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Naturwissenschaft und Ideologie | APuZ 15/1992 | bpb.de

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APuZ 15/1992 Ideologieanfälligkeit und Relevanzverlust der Geisteswissenschaften Naturwissenschaft und Ideologie Historizismus, Geschichtswissenschaft und totalitäre Ideologie Die Risiken des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts

Naturwissenschaft und Ideologie

Hans Mohr

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Zusammenfassung

Konflikte zwischen Ideologie (politisch relevanter Weltanschauung) und (Natur-) Wissenschaft (auf der Grundlage der wissenschaftlichen Methode und des wissenschaftlichen Ethos erzielte objektive Erkenntnis) bahnen sich an, sobald eine Doktrin mit Wahrheitsanspruch auftritt. Die Position des (Natur-) Wissenschaftlers ist im Konfliktfall eindeutig bestimmt: Die methodische Objektivität impliziert, daß keine außerwissenschaftlichen Kräfte, Meinungen und Wertungen die Grundsätze des wissenschaftlichen Forschens und die Ergebnisse beeinflussen dürfen. Der (Natur-) Wissenschaftler hat sich, solange er forscht und lehrt, von ideologischen und weltanschaulichen (besonders parteipolitischen) Vorgaben gänzlich freizuhalten und sie gegebenenfalls als solche aufzudecken und zurückzuweisen. Der prinzipielle Konflikt zwischen Doktrin und wissenschaftlicher Erkenntnis (personifiziert: zwischen dem Repräsentanten der Doktrin und dem betroffenen Wissenschaftler) wird anhand einiger Fallstudien dokumentiert.

I. Vorbemerkungen zum Verhältnis von (Natur-) Wissenschaft und Ideologie

Ideologie verwende ich mehr oder minder synonym für politisch relevante Weltanschauung, als eine Art Gattungsname für divergierende politische Entwürfe, Welt-und Geschichtsdeutungen Unter einer freiheitlichen und liberalen Verfassung manifestieren sich ideologische Differenzen in philosophischer, religiöser und weltanschaulicher Pluralität. Ideologien werden häufig in starre Lehrmeinungen (Lehrsätze) gegossen. Das resultierende Gebilde nennt man eine Doktrin. Der Doktrinarismus, d. h. das starre Festhalten an rigiden Lehrmeinungen, ist ein Charakteristikum ideologiebestimmter (politischer) Praxis.

Als Wissenschaft bezeichnet man ein geordnetes Feld von Erkenntnissen. Der Gegenstand der Naturwissenschaften ist definitionsgemäß die Natur, die Natur des Menschen eingeschlossen, aber auch vom Menschen geschaffene, auf Natur zurückgehende Gebilde, zum Beispiel in Agrikultur, Technik und Medizin. Mit Forschung meinen wir in den Naturwissenschaften die disziplinierte, an Methoden gebundene Suche nach objektiven Erkenntnissen. „Objektiv“ bedeutet, daß die betreffende Erkenntnis sich vom einzelnen Forscher gelöst hat, wissenschaftliches Gemeingut (public knowledge) geworden ist weil jeder, der die methodischen und intellektuellen Voraussetzungen mitbringt, zu demselben Ergebnis gelangen wird.

Was macht den (Natur-) Wissenschaftler aus? Es sind zwei Momente: das Vertrautsein mit der wissenschaftlichen Methode und die unbeirrbare Loyalität gegenüber dem wissenschaftlichen Ethos, einem Verhaltenskodex, der ihn auf Erkenntnisgewinn verpflichtet Es ist nicht selbstverstündlich (und für viele Menschen, die mit der Forschungskultur nicht vertraut sind, schwer nachzuvollziehen), welche Gründe einen Doktoranden dazu bringen, Tage, Wochen, ja Monate seines Lebens dafür hinzugeben, bestimmte Größen solange zu messen, bis er sicher sein kann, daß die gesuchte Funktion „objektiv“ geworden ist. Damit ist gemeint, daß sich die Funktion von ihm gelöst hat, weil jeder, der die methodischen und intellektuellen Voraussetzungen des Meßvorgangs nachvollziehen kann, zu demselben Resultat gelangen wird.

