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Irland: Noch immer ein ungewöhnlicher Fall? | APuZ 47-48/1992 | bpb.de

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APuZ 47-48/1992 Das Ende der Neutralität. Die neutralen Staaten im Wandel der Weltpolitik Österreich: Was bleibt von den Besonderheiten? - Die Schweiz zwischen Isolation und Integration Irland: Noch immer ein ungewöhnlicher Fall?

Irland: Noch immer ein ungewöhnlicher Fall?

David M. Farrell

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die vorliegende Studie beginnt mit einem kurzen Überblick über das politische System Irlands, über seine Entstehung und den Einfluß Großbritanniens, über das Regierungs-und das Wahlsystem. Daran anschließend werden die strukturellen und sozialen Entwicklungen seit Anfang der sechziger Jahre untersucht, in denen demographische Veränderungen dramatischen Ausmaßes stattgefunden haben, sowie die sich abzeichnenden Säkularisierungsprozesse. Zwei Ereignissen wird dabei besondere Aufmerksamkeit gewidmet, dem Beitritt Irlands zur Europäischen Gemeinschaft Anfang der siebziger Jahre und dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Nordirland Ende der sechziger Jahre. Der darauffolgende Abschnitt ist der Entwicklung des irischen Parteiensystems und des Wählerverhaltens gewidmet. Insbesondere werden die wachsende Zahl der Wechselwähler, das Aufkommen neuer Parteien, die zunehmende Bedeutung sozialer Themen im Wahlkampf, der Trend zum schichtenspezifischen Wähler-verhalten, Veränderungen in der Parteienorganisation, die Modernisierung der Wahlkampfstrategien und die zunehmenden Kosten der „Politik“ untersucht. Aus all diesen politischen Veränderungen in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten wird in der vorliegenden Studie die Schlußfolgerung gezogen, daß Irland nicht mehr als „einzigartig“ unter den Staaten Westeuropas beschrieben werden kann.

I. Geschichte und Grundlagen

Tabelle 1: Wahlergebnis 1989 Quelle: Amtliches Wahlergebnis.

Irland ist erst seit etwas über siebzig Jahren unabhängig. Nach der Unterzeichnung des Vertrages mit dem Vereinigten Königreich von Großbritannien (Anglo-Irischer Vertrag), das 26 der insgesamt 32 Grafschaften (Kreisen) der Insel den Commonwealth-Status gewährte, wurde 1921 der Irische Freistaat gegründet. Im Jahre 1920 war bereits durch die Schaffung eigener politischer Institutionen (nach dem Sitz des Parlaments als „Stormont" bezeichnet) der sechs nördlichen Grafschaften die Teilung der Insel offiziell anerkannt worden. Diese Teilung war die Antwort der britischen Regierung auf die konfligierenden Interessen der nationalistischen Mehrheit -zum größten Teil Katholiken -, die die Unabhängigkeit anstrebte, und der im Nordosten konzentrierten unionistischen Minderheit -hauptsächlich Protestanten -, die unter allen Umständen an der Zugehörigkeit zu Großbritannien festhalten wollte. Gerade die Teilung sowie die begrenzte Unabhängigkeit des Irischen Freistaates, dessen Souveränität von der Britischen Krone noch immer eingeschränkt wurde, führten zu einem kurzen, aber blutigen Bürgerkrieg in den Jahren 1922/23, der die Trennung der beiden Landesteile besiegelte und die Grundlage für das irische Parteiensystem bildete

Als Irland unabhängig wurde, gab es im wesentlichen zwei Parteien: die Labour-Party, die im Jahre 1912 als Gewerkschaftspartei gegründet und nach dem Muster sozialistischer Parteien in anderen Ländern aufgebaut worden war, und die 1905 gegründete Sinn Fin (Wir selbst), die seit 1918 als wichtigste politische Kraft für die Abspaltung vom Vereinigten Königreich eingetreten war. Im Streit um den Anglo-Irischen Vertrag spaltete sich die Sinn Fin. Diejenigen, die den Vertrag als Ausverkauf des Republikgedankens ablehnten, gründeten 1926 die Fianna Fäil (Schicksalskämpfer); diejenigen, die ihn befürworteten, fanden sich 1933 in der Fine Gael (Stamm der Gälen) zusammen. Von den dreißiger bis in die achtziger Jahre hinein bestand das irische Parteiensystem fast ausschließlich aus diesen drei Parteien: Fianna Fäil, Fine Gael und Labour.

Während der dreißiger Jahre weichten die von der Fianna Fäil gestellten Regierungen unter Eamonn de Valera schrittweise die Beschränkung der irischen Unabhängigkeit durch Großbritannien auf. Seinen ersten Niederschlag fand dieser Prozeß in der von Valera 1937 in Kraft gesetzten Verfassung; er wurde abgeschlossen mit der Ausrufung der Republik 1948.

Zur Zeit des Unabhängigkeitsprozesses dominierte in der Wirtschaft der 26 Grafschaften der Agrarsektor. Sieht man von einigen kleineren Industriebetrieben in Dublin ab, so befand sich das industrielle Zentrum in Belfast und den umliegenden Gebieten im Nordosten. Die Teilung machte aus dem neuen Staat ein Agrarland mit in der Regel bäuerlichen Kleinbetrieben. Die wirtschaftliche Entwicklung ging nur schleppend und in kleinen Etappen voran. Eine wichtige Rolle spielten die halbstaatlichen Betriebe und in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren die staatlichen Bemühungen um eine zentrale Wirtschaftsplanung. Bis zu Beginn der siebziger Jahre hatte sich Irland -weitgehend unter Auslassung der industriellen Revolution -zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickelt. Die dreieinhalb Mio. Einwohner konzentrierten sich überwiegend in den urbanen Regionen.

II. Institutionelle Rahmenbedingungen

Tabelle 2: Durchschnittliche Wählerunterstützung für linke Parteien 1 im Westeuropa der Nachkriegszeit Quelle: Peter Mair, Explaining the Absence of dass Politics, in: J. Goldthorpe/C. Whelan (Hrsg.), The Development of Industrial Society in Ireland, Oxford 1992.

1. Regierungssystem Das irische Regierungssystem lehnt sich eng an das britische Westminster-Modell an Der Staat ist zentralistisch aufgebaut (d. h., die Städte und Gemeinden sind politisch nahezu einflußlos), das gesetzgebende Organ besteht aus zwei Kammern, und es existiert eine unabhängige Verwaltung. Im Unterhaus des Parlaments, dem Däil, sitzen 166 Abgeordnete, die vom Volk gewählt werden. Der Senat, das Oberhaus, hat 60 Sitze. In ihm sind gewählte Abgeordnete, Stadträte, von den Universitäten entsandte Akademiker und der Ministerpräsident (Taoiseach), der elf der Mitglieder ernennt, vertreten. Die Regierung wird von den und aus den Reihen der Abgeordneten des Däil gewählt; nur zweimal hat der Ministerpräsident von seinem Recht Gebrauch gemacht, einen Senator zum Minister zu ernennen. Die Festlegung des Wahltermins ist ausschließlich dem Regierungschef Vorbehalten, der spätestens nach fünf Jahren Neuwahlen ausschreiben muß.

