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Die DDR und die Besetzung der Tschechoslowakei am 21. August 1968 | APuZ 36/1992 | bpb.de

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APuZ 36/1992 Die Unterdrückung des Prager Frühlings Sowjetische Parteiherrschaft und Prager Frühling 1968 Polens Teilnahme an der Invasion in der Tschechoslowakei 1968 Die DDR und die Besetzung der Tschechoslowakei am 21. August 1968 Die DDR-Bevölkerang und der Prager Frühling

Die DDR und die Besetzung der Tschechoslowakei am 21. August 1968

Lutz Prieß/Manfred Wilke

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Zusammenfassung

Der militärischen Intervention von fünf Warschauer-Pakt-Staaten gegen die ÖSSR am 21. August 1968 gingen zahlreiche politische, ideologische und militärische Aktivitäten voraus. In der DDR reagierte die SED-Führung von Anfang an mißtrauisch und ablehnend auf den Reformkurs der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Die Aufgabe des alleinigen Führungs-und Herrschaftsanspruchs einer marxistisch-leninistischen Partei, pluralistische Verhältnisse in Politik und Gesellschaft, die Aufhebung der Zensur über die Massenmedien, die öffentliche Rehabilitierung politisch Verurteilter, mehr Markt-statt Planwirtschaft sowie andere Reformen in der CSSR beurteilte die Partei-und Staatsführung der DDR als ernsthafte Gefahren für ihre eigenes Herrschaftssystem. Das SED-Politbüro initiierte sowohl im Kontext der Bündnis-und Blocktreue zur KPdSU und zum Warschauer Pakt als auch im Interesse der eigenen Machtbewahrung eine bis dahin beispiellose Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Nachbarstaates. Die Aktenauswertung der bisher internen Materialien des Politbüros und des zentralen Parteiapparates der SED gibt Auskunft über die Formern und Methoden der Einmischung der DDR in die Reformprozesse in der CSSR und über das kollektive politische Krisenmanagement der Parteiführungen der UdSSR, Ungarns, Bulgariens, Polens und der DDR. Die ideologische Begründung für die Eskalation ihrer Einmischung bis hin zur bedingungslosen Zustimmung zu einer militärischen Lösung des Interessenkonfliktes zwischen den tschechoslowakischen Reformkommunisten und den orthodoxen Marxisten-Leninisten fand die SED-Führung im Feindbild „Sozialdemokratismus“ und in der These von der „Konterrevolution“.

Der Kampf der Partei-und Staatsführung der DDR gegen den tschechoslowakischen Reformprozeß 1968, der mit der Besetzung des Landes durch Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 gewaltsam beendet wurde, kann jetzt nach Öffnung des SED-Parteiarchivs auf der Basis von bislang geheimen Dokumenten neu analysiert und beschrieben werden.

Die hier vorgestellte erste Auswertung der bis 1991 unter Verschluß gehaltenen Akten des SED-Politbüros und des zentralen Parteiapparates belegt, daß die SED-Führung bei der Ausarbeitung und Durchsetzung des Konfrontationskurses gegen den Reformprozeß in der Tschechoslowakei eine gewichtige Rolle gespielt hat. Das Hauptaugenmerk der SED war dabei auf die reformkommunistischen Bestrebungen eines Teils der Führung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPC) gerichtet. Die SED hat den Reformprozeß in der kommunistischen Partei als „Liquidierung“ der marxistisch-leninistischen Partei bewertet und ihn als „Sozialdemokratisierung“ verstanden.

Die Implosion des sowjetischen Imperiums und die demokratischen Revolutionen 1989/91 in Osteuropa wurzelten auch in der unterdrückten kommunistischen Selbstreform des „Prager Frühlings“ von 1968. Die tschechoslowakische Entwicklung in diesem Jahr und ihre internationalen Zusammenhänge sind deshalb nicht nur ein spannendes Stück Zeitgeschichte, sondern gehören in die unmittelbare Vorgeschichte des Zusammenbruchs der Gesellschaftsordnung sowjetischen Typs.

I. Der Beitrag der SED im Kampf gegen die „Konterrevolution“ in der CSSR

Die DDR gehörte zum sozialistischen Lager, und der Entscheidungsprozeß in der SED-Führung verlief in enger Abstimmung mit der sowjetischen Führungsmacht. Dies vorausgeschickt lassen sich anhand der Akten aus dem Bestand des Politbüros und des zentralen Parteiapparates der SED vier Phasen der Einmischung der DDR in die Reform-prozesse in der CSSR zwischen Januar und August 1968 unterscheiden:

Erste Phase: Von Anfang Januar bis Mitte März 1968, von der Ablösung Antomn Nowotnys durch Alexander Dubcek an der Spitze der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei bis zur 5. Tagung des ZK der SED am 21. März 1968.

Zweite Phase: Von Ende März bis Mitte Juli 1968, vom Dresdener Treffen der Partei-und Staatsführer Bulgariens, Ungarns, der DDR, Polens, der UdSSR und der CSSR am 23. März bis zur Beratung in Warschau am 14. /15. Juli 1968 ohne die Vertreter der CSSR.

Dritte Phase: Von Mitte Juli bis Anfang August 1968, von der Warschauer Beratung der „Fünf“ bis zum gemeinsamen Treffen mit der Führung der KPC am 3. August 1968 in Bratislava.

Vierte Phase: Von Anfang August bis zum Beginn der militärischen Intervention der „Warschauer Fünf“ gegen die CSSR am 21. August 1968.

In der ersten Phase stand die Beobachtung, die Sammlung von Fakten und deren Analyse im Vordergrund. Bereits am 25. Januar 1968 übergab die Abteilung Internationale Verbindungen im ZK der SED den Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros eine „streng vertrauliche“ Information, die die Veränderungen in der Politik der KPC seit Oktober 1967 analysierte Walter Ulbricht, Erster Sekretär des ZK der SED, meldete Ende Januar 1968 auf der 4. ZK-Tagung seiner Partei erste Zweifel an der Politik der KPC. Er stellte die Frage: „Werden die Prinzipien des Marxismus-Leninismus über den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, wird der Marxismus konkret auf die Situation in der CSSR angesichts ihrer Besonderheiten konsequent und schöpferisch angewendet?“ Nach Meinung der SED-Führung waren seit Januar 1968 in der KPC oppositionelle Kräfte am Wirken, die eine „ständige Fehlerdiskussion“ und „die fortschrei­ tende Ablösung führender Funktionäre“ betrieben, um „Zug um Zug zu einer Änderung der Linie der Partei zu gelangen“ Vor dem Treffen der Ersten Sekretäre der kommunistischen Parteien Bulgariens, Ungarns, der DDR, Polens und der Sowjetunon mit Alexander Dubcek, dem neugewählten ersten Mann der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, das am 23. März 1968 in Dresden stattfand, nahm die SED ihre erste grundsätzliche Bewertung des Reformkurses der tschechoslowakischen Partei vor.

