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Außerschulisches Kinderleben im deutsch-deutschen Vergleich. Überlegungen zur Modernisierung kindlicher Sozialisationsbedingungen | APuZ 24/1993 | bpb.de

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APuZ 24/1993 Ausbildungs-und Zukunftsperspektiven ostdeutscher Jugendlicher nach der politischen Vereinigung Deutschlands Lebenssituation und Lebensperspektiven Jugendlicher im vereinten Deutschland Außerschulisches Kinderleben im deutsch-deutschen Vergleich. Überlegungen zur Modernisierung kindlicher Sozialisationsbedingungen Kindheit im Umbruch Biographien ostdeutscher Kinder

Außerschulisches Kinderleben im deutsch-deutschen Vergleich. Überlegungen zur Modernisierung kindlicher Sozialisationsbedingungen

Peter Büchner/Burkhard Fuhs

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag beschäftigt sich mit der Lebenssituation und insbesondere dem außerschulischen Lebensalltag von 10-bis 14jährigen Kindern in Ost-und Westdeutschland. Empirische Grundlage sind ausführliche Fallstudien (narrative und Leitfadeninterviews) mit 12jährigen Kindern und deren Eltern sowie eine Fragebogenuntersuchung in ausgewählten Regionen Ost-und Westdeutschlands. Ausgehend von Indikatoren zur Erfassung von Modernität des außerschulischen Kinderlebens wird das moderne Kinderleben in Ost und West anhand von zwei ausgewählten Einzelfallstudien quasi idealtypisch dargestellt und in einem zweiten Schritt unter Zuhilfenahme von weiterem empirischem Material in einigen Dimensionen vergleichend beleuchtet. Im Ergebnis werden zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen modernen und weniger modernen Varianten des Kinderlebens in Ost und West herausgearbeitet.

I. Fragestellungund Untersuchungsmethoden

Abbildung 1: Strukturmodell heutigen Kinderlebens Quelle: Eigene Darstellung.

Ausgangspunkt unserer Überlegungen war zum einen der beobachtbare Wandel des heutigen Kindseins, wie wir ihn vor allem in den alten Bundesländern erleben. Veränderte familiale Sozialisationsbedingungen und Formwandel der kindlichen Freizeitgestaltung sind hier wesentliche Bezugspunkte. Zum anderen interessieren uns die sich aus der deutschen Vereinigung ergebenden Konsequenzen für die Lebenssituation heutiger Kinder besonders in den neuen Bundesländern. Dort befindet sich das außerschulische Kinder-leben im Umbruch, und es stellt sich nach dem abrupten Wegfall der durch die Thälmann-Pionierorganisation und die Freie Deutsche Jugend (FDJ) betreuten schulischen und außerschulischen Freizeitangebote die dringende Frage, was an deren Stelle treten könnte.

Hüben wie drüben wird vor diesem Hintergrund zwar viel darüber nachgedacht, wie die verschiedenen Institutionen (z. B. Schulen, Freizeiteinrichtungen) für Heranwachsende aussehen sollten, aber die Kinder und jungen Jugendlichen selbst treten zumeist nur ins engere Blickfeld, wenn es Probleme mit ihnen gibt. Spätestens dann aber wird allen Beteiligten deutlich, daß wir besonders über die Altersgruppe der 10-bis 14jährigen nur sehr wenig wissen, handelt es sich doch hier um die sogenannten „Lücke“ -Kinder eine auch von der Forschung bislang nur wenig beachtete Altersgruppe.

Die Fragestellung unseres Forschungsprojektes setzt hier an. Uns interessiert die Lebenssituation und insbesondere der außerschulische Lebensalltag dieser 10-bis 14jährigen Kinder. Zielsetzung des Projekts ist die Beantwortung der Frage, -wie diese Kinder ihren Weg ins Jugendalter gestalten (kinderbiographischer Aspekt); -welche Regeln und Sanktionen sowie welche Anregungsgehalte das Leben dieser Kinder in unterschiedlichen Handlungszusammenhängen bestimmen (familienkultureller und sozialer Beziehungsaspekt) und -wie diese Kinder die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten (Optionen) im Lebens-alltag nutzen (kinderkultureller Aspekt).

Das gesamte Forschungsdesign ist aus Abbildung 1 ersichtlich.

In diesem Beitrag geht es uns hauptsächlich um die Ebene der kinderkulturellen Praxis. Wir richten unseren Blick vor allem auf verschiedene Varianten des außerschulischen Lebens von Jungen und Mädchen in Abhängigkeit von unterschiedlichen regionalen und sozio-kulturellen Voraussetzungen in Ost-und Westdeutschland.

Im Mittelpunkt unserer Untersuchung des außerschulischen Kinderlebens steht für uns der jeweils erkennbare Modernitätsgrad von kindlichen Lebenslagen und Biographiemustem. Dabei versuchen wir zu prüfen, ob und inwieweit sich die moderne (urbanisierte und mediatisierte) Erlebnis-und Freizeitgesellschaft mit ihren vergleichsweise hohen Mobilitätsanforderungen und ihren zunehmend marktförmig organisierten sozialen Beziehungsmustem auch für Kinder durchgesetzt hat. Modernität begreifen wir in diesem Kontext als das Ergebnis von gesellschaftlichem Gestaltwandel (hier vor allem in bezug auf die -durch Kultur-und Freizeitindustrie forcierte -Entfaltung der Privatsphäre) in der Moderne. Modernität ist also -in der Folge einer schubweisen „Entzauberung der Lebensführung“ (Max Weber) -als eine spezi-fische Konfiguration von sozio-kulturellen Strukturmerkmalen (bezogen auf bis dahin nicht-moderne, traditionale oder allenfalls teilmoderne Lebens-, Verhaltens-und Beziehungsformen) zu verstehen

Wir unterstellen, daß die Dynamik des Modernisierungsprozesses die verschiedensten Lebens-und Entwicklungszusammenhänge (ökonomische, politische, soziale, kulturelle) mit jeweils regionalen und partikularen Beschränkungen erfaßt, ohne daß damit notwendigerweise schon Fortschritt verbunden sein muß. Im Gegenteil: Ein auf bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge bezogener Modemisierungsschub in einer Epoche kann durchaus in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen negative Folgen oder Risiken in der nächsten Epoche provozieren. Ulrich Beck nennt diese Wechselwirkungen und die daraus erwachsenden Widersprüche „reflexive Modernisierung“