In einigen Punkten unterscheidet sich das irische System jedoch vom Westminster-Modell. So gibt es z. B. eine geschriebene Verfassung. Die derzeitige, die 1937 in Kraft trat und die alte Verfassung von 1922 ablöste, kann nur durch ein Referendum modifiziert werden -eine Möglichkeit, von der selten Gebrauch gemacht wird. Eine wichtige Rolle spielt der Oberste Gerichtshof, dessen vorrangige Aufgabe die Auslegung der Verfassung ist. Staatsoberhaupt ist -wie in parlamentarischen Demokratien üblich -ein mit nur geringen Vollmachten ausgestatteter Präsident, der vom Volk gewählt wird.

Eine erwähnenswerte Besonderheit des irischen Systems ist die parlamentarische Interessenvertretung. Politikwissenschaftler haben dieses Phänomen untersucht und dabei festgestellt, daß die Beziehungen zwischen Politikern und Wählern klientelistischer Natur (Patronagebeziehungen) sind -normalerweise ein Kennzeichen agrarischer, unterentwickelter Gesellschaften. Der Politiker spielt demnach in Irland die Rolle eines Maklers zwischen dem Wahlkreis und der Verwaltung. In wirtschaftlich und sozial entwickelten Gesellschaften sollte der politikwissenschaftlichen Theorie zufolge die Rolle des Politikers als Makler hinter der „konventionellen“ Rolle als Gesetzgeber zurücktreten. In den achtziger Jahren ließen sich für diese These keine Belege anführen: Die Abgeordneten in Dublin schenken ihre Aufmerksamkeit ebenso-sehr ihrer Arbeit im Wahlkreis wie ihre ländlichen Kollegen. Wenn überhaupt, so konnten die Forschungsergebnisse nur das Augenmerk auf die deutliche Zunahme der Aufgaben eines durchschnittlichen Volksvertreters im Wahlkreis lenken 2. Wahlsystem Das irische Wahlsystem basiert auf dem Verhältniswahlrecht in Form des sogenannten Single Transferable Vote (STV), das außer in Irland nur noch bei nationalen Wahlen in Malta angewandt wird. Es gilt im allgemeinen nur als unvollkommenes Verhältniswahlrecht da es zwar kleinen Parteien den Einzug ins Parlament erlaubt, ihnen aber gleichzeitig Hindernisse in den Weg legt. Wie beim relativen Mehrheitswahlrecht in Großbritannien, ermöglicht das Verhältniswahlsystem in Irland kleinen Parteien nur dann ein Überspringen der parlamentarischen Hürde, wenn sie in einer Region starke Unterstützung erhalten. Gemäß der Verfassung wird dieses Wahlrecht auf das irische System mit seinen Mehrpersonen-Wahlkreisen (Wahlkreise mit drei, vier oder fünf Mandaten) für das nationale Parlament angewandt. Die Regierung muß gewährleisten, daß die Wahlkreise ausgewogen repräsentiert werden (auf 20000 bis 30000 Wähler kommt ein Abgeordneter). Andernfalls muß sie sich vor dem Verfassungsgericht verantworten, wie es schon einmal geschehen ist. Diese Bestimmung hat die Regierung in der Vergangenheit allerdings nicht an dem Versuch gehindert, den Wahlsieg ihrer Partei mittels Neufestsetzung bzw. „Zurechtschneidung“ (gerrimandering) der Wahlkreise zu erreichen. Seit Ende der siebziger Jahre haben die Regierungen die Festsetzung der Wahlkreise unabhängigen Kommissionen übertragen, denen ein Richter des Obersten Gerichtshofs vorsitzt.

Diese Entwicklung wird als ein Grund für die Instabilität der Regierungen in den achtziger Jahren angesehen. 1959 und 1968 waren jeweils Versuche unternommen worden, die Verhältniswahl durch die relative Mehrheitswahl zu ersetzen. In beiden Fällen sprach sich das Volk in Referenden gegen eine Reform aus Hochrangige Politiker haben in den letzten Jahren mit dem Hinweis auf die Instabilität der Regierungen während der achtziger Jahre den Ruf nach einer Wahlrechtsreform wieder laut werden lassen.

Ein wesentliches Merkmal des irischen Verhältnis-wahlrechts ist die Vorzugswahl, die Wählern erlaubt, so viele Kandidaten, wie auf dem Wahlzettel angegeben sind, anzukreuzen und nach Priorität zu ordnen. Diese Regelung ermöglicht auch die gleichzeitige Wahl von Kandidaten verschiedener Parteien in einem Wahlkreis. Eine von mehreren Konsequenzen, die sich daraus ergeben ist, daß es den Parteien schwerfällt, die innerparteiliche Geschlossenheit zu wahren, da das Wahlsystem auch den Wettbewerb von Kandidaten derselben Partei begünstigt. In den Parteizentralen wurden daher zunehmend Strategien zur „Stimmenstrukturierung“ entwickelt -zur Aufteilung der Wahlkreise nach den unterschiedlichen Kandidaten derselben Partei-, um sowohl dieses Problem in den Griff zu bekommen als auch die Segnungen des irischen Systems bei einer günstigen geographischen Verteilung der Wählerschaft optimal zu nutzen (die wissenschaftliche Literatur nimmt auf dieses Phänomen unter dem Namen „Freund-und Nachbarschaftseffekt“ Bezug)

III. Wirtschaftlicher und sozialer Wandel

Tabelle 3: Anteil der Parteimitglieder an den Wahlberechtigten (in Prozent) Quelle: R. S. Katz u. a., The Membership of Political Parties in European Democracies 1960-1990, in: European Journal of Political Research, 22 (1992).

1. Strukturelle Entwicklungen Den Beginn wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung im modernen Irland datiert man am besten auf das Ende der fünfziger Jahre, den Zeitpunkt der ersten Schritte zu einer ökonomischen Planung Die Wirtschaftsplanung brachte die Industrialisierung der Gesellschaft mit sich, die Migration der Landbevölkerung zu den industriellen Ballungszentren mit ihrem ausgeprägten Dienstleistungssektor beschleunigte sich, und die Ausgaben für Erziehung wuchsen. Gleichzeitig wendete sich das Inland -analog zu internationalen Entwicklungen -vom außenwirtschaftlichen Protektionismus ab und schrittweise dem freien Handel zu. Dieser Prozeß kulminierte in Irlands Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1973 und in den dabei erzielten wirtschaftlichen Vorteilen vor allem in den siebziger Jahren.