Hermann Axen, Kandidat des Politbüros und Sekretär des SED-Zentralkomitees für internationale Beziehungen, trug eine Bewertung vor, die SED-intern als Sprachregelung galt und die die neuralgischen Punkte im tschechoslowakischen Reformprozeß aus der Sicht der SED markierte. An erster Stelle stand die faktische Beseitigung der Zensur in den tschechoslowakischen Massenmedien und die öffentlich erkennbare Differenzierung der Parteiführung in verschiedene politische Gruppierungen. Axen wandte sich scharf gegen die Reformer an der Spitze der tschechoslowakischen Partei und nannte namentlich Josef Smrkovsky, Ota Sik und Eduard Goldstücker. Axen nahm damit die Exponenten der von der SED als „Revisionisten“ qualifizierten Funktionäre in der Führung der KP der Tschechoslowakei ins Visier. Als Beleg zitierte Axen die Selbsteinschätzung über die Bedeutung des tschechoslowakischen Reformprozesses, die Smrkovsky in einem Interview mit dem westdeutschen Fernsehen geäußert hatte: „Zum ersten Mal in der Geschichte und zum ersten Mal innerhalb des sozialistischen Weltsystems (soll) in der CSSR eine Einheit zwischen Sozialismus und Demokratie herbeigeführt werden.“ Für die SED war das ein altbekanntes Ziel, über das nicht weiter zu diskutieren war, lag doch seine Widerlegung durch Lenin seit Jahrzehnten vor. Axen wörtlich: ,, Es ist nicht erforderlich, daß wir uns auf diesem Plenum etwa mit der theoretischen Widerlegung dieser Losungen beschäftigen -Losungen, die bekanntlich schon von Lenin in der Auseinandersetzung mit dem Renegaten Kautsky, in der Auseinandersetzung mit Otto Bauer, widerlegt wurden und in der ganzen Periode der Entwicklung des Sozialismus immer wieder von sozialdemokratischen Führern oder von linken und rechten Abweichlern gegen den Marxismus-Leninismus, gegen die KPdSU und auch gegen unsere Partei vorgebracht worden sind.“ Nach dieser parteilichen Ausgrenzung „enthüllt“ der SED-ZK-Sekretär den konterrevo­ lutionären Kern, der hinter all diesen •Reformbestrebungen in der Tschechoslowakei steckte und der den tschechoslowakischen Reformprozeß mit der Einwirkung aus dem Westen verbinde und damit in die Blockkonfrontation zwischen „Sozialismus“ und „Imperialismus“ einordne. „Natürlich kann der Gegner seinen politischen Angriff gegenwärtig nicht offen und direkt mit der Hauptlosung des Sturzes des Sozialismus, der Arbeiter-und Bauernmacht in der CSSR, führen. Die unzufriedenen und antisozialistischen Elemente sollen gesammelt werden unter der Losung der Demokratisierung, unter der Losung -wie es Goldstücker in der neu herausgegebenen Literarischen Zeitschrift, Nr. 1, im Leitartikel formulierte -der Ehe des Sozialismus mit der Freiheit.“ Für die SED stand damit bereits vor dem Treffen mit der neuen tschechoslowakischen Parteiführung fest, daß in Prag der alte sozialdemokratische Revisionismus im neuen Gewand ideologisch und politisch sein Haupt erhebt.

Damit wurde durch die SED eine zweite Phase der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der KPC und der CSSR eingeleitet. Ungeachtet der ausführlichen Berichterstattung Dubceks über die Politik der KPC und die Entwicklung in der CSSR auf dem Dresdener Treffen, entfaltete die SED eine öffentliche Kampagne gegen die Reform-kräfte und ihre Ziele im befreundeten Nachbarland. Denn für die SED-Führung stand im März 1968 unumstößlich fest, daß antisozialistische Kräfte unter dem Deckmantel der „Demokratisierung“ und „Liberalisierung“ einen konterrevolutionären Umschwung herbeiführen wollten. Folglich stellte es sich die SED-Führung zur Aufgabe, sogenannte „gesunde“ bzw. „positive“ Kräfte in der KPC ausfindig zu machen und mit Unterstützung von außen deren Positionen im Kampf gegen den Reformkurs in der CSSR zu stärken. Im Mittelpunkt des Interesses der SED standen gerade jene Funktionäre in entscheidenden Positionen der Partei und des Staates, insbesondere der Ministerien für Verteidigung, des Inneren, der Sicherheit, der Justiz, des Außenministeriums und der Leitung der Massenmedien, gegen die in der CSSR massive Kritik geübt wurde oder deren Ablösung zu befürchten war. In ihnen sahen jedoch die SED-Funktionäre die Kräfte, die bei entschlossenem Handeln jene in der DDR gefürchteten Vorgänge stoppen könnten, die mit den fortlaufenden Personalveränderungen, der Aufhebung der Zensur über die Massenmedien, der öffentlichen Rehabilitierung zehntausender von Opfern politischer Unrechtsprozesse aus den fünfziger Jahren sowie den Auseinandersetzungen um Reformen in Partei, Staat und Gesellschaft verbunden waren.

Aktiv betrieben SED-Funktionäre in der CSSR „Aufklärung“ vor Ort. Sie fertigten für die verschiedensten Abteilungen des ZK der SED Berichte und Analysen zur Lage in der KPC, in verschiedenen Ministerien, in den Gewerkschaften und anderen Organisationen, bei der Eisenbahn, der Post und in Betrieben an. Diese Materialien beinhalteten zum Teil auch persönliche Charakteristika von -fiach SED-Verständnis -linientreuen oder „revisionistischen“, „opportunistischen“ und „konterrevolutionären“ Führungskadem der KPC in Staat, Wirtschaft, Massenorganisationen und Redaktionen der Massenmedien.