Es ist hier nicht der Ort, das Ethos der (Natur-) Wissenschaft zu analysieren; es genügt, festzuhalten, daß jeder, der aus der Wissenschaft einen Beruf macht, an die Zielsetzungen, an das implizierte Ethos und an die expliziten Verhaltensregeln der Forschungskultur gebunden ist. Die Kontrolle durch die Scientific Community wird in der Theorie und Praxis straff gehandhabt. Strenge Sanktionen treffen jeden, der von der moralischen Norm abweicht, auch den genialen Nobelpreisträger Der (Natur-) Wissenschaftler als Person lebt moralisch freilich in mehreren Welten. Die Forschungskultur ist (nur) ein Subsystem der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der leidenschaftslose, nur der Erforschung der Wahrheit hingegebene (Natur-) Wissenschaftler ist eine Karikatur. Die herausragenden Wissenschaftler waren in der Regel auch eigenwillige und herausragende Menschen, verbunden mit der Welt, eingefügt in die Kultur ihrer Zeit, ebenso-viel oder ebensowenig wie andere Bürger an den ideologischen und politischen Spannungen und Kämpfen ihrer Zeit interessiert.

Für das Verhältnis von (Natur-) Wissenschaft und Ideologie ergeben sich aus diesen Vorbemerkungen eindeutige Konsequenzen:

Die methodische Objektivität impliziert, daß keine außerwissenschaftlichen Kräfte, Meinungen und Wertungen die Grundsätze des wissenschaftlichen Forschens und die Ergebnisse beeinflussen dürfen. Der Wissenschaftler hat sich, solange er forscht oder lehrt, von ideologischen und -weltanschauli chen (besonders parteipolitischen) Vorgaben gänz-lieh freizuhalten und sie gegebenenfalls als solche aufzudecken und zurückzuweisen.

Aber natürlich schließt der Homo investigans den Homo politicus nicht aus. Wir sind nicht in unsere Forschungskultur eingesperrt. Es ist völlig legitim, wenn verschiedene Forscher verschiedenen politischen Ansichten und Ideologien huldigen. Dies darf aber nicht auf das wissenschaftliche Tun abfärben. Wenn ein wissenschaftliches Gutachten, ein wissenschaftliches Buch, eine wissenschaftliche Vorlesung, eine wissenschaftliche Expertise die Parteizugehörigkeit des Wissenschaftlers erkennen läßt, hat der Betreffende seinen Platz im Kreis der Wissenschaft verlassen. Gewiß kann der Wissenschaftler absichtlich und überlegt aus diesem Kreis heraustreten, indem er sich politisch äußert, aber er muß dies klar markieren und deutlich erkennen lassen, wann er als Homo politicus auf politische Zustimmung zielt und wann er als Homo investigans Sachverhalte oder Interpretationen wissenschaftlich begründen kann. Dies aus gutem Grund: Es ist eine alte Einsicht, daß Wissen und Weisheit häufig nicht Hand in Hand gehen. Auch angesehene Wissenschaftler haben sich immer wieder mit politischen Entscheidungsvorschlägen blamiert und haben als Politiker versagt. Die These, wissenschaftliche Kompetenz impliziere ein hohes Maß an Orientierungswissen und politischer Vernunft, wird durch die Erfahrung nicht gedeckt

Besondere Probleme entstehen dann, wenn die Loyalität gegenüber einer bestimmten politischen Ideologie einen Wissenschaftler geradezu verblendet. Als wohlbekannte Beispiele können wir auf jene britischen Marxisten der dreißiger Jahre verweisen, unter ihnen Bernal und Haldane, die ganz offen ihr überragendes wissenschaftliches Prestige dazu benützten, ihre politischen Überzeugungen unter die Leute zu bringen, obgleich die stalinistischen Exzesse bereits kein Geheimnis mehr waren Während der gleichen Zeit kreierten einige deutsche Physiker, unter ihnen zwei Nobelpreisträger, die sogenannte „Deutsche Physik“, eine unverblümte Unterstützung der nationalsozialistischen Ideologie.

