „weiche“ Struktur des politischen Wettbewerbs, ohne große Wahlmöglichkeiten und deutliche ideologische Alternativen; -die Zugehörigkeit zu einer Region, die durch eine wenig partizipative politische Geschichte und Kultur gekennzeichnet ist.

Wenn sich eine wachsende Anzahl von Wählern nicht mehr zu den Urnen begibt, dann nicht deshalb, weil sie sich weniger für Politik interessieren -ganz im Gegenteil. In Wirklichkeit tendieren die meisten von ihnen dazu, sehr viel komplizierter zu sein, d. h. gleichzeitig unabhängiger von den Wahlempfehlungen der Parteien sowie wählerischer und anspruchsvoller in der Auswahl der ihnen vorgeschlagenen Möglichkeiten und Programme (zunehmende Betreuung spezifischer Themen zuungunsten von Parteientreue und ideologischer Zugehörigkeit).

Dieser grundlegende Wandel erklärt den Rückgang traditioneller Formen der politischen Beteiligung wie Teilnahme an Wahlen oder Engagement in Parteien zugunsten sehr unterschiedlicher, individualisierter Formen politischer Aktivität wie Vereinstätigkeit, Bürgerinitiativen zur Verteidigung bestimmter lokaler Interessen und direkte Kontaktpflege zu den Abgeordneten und Beamten. In der Tat haben wir es mit einer tiefgreifenden Veränderung der politischen Einstellungen und Verhaltensweisen der Bürger zu tun. Dies betrifft insbesondere die Mitglieder der neuen Mittelschicht, die in den Randkommunen der Ballungsräume leben und sich sehr viel stärker für spezifische Themen einsetzen als für große ideologische Programme. Eine solche Entwicklung ist im übrigen auch in anderen westlichen Ländern wie der Bundesrepublik der Schweiz oder den USA zu verzeichnen.

Die Abschwächung der traditionellen Bindungen an eine soziale Schicht oder eine Partei kommt ganz besonders im Stimmensplitting zum Ausdruck. Mit der gleichzeitigen Durchführung der Kantonal-und Regionalwahlen 1992 wollte die damalige Regierung der Wahlmüdigkeit, die man auf die seit den siebziger Jahren zu verzeichnende große Anzahl von Wahlgängen (Einführung der Europawahlen 1979 und der Regionalwahlen 1986) zurückführte, Einhalt gebieten. Diese Doppelwahl hat die Zunahme des Wahlnomadentums bestätigt, d. h. die Tendenz des Wählers, seine Stimme je nach Wahltyp einer anderen Partei zu geben. Nach den Schätzungen von Annie Laurent und Christian-Marie Wallon-Leducq betraf dieses Phänomen der Wahlmobilität bzw. Unbeständigkeit immerhin 38 Prozent der Wähler. 1. Stellung des Abgeordneten Die Zurückhaltung, ja sogar das Mißtrauen gegenüber den traditionellen Ideologien und Parteien ist ebenfalls während des Wahlkampfs der letzten Parlamentswahlen deutlich geworden. Verschiedenen Umfragen zufolge standen die meisten Wähler der politischen Klasse skeptisch gegenüber. Ohne damit einen prinzipiellen Antiparlamentarismus auszudrücken, haben sie explizit oder implizit die existierenden Grenzen der Handlungsfähigkeit ihrer Abgeordneten in der Nationalversammlung kritisiert. Natürlich trägt in erster Linie das wirtschaftliche Klima zu einer allgemeinen Desillusionierung nicht nur auf sozialer, sondern auch auf politischer Ebene bei. In diesem Jahr ist zum ersten Mal seit 1975 ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts zu verzeichnen; die Beschäftigungslage wird mehr und mehr zum Hauptproblem, ohne wirkliche Aussichten auf Besserung. Was werden die neuen Abgeordneten dagegen ausrichten können?