Die dritte Phase war dadurch geprägt, daß es im sozialistischen Lager zu einer offeneii Konfrontation zwischen der tschechoslowakischen Führung und ihren „Bruderparteien“ kam. Die KPdSU, die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP), die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP), die Bulgarische KP (BKP) und die SED stimmten ihr Vorgehen gegen die tschechoslowakische Parteiführung untereinander ab und entwickelten eine gemeinsame Linie gegen die drohende Konterrevolution in der Tschechoslowakei. Offenkundig wurde diese Konstellation durch die Beratung der Partei-und Staatsführungen der Sowjetunion, Polens, Ungarns, Bulgariens und der DDR in Warschau am 14. /15. Juli 1968. Die tschechoslowakische Partei hatte es abgelehnt, an diesem Treffen teilzunehmen. Die in Warschau versammelten fünf Parteien waren sich einig, die Lage in der CSSR habe sich bis zum äußersten verschärft und diese Entwicklung sei nunmehr auch keine innere Angelegenheit der Tschechoslowakei mehr. Aus dieser Einschätzung leiteten sie die Konsequenz ab, der akuten Gefahr des Vordringens der Konterrevolution wirksam vorzubeugen.

Zwischen dem 15. Juli und dem Treffen der KPdSU mit der KPC in Cierna nad Tisou vom 29. Juli bis 1. August sowie der darauffolgenden Beratung der „Fünf“ mit der KPC am 3. August 1968 in Bratislava entwickelte die SED umfangreiche Aktivitäten.

Am 15. Juli 1968 wurde in Auswertung der War-schauer Beratung eine Arbeitsgruppe des Sekretariats des ZK der SED für die weitere Arbeit gegen die CSSR unter Leitung von Hermann Axen eingesetzt Am 19. Juli 1968 fand eine „außerordentliche“ Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der SED mit dem einzigen Tagesordnungspunkt „Zur Lage in der CSSR“ statt. Zwei Beschlüsse dieser Tagung reichten über bisherige Aktivitäten hinaus. Es wurde beschlossen: „Die Genossen A. Norden und W. Lamberz werden beauftragt, täglich Sendungen in tschechischer und slowakischer Sprache beim Rundfunksender Dresden gegen den westdeutschen Imperialismus und seine Einmischungsbestrebungen in der CSSR zu organisieren.“ Für diese Art der direkten Einmischung und massiven psychologischen Kriegsführung gegen die Reformbewegung in der CSSR wurden etliche Störsendungen und der Rundfunkbetrieb des Senders „Vlatava“ („Moldau“) unter direkter Leitung des ZK-Apparates der SED organisiert.

Weiterhin wurde beschlossen: „Es wird eine operative Gruppe gebildet, der unter Vorsitz des Genossen A. Norden die Genossen Alfred Neumann, Paul Vemer, Hermann Axen, Werner Lamberz, Horst Dohlus, Paul Markowsky und Manfred Feist angehören und die vorläufig jeden Morgen um 9 Uhr Zusammentritt.“

Damit schuf die SED-Führung neben der bereits existierenden „Arbeitsgruppe KPC“ und der vom Sekretariat des ZK kurz zuvor gebildeten Arbeitsgruppe nunmehr ein Gremium, das unmittelbar für den „Ernstfall“ wirksam werden sollte. Die Aktivitäten der „operativen Gruppe“ sind jedoch noch unbekannt, weil dazu bisher keine Akteneinsicht möglich war. Doch daß ihre Bildung Teil der militärpolitischen Vorbereitungen gegen die CSSR war, läßt sich aus dem Zusammenhang mit anderen Aktivitäten ableiten.

Zwei Tage nach der „außerordentlichen“ Politbürositzung ordnete Walter Ulbricht in seiner Funktion als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR Maßnahmen zur schnellen Gewährleistung einer erhöhten Einsatzbereitschaft eines Kommandos (Stab) und einer Division des Militärbezirkes Leipzig an. Die Nationale Volksarmee der DDR wurde Mitte Juli 1968 in die vom Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte der Staaten des Warschauer Vertrages, Marschall Jakubowskij, vorbereitete Militäraktion gegen die CSSR unter dem Tarnnamen „Donau“ einbezogen. Die für Ende Juli 1968 geplante Militäraktion gegen die CSSR wurde kurzfristig aufgehalten. Die Gespräche zwischen den Führungen der KPdSU und der KPC in Cierna nad Tisou und den „War-schauer Fünf“ und der KPC in Bratislava signalisierten vorübergehend „Entwarnung“ für die Mili­ tärs. Damit begann für die SED die vierte Phase ihrer politischen Aktivitäten gegen die KPC und die CSSR. Im Mittelpunkt stand jetzt der allseitige Druck auf die KPC, die in Bratislava diktierten Bedingungen zum konsequenten Vorgehen gegen sogenannte Feinde des Sozialismus und angebliche Konterrevolutionäre zu erfüllen. Dem dienten auch die Gespräche zwischen den Delegationen der SED und der KPC am 12. August 1968 in Karlovy Vary. Doch auch im Ergebnis dieses Treffens hatte sich bei Ulbricht und Genossen die Einschätzung von Dubcek und seiner Umgebung nicht geändert. Für die SED wie auch für die KPdSU war das Reservoir der Möglichkeiten einer politischen Lösung der Interessengegensätze mit der KPC und der CSSR Mitte August erschöpft.

Ab 18. August 1968 stimmte die SED-Führung vorbehaltlos der militärischen Variante der Konfliktlösung zu. Am 23. August 1968 hat Walter Ulbricht vor dem 8. Plenum des SED-Zentralkomitees den Ablauf dieser Entscheidung in Moskau folgendermaßen geschildert: „Vor dem 20. August fand eine gemeinsame Beratung der Vertreter der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Sowjetregierung und der Vertreter der kommunistischen Parteien und der Regierungen der Volksrepublik Bulgarien, der Volksrepublik Polen, der ungarischen Volksrepublik und der DDR statt. Auf dieser Beratung wurde ein kurzer Bericht des Genossen Breschnew über die Einschätzung der Lage entgegengenommen, der vollständig mit unserer Einschätzung übereinstimmt, so daß sich eine Aussprache über die Einschätzung der Lage erübrigte. Es wurde sofort mit der Beratung der Dokumente begonnen, die zur Vorbereitung und Durchführung der militärischen Hilfsaktionen der vereinigten militärischen Verbände unserer Staaten notwendig waren.“ Die politische Diversion der SED gegen die Reformbewegung in der CSSR mündete in die aktive Beteiligung der DDR an der militärischen Invasion in der CSSR am 21. August 1968.