Wie Rottman und O’Connell dargelegt haben, waren „die demographischen Konsequenzen der wirtschaftlichen Expansion in Irland, bald offensichtlieh“ Zum ersten Mal seit der Hungerkatastrophe in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts stieg die Bevölkerungszahl an, hervorgerufen durch eine sinkende Auswanderungsrate und durch eine sich beschleunigende Geburtenrate. In der Mitte der siebziger Jahre „litt“ Irland erstmals unter einer Zuwanderung in solchem Ausmaß, daß die Bemühungen der Regierung zur Schaffung von Arbeitsplätzen erfolglos blieben. Erst in den achtziger Jahren, als das Land in eine Schuldenkrise stürzte -das Ergebnis beträchtlich überzogener Staatsausgaben ab 1977 -und gleichzeitig mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hatte, sank das Nettowachstum der Bevölkerung: Von 1981 bis 1986 emigrierten 75000 Personen, die meisten von ihnen überdurchschnittlich gut ausgebildet Insgesamt gesehen ist die Periode von den frühen sechziger Jahren bis heute eine Phase dramatischer demographischer Veränderungen, die sich besonders in zwei Entwicklungen manifestieren:

Zum einen wuchs die Gesamtzahl der Bevölkerung, insbesondere stieg der Anteil der jüngeren Generation (was dazu beiträgt, daß Irland innerhalb Europas den größten Bevölkerungsanteil an Personen verzeichnet, die von staatlichen Transferleistungen abhängig sind). Diese Tendenz schlug sich in der Entscheidung von 1972 nieder, das Wahlalter auf 18 Jahre zu senken. Ende der achtziger Jahre war die irische Bevölkerung auf knapp über dreieinhalb Millionen angewachsen, davon waren 28 Prozent jünger als 15 Jahre.

Zum anderen hat sich die Beschäftigungsstruktur deutlich verändert. Eine Zeitlang basierte die irische» Volkswirtschaft hauptsächlich auf dem landwirtschaftlichen Sektor. Noch zu Beginn der vierziger Jahre waren über 50 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. Seither hat sich die Beschäftigungsstruktur merklich verändert. Der Anteil der Beschäftigten im industriellen Sektor wuchs stetig von 13 Prozent 1926 auf 32 Prozent 1980, bevor er 1990 auf 29 Prozent zurückfiel. Auch der Dienstleistungssektor verzeichnete einen kontinuierlichen Zuwachs von 34 Prozent 1926 auf 57 Prozent 1990. 1990 war unterdessen der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten auf 15 Prozent gesunken. Wenngleich dies für irische Verhältnisse gering erscheint, haben innerhalb der EG nur die griechische, spanische und portugiesische anteilsmäßig Volkswirtschaft einen größeren Agrarsektor. In ihrer Studie der strukturellen Entwicklung Irlands in den letzten dreißig Jahren haben Richard Breen und seine Kollegen hervorgehoben, daß die Art und Weise, das Tempo sowie die zeitliche Abfolge der Veränderungen erhebliche Konsequenzen für die soziale Schichtung der irischen Bevölkerung hatten. Sie fanden heraus, daß „die Veränderungen der schichtenspezifischen Zusammensetzung der irischen Arbeitnehmerschaft aus einer industriellen Entwicklung resultierte, die schneller vonstatten ging, später auftrat und stärker vom Staat initiiert war als in den meisten westlichen Gesellschaften“ Die von ihnen analysierten Volkszählungsdaten ergaben einen starken Anstieg des Anteils der Angestelltenberufe an den Beschäftigten (von 5 Prozent 1951 auf 17 Prozent 1985) und der Facharbeiter (von 10 auf 20 Prozent im gleichen Zeitraum). Außerdem stellten die Autoren einen -wenn auch weniger drastischen -Anstieg an Arbeitern der unteren Mittelschicht fest (von 14 auf 22Prozent). Im Gegensatz dazu sank der Anteil der angelernten und ungelernten Arbeiter im gleichen Zeitraum von fast 25 auf Prozent. Wie die Autoren weiter ausführ auf 22Prozent). Im Gegensatz dazu sank der Anteil der angelernten und ungelernten Arbeiter im gleichen Zeitraum von fast 25 auf 12 Prozent. Wie die Autoren weiter ausführen, fällt unter die letztgenannte Veränderung auch die „teilweise massive Abnahme“ der Beschäftigten im Landwirtschaftssektor (um 74000 auf 21000 im Jahre 1985). Aus diesen Ergebnissen schließen die Autoren, daß „Irland nicht länger als kleinbürgerlich charakterisiert werden kann: heute überwiegen die Arbeitgeber mit Großbetrieben und die qualifizierten Arbeitnehmer“.

Die andere herausragende Kategorie ist die der Arbeitslosen, deren Ausmaß inzwischen krisenhafte Züge angenommen hat. Ihre Zahl ist drastisch angestiegen, von über 5 Prozent 1972 auf mehr als 21 Prozent 1992 -die höchste Arbeitslosenquote innerhalb der EG und die zweithöchste Steigerungsrate nach Großbritannien 12. Die in den siebziger und achtziger Jahren stark gestiegene staatliche Verschuldung verhindert indes, daß die Regierung wirksame Maßnahme gegen die Arbeitslosigkeit ergreifen kann. Zwar hat die Regierung in den letzten Jahren Schritte gegen die Verschuldung unternommen, doch beträgt sie noch immer um die 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung sind eine Erbschaft aller irischen Regierungen seit den fünfziger Jahren. Die Wirtschaftspolitik war seit dieser Zeit nach außen gerichtet; sie verfolgte in erster Linie das Ziel, ausländische Investoren ins Land zu holen und multinationale Unternehmen anzusiedeln. Obwohl die Strategie auf Privatinvestitionen ausgerichtet war, beteiligte sich auch der Staat an den Investitionen, indem er finanzielle Hilfen und Steuererleichterungen gewährte. Als Konsequenz dieser Politik manövrierte Irland sich in eine Abhängigkeit von internationalen Marktbewegungen und Konjunkturtrends, die es verwundbar machte. Als das Land in den siebziger Jahren von der internationalen Rezession mit betroffen wurde, reagierte die Regierung mit einer Aufstockung der Stellen im öffentlichen Dienst, die sie mit Kreditaufnahmen finanzierte.