Wenn wir im folgenden von „modernen“ Kindern reden, ist damit ausdrücklich eine Abkehr vom Mythos der Moderne als Fortschritt gemeint Wir wollen im voraus weder eine kulturpessimistische Bewertung modernen Kindseins (etwa im Sinne von Neil Postman) noch eine euphorisch positive Sicht des heutigen Kinderlebens nahelegen, sondern versuchen, zunächst auf der Basis unserer empirischen Forschungsergebnisse, die Veränderungen detailliert zu beschreiben. In einem späteren Forschungsschritt wollen wir dann der Frage nachgehen, welche Chancen und Risiken, welche Zugewinne an Freiheit und welche stärkeren Abhängigkeiten von vorgegebenen Bedingungen in pädagogisch vorgeformten Räumen mit dieser Entwicklung verbunden sind.

Wir vermuten, daß es in den neuen Bundesländern einen in vielerlei Hinsicht vergleichbaren Modernisierungstrend des Kinderlebens gibt, wie er für alle hochindustrialisierten Gesellschaften beobachtet ist, auch wenn für die ehemalige DDR-Gesellschaft deutlich andere Ausgangsbedingungen gegeben sind. Ähnlich wie Käte Pollmer/Klaus Hurrelmann gehen wir davon aus, daß in beiden deutschen Staaten schon seit einigen Jahren gleichartige soziale Kräfte in die gleiche Richtung gewirkt und ähnliche Effekte ausgelöst haben, auch wenn sich diese Effekte teilweise über andere soziale und kulturelle Ausdrucksformen manifestieren

Besonders nach der Wende ist in den neuen Bundesländern in vielen Lebensbereichen eine beschleunigte und nachhaltige „Verwestlichungstendenz“ unverkennbar. Hinsichtlich des außerschulischen Kinderlebens wird es darauf ankommen zu prüfen, inwieweit und wie sich ein solcher Entwicklungstrend auch im konkreten Kinderalltag niederschlägt. Wir wollen also versuchen herauszufinden, in welcher Form sich die von Beck diagnostizierten gesellschaftlichen Individualisierungstendenzen, die beobachtete Enttraditionalisierung von Lebenswelten und sozialen Beziehungsformen im außerschulischen Kinderleben Ost-und Westdeutschlands wiederfinden lassen: Werden sozial vorgegebene Lebensverlaufsmuster bereits im Kindesalter (zumindest teilweise) in selbst hergestellte und herzustellende Biographien transformiert, die privat und institutionell besonderer Planung und Abstimmung bedürfen?

Wir vermuten, daß sich die kindliche Lebenssituation insgesamt, aber auch bestimmte alltägliche Handlungsformen und Handlungsregeln ebenso wie bestimmte soziale Beziehungs-oder Kontrollformen sowohl in Ost-als auch in Westdeutschland modernisiert haben und weiter modernisieren werden. Wir sind dieser Vermutung nachgegangen, indem wir einige Indikatorenbündel entwickelt haben, an denen sich Modernität im außerschulischen Kinderleben festmachen läßt. Diese Modernitätsindikatoren haben wir anhand von Fallstudien und der Anfertigung von entsprechenden Kinderportraits entwickelt, auf die wir im folgenden Bezug nehmen wollen. Insgesamt je 30 narrative (erzählende) und umfassende leitfadengestützte Kinder-und Elterninterviews in Ost-und Westdeutschland bilden die Basis für unsere Überlegungen.

Daneben fließen aber auch Ergebnisse einer ersten Fragebogenuntersuchung über die Freizeitsituation von Kindern im Rahmen einer Vorstudie ein, die zumindest für einen Teil der Modernitätsindikatoren Aussagen über die Verteilung von bestimmten Gegebenheiten des außerschulischen Kinderlebens in Ost-und Westdeutschland ermöglichen Diese (schriftliche) Befragung fand im Herbst 1990 zunächst im Raum Marburg-Biedenkopf statt. Im Frühjahr 1991 wurde der Fragebogen dann zusätzlich in Sachsen-Anhalt (Halle/Merseburg/Saalkreis) und in einer großstädtischen Vergleichsregion in Nordrhein-Westfalen (Essen) eingesetzt. Zwischen Herbst 1990 und Frühjahr 1991 füllten insgesamt 1490 Kinder im Alter zwischen 10 und 14 Jahren, davon 820 im Westen und 670 im Osten Deutschlands, unseren Fragebogen zu ihren Freizeitaktivitäten und Freizeitinteressen aus. Dabei bezog sich unser Fragenspektrum vor allem auf folgende Themenbereiche: Was tun Kinder, nachdem die Schule zu Ende ist? Welche Pflichten und welche Interessen und Vorlieben haben sie und wie zufrieden sind sie mit der gegebenen Freizeitsituation?

Im folgenden werden wir 1) einige Dimensionen des Kinderlebens herausdestillieren, mit Hilfe derer wir versucht haben, Modernität im Kinderalltag zu beschreiben;

2) anhand einiger Fallbeispiele typische Aspekte des modernen außerschulischen Kinderlebens in Ost und West mit Hilfe unserer Modernitätsindikatoren darstellen und 3) einige zentrale Merkmale des heutigen Kind-seins in Ost-und Westdeutschland unter Modernitätsgesichtspunkten vergleichen.

II. Modernes Kinderleben: Ein Modell zur Erfassung von „Modernität“

Abbildung 2: Dimensionen kinderkultureller Praxis Quelle: Eigene Darstellung.

In den Kindergeschichten von Günther Anders findet sich folgende Passage: „Da es dem König aber wenig gefiel, daß sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend, sich querfeldein herumtrieb, um sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, schenkte er ihm Wagen und Pferd. , Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen, waren seine Worte. , Nun darfst du es nicht mehr , war deren Sinn. , Nun kannst du es nicht mehr , deren Wirkung.