Die heute noch am häufigsten gestellte Frage ist, ob Truppenverbände der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR in der Nacht vom 20. zum 21. August 1968 die tschechoslowakische Grenze überschritten haben. Der Potsdamer Militärhistoriker Rüdiger Wenzke hat diese Frage untersucht und kam zu folgendem Ergebnis: „Man muß davon ausgehen, daß die Teilnahme der DDR-Streitkräfte an einer militärischen Operation gegen die CSSR fest in die Planung der sowjetischen Militärs verankert war. Das hatte die " Einbeziehung der NVA in die vorbereitenden Manöver und Übungen gezeigt. Die 7. Panzerdivision (PD) und die 11. Motorisierte Schützendivision (MSD) der NVA, die ja bereits Ende Juli in volle Gefechtsbereitschaft versetzt worden waren und ihre Konzentrierungsräume bezogen hatten, waren Bestandteil der Hauptgruppierung der von sowjetischen Marschällen befehligten Interventionsstreitkräfte (, Prager Gruppierung 6).“ Wenzke führt weiter aus, daß beide Divisionen mit einer Stärke von etwa 16000 Mann und 500 Panzern am Abend des 20. August ihre Marschbereitschaft herstellten, aber bis Mitte Oktober 1968 als Reserve in ihren Stellungen verblieben. Allerdings überschritten im Rahmen der Militäraktion des Warschauer Paktes „zwei Funktrupps des Nachrichtenregimentes 2“ die Grenze.

II. Gipfeltreffen des Ostblocks zwischen März und August 1969

Der Entscheidungsprozeß über die Politik der DDR gegenüber der Tschechoslowakei im Jahre 1968 war gemäß dem Gewaltenzentralismus auf das Politbüro des ZK der SED begrenzt. Aber die SED-Führung war in ihren Handlungen nicht wirklich autonom, sie mußte den Kurs der sowjetischen Hegemonialmacht in Rechnung stellen. Die Formierung der „Warschauer Fünf“ und die Festlegung des Konfrontationskurses der Partei-und Staatsführungen des sozialistischen Lagers mit Ausnahme von Rumänien gegenüber den Prager Reformern erfolgte auf einer Reihe von Treffen zwischen März und August 1968. Die Protokolle dieser Tagungen waren sorgsam gehütete Partei-und Staatsgeheimnisse; alle liegen der wissenschaftlichen Forschung immer noch nicht vor. Im Zentralen Parteiarchiv der SED wurden jetzt von uns die Protokolle der Dresdener Tagung im März und des Warschauer Treffens im Juli gefunden; erste Ergebnisse der Auswertung werden hier erstmals publiziert.

Die Serie der Konferenzen begann im März 1968 in Dresden. Die SED fungierte als einladende und gastgebende Partei für eine Beratung mit ihren „Bruderparteien“ aus Bulgarien, Ungarn, Polen, der UdSSR und der CSSR. Die Parteien der späteren „Warschauer Fünf“ hatten „gemeinsam die Bitte an Genossen Dubcek herangetragen“, einen Bericht über die Lage in der Tschechoslowakei entgegenzunehmen. Zuvor hatten die Parteichefs anläßlich ihrer Teilnahme an den Feiern zum 20. Jahrestag der Februarereignisse 1948 erstmals Kritik an der Politik Dubceks und an den Verhältnissen in der CSSR geübt. Die tschechoslowakische Delegation mit Alexander Dubcek, Josef Lenart, Drahomir Kolder, Oldrich Cernik und Vasil Bilak war in dem Glauben nach Dresden gekommen, daß Fragen der Zusammenarbeit im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) erörtert und in Verbindung damit die Situation in einigen kommunistischen Parteien behandelt werden sollten. Doch bevor überhaupt Vertreter aller Delegationen zu Wort gekommen waren, verteilte ein Vertreter der sowjetischen Delegation in den Mittagsstunden den Entwurf eines Kommuniques, in dem die KPC-Führung zu einer Revision des eingeschlagenen Reformkurses aufgefordert wurde. Von tschechoslowakischer Seite wurden sowohl dieses Vorgehen als auch folgende Textpassage aus dem Kommunique-Entwurf abgelehnt: „Es wurde Besorgnis über die in letzter Zeit verstärkt auftretende Aktivität der revisionistischen, antisozialistischen Elemente geäußert, die versuchen, den Sinn der Beschlüsse der letzten Plenartagungen des ZK der KPC zu entstellen, um das politische und ökonomische Fundament des Sozialismus in der Tschechoslowakei zu erschüttern, die führende Rolle der KPC zu untergraben und die Beziehungen der CSSR zu den sozialistischen Ländern zu schwächen. Die Delegationen der Bruderparteien lenkten die Aufmerksamkeit darauf, daß eine solche Belebung der antisozialistischen, vom Westen unterstützten Kräfte zu ernsten negativen Folgen führen kann, wogegen schon jetzt entschiedene Maßnahmen zu ergreifen sind.“

Ein Vergleich der Positionen aus dem sowjetischen Kommunique-Entwurf mit denen der SED, wie sie Axen auf dem 5. ZK-Plenum zwei Tage zuvor vorgetragen hatte, belegt das hohe Maß an Überein-stimmung zwischen den Positionen der SED und der KPdSU. Die Weigerung der tschechoslowakischen Delegation, ein solches Kommunique zu unterschreiben, zwang die sowjetische Delegation, einen neuen Entwurf auszuarbeiten. Der Schulterschluß zwischen KPdSU und SED wurde auch am Konferenztisch demonstriert. Die Ersten Sekretäre der Parteien, Leonid Breschnew und Walter Ulbricht, charakterisierten den Reformprozeß in der Tschechoslowakei als „konterrevolutionär“.

Ulbricht forderte von der tschechoslowakischen Führung, das geplante Aktionsprogramm ihrer Partei so zu formulieren, daß es sich inhaltlich „sowohl von den dogmatischen als auch von den revisionistischen Auffassungen“ distanziert. Die Dresdner Konferenz trug alle Züge einer ernsten Warnung an die tschechoslowakische Parteiführung; die versammelten Parteiführer sprachen nicht nur ihre Besorgnis aus, sondern sie forderten auch einen klaren Kurswechsel von ihren Prager Genossen. Aber die KPC beharrte in Dresden auf der Souveränität ihrer Entscheidungen und handelte nach eigenem Ermessen. In der Tschechoslowakei wurde die Zensur über die Massenmedien aufgehoben, die Opfer der stalinistischen Repression Anfang der fünfziger Jahre wurden rehabilitiert und das am 5. April beschlossene Aktionsprogramm sah strukturelle Reformen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens vor und proklamierte die Demokratisierung des politischen Systems.