Ein weiterer Grund für die hohe Staatsverschuldung liegt in der Ausweitung des Wohlfahrtsstaates. Seit den sechziger Jahren stiegen die Ausgaben für das Gesundheitswesen, für Erziehung, Wohnungsbau und Soziales stetig; denn alle Regierungen versuchten, das irische Wohlfahrtssystem auf den Standard der reicheren westeuropäischen Staaten, insbesondere Großbritanniens, anzuheben. In diesem Punkt waren sich alle Parteien einig; die Sozialausgaben stiegen konstant an, unabhängig davon, wer gerade an der Macht war. Für die soziale Absicherung bezahlten die Iren mit hohen Steuersätzen und der Staat mit Krediten. In den achtziger Jahren hatten die Gesamtausgaben des Staates (die meisten davon für Soziales) einen Anteil von 60 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) erreicht. 2. Sozialer Wandel Diese strukturellen Veränderungen fanden in einer Zeit des schnellen sozialen Wandels statt, die beispielsweise durch die Einführung des Fernsehens zu Anfang der sechziger Jahre 13 sowie -allgemeiner gesehen -durch die zunehmende Säkularisierung und damit einhergehend die abnehmende Bedeutung der katholischen Kirche gekennzeichnet war. Irland als katholischer Staat, sogar als Theokratie, wurde nicht zuletzt von den protestantischen bzw. unionistischen Politikern Nordirlands oft beschworen. Lange Zeit konnte diese These aufgrund der Verfassung, der konservativen Sozialgesetzgebung und der Einmischung der katholischen Hierarchie in die Politik gewählter Volksvertreter nicht geleugnet werden 14. Seit Ende der sechziger Jahre trug eine Reihe von Faktoren dazu bei, den eisernen Griff der Kirche zu lockern. Dazu gehörten die oben genannten demographischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die aktivere Rolle der Gerichte bei der Über-prüfung der Einhaltung der Verfassungsgebote und nicht zuletzt der Beitritt Irlands zur EG, der eine Anpassung der Sozialgesetzgebung und die Einführung neuer Gesetze in Anlehnung an die Rechtsverhältnisse in anderen Staaten der Gemeinschaft erforderte Nur sehr zögerlich wurden Gesetze unter anderem auf den Gebieten Frauen-. rechte, Adoption und Verhütung reformiert, andere Gesetze wurden weniger restriktiv ausgelegt -beispielsweise wurde die Zensur, unter der noch Autoren wie Samuel Beckett, James Joyce, Edna O’Brien und Brian Moore litten, weniger streng gehandhabt.

Doch der Prozeß des sozialen Wandels verlief nicht immer geradlinig. 1986 scheiterte der Versuch, das Scheidungsrecht zu reformieren, an der Bevölkerung, die auf den Rat der Kirche hin beim Referendum dagegen stimmte. 1983 war bereits in einem Referendum ein Verfassungszusatz mit überwältigender Mehrheit gebilligt worden, der Irlands restriktives Abtreibungsrecht vor einer Aufweichung durch EG-Recht schützt. Dieser Verfassungszusatz hat zu gerichtlichen Verfügungen geführt, nach denen Frauen nicht einmal grundlegende Informationen über Abtreibungskliniken in Großbritannien (jedes Jahr fahren Tausende irischer Frauen zum Schwangerschaftsabbruch nach Großbritannien) erhalten dürfen. Früchte dieser Politik sind die Zensur von Magazinen, die die Adressen von Abtreibungskliniken veröffentlichen, und der Fall eines vierzehnjährigen Vergewaltigungsopfers, das der Generalstaatsanwalt an der Ausreise zum Schwangerschaftsabbruch hindern wollte (der Fall wurde an den Obersten Gerichtshof weitergeleitet, der den Antrag der Staatsanwaltschaft ablehnte).

Gegen den Widerstand der Politiker setzten die Gerichte in den siebziger Jahren die Legalisierung von Verhütungsmitteln durch. Nachdem anfänglich Kontrazeptiva nur Eheleuten verschrieben werden durften, sind im Zuge einer allmählichen Liberalisierung Verhütungsmittel nun auch Unverheirateten zugänglich. Da Aids auch in Irland zu einem unübersehbaren Problem geworden ist, hat sich der Druck auf die Regierung verstärkt, den Zugang zu Kondomen zu erleichtern und die Altersschwelle für Jugendliche, die sie erhalten dürfen, von 18 auf 16 Jahre zu senken. Entsprechende Reformen wurden 1992 durchgesetzt, jedoch bleibt auf Druck der katholischen Kirche die Aufstellung von Kondomautomaten verboten. Als Kompromiß wurde das Mindestalter für den Zugang zu Präservativen auf 17 Jahre gesenkt.

Die katholische Kirche bleibt eine einflußreiche Institution in Irland, wie beispielsweise der hohe Anteil an gläubigen und praktizierenden Katholiken in der Bevölkerung oder die Dominanz der Kirche im Gesundheits-und Erziehungswesen zeigen. Die Abnahme der Häufigkeit von Kirchenbesuchen vor allem in städtischen Ballungszentren oder das wachsende Unbehagen in der Mittel-schicht und in Intellektuellenkreisen an der Einmischung der Kirche in soziale Belange weisen jedoch darauf hin, daß das Ausmaß des kirchlichen Einflusses in Zukunft möglicherweise weiter schrumpfen wird.

IV. Außenpolitik

Lange Zeit nahm Irland einen isolationistischen Standpunkt in der Außenpolitik ein. Es verfolgte hauptsächlich zwei Grundsätze: 1. Betonung der anglo-irischen Beziehungen, zum einen wegen der Bedeutung Großbritanniens als Exportmarkt für Irland und zum anderen wegen der Nordiriandfrage; 2. Neutralitätspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg (Irland ist kein Mitglied der NATO). Die Hauptveränderungen in den letzten Jahren waren der Beitritt Irlands zur EG Anfang der siebziger Jahre und die Entwicklung einer gemeinsamen Außenpolitik innerhalb der Gemeinschaft. Zusammenfassend kann daher gesagt werden, daß jede Änderung in der irischen Außenpolitik in den vergangenen zwanzig Jahren auf Entwicklungen in der EG zurückzuführen ist.

Irland ist seit seinem Beitritt zur EG 1973 ein begeistertes Mitglied der Gemeinschaft: Die wichtigsten Parteien und die Bauernlobby standen eindeutig hinter der EG, und Meinungsumfragen in halbjährlichen Abständen (Eurobarometer) ergaben ebenfalls starke Zustimmung. Bei drei Anlässen stimmte die Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit zugunsten der Europäischen Gemein-37 schäft, zuletzt beim Referendum über die Annahme des Vertrags von Maastricht, kurz nachdem die Dänen in einer Volksabstimmung die Ratifizierung abgelehnt hatten. Die Gründe für die starke Unterstützung der Gemeinschaft liegen auf der Hand. Irland hat von der Struktur-und Regional-hilfe der EG in hohem Maße profitiert. Die Zugehörigkeit zur EG hat die Abhängigkeit des Landes von Exporten nach Großbritannien reduziert und dem kleinen Staat ein größeres Gewicht in der Welt verschafft, als ihm unter normalen Umständen zugekommen wäre.