Wir meinen, daß sich in dieser Parabel vom Wagen und dem Königssohn (die wir bei Bernward Joerges zitiert gefunden haben viel von dem widerspiegelt, was den außerschulischen Kinderalltag heute ausmacht. Vielfältige Hilfsmittel (wie Wagen und Pferd) sind zwar eine Erleichterung des Alltagslebens und erweitern den Streifraum des Königssohns; zugleich aber entgehen ihm wichtige Erfahrungen, wenn er regelmäßig Wagen und Pferd benutzt: Er bleibt auf die kontrollierten Straßen verwiesen, er wird bewegungsfaul, sein Natur-erleben wird reduziert und teilweise entsinnlicht, seine Beziehungen zu anderen Menschen gestalten sich vom Wagen aus anders als zu Fuß und querfeldein.

Was heißt das im Hinblick auf das moderne außerschulische Kinderleben, in dem es ja mehr als nur Wagen und Pferd gibt? Jeweils in Abhängigkeit von den gegebenen regionalen Infrastrukturbedingungen und Ausgangslagen (z. B. Ausstattung, Angebotsstrukturen, bisherige Biographieverläufe) in Ost und West, aber auch in Abhängigkeit von Faktoren wie Geschlecht, soziale Herkunft, Wohnregion u. ä. finden wir verschiedene Varianten von außerschulischem Kinderleben mit unterschiedlichem Modernisierungsgrad. Neben der Ausstattung des Kinderlebens (Wagen, Pferd...), über das sich das Möglichkeitsspektrum des Kinderlebens definiert, kommt es vor allem darauf an, nach den unterschiedlichen Formen der Nutzung und den jeweiligen Folgen für die spezifische Qualität des Kinderlebens zu fragen.

Den Grad der Modernität von kindlichen Lebenslagen und Biographiemustem versuchen wir mit Hilfe von Modemitätsindikatoren zu bestimmen. Auf einer gedachten Modernitätsachse werden die von uns erhobenen Fälle verortet, indem Elemente des von uns untersuchten außerschulischen Kinderlebens berücksichtigt bzw. näher betrachtet werden (vgl. Abbildung 2) Über einen Vergleich der so auf der Modernitätsachse verorteten Einzelfälle wollen wir nun im folgenden anhand von ausgewählten Beispielen demonstrieren, welche deutsch-deutschen Gemeinsamkeiten und Unterschiede für uns bislang bei den kindlichen Lebenslagen und Biographie-mustern erkennbar sind.

III. Modernes Kinderleben in Ost-und Westdeutschland: das Beispiel Lea und Babsy

Abbildung 3: Technische Ausstattung des Kinderzimmers Ost West Quelle: Eigene Berechnung.

Moderne Kindheit, so wie wir sie mit Hilfe unserer Fallstudien vorgefunden haben, möchten wir im folgenden zunächst exemplarisch an zwei Fallbeispielen darstellen. Es handelt sich um je ein Kind aus den alten und aus den neuen Bundesländern. Beide sind in den meisten Dimensionen unseres Modells typische Repräsentanten einer modernen Kindheit. Daß es sich bei unseren Fallbeispielen um zwei Mädchen handelt, ist kein Zufall, sondern entspricht unseren bisherigen Erkenntnissen: Mädchen sind -im Vergleich zu den Jungen -in vielerlei Hinsicht besonders moderne Kinder mit allen Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten, die aus einer solchen Einschätzung folgen 1. Lea: „Es muß etwas los sein..

Lea ist 12 Jahre alt, wohnt in einer westdeutschen Stadt und besucht eine Gesamtschule. Der Vater ist Zahnarzt, die Mutter Diplompädagogin, beide sind berufstätig. Die Handlungsregeln in der Familie sind ausgesprochen locker, Lea bewegt sich an einer langen Leine und die Eltern sind bereit, mit Lea über „alles“ zu reden. Konflikte (zum Beispiel über Leas Mithilfe im Haushalt) werden je nach Situation verhandelt, wobei sich Lea nicht selten gegen die Eltern durchsetzen kann. Strafen, so berichten Lea und ihre Mutter übereinstimmend, gebe es bei ihnen keine. Lea ist dementsprechend recht selbständig und selbstkontrolliert: Sie plant ihre Freizeit ebenso souverän, wie sie sich nicht indie Gestaltung ihres Kinderzimmers reinreden läßt. Im Handlungserleben spiegelt sich diese Selbständigkeit bei Lea in einem Gefühl von Ich-Stärke und Unabhängigkeit von den Eltern: Lea gibt sich selbständig, selbstbewußt und zukunftssicher. Auch bei den Handlungsformen weiß Lea, was sie will: Sie hat ein hohes Aktivitätsniveau, ist fast jeden Tag verabredet oder im Rahmen von Terminen unterwegs und nur selten zu Hause. Ihre Handlungsmotive sind deutlich erlebnisorientiert, was Leas gleichzeitige Fixierung auf ein späteres Hochschulstudium mit einer entsprechenden Langzeitperspektive und Karriereorientierung nicht ausschließt.

Dabei hat sie in ihrer Freizeit ein breites Aktivitätsspektrum; sie reitet, nimmt an einer Theater-gruppe teil und nutzt die Angebote der Stadt wie Eiscaf, McDonalds oder Kaufhaus und Boutiquen. Sie geht zweimal pro Woche ins Kino und ins Hallenbad, einmal ins Jugendcafö, sie nutzt jeden Monat die Bücherei und verabredet sich regelmäßig mit Freundinnen zum Einkäufen oder in die Stadt zum Bummeln; ab und zu trifft sie sich mit Freunden auf dem Sportplatz zum Laufen oder für ausgedehnte Fahrradtouren. Mit ihrem Hobby „Reiten“ und einem eigenen Pferd ist Leas Aktivitätsprofil deutlich privilegiert und prestigeorientiert.