Diese und andere Entscheidungen, vor allem die fortschreitenden Kaderveränderungen in Führungsfunktionen von Partei-und Staatsorganen in der CSSR, waren für die Parteiführungen der War-schauer-Pakt-Staaten (außer Rumänien) Ausdruck der zunehmenden Gefahr einer Konterrevolution. Am 8. Mai 1968 versammelten sich Breschnew, Gomulka, Kadar, Schiwkow und Ulbricht ohne einen Vertreter der KPC zu einer „Lageberatung“ in Moskau. Wie aus einem internen Bericht Hermann Axens über dieses Treffen vor der SED-Führung in Berlin hervorgeht, einigten sich die fünf Parteichefs in Moskau darauf, nunmehr militärischen Druck auf die CSSR auszuüben Es fanden demonstrative Truppenverlegungen sowjetischer, polnischer und ostdeutscher Armee-Einheiten in Richtung der tschechoslowakischen Grenze statt. Ursprünglich als Stabsmanöver geplante Übungen, die die CSSR absetzen wollte, wurden im Juni zu Übungen mit großen Truppenverbänden und entsprechender Militärtechnik auf tschechoslowakischem Territorium umfunktioniert. Die letzten Manövertruppen verließen erst Anfang August die CSSR.

Der Interessenkonflikt zwischen den „Warschauer Fünf“ und der reformkommunistischen Führung der KPC verschärfte sich in den folgenden Monaten. Ende Mai beschloß das ZK-Plenum der KPC die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages am 9. September, auf dem ein neues Partei-statut verabschiedet und eine neue Parteiführung gewählt werden sollte. Ende Juni erschien das Manifest der „ 2000 Worte“ von Ludvik Vaculik, das vor der noch nicht gebannten Gefahr einer konservativen Restauration warnte und das Volk und die Öffentlichkeit aufrief, den Reformprozeß voranzutreiben und die Demokratisierung in die eigenen Hände zu nehmen. Das Manifest wurde zum willkommenen „Vorwand“ für eine restaurative Kampagne der orthodoxen Kommunisten gegen die tschechoslowakische Reformbewegung in-und außerhalb der kommunistischen Partei. Die Partei-und Staatsführer der „Warschauer Fünf“ versammelten sich am 14. und 15. Juli 1968 in Warschau, um die Lage in der Tschechoslowakei zu beraten. Alexander Dubcek und die tschechoslowakische Partei-und Staatsführung hatten eine Teilnahme an diesem Treffen abgelehnt und forderten statt dessen ergebnisorientierte bilaterale Treffen mit den anderen Parteien. Auch die „Warschauer Fünf“ bezogen sich auf das Manifest der „ 2000 Worte“, das sie als Aktionsprogramm der „Konterrevolution“ einstuften. Zwei Gefahren wurden beschworen: erstens die drohende Umwandlung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei in einen „Diskutierclub“, der nicht mehr auf dem Boden des Marxismus-Leninismus stehe, und zweitens das Abdriften der CSSR aus dem sozialistischen Lager.

Die Warschauer Beratung war eine Zäsur: Die fünf Partei-und Staatschefs der Warschauer Pakt-Staaten berieten, welche Maßnahmen getroffen und welche Mittel genutzt werden mußten, um die „Liquidierung“ der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei und damit zusammenhängend den aus ihrer Sicht drohenden Blockwechsel zu verhindern.

Der bulgarische KP-Chef Schiwkow formulierte am deutlichsten, worauf es gegenüber der CSSR nun ankäme: „Es gibt nur einen Ausweg, nämlich eine entschiedene Hilfe der sozialistischen Länder, der kommunistischen Parteien und des War-schauer Vertrages für die CSSR zu leisten und nicht mehr auf die inneren Kräften der CSSR zu vertrauen.“ Er war auch der einzige Vertreter, der offen eine militärische Lösung forderte: „Durch die Hilfe der sozialistischen Länder und der kommunistischen Parteien, durch die Hilfe des Warschauer Vertrages, hauptsächlich durch bewaffnete Kräfte des Warschauer Vertrages, muß die Tschechoslowakei unterstützt werden.“

Walter Ulbricht hingegen unterbreitete den Vorschlag, sich gemeinsam mit einem Offenen Brief an das ZK der KPC zu wenden. Nach zahlreichen Verhandlungsstunden beschlossen die Delegationen den sogenannten „Warschauer Brief“. Er war die erste offizielle und öffentliche Stellungnahme der Zentralkomitees der Kommunistischen Parteien Bulgariens, Ungarns, der DDR, Polens und der UdSSR. Unmißverständlich wurde in dem Brief zum Ausdruck gebracht, daß ,, die entschlossene Verteidigung der sozialistischen Ordnung in der Tschechoslowakei nicht nur Ihre, sondern auch unsere Aufgabe ist“

Dieser Satz legitimierte das Interventionsrecht, das im Namen der Geschlossenheit des sozialistischen Lagers die Sowjetunion gegenüber ihren Verbündeten beanspruchte und das in dem „War-schauer Brief“ an das ZK der KPC zum Ausdruck gebracht wurde. Wörtlich hieß es: „Wir können jedoch nicht damit einverstanden sein, daß feindliche Kräfte Ihr Land vom Weg des Sozialismus stoßen und die Gefahr einer Lostrennung der CSSR von der sozialistischen Gemeinschaft heraufbeschwören. Das sind nicht mehr nur Ihre Angelegenheiten.“

Wenn auch in den bislang ausgewerteten Materialien der Warschauer Beratung kein Beweis dafür gefunden werden konnte, daß auch Einzelheiten einer möglichen militärischen Intervention besprochen wurden, so ist doch von Militärhistorikern deren Vorbereitung im Monat Juli 1968 nachgewiesen worden

Die Ablehnung des „Hilfeangebotes“ der „War-schauer Fünf“ durch das Präsidium der KPC am 16. Juli 1968 und das Beharren der KPC auf eigenen Entscheidungen und Problemlösungen ohne Einmischung von außen forderten den zunehmenden politischen Druck vor allem in Moskau, OstBerlin und Warschau heraus.