Auch die verschiedenen politischen Skandale sowie die sich verschärfende Krise der traditionellen politischen Parteien haben kaum dazu beigetragen, das Bild des Abgeordneten zu verbessern. Nur eine Minderheit der Bevölkerung „hat Vertrauen“ zu ihm. Diese vage Formulierung wird von den Meinungsforschungsinstituten benutzt, um Qualität und Intensität der Beziehungen des Bürgers zu den öffentlichen Institutionen und den Politikern zu messen. Im Vergleich zu älteren Umfragen hat sich das durchschnittliche Meinungsbild vom Abgeordneten nicht verschlechtert, aber auch nicht verbessert. Darin unterscheidet es sich deutlich vom Bild des Bürgermeisters, der seit Jahren aus den Meinungsumfragen als der populärste Mandatsträger der Republik hervorgeht.

Den Umfragen zufolge verfügt der Abgeordnete der Nationalversammlung über einen geringeren Vertrauensvorschuß als der kommunale Mandats-träger. Sollte die Dezentralisierung über den französischen Jakobinismus gesiegt haben? Die Frage stellt sich nicht in dieser Form. Die Gesamtheit der Franzosen ist nach wie vor der parlamentarischen Demokratie verbunden: Die meisten von ihnen gehen deshalb zu den Wahlurnen, weil sie an die Wirksamkeit des politischen Wandels glauben, selbst wenn dieser in seinen direkten Auswirkungen auf das Alltagsleben begrenzt sein sollte. Dieser Parlamentarismus äußert sich durch die mehrheitliche Zustimmung zu den vom Vedel-Ausschuß vorgeschlagenen Verfassungsänderungen Denn die Bürger wünschen sich von ihrem Abgeordneten, daß er stärker und effizienter sei. In dieser Grundsatzfrage sind sie die besten Verbündeten ihrer Abgeordneten in der Nationalversammlung, die seit Jahren eine Ausweitung ihrer -in ihren Augen völlig unzureichenden -Macht fordern, um eine wirkliche Kontrolle über die Regierungspolitik ausüben zu können.

Aber was die Menschen in erster Linie von ihren Repräsentanten im Parlament erwarten, ist größere Bürgernähe: Der Abgeordnete soll näher bei seiner Region, den konkreten Problemen, den lokalen Angelegenheiten sein. Die klassische Definition der Abgeordnetenfunktion, wie sie Carre de Malberg verstand, erscheint mehr denn je überholt: „Der Abgeordnete vertritt weder Wähler noch Bürger als solche, noch irgendeine Summe von Individuen ut singuli, sondern die Nation als einheitliches Ganzes, verstanden in ihrer globalen Uni-versalität und folglich zu unterscheiden von den individuellen Einheiten und den Teilgruppen, die dieses nationale Ganze beinhaltet.“

Heute jedoch meint nur ein Drittel der Befragten, daß die Hauptaufgabe der Abgeordneten darin bestehe, über Gesetze abzustimmen, wohingegen zwei Drittel von ihnen vorrangig erwarten, daß sie die lokalen und individuellen Interessen vertreten. Diese Tendenz zur Lokalisierung der politischen Erwartungen und Forderungen ist keine spezifisch französische Erscheinung, sondern betrifft die meisten westlichen Demokratien. Eine Politologengruppe der Universität Harvard hat aufgezeigt, daß die Chancen zur Wiederwahl der britischen und amerikanischen Abgeordneten nicht so sehr von ihrer ideologischen Ausrichtung oder ihrer Arbeitsweise auf nationaler Ebene abhängen, sondern von ihrer Arbeit im Wahlkreis 9.

Um dieser zunehmenden Forderung nach Nähe zu entsprechen, hat der Vedel-Ausschuß vorgeschlagen, die Ämterhäufung zwischen parlamentarischen und kommunalen Mandaten zu verbieten. Die Politiker stehen dieser Initiative mehr als zurückhaltend gegenüber. Aber wie lange werden die französischen Politiker diesen ständigen Balanceakt zwischen mehreren Mandaten fortsetzen können, der im übrigen Europa seit langem abgeschafft worden ist? 2. Wachsende Wahlenthaltungen Die Distanz der Bürger zum existierenden politischen System hat sich in einer relativ starken Enthaltung bei den Parlamentswahlen vom März 1993 geäußert: -Beim ersten Wahlgang haben 31 % der eingeschriebenen Wähler nicht gewählt. Diese Quote ist zwar niedriger als bei den Parlamentswahlen von 1988 (34%), aber vergleichsweise hoch insofern, als die jüngsten Wahlen nicht auf eine Präsidentschaftswahl folgten, wie dies 1981 und 1988 der Fall war. Die offizielle Erfassung der Wahlenthaltungen verdeckt im übrigen das für Frankreich bedeutende Problem der Nicht-einschreibung auf den Wahllisten. Die Zahl derjenigen Bürger, die sich nicht in die Wahl-listen eintragen lassen -eine notwendige Voraussetzung für die Teilnahme an der Wahl wird auf etwa 10 % der potentiell Wahlberechtigten geschätzt.