Ein Blick auf Leas Handlungspartner zeigt, daß die Familie für ihre Freizeit so gut wie keine Rolle spielt. Lea ist peergroup-orientiert; sie hat ein ausgedehntes Geflecht von Freunden und Freundinnen, mit denen sie fast täglich telefoniert und mit denen sie sich zu zweit oder dritt abwechselnd an unterschiedlichen Orten trifft. Handlungsräume und Handlungszeiten zeigen bei Lea einen hohen Grad an „Verinselung" und „Verhäuslichung" Neben der starken Terminierung von Leas Freizeit fällt der hohe Grad an Mobilität auf, der für die Bewältigung von Leas Freizeitprogramm erforderlich ist: Sie fährt mit dem Schulbus zur sieben Kilometer entfernten Schule, die Mutter bringt sie zweimal die Woche mit dem Auto zum 10 Kilometer entfernten Reitverein. Leas Freizeittreffpunkte sind nicht allein auf ihren Stadtteil bezogen, sondern sie verteilen sich über die ganze Stadt und werden von ihr mit Hilfe des öffentlichen Busver-kehrs vernetzt. Schließlich schläft Lea auch noch häufig außer Haus bei Freundinnen, die teilweise am anderen Ende der Stadt wohnen. 2. Babsy: „Meine Zeit ist gut genutzt..

Wir haben Lea als modernes Mädchen aus dem Westen hier zuerst vorgestellt, weil wir vermuten, daß den westdeutschen Kindern eine Art Vorreiterrolle bei der Modernisierung des Kinderlebens zukommt. Gleichwohl werden wir sehen, daß sich im Leben von Babsy neben Unterschieden auch viele Parallelen zum Lebensalltag von Lea beobachten lassen. Dies stützt unsere Vermutung, daß sich auch in den neuen Bundesländern deutliche Modernisierungstendenzen im Kinderleben finden.

Babsy ist ebenfalls 12 Jahre alt. Sie ist Tochter eines Arztes und einer Ärztin und besucht ein Gymnasium in einer ostdeutschen Stadt. Auch Babsy führt ein Leben an der langen Leine. Sie plant und organisiert ihre Freizeit weitgehend selbst, und ihre Zeitorganisation weist einen ebenso hohen Grad an Terminierung auf: Klavierunterricht, Theaterspiel, Jazztanz und Rock-’n’-Roll-Kurse an der Schule, Basketballtraining und Konfirmandenunterricht terminieren den Wochen-ablauf neben einer breiten Palette von frei disponierten Aktivitäten wie Kino-, Eiscaf-oder Schwimmbadbesuchen oder Fahrradtouren mit Freundinnen und Freunden.

Moderne Kinder haben offensichtlich im Osten wie im Westen ein hohes Aktivitätsniveau (Zahl der Termine und Freizeitvorhaben) und ein breites Aktivitätsspektrum, auch wenn wir aus unseren Fragebogendaten wissen, daß das kinderkulturelle Spektrum im Osten noch homogener und weniger diversifiziert ist als im Westen. Bezüglich ihrer Handlungspartner ist Babsy zwar auch peergrouporientiert -sie ist am liebsten mit Freundinnen zusammen, geht in die Disco und ist in ihren Freund verliebt -, aber anders als bei Lea hat die Familie einen größeren und z. T. anderen Stellenwert. So übt die Mutter mit Babsy regelmäßig Klavier, und der Vater spielt mit ihr Squash oder geht im Winter mit ihr Eisläufen. Auch Verwandtenbesuche spielen bei Babsy noch eine größere Rolle.

Ebenso wie Lea hat Babsy ein dichtes Netz unterschiedlicher Handlungspartner für die Freizeit. Eine einzige Clique findet sie „blöd“; sie sucht sich lieber für bestimmte Freizeitaktivitäten die passenden Freundinnen aus. Dieses breite funktionsbezogene Spektrum an Bezugspersonen ist für moderne Kinder typisch. Bezüglich ihres Handlungserlebens gibt sich auch Babsy sehr selbstbewußt; sie fühlt sich anderen Kindern gegenüber deutlich überlegen und ist sich ihrer eigenen Fähigkeiten sicher (hohes Kompetenzbewußtsein). Anders als Lea und vielleicht typisch für verunsicherte ostdeutsche Familien aus dem gehobenen Bildungsmilieu legen Babsy und ihre Mutter allerdings deutlich mehr Wert auf den Erwerb traditioneller „bürgerlicher“ Bildung. Diese scheint in ihrer vorrangigen Bedeutung im Westen -jedenfalls legen das unsere Interviews nahe -fast selbstverständlich hinter den neuen Erlebnis-und Freizeitinteressen zu verblassen, auch wenn sie natürlich in gewisser Hinsicht unverzichtbar bleibt.

Für Babsy liegt der Schwerpunkt ihres Aktivitätsprofils auf traditionellen gehobenen Kulturangeboten, wie ihr Interesse für klassische Musik, Theaterspielen und das Ziel, in der Schule die Klassenbeste zu bleiben, verdeutlichen. Babsy spielt Klavier, Keyboard und Flöte, will demnächst Gitarre lernen, sie hört viel Musik (auch Rock und Pop), komponiert in ihrer Freizeit und schreibt die Texte zu ihren Stücken zum Teil selbst. Außerdem liest sie viel, und ihre Mutter betont, wie wichtig es sei, Kinder an Kultur heranzuführen. Babsy legt Wert darauf, ihre freie Zeit „sinnvoll“ auszuschöpfen. Sie zeigt also bei den Handlungsmotiven eine deutlichere Bildungs-und Karriereorientierung als Lea, wobei sie ebenfalls nicht nur an die Gegenwart, sondern auch an ihre Zukunft denkt.

IV. Kinderkulturelle Praxis im deutsch-deutschen Vergleich

Abbildung 4: Anzahl und Häufigkeit der festen Termine pro Woche (Werktage) Quelle: Eigene Berechnung.

Nachdem wir mit Lea und Babsy zwei Fallbeispiele für moderne Kindheit in Ost und West quasi idealtypisch vorgestellt haben, wollen wir nun versuchen, für einige wenige Dimensionen unseres Modernitäts-Modells die jeweiligen Eckpunkte des Spektrums kinderkultureller Praxis anzudeuten. Modernes Kinderleben soll unter Hinzuziehung weiteren Fallmaterials mit weniger modernen Lebensformen verglichen werden. Außerdem werden wir mit Hilfe einiger Ergebnisse aus unserer Fragebogenuntersuchung auch einige erste Aussagen über die Häufigkeit von bestimmten Elementen des modernen Kinderlebens in Ost und West machen. 1. Moderne Kinder wollen und sollen selbständig sein In bezug auf Handlungsregeln und Handlungserleben sind moderne Kinder selbstbewußter, rationaler und stärker selbstkontrolliert als weniger moderne Kinder. Aus den Einzelfallanalysen des ost-und westdeutschen Kinderlebens (von 12jährigen) wird zudem deutlich, daß in modernen Familienkontexten ein anderer Selbständigkeitsbegriff vorherrscht, als er in eher traditionellen Familien-zusammenhängen zu finden ist. Hinzu kommen weniger ins Gewicht fallende Ost-West-Differenzierungen.