Diese Fälle bestätigen die Einsicht, daß fachliche Kompetenz und wissenschaftlicher Ruhm keinen hinreichenden Grund für eine ungewöhnliche politische Urteilskraft darstellen.

Konflikte zwischen Wissenschaft und Doktrin sind unvermeidlich. In den folgenden Fallstudien werden unterschiedliche Konfliktsituationen beschrieben. Ich stelle den „Fall Galilei“ an den Anfang, weil er alle Elemente enthält, die man braucht, um den prinzipiellen Konflikt zwischen der (Natur-) Wissenschaft und jener Art von Doktrin, die mit einem Wahrheitsanspruch auftritt, zu verstehen.

II. (Natur-) Wissenschaft und kirchliche Doktrin: Der Fall Galilei

Galilei hat das Experiment, die geplante und kontrollierte Beobachtung, in die Wissenschaft eingeführt Seitdem gilt in den Naturwissenschaften als maßgebend für die Zuverlässigkeit einer Theorie die Übereinstimmung der Theorie mit den relevanten experimentellen Beobachtungen. In der auf das Experiment gegründeten „wissenschaftlichen Methode“ haben die Naturwissenschaften ein Denksystem aufgebaut, innerhalb dessen relativ leicht entschieden werden kann, ob ein Satz zuverlässig („richtig“, „wahr“) ist oder nicht. Galilei geriet mit seiner neuen Denkweise in Konflikt mit der damals herrschenden Kirche, die aus Dogmen und Aussagen von Autoritäten (Aristoteles spielte eine herausragende Rolle) ein spekulatives Weltbild von imponierender Geschlossenheit konstruiert hatte. Dieses Weltbild bezog sich natürlich auch auf jene Bereiche, in denen Galilei experimentell begründete Aussagen machte. Was die Repräsentanten der Kirche, schließlich auch Papst Urban VIII., gegen Galilei aufbrachte, war vermutlich nicht in erster Linie das von Galilei propagierte kopernikanische Weltbild, sondern die Abkehr vom Aristotelismus, der Umstand, daß Galilei mehr an die „Macht des Experiments“ glaubte als an Autoritäten.

Mit allen Mitteln repressiver Macht erklärte die damalige Kirche, daß dem Naturforscher, der sich der experimentellen Methode bediene, eine kritische Prüfung des Weltbildes verwehrt sein müsse. Das traditionelle Weltbild dürfe, um der sittlichen Ordnung willen, nicht auf den Prüfstein präziser Empirie.

Galilei hat sich vor der Inquisition gebeugt. Man hält es für wahrscheinlich, daß der damals 69jährige Mann den Widerruf seiner Lehre, die Erde drehe sich um die Sonne, aus Angst vor dem Martyrium vollzog. Es ist aber auch möglich, daß Gali-lei allmählich zu der Überzeugung kam, er sei es den Menschen schuldig, die Ordnungskraft der Kirche, den Glauben der Menschen und die Sittlichkeit seiner Zeit nicht zu gefährden. Natürlich wußte Galilei, daß sich die Erde doch bewegt, aber er war möglicherweise bereit, „Erkenntnis“ außerwissenschaftlichen Interessen, in diesem Fall den wohlverstandenen Interessen der Kirche, unterzuordnen. Was auch immer Galilei bei seiner Entscheidung dachte und fühlte, wir sind heute davon überzeugt, daß der erzwungene Widerruf nicht nur moralisch, sondern auch taktisch falsch war, und wir werfen Galilei Feigheit und Verrat an den übergeordneten Werten vor. „Willkommen in der Gosse, Bruder in der Wissenschaft und Vetter im Verrat“, so heißt es bei Bertolt Brecht im „Leben des Galilei“. Taktisch falsch war andererseits auch die Verurteilung des Galilei im Retrospekt: Das Urteil konnte den Aufstieg der Naturwissenschaften und den Niedergang der alten Ordnung nicht verhindern. Der Sieg der Inquisition über Galilei wandelte sind in eine Niederlage für die Kirche. Und was schlimmer war: Es hat Wissenschaft und Kirche einander entfremdet und die Naturwissenschaften zögern lassen, sich am Bau der sittlichen Fundamente eines neuen Weltbildes und einer neuen tragfähigen Weltordnung angemessen zu beteiligen. Erst 1835 wurde das indizierte Werk des Galilei über die Weltsysteme freigegeben und erst 1893 erfolgte die zaghafte Rehabilitierung in einer Enzyklika durch Papst Leo XIII.