Bis heute hat Irland seine militärische Neutralität wahren können. Mit den Schritten hin zu einer politischen Union innerhalb der EG wird zweifelsohne auch der Druck auf Irland wachsen, diese aufzugeben. Einige hochrangige Politiker haben sich schon bereit gezeigt, die Aufgabe der Neutralität hinzunehmen, aber aus der Sicht führender Wissenschaftle/würde ein entsprechender Schritt „wahrscheinlich zu einer Zerreißprobe führen... möglicherweise in einem solchen Ausmaß, daß die EG-Mitgliedschaft Irlands in Frage gestellt wird“

Als letztes gesellschaftspolitisches Thema muß die Krisenregion Nordirland angesprochen werden. Seit dem Ausbruch der „Konflikte“ Ende der sechziger Jahre haben Politiker und Medien dem Norden verstärkt ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Politiker fürchteten vor allem die Möglichkeit eines Übergreifens der Gewalttätigkeiten auf den Süden. Größtenteils war diese Sorge unbegründet; jedoch hat die perzipierte Bedrohungssituation es den irischen Regierungen erlaubt, ein Notstandsgesetz zu verabschieden, das sie mit ähnlichen Vollmachten wie die britischen Behörden ausstattet.

Die Situation in Nordirland zwang die Politiker auch, ihre Position hinsichtlich einer „Wiedervereinigung“ zu überdenken: ob sie tatsächlich die beste Lösung ist, wie sie realistischerweise umgesetzt werden kann, was der Süden dazu beitragen kann, sie zu verwirklichen. Dieser Prozeß der Neubesinnung hat irische Politiker dazu gebracht, stärkere Anlehnung an und engere Zusammenarbeit mit Großbritannien zu suchen, was letztendlich zum anglo-irischen Abkommen von 1985 führte

V. Trends im Parteiensystem

1. Wählertrends Im Verlauf der irischen Wahlen hat die Fianna Fäil stets eine dominante Rolle gespielt. Ihr vorherrschender Status seit Ende der dreißiger Jahre ist unangefochten und gut belegt Abgesehen von einer kurzen Phase im Jahr 1932, als die Labour Party eine Minderheitsregierung der Fianna Fäil ‘unterstützte, betrieb diese ihre Politik sowohl in der Regierung als auch in der Opposition ohne Bündnispartner. Einzige Ausnahme ist die Koalition, die die Fianna Fäil 1989 mit den Fortschrittlichen Demokraten einging, eine Koalition, die 1992 unter zunehmenden Druck geriet. Die Wahlen können deshalb in nahezu der gesamten Geschichte Irlands als ein Wettbewerb zwischen Fianna Fäil einerseits und den restlichen Parteien andererseits betrachtet werden.

Nach der kurzen Periode eines lebendigen Mehrparteiensystems in den fünfziger Jahren formierte sich das Spektrum 1957 für zwei Jahrzehnte zu einem „Zweieinhalb-Parteien-Wettbewerb“. Fianna Fäil war während der gesamten sechziger Jahre an der Macht. Ihre sechzehnjährige Regierungszeit wurde erst durch den dramatischen Wahlsieg der „Nationalen Koalition“ zwischen Fine Gael und Labour 1973 beendet. Seit 1973 zeichnet sich zumindest ein Haupttrend ab: Bei jeder Wahl bis 1987 wechselten die Regierungen. An dieser Entwicklung läßt sich nicht zuletzt eine wachsende Loslösung der Wähler von den Parteien in Form einer deutlichen Abnahme der Parteien-identifikation ablesen Zu Beginn der achtziger Jahre zeigten sich zumindest zwei Konsequenzen der gesteigerten Mobilität irischer Wähler in der Politik, zum einen die zunehmende Häufigkeit von Parlamentswahlen (fünf während der achtziger, hingegen nur zwei während der siebziger Jahre) und zum anderen der Aufstieg neuer Parteien.

Gleichzeitig mit dem Ausbruch der Unruhen in Nordirland spaltete sich die Sinn Fin erneut Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre. Die offizielle Sinn Fin trat bei den Wahlen unter dem Namen Arbeiterpartei (Workers’ Party) auf Während der achtziger Jahre nahm sie, wenn auch in geringem Umfang, stetig zu und schien 1987 sogar die Labour Party in ihrer Position als die Partei der Linken zu bedrohen.

Die zweite Partei, der ein sehr viel dramatischerer Durchbruch gelang, waren die Fortschrittlichen Demokraten (Progressive Democrats/PD), die bei ihrer ersten Wahlteilnahme 1987 14 Sitze im Parlament gewannen. Auch die PD rekrutierte sich aus einer Flügelabspaltung von der Fianna Fäil Der prominente Fianna Fäil-Abgeordnete Desmond O'Malley, ein entscheidender Rivale des Vorsitzenden Charles Haughey, war wegen politischer Differenzen 1985 aus der Partei ausgeschlossen worden. Er reagierte schnell, um die Vorteile einer starken Unterstützung seiner Person sowie einer offensichtlichen Unzufriedenheit der Öffentlichkeit darüber auszunutzen, daß auch heute noch die unterschiedlichen Positionen von Fianna Fäil und Fine Gael sich auf ihre Kontroverse zur Bürgerkriegsfrage in den zwanziger Jahren (auf die beide Parteien zurückgehen) zurückführen lassen. 1986 gelang es O’Malley, eine Reihe von nationalen und lokalen Politikern sowohl von der Fianna Fäil als auch von der Fine Gael um sich zu scharen und mit ihnen die PD zu gründen. Ähnlich wie bei der Gründung der Sozialdemokratischen Partei in Großbritannien Anfang der achtziger Jahre wurde von einem „Zusammenbruch der Strukturen“ gesprochen, und die Medien waren völlig von dieser Problematik eingenommen. Trotz des beeindrukkenden Wahlergebnisses 1987 warnten die Skeptiker vor zu viel Euphorie angesichts des plötzlichen Aufstiegs und wiesen auf die Probleme hin, die neue Parteien mit hohen Ansprüchen in den vierziger und fünfziger Jahren bei den nachfolgenden Wahlen hatten. Diese Skepsis schien sich zu bestätigen, betrachtet man das Wahlergebnis der PD 1989 (Tabelle 1).