Selbständigkeit heißt für moderne Kinder wie Lea und Babsy (wie auch deren Eltern) ein altersbezogen selbstverantwortliches Handeln in definierten Lebensbereichen wie z. B. in Schulfragen (Hausaufgabenerledigung) oder bei der Organisation von Freizeit und Lebensalltag. So hält die Mutter von Babsy ihre Tochter für „sehr selbständig“, weil diese morgens alleine aufsteht, sich selber Schnitten macht und zur Schule geht, alleine einkauft, sich um die kleinen Geschwister kümmert und allein ihre Hausaufgaben macht. Hier sind noch Schule und die traditionellen Mädchenpflichten in der Familie für die Mutter zentrale Selbständigkeitsbereiche. Babsy selbst hingegen nennt auf die Frage nach ihrer Selbständigkeit keineswegs ihre Mithilfe im Haushalt; für sie sind neben Schule und Hausaufgaben vor allem ihr eigener Geschmack in Kleidungsfragen und ihr selbständiges Musizieren, also der kinderkulturelle Bereich, von großer Bedeutung für ihre Selbstwahmehmung.

Westdeutsche Kinder wie Lea verstehen noch deutlicher als ostdeutsche Kinder wie Babsy die kinderkulturelle Praxisebene als den Ort ihrer Selbständigkeitsentwicklung. Lea nennt als Selbständigkeitsbereiche: bei Freundinnen übernachten, Reiten gehen, das eigene Zimmmer nach eigenem Geschmack einrichten, Dinge in der Freizeit selber entscheiden. Lea und Babsy werden -typisch für moderne Kinder und ganz in Überein-stimmung mit ihrem eigenen Handlungserleben -von den Eltern als sehr selbstbewußt und selbst-kontrolliert eingeschätzt; beide Mädchen sind in ihrer jeweiligen Schule Klassensprecherin und setzen auch zu Hause ihre Interessen gezielt durch.

Bei weniger modernen Varianten des Kinder-lebens, wo den Kindern stärker Regeln und Grenzen gesetzt sind, die nicht hinterfragt oder diskutiert, geschweige denn von den Kindern verändert werden können, wird Selbständigkeit von Eltern und Kindern oft nicht in diesem eher pädagogischen Sinne wie bei Lea und Babsy verstanden. Während Lea und Babsy beide erklären, schon selbständig zu sein, und erläuternd auf ihre Freizeitaktivitäten verweisen, ist z. B.der westdeutsche Tommi (12, Vater Elektromeister) keineswegs dieser Meinung. Zwar könne er im Haushalthelfen und auch alleine auf das Haus aufpassen, aber Selbständigkeit bedeute, daß man sein eigenes Geld und sein eigenes Haus habe. Auch Tommis Vater bestätigt, daß ein Kind erst selbständig ist, wenn es ökonomisch auf eigenen Füßen stehen kann, also erwachsen ist.

Eine ähnlich traditionelle -an Erwachsenennormen orientierte -Einschätzung der eigenen Selbständigkeit hat Markus, der aus einer eher traditionellen ostdeutschen Familie kommt. „Selbständig?“ -so antwortet Markus zögernd -„mhm, also ohne meine Eltern komme ich nicht aus, das geht nicht (...), ich müßte erst mal ein Startkapital haben. Meine Eltern sparen jetzt für mich tausend Mark zusammen (...), hat meine Oma, meine Uroma für meine Mutti auch gemacht, tausend Mark zusammengespart als Startkapital für die Familie“. Und Markus ergänzt, daß er vielleicht mit 20 oder 21 Jahren selbständig sein wird, wenn er einen Führerschein besitzen und volljährig sein wird. Als Junge macht Markus seine Selbständigkeit an seiner Partizipationsfähigkeit an der erwachsenen Männergesellschaft fest, die über ökonomische Unabhängigkeit und die Bedienung eines Autos bestimmt ist.

Ganz anders ist demgegenüber das Verständnis von Selbständigkeit in der westdeutschen, ländlichen, auf Befehlen und Gehorchen ausgerichteten Familie von Iris. Auch sie ist nach eigenen Angaben erst selbständig, wenn sie erwachsen sein wird. Die Eltern machen Iris’ Schritte zur Selbständigkeit allerdings weniger an der ökonomischen Unabhängigkeit fest. Als Mädchen wird sie stärker an der traditionellen Frauenrolle gemessen. Die Mutter überlegt auf die Frage nach der Selbständigkeit ihrer Tochter, inwieweit diese schon den Haushalt führen, also Tätigkeiten wie Putzen, Waschen, Kochen und Einkäufen eigenverantwortlich bewältigen kann. Während Lea und Babsy ihre Selbständigkeit bezüglich ihrer Kleidung betonen, bekommt Iris morgens von der Mutter die Kleidung für den Tag „herausgelegt“ und akzeptiert dies auch.

Aus diesen skizzenhaften Überlegungen wird deutlich, daß für ein modernes Verständnis von Selbständigkeit im Kindesalter wesentlich differenziertere Analysen notwendig sind, als sie uns bislang zur Verfügung stehen. Beim Ost-West-Vergleich fallen die vielen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede in spezifischen Teilaspekten auf. Wir vermuten, daß sich das moderne Kinderleben in Ostdeutschland noch weniger deutlich ausgeprägt und noch nicht in dem Ausmaß durchgesetzt hat wie im Westen. 2. Moderne Kinder gestalten ihre Räume selber Auch wenn an dieser Stelle zwischen Innenräumen und Außenräumen zu unterscheiden wäre, beschränken wir uns hier auf das eigene Kinderzimmer. Beim Vorhandensein eines eigenen Kinderzimmers haben wir in der Fragebogenuntersuchung nur geringe Unterschiede zwischen Ost und West finden können 79 Prozent der Kinder im Westen und 70 Prozent der Kinder im Osten haben ein eigenes Zimmer. Überraschenderweise sind die Kinderzimmer in Ost und West weitgehend gleich gut mit audiovisuellen Medien ausgestattet (vgl. Abbildung 3).