-Beim zweiten Wahlgang kam es zu keinerlei Mobilisierung der Wähler, was zum Teil auf das Fehlen jeder Spannung nach dem ersten Wahlgang zurückzuführen ist. Die Wahlenthaltung hat sogar zugenommen und ist auf über 32 % angestiegen, was bisher nur bei einer einzigen Parlamentswahl der Fünften Republik zu verzeichnen war, nämlich 1988. -Die Anzahl der leeren und ungültigen Stimmzettel, die traditionsgemäß zusammengerechnet werden, war extrem hoch: 1, 427 Millionen beim ersten Wahlgang, d. h. 5, 27 % der abgegebenen Stimmen, und 2, 159 Millionen beim zweiten Wahlgang, was 48 % der abgegebenen Stimmen entspricht (in 133 der 497 Wahlbezirke, wo am 28. März gewählt wurde, lag dieser Anteil noch viel höher, zwischen 10% und 40%). Bei den letzten Parlamentswahlen 1988 wurden beim ersten Wahlgang lediglich 512697, beim zweiten Wahlgang 690052 leere bzw. ungültige Stimmzettel gezählt.

II. Die Zukunft der traditionellen Parteien

Die Parteien, die in den siebziger und achtziger Jahren an der „bipolaren Quadrille“ teilnahmen, um mit Maurice Duverger zu sprechen -RPR (Rassemblementpour la Republique), UDF (Union pour la Democratie Fran^aise), PS (Parti Socialiste) und PCF (Parti Communiste Frangais) haben einen großen Teil ihres Vertretungsmonopols verloren. Während sie beim ersten Wahlgang der Parlamentswahlen von 1988 noch knapp 90 % der Stimmen auf sich vereinigen konnten, sind es beim ersten Wahlgang im März 1993 nur noch zwei Drittel. Der Wahlniedergang der Linksparteien ist beeindruckend, aber die Parteien der klassischen Rechten haben keinen wesentlichen Stimmenzuwachs zu verzeichnen. 1. Parti Socialiste (PS)

Der großer Verlierer der letzten Parlamentswahlen ist offensichtlich die Sozialistische Partei. Die Niederlage war vorherzusehen, sowohl aufgrund der Ergebnisse vorheriger Wahlen -ein Jahr zuvor war bei den Regionalwahlen genau dasselbe niedrige Ergebnis verzeichnet worden, und bei den Kantonalwahlen waren historische sozialistische Hochburgen wie Dordogne, Dröme, Gers, der Norden und Puy-de-Döme verlorengegangen -als auch aufgrund zahlreicher Meinungsumfragen einige Wochen vor der Wahl. Mit seinen Verbündeten, dem linksliberalen MRG (Mouvement desRadicaux de Gauche) und den diversen Linken, hat der PS seit 1988 knapp die Hälfte seiner Wählerschaft eingebüßt, d. h. vier Millionen Stimmen. Das Ergebnis ist mehr als schlecht: es ist, zumindest in den Augen ihrer führenden Repräsentanten, katastrophal. Kein einziger sozialistischer Kandidat wurde im ersten Wahlgang gewählt. Der zweite Wahlgang bekräftigte den historischen Mißerfolg der Linken, wobei das Mehrheitswahlrecht den Zusammenbruch der Sozialisten noch verstärkte: Mit Unterstützung des MRG errangen sie letztendlich 67 der 577 Mandate der Nationalversammlung, während sie zuvor 275 Sitze hatten. Mehrere Leitfiguren der Partei wie Michel Rocard, Roland Dumas, Michel Delebarre, Edmond Herv oder Louis Mermaz verloren in ihren Wahlkreisen.