Den Fall Galilei fassen wir auf als einen Konflikt zwischen dem Anspruch der Wissenschaft und dem Anspruch kirchlicher Doktrin. Es handelt sich nicht um einen Konflikt zwischen dem wissenschaftlichen Ethos und dem Gottesglauben. Als Naturforscher sind wir Repräsentanten einer bestimmten Weitsicht. Das wissenschaftliche Weltbild unserer Zeit ist gottlos -aber es ist nicht antitheistisch. Die besonnene Antwort von Laplace, der auf die provokative Frage Napoleons nach seinem Verhältnis zu Gott antwortete: „Sire, je n’avais pas besoin de cette hypothese“, spiegelt keine Hybris, sondern die methodische Sorgfalt, die Disziplin im Denken eines Naturforschers wider -daran hat sich seit Laplace nichts geändert.

III. (Natur-) Wissenschaft und polit-ökonomische Doktrin: Der Fall Lyssenko

In diesem Abschnitt soll kurz dargelegt werden, wie in den dreißiger Jahren dialektischer Materialismus und Biologie in Konflikt gekommen sind, in einen blutigen Konflikt, der bis heute nachwirkt. Warum nahm dieser Konflikt härteste, ja barbarische Formen an? Dies lag nicht nur an dem unbeugsamen Charakter der Hauptpersonen: Vavilow und Lyssenko; es lag vor allem an dem Anspruch des dialektischen Materialismus, im strengen Sinn Wissenschaft, unfehlbare Wissenschaft zu sein und somit entscheidend und autoritativ in Sachfragen der Naturforschung eingreifen zu können. Vavilow war der angesehenste unter den sowjetrussischen Genetikern und Züchtungsforschern. Außerdem war er der erste Präsident der Lenin-Akademie der Landwirtschaftswissenschaften. Vavilow war allen Berichten nach ein genialer Wissenschaftler und ein nobler Mensch. Er besaß ein geradezu legendäres wissenschaftliches Ansehen, auch im westlichen Ausland. Schon wenige Sätze aus einer improvisierten Antwortrede Vavilows an Lyssenko zeigen seine unbeugsame wissenschaftliche Haltung und sein menschliches Format: „Wir werden auf den Scheiterhaufen gehen, wir werden verbrennen, aber wir werden nicht von unserer Überzeugung lassen ... Ich glaube das nicht nur, denn in der Wissenschaft ist der Glaube unsinnig, sondern ich berufe mich auf ein Wissen, das auf umfangreicher wissenschaftlicher Erfahrung beruht. Das sind die Tatsachen, und sie nur deshalb zu verleugnen, weil das irgendeiner, der einen hohen Posten innehat, verlangt, ist unmöglich.“

Im Gegensatz zu Vavilow berief sich sein Gegner Lyssenko auf die Autorität und Infallibilität der Partei und auf den vom ZK interpretierten dialektischen Materialismus (Diamat): „Genossen! Ehe ich zum Schlußwort übergehe, halte ich es für meine Pflicht, folgendes zu erklären: In einer der schriftlichen Anfragen werde ich gefragt, welche Stellung das Zentralkomitee der Partei zu meinem Vortrag einnimmt. Ich antworte: Das Zentralkomitee der Partei hat meinen Vortrag geprüft und hat ihn gebilligt.“ (Im Protokoll liest man: Stürmi-scher Beifall, der in eine Ovation übergeht. Alle erheben sich) Gegen diese Taktik hatte Vavilow keine Chance. Er wurde wie viele seiner Kollegen verhaftet und kam im Gefängnis um.