Stereoanlagen finden sich in den Kinderzimmern im Westen zu 46, 8 Prozent und im Osten zu 42, 4 Prozent. Bei den Fernsehern liegen die ostdeutschen Kinder sogar mit 46 Prozent gegenüber den westdeutschen Kindern mit 42, 9 Prozent vorne. Dies entspricht dem höheren Femsehkonsum von Kindern im Osten. Lediglich bei den Computern gibt es deutliche Unterschiede. Hier sind im Westen mit 31 Prozent doppelt so viele Kinder mit Computern ausgerüstet wie im Osten (15, 7 Prozent). Mädchen und Jungen haben, was die Ausstattung mit audiovisuellen Geräten angeht, nahezu gleichgezogen, mit Ausnahme des Computers, wo die Jungen führend sind; die Jungen im Osten übertreffen sogar die Mädchen im Westen (Computer im Kinderzimmer haben: 47 Prozent der Jungen West, 28 Prozent der Jungen Ost, 15 Prozent der Mädchen West, 6 Prozent der Mädchen Ost).

Das Material aus den Fallstudien läßt darauf schließen, daß zwar alle Eltern in der Regel für eine Grundmöblierung der Kinderzimmer sorgen, daß aber die modernen Kinder in Ost und West ihre Zimmer darüber hinaus eher selbständig gestalten. So hat die ostdeutsche Babsy ihr Kinderzimmer überwiegend selbst eingerichtet, von der Mutter ein Bücherregal „abgestaubt“, vom Großvater zwei alte Schränke geerbt. Besonders wichtig sind ihr Poster und Sammlungen von Dingen, an denen sie hängt. Wenn Babsy zu Hause ist, hält sie sich meist alleine in ihrem Zimmer auf, liest, hört Musik, übt auf ihren Musikinstrumenten oder komponiert auf ihrem Keyboard; hier „empfängt“ sie aber auch ihre Freunde und Freundinnen und veranstaltet manchmal Discos. Mit ihrem Zimmer ist sie aber noch keineswegs zufrieden, sie hat Pläne und Träume und möchte eine ganz andere, moderne Einrichtung durchgängig in weißem Lack haben.

Ganz ähnlich Lea im Westen, die stolz darauf ist, wie sie ihr Zimmer eingerichtet hat und daß sie sich in die Zimmergestaltung von den Eltern nicht „reinreden“ läßt. In Ost und West legen Lea und Babsy auf ihre Privatsphäre im eigenen Zimmer großen Wert, die ihnen von den Eltern auch gelassen wird.

In eher traditionellen Familien sind die Möglichkeiten und Regeln bezüglich des Kinderzimmers weit rigider. Bei der westdeutschen Iris und dem ostdeutschen Markus ist die Gestaltung ihrer Zimmer kein Thema, das sie in ihrem Alter beschäftigt. Die Eltern haben die Zimmer eingerichtet, und die Kinder, die natürlich auch Bilder und Poster aufhängen, finden alles so in Ordnung, wie es ist. Auch die Ordnungsregeln und der Rahmen für erlaubte und nicht erlaubte Aktivitäten im Kinderzimmer sind enger gezogen. Das Zimmer als wichtiger kindlicher Handlungsraum wird also in traditionellen Familien stärker fremdkontrolliert und ist weniger Privatsphäre. So klopfen Tommis Eltern auch nie an und betreten sein Zimmer, wann sie möchten. Im Gegenzug erzählt Tommi, daß er, wenn er mal allein sein möchte, sich mit dem Rad in den Wald zurückzieht, wo er ein geheimes Versteck kennt. 3. Moderne Kinder müssen zu Hause weniger mithelfen Zu den festen Handlungsregeln in traditionellen Familien gehört nicht nur die Ordnung im eigenen Zimmer. Folgt man den Äußerungen in den Interviews, so erwarten die Eltern auch -anders als dies anscheinend moderne Eltern tun -, daß die Kinder stärker im Haushalt mithelfen. Aus den Fragebogendaten ergibt sich, daß die ostdeutschen Kinder deutlich häufiger angeben, „oft“ im elterlichen Haushalt mitzuhelfen. Im Osten sind es immerhin 41 Prozent aller Mädchen, die angeben, im Haushalt „oft“ mitzuhelfen. Im Westen sind es nur 27, 7 Prozent aller Mädchen. Die westdeutschen Mädchen werden bei der Mithilfe im Haushalt sogar von den ostdeutschen Jungen übertroffen: 34, 4 Prozent helfen „oft“ mit. Am wenigsten Zeit für die Mithilfe im Haushalt bringen westdeutsche Jungen auf: Nur 15, 5 Prozent von ihnen tun dies „oft“.

Bei Lea und Babsy, also in Ost wie West, gibt es (laut Interview) ein „ewiges Auffordern und Ermahnen“ zur Mithilfe im Haushalt. Gegen diese, ihre Freizeit einschränkenden Ansprüche setzensich aber beide (modernen) Mädchen oft erfolgreich zur Wehr. In den Interviews sind es vor allem Kinder aus traditionellen Familien, die im Haushalt mithelfen. Anders als Lea und Babsy hilft z. B. Iris mit ihrem traditionellen westdeutschen Familienhintergrund der Mutter sogar öfter freiwillig beim Einkäufen, Kochen und Putzen. Und Markus gehört zu den stärker familienorientierten ostdeutschen Jungen, die ihren Eltern öfter zur Hand gehen (müssen). Die Eltern sind stolz darauf, wie kräftig und nützlich ihr Markus geworden ist. 4. Moderne Kinder (ver) planen ihre Freizeit und haben viele Termine Daß der ostdeutsche Markus stärker familienorientiert und weniger peergroup-orientiert ist, entspricht einem Ost-West-Unterschied, wie er sich aus den Fallstudien ergibt. Kinder im Osten sind in ihrer Freizeit noch stärker als im Westen auf die Familie und die Nachbarschaft bezogen. Moderne Kinder sind demgegenüber hüben wie drüben stärker peergroup-zentriert. So sind zum Beispiel Lea und Babsy als moderne Kinder kaum familien-orientiert, obwohl bei Lea diese Tendenz noch eindeutiger ist als bei Babsy: Bei ihr gibt es selbst bei kurzfristig geplanten Verwandtenbesuchen Streit, und es kommt vor, daß sich Lea verweigert. Aber beide verbringen die Wochenenden nicht selbstverständlich mit den Eltern. Bei Verwandtenbesuchen bedarf es vorher genauer Absprachen. Dies ist nach den quantitativen Ergebnissen typisch für Kinder mit Eltern in höheren Berufspositionen: Sie unternehmen weniger etwas zusammen mit ihren Eltern als Kinder mit Eltern in niedrigeren Positionen. Demgegenüber geben besonders Kinder mit niedrigem sozialen Status der Eltern an, häufig mit ihren Eltern femzusehen Der westdeutsche Tommi zum Beispiel sieht fast jeden Tag zusammen mit seinem Vater fern.