Vom 29. Juli bis 1. August trafen sich die Präsidien der KPdSU und der KPC in Cierna nad Tisou und am 3. August 1968 die Partei-und Staatsführungen der „Warschauer Fünf“ mit denen der CSSR in Bratislava. Es war der letzte Versuch, die Kräfte um Dubcek vom Kurs systemverändemder Reformen abzubringen und verbindliche Zusagen für die Erfüllung der Forderungen der „Fünf“ nach Ausschaltung angeblich „revisionistischer“ und „op-portunistischer“ Kräfte aus Führungsfunktionen in der CSSR zu erlangen.

Die in Bratislava vereinbarte „Erklärung der kommunistischen und Arbeiterparteien sozialistischer Länder“ täuschte wahrscheinlich beide am Konflikt beteiligten Seiten: Die Vertreter der KPC glaubten, mit kleinen Zugeständnissen Moskau und seine Verbündeten von einem drohenden militärischen Eingreifen abhalten und den eigenen Weg weitergehen zu können, und die „Fünf“ verabschiedeten sich aus Bratislava in der Hoffnung, daß der gemeinsam verstärkt ausgeübte Druck auf die Führung der KPC ausreichen werde, um die Prager Reformkommunisten wieder auf die allgemeine Moskauer Linie zurückzuführen.

Die Argumentation der SED in dieser Frage legt einen solchen Schluß nahe. Unmittelbar nach Bratislava fand das 7. Plenum des SED-Zentralkomitees statt; auf ihm wurde die Bedeutung der „Erklärung“ von Bratislava ausführlich gewürdigt. Ulbricht sah darin „das erste marxistisch-leninistische Dokument seit Januar“ das von der tschechoslowakische Parteiführung unterschrieben worden sei. Auf dem nächsten ZK-Plenum, zwei Tage nach dem Einmarsch, betonte er: „Der Weg der politischen Lösung, der von seiten der sowjetischen Freunde mit großer Anstrengung begangen wurde -besonders in den Besprechungen in Cierna nad Tisou und dann in Bratislava -, hat zu keinem Ergebnis geführt, da die rechten Kräfte im Präsidium der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei es abgelehnt haben, die in Cierna nad Tisou getroffenen Vereinbarungen durchzuführen. Trotz des Bemühens der sowjetischen Freunde, von Dubcek eine Erklärung zu bekommen, und trotz des Bemühens zu erreichen, daß die Vereinbarungen durchgeführt werden, erklärte Dubcek am Telefon, daß er nicht in der Lage sei, nicht gewillt sei, diese Vereinbarung durchzuführen. Da die politische Lösung nicht mehr möglich war, ergab sich, daß die militärische Lösung durchgeführt werden mußte.“ Welche Vereinbarungen von Dubcek nicht durchgeführt wurden, hat die SED in ihrem „Aufruf“ vom 21. August zum Ausdruck gebracht: „Die Delegation der KPC hatte sich verpflichtet, unverzüglich die politische Leitung von Presse, Rundfunk und Fernsehen im Geiste des Sozialismus zu sichern, ohne Verzögerung ein Gesetz zur Unterbindung der Tätigkeit der antisozialistischen Parteien, Clubs und Organisationen zu erlassen sowie auch die notwendigen Garantien für einen konsequenten, den Lebensinteressen der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik dienenden Kurs in der Partei-und Staatsführung zu schaffen.“

Doch die Lage veränderte sich sehr schnell. Das Präsidium der KPC billigte am 6. August 1968 den Entwurf eines neuen Parteistatuts, das „eine fundamentale Demokratisierung“ der KPC vorsah Dieses Statut sollte auf dem XIV. Parteitag der KPC am 9. September beschlossen werden. In Moskau, Warschau, Ostberlin, Sofia und Budapest ging in den dortigen Parteizentralen die Furcht um, daß der bevorstehende Parteitag eine qualitative Veränderung der KPC bewirken könnte: die Umgestaltung aus einer marxistisch-leninistischen Kampfpartei neuen Typus zu einer Art sozialdemokratischen, kleinbürgerlich-demokratischen Partei. Das Bestreben, eine solcherart „bedrohliche“ Entwicklung aufzuhalten, führte zur bedingungslosen Zustimmung der SED-Spitze wie auch der polnischen, ungarischen und bulgarischen Parteiführungen zu den Moskauer Interventionsplänen.

III. Das SED-Feindbild „Sozialdemokratie“ im Jahr 1968

Der ideologische Kampfbegriff „Sozialdemokratismus“ bündelte mit Blick auf den Reformkurs der KPC die innen-und außenpolitischen Interessenlagen der SED-Führung im Frühjahr 1968. Er diente ihr maßgeblich als Legende dafür, auf dem Feld der Ideologie die politische und propagandistische Auseinandersetzung mit dem „revisionistischen“ Kurs der Prager Reformkommunisten und seinen Trägern namentlich im Bereich der Kultur und der Massenmedien offensiv zu führen.

Die Wurzel der tschechoslowakischen Parteikrise suchte die SED von Anfang an auf ideologischem Gebiet. Alarmiert war sie, als -aus ihrer Sicht -die KPC nach dem Januar 1968 in den Reihen ihrer Parteiführung einen „revisionistischen Flügel“ zuließ. Das war ein klarer Verstoß gegen das Fraktionsverbot, das in den kommunistischen Parteien seit den zwanziger Jahren zu den Organisationsprinzipien gehörte. Nach dem Dresdener Treffen wurde der Exponent dieses Flügels, Josef Smrkovsky, vom SED-Chefideologen Kurt Hager auf dem Philosophie-Kongreß aus Anlaß des 150. Geburtstages von Karl Marx offen attackiert. Es war der erste öffentliche Angriff auf einen Repräsentanten der tschechoslowakischen Reformkommunisten. Die Formulierung „revisionistischer Flügel“ signalisierte bereits im März 1968, daß die SED hat eine sozialdemokratische Abweichung in organisierter Form in der KPC geortet hatte. Am Vorabend der Intervention sprach die SED offen von der „Sozialdemokratisierung“ der KPC. Nach der Intervention hatte Ulbricht keinen Zweifel mehr, daß die Führung der KPC unter Alexander Dubcek die Kommunistische Partei ideologisch-politisch diskreditieren und in eine sozialdemokratische Partei umwandeln wollte. Auf der 8. Tagung des Zentralkomitees der SED am 23. August 1968 sagte er: „Aber es wurde offenkundig, daß die Führung der KPC eine feste Konzeption hatte, die Kommunistische Partei auf dem Parteitag bis zu Ende, soweit es geht, zu diskreditieren, Dokumente durchzubringen, die zumindest revisionistischen Charakter haben, die ein Mittelding zwischen sozialdemokratischer Politik und USPD-Politik sind. Wir kennen das ja alles aus der Vergangenheit. Das hätte zum Ergebnis gehabt, daß das Übergewicht der antisozialistischen Clubs und Organisationen nach dem Parteitag offen in Erscheinung getreten wäre und daß dann die Offensive dieser Kräfte verschärft weitergeführt worden wäre. So war die Lage am Vorabend des Einmarsches der verbündeten Armeen in die Tschechoslowakei.“