Die traditionellen sozialistischen Bastionen haben nicht standgehalten. Zwischen 1988 und 1993 mußten die Sozialisten sowohl in Nord-Pas-de-Calais (23 % gegenüber 44 %) als auch in Midi-Pyrnes (26 % gegenüber 47 %) schwere Einbußen hinnehmen. Derselbe Rückgang ist in den Regionen zu verzeichnen, wo die Sozialistische Partei in den siebziger Jahren die stärksten Zuwachsraten aufweisen konnte: Lothringen (17 % gegenüber 38 %) und die Bretagne (22 % gegenüber 41 %). In den meisten Wahlkreisen der großen Regionen Ile-de-France, Rhone-Alpes und Provence-Alpes-Cöte d’Azur erhielten die Sozialisten sogar zu-wenig Stimmen, um am zweiten Wahlgang teilnehmen zu können; dort standen sich dann in den meisten Fällen die traditionelle Rechte und der Front National gegenüber.

Die sozialistische Wählerschaft der siebziger und achtziger Jahre setzte sich hauptsächlich aus Arbeitern und der neuen Mittelschicht zusammen. Diese beiden sozialen Kategorien unterstützen die Sozialistische Partei heute nur noch in sehr geringem Maße; der jeweilige PS-Stimmenanteil ist auf 20 % bzw. 25 % gesunken

Die angekündigte und erwartete schmerzhafte Niederlage der Sozialisten ist das Ergebnis vielfältiger Faktoren. Darunter sind insbesondere die folgenden zu nennen: -Nach elfjähriger Regierungszeit, mit Ausnahme der Regierung Chirac in der Kohabitation von 1986 bis 1988, hat sich die Macht der Partei abgenutzt.

Sie, die „das Leben ändern“ wollte (so lautete ein Leitsatz des Programmes von 1971), hat nach und nach ihre Illusionen und ihr Innovationsvermögen verloren. Aus dem anfänglichen Radikalismus ist die pure Verwaltung des Bestehenden geworden, insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik.

-Im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Armut zeigte sich ein Mißerfolg der Regierungspolitik.

In Frankreich wie auch in den übrigen westlichen Ländern hängt die Entscheidung des Wählers mehr und mehr von seiner Einschätzung der wirtschaftlichen und finanziellen Leistung der Regierung ab. Die Meinungsumfragen zeigen wiederholt, daß die weiter steigende Arbeitslosigkeit das Hauptproblem der französischen Gesellschaft ist und die Parteien zunächst an ihrer Fähigkeit gemessen werden, dieses Problem einzudämmen.

-Das Bild größerer moralischer Integrität, das die Sozialisten pflegten, als sie die Mißbräuche der Rechten während ihrer Regierungszeit anprangerten, ist durch die Affären und Korruptionsskandale stark beschädigt worden.

-Das allmähliche Auseinanderfallen des Parteiapparates, der ausgehöhlt wurde durch den individuellen Ehrgeiz potentieller Präsidentschaftskandidaten, die im ganzen Land einen Bruderkrieg zwischen verschiedenen internen Strömungen führten -der Parteitag in Rennes 1992 war ein trauriger Höhepunkt dieses erbärmlichen Schauspiels -, beschleunigte den Niedergang der Sozialistischen Partei.

Wie ist es um die Zukunft des französischen Sozialismus bestellt? Da er wirklich extrem tief gesunken ist -er ist auf das Niveau der FGDS (Föderation de la gauche democrate et socialiste) bei den Parlamentswahlen von 1967 zurückgefallen -,kann man sich kaum vorstellen, daß es noch weiter bergab gehen könnte. Nach dem von Michel Rocard initiierten Wechsel im Parteivorstand und der Marginalisierung von Laurent Fabius und seiner Strömung sind große interne Manöver im Gange, die die Parteiorganisation verändern. Wird Rocards „big bang“, jene von ihm befürwortete Zerschlagung der alten Parteistruktur zugunsten einer neuen Organisation, stattfinden? Unter welchen Voraussetzungen, in welcher Form? Heute ist über ideologische Veränderungen nachzudenken sowie über die Erarbeitung neuer Strategien des internen Kompromisses und der Allianzen mit anderen Parteien. Die Oppositionskur könnte sich hier als hilfreich erweisen. 2. Parti Communiste Franais (PCF)