Tommi sieht seinen Lebensschwerpunkt auch eher in der Familie. Er langweilt sich nach eigenen Angaben, wenn zu Hause mal niemand da ist, und meidet Situationen, in denen moderne Kinder eher allein in ihrem Zimmer lesen und Musik hören oder „stundenlang“ mit Freunden telefonieren. Allerdings sind es vor allem die modernen westdeutschen Kinder, die ihre vielen Termine und Beziehungen über das Telefon organisieren, während in traditionellen Familien das lange Telefonieren der Kinder häufig Konfliktstoff ist.

Drei oder mehr feste Termine pro Woche sind nach den Fragebogenergebnissen (vgl. Abbildung 4) typisch für moderne Kinder mit Eltern in gehobenen Berufspositionen. Dieses Ergebnis deckt sich ungefähr mit den Ergebnissen einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) München, in der herausgefunden wurde, daß in der unteren Mittelschicht 25 Prozent, in der mittleren Mittel-schicht 33 Prozent und in der oberen Mittelschicht 40 Prozent aller westdeutschen Kinder drei und mehr Termine in der Woche haben In den neuen Bundesländern ist allerdings nach unseren Ergebnissen die Anzahl der Kinder mit über drei Terminen pro Woche seltener als im Westen (21, 6 gegenüber 37 Prozent).

Zentrum der kindlichen Terminkultur ist die Schule und der Schulweg. Hier verabreden sich die meisten Kinder für ihre Nachmittagsaktivitäten. Im Osten treffen sich noch mehr Kinder auch ohne Verabredung zum Spielen auf der Straße. Demgegenüber ist die Chance eines westdeutschen Kindes gering, ohne vorherige Verabredung Spielpartner zu finden, da die anderen oft schon alle verabredet sind. Dies hängt auch damit zusammen, daß sich vor allem moderne Kinder (im besonderen Mädchen) oft paarweise treffen. Nach unseren Fragebogenergebnissen spielen westdeutsche Kinder häufiger zu zweit als die ostdeutschen (West 46, 6 Prozent, Ost 35, 6 Prozent), die noch eher zu mehreren etwas unternehmen (West 27, 2 Prozent, Ost 37, 4 Prozent). 5. Moderne Kinder sind häufiger „verinselt" und „verhäuslicht"

Zu den unterschiedlichen Terminen und Sozialbeziehungen moderner Kinder gehört ein funktional differenzierter Kinderraum. Die Handlungsräume der westdeutschen Kinder sind dabei stärker „verinselt“ und „verhäuslicht“. In den neuen Bundesländern wird der Nahraum im Wohnungsumfeld noch eher genutzt. Ein wesentlicher Unterschied bei den Freizeitaktivitäten von Babsy und Lea ist die räumliche Verteilung der Freizeitorte. Während Babsy (Ost) alle ihre Termine und auch die Schule, sei es zu Fuß oder mit dem Rad, allein erreichen kann, ist Leas Lebenswelt (West) deutlich in weit auseinanderliegende Räume aufgeteilt: Zur Schule muß sie mit dem Bus fahren, zum Reiten in ein zehn Kilometer entferntes Dorf gebracht werden. Insgesamt sind Kinder im Westen stärker transportabhängig als im Osten.Babsy lebt in der für die neuen Bundesländer zur Zeit noch typischen Nachbarschaft. Hier ist ihre Schule, hier findet sie ihre Freundinnen und ihre Freizeitorte. Lea hat demgegenüber eine „verinselte" Kindheit, wie sie für westdeutsche Kinder moderner Prägung nicht untypisch ist. Zu erwarten ist freilich, daß sich im Osten mit der Auflösung der Nachbarschaftsschule und den neuen vereinsorientierten Freizeitangeboten eine ähnliche „Verinselung" der kindlichen Lebenswelt entwickeln wird.

Im Grad der „Verinselung" unterscheiden sich nicht nur die ostdeutschen von den westdeutschen Kindern, sondern -zumindest im Westen -die modernen Kinder von den eher traditionellen Kindern. So ist der Lebensraum von Iris (bis auf die Busfahrt zur Schule) noch um den Nahbereich der (dörflichen) Nachbarschaft zentriert. Dort erlebt sie zumindest teilweise noch eine traditionelle Straßenkindheit: Sie trifft sich mit Nachbarskindern, fährt auf der Straße Rad, Rollschuhe oder Skateboard, oder sie macht in der Nachbarschaft Streiche. Die alltägliche Nahfeldorientierung von Iris ist keineswegs nur auf ihre ländliche Umwelt zurückzuführen, denn wir haben auch mehrere moderne Kinder auf dem Land gefunden, die sich fast ausschließlich an Angeboten in der nahen Stadt orientieren. Andererseits bedeutet die Feststellung eines Trends im modernen Kinderleben hin zu „Verinselung“ und „Verhäuslichung" nicht, daß es nicht auch modernere Kinder gibt, die sich zum Spielen mit Nachbarskindern auf der Straße treffen.