Als dritte Partei nahmen die Grünen die Hürde ins Parlament, die, nachdem sie Mitte der achtziger Jahre keine Mandate errungen hatten, über den Erfolg eines ihrer Dubliner Kandidaten 1989 erstaunter waren als fast alle anderen

Die jüngste Entwicklung in der irischen Parteien-landschaft war die Gründung einer neuen Partei durch sechs der sieben Abgeordneten der Workers’ Party (einschließlich des Parteivorsitzenden) im Februar 1992. Sie formierten sich zur Demokratischen Linken (Democratic Left) und übernahmen die meisten Mitglieder der Arbeiterpartei. Der Bruch war hervorgerufen worden durch die Unfähigkeit des Parteichefs, organisatorische Reformen herbeizuführen und das Prinzip des demokratischen Zentralismus abzuschaffen Die Parteiführung hatte gezögert, auf die parteiinterne Krise zu reagieren, die durch den Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa, durch ausgedehnte Medienspekulationen über eine Verbindung der Workers’ Party zur (offiziellen) Irisch-Republikanischen Armee (in Nordirland) sowie durch Parteischulden in Höhe von 500000 Irische Pfund hervorgerufen wurde. Es entstanden nicht nur neue Parteien, auch die etablierten Parteien waren einem Wandel unterworfen. Das besondere Augenmerk gilt an dieser Stelle dem Schicksal der Labour Party, die nach vorübergehenden Wahlerfolgen in den späten sechziger Jahren in der Wählergunst stetig und offensichtlich endgültig sank Darüber hinaus nahm im gleichen Maße, wie die Zustimmung für Labour abnahm, der Erfolg der Workers’ Party kontinuierlich zu, was bei Labour eine Endzeit-stimmung auslöste. Erleichterung brachte das Wahlergebnis von 1989 mit einer erheblichen Stimmensteigerung für Labour, das fast an das von 1981 heranreichte. 1990 gelang der Partei ein weiterer Erfolg, als ihre Kandidatin für das Präsidentenamt, Mary Robinson, bei der Wahl siegte. Es war das erste Mal überhaupt, daß ein Bewerber die Präsidentschaft errang, der nicht von der Fianna Fäil unterstützt wurde.

Die Wahltrends für die beiden größten Parteien, Fianna Fäil und Fine Gael, waren weniger ausgeprägt. Insbesondere muß hier der Zeitraum der achtziger Jahre betrachtet werden, in denen das Schicksal der beiden Parteien mit ihren angesehenen Vorsitzenden, Charles Haughey und Garret FitzGerald, eng verknüpft war. Haughey, der Anfang 1992 durch Albert Reynolds ersetzt wurde, führte die Fianna Fäil durch eine Serie düsterer Wahlniederlagen, während FitzGerald, der den Vorsitz in der Fine Gael von 1977 bis 1982 inne-hatte (der derzeitige Parteivorsitzende ist John Bruton), Vorteile aus den Problemen der Fianna Fäil zog und seiner Partei 1981/1982 beispiellose Wahlsiege bescherte. In der Folgezeit kostete die unpopuläre Regierungskoalition mit der Labor Party von 1982 bis 1987 die Fine Gael so viele Wählerstimmen, daß sie sich bislang noch nicht davon erholt hat. 2. Das Parteiensystem In der vergleichenden Politikwissenschaft wird die irische Parteienlandschaft als ein System sui generis betrachtet. Als Hauptgründe für diese Besonderheit werden die Schwäche der Linken, die schichtenübergreifende Unterstützung der Parteien durch die Wähler sowie das Unvermögen, irische Parteiensystem innerhalb vergleichbarer Politikmodelle zu orten, angeführt.

Daß die Linke in Irland schwach ist, läßt sich nicht bestreiten. 1989 erreichte die gesamte Linke -wenn man neben der Labour Party und der Workers’ Party auch die Grünen hinzurechnet -nur 16 Prozent der Stimmen, und dies muß als ausgesprochen gutes Ergebnis gewertet werden (vgl. Tabelle 1). Wie schwach die irische Linke während der letzten Jahrzehnte tatsächlich war, zeigt auch der Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern in Tabelle 2.

Einer der wesentlichen Gründe für das Fehlen einer starken Partei links von der Mitte ist der mangelnde Rückhalt irischer Parteien in soziodemographischen Wählergruppen. Dieser Punkt, den zuerst der inzwischen verstorbene John Whyte Anfang der siebziger Jahre herausstellte, wurde in den siebziger und frühen achtziger Jahren von den Politikwissenschaftlern immer wieder betont Damit verbunden war die Frage, wie angesichts der offensichtlichen Schwäche des Schichten-ansatzes die irischen Parteien am besten zu kategorisieren wären. Richard Sinnott brachte das überzeugende Argument vor, daß von den vier Konfliktlinien (cleavages), die Lipset und Rokkan entworfen hatten, die Zentrum-Peripherie-Konfliktlinie sich am besten zur Erklärung des Parteienschemas in Irland eignet. Demnach sind Fianna Fäil und Fine Gael die Erben des Bürgerkriegskonfliktes (in den zwanziger Jahren) über den Grad der Unabhängigkeit, die das Zentrum Großbritannien der Peripherie Irland gewährte

Im Verlauf der achtziger Jahre wurde die zwischenparteiliche Konfliktlage in Irland hauptsächlich aus zwei Gründen neu interpretiert. Zum einen ergab eine genauere Studie der Parteien-standpunkte ein wesentlich komplexeres Feld von Unterscheidungsmerkmalen der Parteien, als sie durch die „nationale Frage“ erklärt werden konnte. In einer Analyse der Wahlprogramme der Parteien über einen längeren Zeitraum hinweg eruierte Peter Mair, daß „die Parteien den traditionellen Nationalismus nicht als Argument benutzen, um Wechselwähler für sich zu gewinnen. Wenn Parteiprogramme die Wähler beeinflussen, dann mit ihren unterschiedlichen Stellungnahmen zur Wirtschafts-und Sozialpolitik sowie zum Regierungsstil.“ Zum anderen deutete eine Auswertung von Meinungsumfragen zur Wahl 1987, denen ein revidiertes Modell sozialer Schichtung zugrunde lag, auf eine neue parteipolitische Orientierung sozialer Gruppen hin. Die Studie kam zu dem Ergebnis, daß Fine Gael und Progressive Democrats zunehmend Wähler der Mittelschicht ansprachen, während die Fianna Fäil -traditionell eine Volkspartei par excellence -hauptsächlich für die Arbeiterschaft attraktiv war. „Irland“, so schlossen die Autoren, „ist nun ein Parteiensystem mit einigen sehr ausgeprägten sozialen Fundamenten.“ Es sollte jedoch angemerkt werden, daß es in der darauffolgenden Wahl 1989 eine Umkehr dieses Trends gab, da vor allem Fianna Fäil ihren schichtenübergreifenden Charakter wieder erlangte und sich erneut als Volkspartei etablieren konnte. Die Reaktionen darauf waren eher gedämpft: „Obwohl es eine Grundlage für ein Parteiensystem entlang der Schichtengrenzen geben mag, kam dies 1989 nicht zum Tragen.“ 3. Parteienorganisation und Parteienfinanzierung In der wissenschaftlichen Literatur ist ein zunehmendes Interesse an der Binnenstruktur von Parteien und an der Parteienfinanzierung zu verzeichnen. Vergleichende Studien haben gezeigt, daß Parteien sich zunehmend professioneller organisieren, daß sie dazu tendieren, einen Mitarbeiterstab mit Organisationsfragen zu befassen, Wahlkampf-experten hinzuzuziehen, den Marketingstrategien im Wahlkampf größere Aufmerksamkeit zu schenken und in allen Bereichen mehr Geld auszugeben. Parallel dazu ist die Bedeutung der Parteimitglieder schrittweise gesunken und die Abhängigkeit der Parteien von staatlicher Finanzierung gewachsen