Die Kommunistische Partei konnte den seit mehreren Jahren andauernden Abwärtstrend, der zu sehr schlechten Ergebnissen bei den Präsidentschaftswahlen von 1988 (nur 6, 8% der Wählerstimmen für den Kandidaten Andr Lajoinie) sowie bei den Europawahlen im Juni 1989 (7, 7%) führte, nicht aufhalten. Aber am Abend des ersten Wahlgangs 1993 stellte Generalsekretär Georges Marchais stolz einen „leichten Fortschritt“ im Vergleich zu den 1991er Kantonalwahlen fest. Der Gewinn war begrenzt, denn er betrug lediglich 0, 6 % der Wählerstimmen. Im Vergleich zu 1988 verloren die Kommunisten im Durchschnitt 2, 1%, konnten aber in etwa fünfzehn Departements (z. B. Landes, Nivre, Savoyen, Martinique) ihre Situation deutlich verbessern. Selbst wenn es dem PCF deutlich schlechter geht als vor fünfzehn Jahren, scheint man die Partei etwas vorschnell „begraben“ zu haben, und dies aus zumindest zwei Gründen: 1. Die letzten Jahre zeigen, daß die Kommunisten bei Wahlen ihr dichtes, gut funktionierendes Netz von lokalen Abgeordneten und Notabein mobilisieren können (Parlaments-, Kommunal-und Kantonalwahlen) und wesentlich bessere Ergebnisse erzielen als bei Präsidentschafts-oder Europawahlen 2. Der PCF ist für einen nicht zu unterschätzenden Teil seiner Wähler nach wie vor eine Partei der radikalen Opposition gegen „alles, was nicht in Ordnung ist“, die sich im Unterschied zu den Sozialisten lautstark weigert, sich bestimmten Zwängen und Logiken insbesondere auf ökonomischer und internationaler Ebene zu beugen. Acht kommunistische Kandidaten haben vor allem wegen ihres kämpferischen Diskurses „ gegen die Unabwendbarkeit der Wirtschaftskrise“ sozialistischen Abgeordneten ihre Mandate abnehmen können. Es ist damit dem PCF gelungen, seine Parlamentsfraktion mit 24 Abgeordneten (minus drei) zu stabilisieren. 3. Rechtsparteien Die Rechte siegte mit einer überwältigenden Mehrheit von 486 der insgesamt 577 Sitzen (der RPR liegt mit 242 Sitzen vor der UDF mit 207; diverse Rechte: 36, andere: 1). Das ist eine „Chambre introuvable“, um den Ausdruck von Louis XVIII. zu benutzen, mit dem dieser die im August 1815 gewählte Versammlung bezeichnet hatte und der später für jede parlamentarische Versammlung benutzt wurde, in der eine sehr starke Mehrheit herrschte (wie beispielsweise 1919 oder 1968). Mit 58 % der abgegebenen Stimmen beim zweiten Wahlgang profitierte das Wahlbündnis der Rechten (UPF -Union Pour la France: UDF, RPR und diverse Rechte) vom Verstärkungseffekt des Mehrheitswahlrechts. Es reagierte jedoch auf diesen großen Erfolg mit Mäßigung und Zurückhaltung; man war weit entfernt vom Freudentaumel des Machtwechsels 1981. Einige Faktoren können diese auf den ersten Blick überraschende Zurückhaltung erklären: -Beim ersten Wahlgang haben RPR und UDF mit ihren 19, 83 % bzw. 18, 64 % der abgegebenen Stimmen im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen von 1988 kaum Fortschritte zu verzeichnen. Ihre Ergebnisse sind sogar schlechter als 1986 und ähneln insgesamt gesehen denen von 1981. Kein Grund, stolz zu sein, und dies um so weniger, als der Front National ein für die traditionellen Rechtsparteien beunruhigendes Ergebnis erzielte.

-Der nationale und internationale wirtschaftliche Kontext ist für die neue Mehrheit nicht günstig; die rechte Wählerschaft will Ergebnisse sehen und hofft auf eine rasche Verbesserung der Beschäftigungslage und der Lebensbedingungen.

Im Vergleich zu den sechziger und siebziger Jahren setzt sich die Wählerschaft aus /sehr unterschiedlichen sozialen Schichten zusammen und besteht nicht aus Stammwählern.