Die DJI-Studie zeigt, daß bei 8-bis 12jährigen Kindern in Landgemeinden und in Stadtteilen immerhin 43 Prozent angeben, öffentliche Räume zu nutzen und an einer Vielzahl von Spielorten ihre Freizeit zu verbringen Übereinstimmend mit unseren Ergebnissen wurde festgestellt, daß es allerdings vor allem die Mädchen sind, die insgesamt stärker verhäuslicht sind

Insgesamt zeigt dieser erste Trendbericht aus unserem deutsch-deutschen Forschungsprojekt, daß es trotz zahlreicher Unterschiede im Kinderleben hüben und drüben auch viele gemeinsame Modernisierungstendenzen gibt, die es freilich noch weitaus genauer im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Aufwachsen aller, also nicht nur der modernen Kinder zu analysieren gilt. Denn neben der Herausbildung einer modernen Kinderkultur dürfte es vor allem auch die nicht zu übersehende „Kultur der Armut“ sein, von der besonders das Kinderleben in Ostdeutschland zunehmend geprägt sein wird und die unsere besondere Aufmerksamkeit beanspruchen muß.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im folgenden Beitrag werden zusammenfassend erste Ergebnisse einer deutsch-deutschen Vergleichsstudie über „Lebensformen von 10-bis 14-jährigen Kindern“ und insbesondere über die Freizeitaktivitäten und Freizeitinteressen dieser Altersgruppe vorgestellt. Die Studie ist Teil einer umfassenderen Untersuchung zu „Kinderbiographien, Kinder-kultur und familialen Generationsbeziehungen“ in drei westeuropäischen Regionen (Ostdeutschland: Halle/Merseburg; Westdeutschland: Marburg/Frankfurt am Main; Niederlande: Leiden/Rotterdam).

  2. Vgl. Lückeprojekt, Die „Lücke“ -Kinder. Zur Freizeit-situation von 9-bis 14-jährigen, Weinheim -Basel 1984.

  3. Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt am Main-New York 1992.

  4. Wir lehnen uns damit an Modernisierungskonzepte an, die Modernität als das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses verstehen, in dem sich bestimmte Eigenschaften der Gesellschaft herausbilden. Wir gehen von partiellen Modernisierungstrends aus, die als Prozesse des sozialen Wandels verstanden werden, „der zur Institutionalisierung relativ moderner Sozialformen neben erheblich weniger modernen Strukturen in ein und derselben Gesellschaft führt“. Vgl. M. Rainer Lepsius, Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der „Moderne“ und die „Modernisierung“, in: Rein-hart Koselleck (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 10-29, und Dietrich Rüschemeyer, Partielle Modernisierung, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln-Berlin 19713, S. 382-396.

  5. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986.

  6. Zur Utopie der Moderne als Fortschrittsideologie vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1989, S. 43ff.

  7. Vgl. Käte Pollmer/Klaus Hurrelmann, Familientraditionen und Erziehungsstile in Ost-und Westdeutschland im Vergleich, in: Kind, Jugend und Gesellschaft, (1992) 1, S. 2-7; vgl. auch den Beitrag von Christian Palentien/Käte Pollmer/Klaus Hurrelmann in diesem Heft.

  8. Unberücksichtigt bleibt neben der deutsch-deutschen Vergleichsperspektive die Tatsache, daß heutige Kinder in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft mit entsprechend ausdifferenzierten Modemitätsindikatoren für das Kinderleben aufwachsen.

  9. Vgl. U. Beck (Anm. 5).

  10. Vgl. dazu auch Peter Büchner/Burkhard Fuhs/Heinz-Hermann Krüger, Kinderleben. Deutsch-deutscher Vergleich: Freizeitaktivitäten und Freizeitinteressen 10-bis 14jähriger Kinder, in: HORT heute/Ganztagserziehung, 4 (1993) 2, S. 12-15.

  11. Vgl. Bernward Joerges (Hrsg.), Technik im Alltag, Frankfurt am Main 1988, S. 20.

  12. Vgl. Ursula Nissen, Freizeit und moderne Kindheit. Sind Mädchen die „moderneren“ Kinder? in: Zeitschrift für Pädagogik, 29. Beiheft (1992), S. 281-284.

  13. Das heißt, daß der Lebensraum des Kindes -wie Inseln verstreut -innerhalb, aber vor allem außerhalb des Wohnungsumfeldes zu finden ist. Vgl. Helga Zeiher, Die vielen Räume der Kinder, in: Ulf Preuss-Lausitz u. a., Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder, Weinheim-Basel 19892.

  14. Das heißt, daß die Lebenswelt der Kinder in geschützte Räume hinein verlagert wird. Vgl. Jürgen Zinnecker, Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind, in: Imbke Behnken (Hrsg.), Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation, Opladen 1990, S. 142-162.

  15. Vgl. Peter Büchner/Burkhard Fuhs/Heinz-Hermann Krüger, Kinderalltag und Kinderfreizeit in Ost-und Westdeutschland, in: deutsche jugend, 41 (1993) 1, S. 31-41, hier S. 32.

  16. Beim Fernsehen läßt sich zudem noch ein Ost-West-Unterschied feststellen: Die ostdeutschen Kinder sehen häufiger fern als ihre westdeutschen Altersgenossen.

  17. Vgl. Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Was tun Kinder am Nachmittag?, München 1992, S. 165.

  18. Vgl. ebd., S. 139-148.

  19. Vgl. ebd., S. 147.

Weitere Inhalte

Peter Büchner, Dr. rer. soc., geb. 1941; Professor für Erziehungswissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. -Veröffentlichungen u. a.: Einführung in die Soziologie der Erziehung und des Bildungswesens, Darmstadt 1985; (Mithrsg.) Kindheit und Jugend im interkulturellen Vergleich, Opladen 1990; (Mithrsg.) Aufwachsen hüben und drüben, Opladen 1991. Burkhard Fuhs, Dr. phil., geb. 1956; Studium der Pädagogik und Europäischen Ethnologie in Marburg: Mitarbeit in drei Projekten zur Kindheits-und Sozialisationsforschung. -Veröffentlichungen u. a. Mondäne Orte einer vornehmen Gesellschaft. Kultur und Geschichte der Kurstädte 1700-1900, Hildesheim 1992; Aufsätze zu Technikgeschichte und Naturwahrnehmung und zur aktuellen Kindheitsforschung.