Die Angst der SED vor dieser Gefahr war real, besaß die SED-Führung doch genug Informationen darüber, wie in der SED und in der DDR über die Prager Reformen gedacht wurde. Besonders die sozialdemokratische Transformation der KPC wirkte wie ein Menetekel. Das Feindbild „Sozialdemokratismus“ entsprach der Interessenlage der SED. Das Schlagwort war gleichermaßen geeignet, die Konfrontation gegen die tschechoslowakischen Reformkommunisten zu legitimieren, eine Verbindung zwischen dem Prager Reformprozeß und westlicher Einmischung herzustellen und die neue Ostpolitik der Bundesrepublik unter Federführung des sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Brandt zu bekämpfen. Im Frühjahr 1968 besaß die Durchsetzung der Anerkennung der DDR als zweiter deutscher Staat für die Führung der SED die absolute außenpolitische Priorität. Aber die Bundesrepublik hielt auch 1968 noch an der Forderung nach Wiedervereinigung Deutschlands fest und blockierte die DDR international mit ihrem Anspruch auf Alleinvertretung Deutschlands. Angesichts der Entspannungstendenzen zwischen den USA und der Sowjetunion drohte diese Politik die Bundesrepublik auch im Westen zu isolieren. Erst die „neue Ostpolitik“ der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger änderte 1967 die außenpolitische Haltung der Bundesrepublik und damit auch die internationale Konstellation für die DDR. Die Bundesregierung bot den Staaten Südost-und Osteuropas -unter Ausklammerung der DDR -diplomatische Beziehungen an.

Außenminister und Vizekanzler der Großen Koalition war der sozialdemokratische Parteivorsitzende Willy Brandt. Die SPD hatte unter seiner Federführung ein Gesamtkonzept für eine neue Ostpolitik der Bundesrepublik entwickelt, das den Status quo berücksichtigte. Das Ziel war es, durch eine aktive Politik die Ost-West-Konfrontation über eine Politik der Abrüstung, des friedlichen Wettbewerbs und der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft aufzubrechen, um den Status quo in Europa in Richtung auf mehr Demokratie und nationale Selbstbestimmung schrittweise zu verändern. Diese Vorstellungen über eine neue Ostpolitik konnte die SPD in der Großen Koalition nun erstmals als Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland zum Tragen bringen. Als Ende Januar 1967 Rumänien diplomatische Beziehungen mit der Bundesrepublik aufnahm, drohte der DDR die Isolierung im eigenen Lager. Es gelang der SED-Führung über den Politischen Ausschuß des Warschauer Paktes, gegen diese Gefahr eine Barriere zu errichten. Im Februar 1967 beschlossen die Außenminister der Ost-Allianz, „kein Mitglied des Paktes dürfe sein Verhältnis zur Bundesrepublik normalisieren, bevor die DDR dies getan habe“

Ende 1967 glaubte die SED offenbar, die Bundesrepublik werde gezwungen, die Forderung nach Wiedervereinigung aufzugeben und die DDR endgültig anzuerkennen. Eine neue Verfassung sollte dem DDR-Staatsvolk verdeutlichen, daß die Herrschaft der SED irreversibel sei. In Ulbrichts Worten auf dem 5. ZK-Plenum: „Alle Grundfragen haben wir in der Verfassungskampagne beantwortet, und wir haben den Blick der Bevölkerung nach vorn gerichtet. Es ist gelungen, eine’ breite, schöpferische Initiative der Werktäti­ gen zu erreichen, und man muß sagen, daß eine weitgehende und hohe Bewußtseinsentwicklung erreicht worden ist.“

Durch die innere Reform in der CSSR, die sogar von der Kommunistischen Partei getragen wurde, war dieser Erfolg der SED wieder in Frage gestellt, der Status quo drohte, sich erneut zu ihren Ungunsten zu verändern. Der Nürnberger Parteitag der SPD im März 1968 stand ganz im Zeichen der neuen Ostpolitik. Ulbricht fühlte sich bedroht und richtete erneut den Blick auf die SPD und das Ziel ihrer Ostpolitik: „Aber jetzt kommt die Sozialdemokratie, wie Brandt auf dem Parteitag erklärt hat: , Wir stehen am Beginn eines langen, widerspruchsvollen Prozesses, bei dem es sich darum handelt, daß sich zwischen den Staaten und Völkern West-und Osteuropas neue Bindungen und Verbindungen ergeben 4. Sie haben das ein bißchen mystisch ausgedrückt.“ Ulbricht übersetzt seinem Zentralkomitee die politische Intention dieses Programms, er sah darin eine Strategie der „Aufweichung der sozialistischen Länder mit neuen Methoden und Formen, und das unter der Losung der Sicherheit in Europa, der Losung der , neuen Ost-politik 4“

Zugleich warnte er: „Wir müssen uns doch darüber im klaren sein, daß das Wesen der Politik der sozialdemokratischen Führung darin besteht, Wege des Eindringens in die DDR zu finden, die DDR von innen aufzurollen, um das westdeutsche System des staatsmonopolistischen Kapitalismus mit seiner Bundeswehr auf ganz Deutschland zu übertragen. Das ist der Hauptpunkt der Differenzen mit der sozialdemokratischen Führung.“