-Die Wende ist noch nicht vollzogen, da die Rechte erneut mit Präsident Mitterrand kohabitieren muß, der aufgrund seiner Funktion als Wächter der Institutionen der Stützpfeiler des politischen Systems der Fünften Republik ist.

Der Wahlsieg und die Persönlichkeit des neuen Premierministers Edouard Balladur werden diese zweite Kohabitation sicherlich spürbar erleichtern, da der Präsident kaum umhin kann, der Regierung großen Handlungsspielraum zu-zugestehen. Aber die Hauptgefahr für die Rechte besteht heute darin, wieder in interne Querelen und Auseinandersetzungen zu verfallen, die sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 1995 zweifellos einstellen werden.

III. Die neuen politischen Akteure

Unter „neu“ sollen hier diejenigen politischen Akteure verstanden werden, die von sich behaupten, mit den traditionellen Regeln und politischen Lagern brechen zu wollen, insbesondere mit der scharfen Trennung zwischen rechts und links. Sie wollen eine Politik betreiben, die sich auf Themen und nicht auf ideologische Programme konzentriert. Die meisten von ihnen plädieren darüber hinaus für eine Veränderung der Institutionen der Fünften Republik. 1. Front National Dem Front National ist es gelungen, sich dauerhaft in der französischen politischen Landschaft anzusiedeln. Die politischen Themen, die seinen Erfolg begründen, sind die Immigration und die innere Sicherheit. In seinem Programm von 1991, das fünfzig Maßnahmen zur „Regelung der Immigrationsprobleme“ enthält, wird unter anderem folgendes vorgeschlagen: -Wiedereinführung des Abstammungsprinzips zur Erlangung der französischen Staatsbürgerschaft;

-Infragestellung der seit 1974 erfolgten Naturalisierungen;

-Zahlung von Kindergeld ausschließlich an Franzosen;

-Einführung von Ausländerquoten in den Schulklassen.

Die Ergebnisse des Front National bei den letzten Wahlen zeigen, daß diese Partei heute über eine relativ solide gebietsmäßige und soziale Basis verfügt. Mit 13, 9 % der Stimmen bei den Regionalwahlen vom 22. März 1992 verbesserte sie sich um 4, 2 Prozentpunkte im Vergleich zu den Regionalwahlen von 1986 und erreicht 239 Sitze gegenüber 137. Sie ist nunmehr in allen Departements (bis auf zehn meist kleine ländliche Departements) vertreten. Beim ersten Wahlgang der diesjährigen Parlamentswahlen verbesserte die Partei mit 12, 4 % der abgegebenen Stimmen ihr Ergebnis im Vergleich zu 1988 um knapp drei Prozentpunkte. Aber obwohl der Front National es schaffte, beim zweiten Wahlgang in zehn Wahlkreisen vertreten zu sein, wurde kein Kandidat gewählt. Die Partei verlor somit den einzigen Sitz, den sie in der Nationalversammlung innehatte. Dies macht -neben den Auswirkungen des Mehrheitswahlrechts -folgendes deutlich: -Einerseits ist der Front National keine Eintagsfliege, da es ihm gelungen ist, sich dauerhaft anzusiedeln und regelmäßig eine Wählerschaft zu mobilisieren, die durch alle sozialen Schichten geht und stark durch männliche Wähler geprägt ist. Arbeiter, Selbständige und Einwohner von Industrie-und Mittelmeerregionen sind überrepräsentiert und stellen eine Stammwählerschaft dar.