Irland hat sich dem allgemeinen westeuropäischen Trend angepaßt. Dies läßt sich zumindest in drei Bereichen beobachten. Zum ersten haben sich die Wahlkampfstrategien stark verändert. Traditionellerweise bestanden die Wahlkämpfe früher aus einer Reihe von lokalen Wahlkämpfen, die vom Parteizentrum aus kaum koordiniert'wurden und sich nicht in eine nationale Wahlkampfstrategie einfügten. Ende der siebziger Jahre begannen Fianna Fäil und Fine Gael ihre Strategie zu ändern: In den Parteizentralen wurden die Mitarbeiterstäbe vergrößert, Wahlkampfberater sowie Agenturen engagiert, um landesweite Strategien auszuarbeiten, und die Parteistatuten geändert, um die Zentrale mit größeren Koordinations-und Kontrollkompetenzen auszustatten

Zweitens hat die Rolle und die Bedeutung der Parteimitglieder abgenommen. Seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ist die Zahl der Ortsverbände und der Mitglieder gesunken. Dieser Trend bestätigt sich sowohl bei Betrachtung der absoluten Zahlen als auch im Verhältnis der Mitgliederzahl zur Zahl der Wahlberechtigten bzw.der tatsächlichen Wähler. Im internationalen Vergleich gehören die irischen Parteien trotz der starken traditionellen Verwurzelung in der örtlichen Basis in den späten achtziger Jahren zu denjenigen mit dem in Relation zur Wählerschaft geringsten Mitgliederanteil (vgl. Tabelle 3).

Darüber hinaus zeigt sich die sinkende Bedeutung der einzelnen Mitglieder in den Finanzen der Parteien, auf deren Einnahmeseite die Mitgliedsbeiträge seit Mitte der achtziger Jahre einen geringeren Anteil als vordem ausmachten. Die Parteifinanzen insgesamt lassen sich als Indikator für eine dritte wesentliche Veränderung innerhalb der Parteien in den letzten Jahren werten. Von etwa 1980 an weisen die veröffentlichten Bilanzen der Fianna Fäil und der Fine Gael drastische Einkommenszuwächse und ebenso gestiegene Ausgaben auf. Bei den kleineren Parteien bestätigt sich dieser Trend, wenn auch in geringerem Ausmaß. Interessanter ist allerdings, was die veröffentlichten Bilanzen nicht enthüllen. Die Parteien sind nicht verpflichtet, ihre Finanzen offenzulegen. Jene, die es trotzdem tun, wählen die Informationen, die sie an die Öffentlichkeit weiterleiten, sorgfältig aus. Die Informationslücken können nur durch journalistische Recherche gefüllt werden, die in den frühen neunziger Jahren eine hohe Verschuldung aller Parteien -besonders aber der Fianna Fäil, der Fine Gael und der Workers’ Party/Demokratische Linke -zutage förderte. 1992 hat eine noch andauernde öffentliche Untersuchung eines mutmaßlichen Finanzskandals im Landwirtschaftsbereich den Beweis erbracht, daß eine hohe Abhängigkeit der Parteien rechts von der Mitte von finanziellen Zuwendungen aus der Wirtschaft besteht. Dies hat Spekulationen über eine mögliche politische Korruption angeheizt.

Das derzeitige Interesse an der Parteienfinanzierung hat den Ruf nach Einführung einer staatlichen Alimentierung als einzigem Weg, die Parteien von Unternehmerspenden unabhängiger zu machen, laut werden lassen. Im Verlauf dieser Debatte wurde dem deutschen System der Parteienfinanzierung durch den Staat große Aufmerksamkeit geschenkt. Kurioserweise wurde bei dieser Debatte aber übersehen, daß der irische Staat die Parteien und Politiker bereits mit großzügigen finanziellen Zuwendungen unterstützt. Ein großer Teil der Mitarbeiter der Parteien erhält sein Gehalt vom Staat; jedes Jahr bekommen die Parteivorsitzenden einen Zuschuß zur Förderung ihrer politischen Aktivitäten; für die Wahlkreisarbeit stellt der Staat jedem Abgeordneten eine Büro-kraft und einen Computer, unterstützt ihn mit Datenmaterial und einem finanziellen Zuschuß. Die Gesamtsumme für all diese Zwecke ist nicht zu vernachlässigen. 1989 zum Beispiel betrugen die Gesamteinnahmen aller Parteien weniger als drei Mio. Irische Pfund. Im gleichen Jahr gab der Staat für die Parteien und ihre parlamentarischen Vertreter schätzungsweise vier Mio. Irische Pfund aus.

VI. Schlußfolgerung

Nur zehn Jahre ist es her, daß ein außenstehender Betrachter der irischen Politik im Vorwort zu seinem Buch schrieb, lediglich durch Fußnoten sei seine Aufmerksamkeit auf Irland gelenkt worden. Immer wieder sei in der Fachliteratur der vergleichenden Politikwissenschaft lediglich angemerkt worden: „ausgenommen Irland“. Ob das Thema nun die soziale Basis der Parteien, die Rechts-Links-Orientierung der derzeitigen Wählerschaft, die Auswirkung des Verhältniswahlrechts, das klientistische Verhältnis von Funktionären und (Leistungen empfangenden) Mitgliedern in den Parteimaschinen oder der anhaltende Erfolg der Demokratie in relativ unmodernen Staaten gewesen sei, die Beobachtung sei die gleiche geblieben: „ausgenommen Irland“ Wie in der vorliegenden Analyse gezeigt wurde, lassen sich solche Aussagen für die neunziger Jahre nicht länger halten.