Während sich die SED im März 1968 noch darauf beschränkte, der SPD zu unterstellen, sie wolle die DDR beseitigen, machte Ulbricht nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR die Sozialdemokraten auch als „Drahtzieher“ in der tschechoslowakischen Entwicklung aus. Ulbricht wörtlich: „Die faktisch wiederhergestellte Organisation der Sozialdemokratischen Partei der Tschechoslowakei handelte auf Anweisung gewisser Kreise der österreichischen sozialdemokratischen Führung sowie der westdeutchen Sozialdemokratie.“ Der Kern der sozialdemokratischen Gefährdung für die kommunistische Herrschaft war für Ulbricht das Auftauchen des „Revisionismus“ in den eigenen Reihen. Die tschechoslowakische Krise hatte bewiesen, daß es möglich war, eine kommunistische Partei zu „sozialdemokratisieren“ und damit zum Verzicht auf das politische Machtmonopol und die damit verbundene zentrale Lenkung von Ökonomie, Staat und Kultur zu bewegen. Aber in der Fixierung der SED auf die sozialdemokratische Gefahr spiegelte sich zweifellos auch ihre besondere Lage in Deutschland wider. Hier war die Systemauseinandersetzung in zwei Staaten einer Nation verfestigt, und der Systemvergleich fand tagtäglich zwischen Bundesrepublik und DDR über die Medien statt. Wenn Ulbricht also von der Gefahr der „Aufweichung“ der sozialistischen Ordnung durch die sozialdemokratische Politik sprach, so war das für ihn nicht in erster Linie eine Frage der Ideologie, sondern der Tagespolitik. Ulbricht sah im tschechoslowakischen Reformprozeß eine neue Variante der konterrevolutionären Strategie des Westens gegen den Sozialismus. Er zog vor dem 8. Plenum der SED die Lehren aus der gerade abgewendeten Gefahr. Für Ulbricht war es ausgemacht, die Tschechoslowakei, Ungarn und Polen sollten „von innen heraus“ unterminiert werden. „Die Hauptmethode für die Durchführung dieser Politik war nicht wie in Ungarn der konterrevolutionäre Putsch, sondern bestand darin, durch die Beherrschung der Massenmedien -der Presse, des Rundfunks, des Fernsehens -die Bevölkerung irrezuführen, den marxistisch-leninistischen Kräften die öffentliche Wirksamkeit zu entziehen, mit Hilfe der Massenmedien eine Pogromstimmung gegen die kommunistische Partei und gegen die Kommunisten durchzuführen und damit von innen heraus die antikommunistische Bewegung so anzuheizen, daß den antisozialistischen Kräften, die in verschiedenen Organisationen formiert sind, dann sozusagen die Macht in die Hände fällt.“ Wir haben diese Bewertung der tschechoslowakischen Entwicklung durch Ulbricht vom 23. August 1968 zitiert, weil hier die Gründe sichtbar werden, die die SED bewogen haben, in den siebziger und achtziger Jahren das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) auszubauen und den Versuch zu unternehmen, alle Bereiche der Gesellschaft durch „inoffizielle Mitarbeiter“ engmaschig zu kontrollieren, die Massenmedien rigide zu lenken und Kunst und Kultur zu gängeln. Durch diese Strategie der Machtsicherung verbaute sich die Kommunistische Partei endgültig die Chance zur Selbstreform.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung (IfGA), Zentrales Parteiarchiv (ZPA), IV 2/20/1017.

  2. IfGA ZPA, IV 2/1/210.

  3. IfGA ZPA, IV 2/1/212.

  4. Ebd.

  5. Ebd.

  6. Vgl. IfGA ZPA, J IV 2/2/1181.

  7. Vgl. IfGA ZPA, J IV 2/2/1183

  8. IfGA ZPA, IV /1/218.

  9. Rüdiger Wenzke, Prager Frühling -Prager Herbst. Zur Intervention der Warschauer-Pakt-Streitkräfte in der CSSR 1968. Fakten und Zusammenhänge, Berlin 1990, S. 28.

  10. Ebd., S. 30.

  11. IfGA ZPA, J IV 2/201/779.

  12. IfGA ZPA, IV 2/1/212.

  13. IfGA ZPA, JIV 2/201/787.

  14. Systemverteidigung, Stuttgart u. a., 1975, S. 66.

  15. IfGA ZPA, J IV 2/201/790. Vladimir Horsky, Prag 1968 -Systemveränderung und

  16. Dokumente der SED, Bd. XII, Berlin (Ost) 1971, S. 91.

  17. Brief der Warschauer Konferenz an das ZK der KPC, in: Peter Norden, Prag 21. August, Das Ende des Prager Frühlings, München 1977, S. 164.

  18. Vgl. R. Wenzke (Amn. 9), S. 18ff.

  19. Vgl. Dokumente der SED (Anm. 16), S. 108-115.

  20. IfGA ZPA, IV 2/1/217.

  21. IfGA ZPA, IV 2/1/219.

  22. Dokumente der SED (Anm. 16), S. 126.

  23. Vgl. V. Horsky (Anm. 14), S. 70; Vgl. Jiri Pelikan, Panzer überrollen den Parteitag, Protokoll und Dokumente des 14. Parteitages der KPTsch am 22. August 1968, Wien u. a. 1979.

  24. IfGA ZPA, IV 2/1/219.

  25. Peter Bender, Neue Ostpolitik. Vom Mauerbau zum Moskauer Vertrag, München 1986, S. 140.

  26. IfGAZPA. IV 2/1/212.

  27. Ebd.

  28. Ebd.

  29. IfGA ZPA, IV 2/1/219.

  30. Ebd.

Weitere Inhalte

Lutz Prieß, Dr. phil., geb. 1951; Studium der Geschichte in Leipzig; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung (IfGA), Berlin; jetzt Beauftragter des ehemaligen IfGA (aufgelöst am 31. 3. 1992). Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) SED und Stalinismus. Dokumente aus dem Jahr 1956, Berlin 1990. Manfred Wilke, Dr. rer. pol., geb. 1941; seit 1985 Professor für Wirtschaftssoziologie an der Fachhochschule für Wirtschaft, Berlin; 1992 Mitbegründer des Forschungsverbundes „SED-Staat“ an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Die Funktionäre. Apparat und Demokratie im DGB, München 1979; (zus. mit G. Otto) Der Kampf um die Köpfe. Mediengewerkschaft im DGB, München 1986; (zus. mit H. -P. Müller) FDGB: Vom alten Herrschaftsapparat zu neuer Gewerkschaftsmacht?, Sankt Augustin 1990; (zus. mit Hans-Hermann Hertle) Das Genossenkartell. Die SED und die IG Druck und Papier/IG Medien, Berlin 1992.