-Andererseits wird der Front National aufgrund seiner extremen Stellungnahmen nach wie vor von der Mehrheit der Franzosen abgelehnt, die ihm eine Funktion als Tribun zuerkennen, ihm aber das Recht verweigern, an der Regierung teilzunehmen. Die Partei setzt heute auf die Unfähigkeit der neuen Regierung, die Auswirkungen der wirtschaftlichen Rezession erheblich zu mildem, um gegenüber einer desorientierten, im Abschwung befindlichen Linken als die Rettung zu erscheinen. 2. Die Grünen Die Grünen in Frankreich, die sich lange im Schatten der westdeutschen Grünen befanden, haben letztere bei den Europawahlen von 1989 überholt und 10, 6% der abgegebenen Stimmen erreicht. Das Erstaunen im Ausland war groß, weniger jedoch in Frankreich, wo der „grüne“ Durchbruch sich schon drei Monate zuvor bei den Kommunalwahlen spektakulär angekündigt hatte. Im Gegensatz zu den schnellen Erfolgen der deutschen Grünen mußten die französischen Ökologen also fünfzehn Jahre warten (seit der Kandidatur Ren Dumonts bei den Präsidentschaftswahlen 1974), bis sie aus ihrer relativen Randstellung heraustreten konnten. Mit Ausnahme der guten Ergebnisse in zahlreichen Städten bei den Kommunalwahlen 1977 erzielten sie nur selten mehr als 4 % der Stimmen bei den verschiedenen Wahlen zwischen 1974 und 1988, ob auf nationaler oder lokaler Ebene Hindernisse organisatorischer und institutioneller Art trugen dazu bei, den Anstieg ihrer Wählerzahl zu bremsen. Die ökologische Bewegung war bis zur Gründung der Partei der Verts 1988 sehr zersplittert. Das Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen macht darüber hinaus den Einzug neuer Parteien in die Nationalversammlung besondersschwierig. Dies ist auch der Grund, weshalb der interregionale nationale Ausschuß der Verts beschloß, bei den Parlamentswahlen von Juni 1988 keinen Kandidaten aufzustellen.

Das Verhältniswahlrecht, das bei Regionalwahlen zur Anwendung kommt, erklärt das gute Ergebnis, von 1992: 7 % für die Verts, 7 % für ihren neuen Rivalen Generation ecologie, eine vom ehemaligen grünen Präsidentschaftskandidaten Brice Lalonde geleitete Bewegung, die ursprünglich den Sozialisten nahestand und zahlreiche Überläufer aus der Sozialistischen Partei zählte. Aufgrund dieser Wahlergebnisse und der Meinungsumfragen, die bis zu 19 % der abgegebenen Stimmen erwarten ließen, entschlossen sich die beiden Bewegungen dazu, für die Parlamentswahlen 1993 gemeinsame Kandidaten aufzustellen in der Hoffnung, von der Zersplitterung des Parteiensystems zu profitieren und etwa 80 Abgeordneten den Einzug in die Nationalversammlung zu ermöglichen. Trotz der Vereinigungsstrategie traten die erhofften Ergebnisse nicht ein. Lediglich zwei Kandidaten gelang es, den zweiten Wahlgang zu erreichen; kein einziger zog ins Palais Bourbon ein. Erneut hat das Mehrheitswahlrecht ihr Vordringen gebremst, zusammen mit anderen Faktoren: dem Fehlen eines mobilisierenden Programms, der Konkurrenz „falscher Ökologen“ und der bei vielen Wählern verbreiteten Auffassung, Generation ecologie stehe der Sozialistischen Partei zu nahe (Brice Lalonde war Umweltminister in der Regierung Edith Cresson). 3. Die „neuen Unabhängigen“

Neben der Entstehung und der Etablierung neuer Parteien muß auch die Entwicklung einer neuen Kategorie populistischer, politisch unabhängiger Politiker unterstrichen werden, die sich insbesondere auf kommunaler Ebene deutlich von den klassischen Parteien abgrenzen Mehrere der 1983 und 1989 in Frankreich neu gewählten Bürgermeister veranschaulichen diesen für die Entwicklung des französischen politischen Systems interessanten Trend. Alain Carignon in Grenoble, Michel Noir in Lyon oder Noel Mamere in Begles kommen aus Rechts-oder Linksparteien, bekräftigen aber ihren Willen, die klassischen Abgrenzungen der Parteien zu überwinden und sich von den Parteiapparaten abzugrenzen oder sogar, wie im Fall Mamere, gegen sie zu kämpfen, „allein gegen alle“. Auf den ersten Blick zahlt sich diese Strategie, die vor wenigen Jahren noch als politischer Selbstmord gegolten hätte, angesichts des zunehmenden Desinteresses der Franzosen an den Parteien wahlpolitisch aus: Den von der Societe Franqaise d’Enquete par Sondage (SOFRES) vor den Kommunalwahlen durchgeführten Umfragen zufolge entscheiden sich immer mehr Wähler eher für die Persönlichkeit des Kandidaten (1983: 50 %, 1989: 58%) als für die politische Couleur der Listen (1983: 43 %, 1989: 35 %)