Irland hat in den letzten dreißig Jahren einen weiten Weg hinter sich gebracht. Sowohl die wirtschaftliche und soziale Entwicklung als auch die demographischen Veränderungen, die Einführung des Fernsehens und der Beitritt zur EG haben ihren Beitrag zum politischen Modernisierungsprozeß geleistet. Das Land, das einst als wundersamer, bäuerlicher Außenposten am Rande Europas galt, als „une ile derrire une ile“ (eine Insel hinter einer Insel), zeigt nun eine Reihe gemeinsamer Züge mit den anderen westeuropäischen Staaten. Das Parteiensystem, einst als „einzigartig“ beschrieben, weist inzwischen Merkmale schichtenspezifischer Zuordnung auf; die Zahl der Wechselwähler hat sich erhöht; neue Parteien sind entstanden; bestehende Parteien haben ihre Organisationsformen modernisiert, um neue Wahlkampfstrategien anzuwenden; politische Themen werden im Wahlkampf deutlicher hervorgehoben und die Politiker zunehmend nach ihren Leistungen als Lenker der Wirtschaftspolitik bewertet.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Irlands Status in der wissenschaftlichen Literatur als „Ausnahme“ oder „ungewöhnlicher Fall“ in einer zunehmenden Anzahl von Bereichen kaum noch eine Berechtigung hat -und das umso weniger, als das Land sich immer besser in den Reigen kleiner Staaten in Westeuropa einfügt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. J. J. Lee, Ireland 1912-1985, Cambridge 1989.

  2. Vgl. B. Farrell, Ireland. The Irish Cabinet System: More British than the British Themselves, in: J. Blondel/F. Müller-Rommel (Hrsg.), Cabinets in Western Europe, Basingstoke (England) 1988.

  3. Als Überblick vgl. B. Farrell, Ireland: From Friends and Neighbours to Clients and Partisans, in: V. Bogdanor (Hrsg.), Representatives of the People?, Aldershot 1985.

  4. Zum STV vgl. B. Chubb, The Government and Politics of Ireland, London 1982, S. 350-353.

  5. Vgl. C. O’Leary, Irish Elections 1918-1977, Dublin 1979.

  6. Vgl. S. Bowler/D. M. Farrell, Party Loyalties in Complex Settings: STV and Party Identification, in: Political Studies, 39 (1991) 2; dies., Behavior under STV-PR: Solving Voter the Puzzle of the Irish Party System, in: Political Behavior, 13 (1991) 4.

  7. Vgl. B. FarrelIXAnm. 3).

  8. Vgl. P. Bew/E. Hazelkorn/H. Patterson, The Dynamics of Irish Politics, London 1989; R. Breen/D. F. Hannan/D. B. Rottman/C. T. Whelan, Understanding Contemporary Ireland, Dublin 1990.

  9. D. Rottmann/P. O’Connell, The Changing Social Structure of Ireland, in: F. Litton (Hrsg.), Unequal Archievement, Dublin 1982, S. 76.

  10. Vgl. R. Breen/D. F. Hannan/D. B. Rottman/C. T. Whelan (Anm. 8), S. 68 f.

  11. Ebd., S. 59; die nachfolgende Analyse bezieht sich auf diese Quelle.

  12. Die Arbeitslosenzahlen sind der aktuellen Arbeitslosenstatistik entnommen.

  13. Vgl. J. Cooney, The Crozier and the Däil, Cork 1986; J. H. Whyte, Church and State in Modem Ireland 1923-1979, Dublin 1980.

  14. Vgl. B. Chubb, The Politics of the Irish Constitution, Dublin 1991.

  15. Vgl. P. Keatinge (Hrsg.), Ireland and EC Membership Evaluated, London 1991, insbes. Teil IV.

  16. Ders., Foreign Relation«, in: ebd., S. 164.

  17. Vgl. T. Garvin, The North and the Rest, in: C. Townshend (Hrsg.), Consensus in Ireland, Oxford 1988.

  18. Vgl.ders., The Evolution of Irish Nationalist Politics, Dublin 1981.

  19. Vgl. P. Mair, The Changing Irish Party System, London 1987, S. 78f.; D. M. Farrell, Ireland, in: R. S. Katz/P. Mair (Hrsg.), Party Organizations in Western Democracies 1960-1990, London 1992, Tabellen VIIA. 4. i. a. -ii. b.

  20. Vgl. H. Patterson, The Politics of Illusion: Republicanism and Socialism in Modern Ireland, London 1989.

  21. Vgl. T. Lyne, The Progressive Democrats, in: Irish Political Studies, 2 (1987); D. Walsh, Des O'Malley: a Political Profile, Kerry 1986.

  22. Vgl. D. M. Farrell, Ireland: The „Green Alliance“, in: F. Müller-Rommel (Hrsg.), New Politics in Western Europe, Boulder, Col. 1989; D. Whiteman, The Progress and Potential of the Green Party in Ireland, in: Irish Political Studies, 5 (1990).

  23. Vgl. R. Dunphy, The Workers’ Party and Europe, in: Irish Political Studies, 7 (1992).

  24. Vgl. M. Gallagher, The Irish Labour Party in Transition 1957-82, Manchester 1982; P. Mair (Anm. 20).

  25. Vgl. R. K. Carty, Party and Parish Pump: Electoral Politics in Ireland, Ontario 1981; J. Whyte, Ireland: Politics without Social Bases, in: R. Rose (Hrsg.), Electoral Behaviour, New York 1974.

  26. Vgl. S. M. Lipset/S. Rokkan (Hrsg.), Party System and Voter Alignments, New York 1967; R. Sinnott, Interpretations of the Irish Party System, in: European Journal of Political Research, 12 (1984) 3.

  27. P. Mair (Anm. 20), S. 204; s. a. R. Sinnott, Dimensional Analyses of Party Differences: The Irish Case, in: British Journal of Political Science, 16 (1986).

  28. M. Laver/M. Marsh/R. Sinnott, Patterns of Party Support, in: M. Laver/P. Mair/R. Sinnott (Hrsg.), How Ireland Voted, Dublin 1987, S., 109.

  29. M. Marsh/R. Sinnott, How the Voters Decided, in: M. Gallagher/R. Sinnott, How Ireland Voted 1989, Galway 1990, S. 126.

  30. Vgl. S. Bowler/D. M. Farrell (Hrsg.), Electoral Strategies and Political Marketing, Basingstoke 1992; R. S. Katz/P. Mair (Anm. 20).

  31. Zu den Wahlkampfstrategien 1989 vgl. D. M. Farrell, Campaign Strategies and Media Coverage, in: M. Gallagher/R. Sinnott (Anm. 30). Zur Organisationsreform vgl.ders. (Anm. 20). Die folgende Erörterung der Organisationsreform und der Parteienfinanzierung stützt sich auf diese Quelle.

  32. Vgl. R. K. Carty (Anm. 26), S. xiii.

  33. J. Blanchard, Le Droit Ecclsiastique Contemporain d’Irlande, Paris 1958, S. 11.

Weitere Inhalte

David M. Farrell, geb. 1960; Jean Monnet-Dozent für Europäische Politik am Department of Government der Universität Manchester Veröffentlichungen: (Mithrsg.) Electoral Strategies and Political Marketing, Basingstoke (Großbritannien) 1992; zahlreiche Publikationen zu Parteien und Wahlen.