Aber diese „neuen Unabhängigen“ müssen sich mit den auf lokaler Ebene existierenden Parteien und ihren verlängerten Armen (z. B. im Sport oder im soziokulturellen Bereich) auseinandersetzen, und dies wahrscheinlich noch für lange Zeit. Die Erfahrung dieser individuellen Bürgermeister-Initiativen zeigt in der Tat, daß ein totaler Bruch mit den existierenden Parteien selten von Erfolg gekrönt ist. Nichtsdestotrotz kommen zum Rechts-Links-Denken, das den kommunalen politischen Wettstreit fast zwanzig Jahre lang geprägt hat, neue (z. B. materialistisch/postmaterialistische) Dimensionen hinzu, die die Parteien erheblich schwächen, die traditionellen ideologischen Klassifizierungen in Frage stellen und folglich die Karriere der „neuen Unabhängigen“ fördern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Everhard Holtmann, Politisierung der Kommunalpolitik und Wandlungen im lokalen Parteiensystem, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22-23/92, S. 13-22.

  2. Vgl. Dominique Joye und Jean-Philippe Leresche, Les transformations du pouvoir local en Suisse, Vortrag auf der Tagung des European Consortium of Political Research, Leiden, 2. -8. 4. 1993.

  3. Vgl. Norman H. Nie u. a., Participation in America: Continuity and Change, Cambridge, Harvard University (Forschungsbericht).

  4. Vgl. das Kapitel „La double inconstance: partis, lecteurs et double vote“, in: Le vote clat. Les älections regionales et cantonales des 22 et 29 mars 1992, Paris 1992, S. 231 ff.

  5. Vgl. u. a. Sud Ouest vom 23. Februar 1993.

  6. Dieser am 2. Dezember 1992 durch den Ministerrat geschaffene Konsultativausschuß hat 16 Mitglieder unter dem Vorsitz von Georges Vedel. Mit der Erarbeitung von Vorschlägen für eine Verfassungsreform beauftragt, hat dieser Ausschuß am 15. Februar 1993 seinen Bericht vorgelegt (veröffentlicht im Journal Officiel vom 16. 2. 1993), der insbesondere für ein aktiveres Parlament plädiert.

  7. Vgl. Carr de Malberg, Contribution ä la thorie gnrale de l’Etat, Paris 1920 (Neuauflage 1985), 2 Bde.

  8. Vgl. Bruce Jasin/John Ferejohn/Morris Fiorina, The Personal Vote, Cambridge 1987.

  9. Vgl. Gerard Grunberg, Retour ä la case dpart pour le parti socialiste, in: Le Monde vom 7. April 1993.

  10. Zu diesem Aspekt vgl. Piene Brechon, La France des urnes. Cinquante ans d’histoire electorale, Paris 1993.

  11. Siehe die Darstellung der Entwicklung der ökologischen Bewegung bei französischen Wahlen von Daniel Boy, L’cologisme en France. Evolutions et structures. Vortrag auf der Tagung des ECPR, Paris, 10. -15. April 1989.

  12. Siehe Terry N. Clark und Vincent Hoffmann-Martinot (Hrsg.), The New Political Culture, Boulder, Co. (i. E.).

  13. Vgl. SOFRES, L’Etat de l'opinion, Paris 1990.

Weitere Inhalte

Vincent Hoffmann-Martinot, Dr. rer. pol., geb. 1957; Forschungsbeauftragter am CNRS (Centre National de la Recherche Scientifique), Centre d’Etude et de Recherche sur la Vie Locale, Institut d’Etudes Politiques de Bordeaux. Veröffentlichungen u. a.: Finances et pouvoir local: L'exprience allemande, Paris 1987; (Hrsg.) New Leaders, Parties and Groups: Comparative Tendencies in Local Leadership, Talence 1990; (Hrsg.) Local and Regional Bureaucracies in Western Europe, Talence 1991; (zus. mit Terry N. Clark) The New Political Culture, Boulder, Co. (i. E.).