Bei den Auseinandersetzungen zwischen Vavilow und Lyssenko ging es um zwei Grundfragen der Biologie: 1. Was ist und wie geschieht Vererbung? 2. Welches sind die Ursachen für Variation und Evolution, d. h. für die Verschiedenheit und den Wandel der Lebewesen? Vor 1935 hielten sich auch die sowjetischen Biologen an die bereits klassischen Vorstellungen: Genbegriff, Mendelgenetik, Chromosomentheorie der Vererbung, Theorie der Mutation, Rekombination und Selektion als Grundlage der Populationsgenetik, Neodarwinismus als Erklärung der Evolution. Es stellte sich aber allmählich heraus, besonders mit dem raschen Erkenntnisfortschritt in der Humangenetik, daß die Vorstellungen der klassischen („westlichen“) Genetik nicht ohne weiteres mit den Grundthesen des Diamat über die belebte Natur, insbesondere über die Natur des Menschen, zu vereinbaren waren. Die gespannte Situation in Moskau läßt sich vielleicht am besten damit illustrieren, daß das Medizinisch-Genetische Institut aufgelöst wurde. Levit, der Direktor, wurde verhaftet, nachdem er und seine Mitarbeiter in umfangreichen Zwillings-forschungen die überragende Bedeutung des Erbguts beim Menschen aufgezeigt hatten.

Erst in dieser Krisensituation konnte Lyssenko voll in Erscheinung treten. Er leugnete die Existenz von Genen und erklärte kurzerhand die bereits klassischen Theorien der Genetik und der Evolution für „idealistisch“, „bürgerlich“ und „metaphysisch“. Lyssenkos Aufstieg zum Diktator der sowjetischen Biologie ist nicht nur seinem guten Einvernehmen mit Stalin und seinem Opportunismus zu verdanken; seine Karriere muß vielmehr auch vor dem Hintergrund der chronischen Versorgungskrise in der damalige UdSSR gesehen werden. Die sowjetische Regierung mußte Mitte der dreißiger Jahre alles daransetzen, eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Erträge zu erreichen, und die Genetiker und Züchter konnten die Defekte der stalinistischen Agrarpolitik nicht kompensieren. Lyssenko hingegen brachte es fertig, sich mit dem Image des erfolgreichen Praktikers -Erfinder der ertragsteigernden Jarowisation -zu versehen und dieses Image zu bewahren, trotz verheerender Mißerfolge. Lyssenko war zeit seines Lebens ein Scharlatan, aber zugleich ein ungemein geschickter Propagandist in eigener Sache. Lyssenko stammte nicht aus dem wissenschaftlichen Establishment, sondern war wie sein Vorläufer Mitschurin ein Autodidakt. Er hatte eine Abneigung gegen reguläre Wissenschaft und gegen wissenschaftliche Methoden. Die westlich orientierten Genetiker und Züchtungsforscher in Ruß-land waren ihm verhaßt. Bei der Unterdrückung und Vernichtung seiner Gegner hatte er keine erkennbaren Skrupel.

Nach seinen Bemühungen um die Landwirtschaft begann Lyssenko etwa 1934, seinen theoretischen Ansatz, die sogenannte Stadienlehre der pflanzlichen Entwicklung, zu einer neuen Vererbungstheorie auszubauen. Gleichzeitig suchte er eine Verbindung zur Theorie des Diamat und er bemühte sich, seine Vererbungslehre als die einzige mit dem Diamat zu vereinbarende hinzustellen.

Lyssenkos Alternativen waren zumindest anfangs recht vage, so daß man sie kaum wiedergeben kann. Im Prinzip stellten sich Lyssenko und seine Anhänger auf den Standpunkt, daß sich unter dem Einfluß der Umwelt die genetische Substanz ständig ändere, und zwar derart, daß die Umweltfaktoren die Richtung der Änderung direkt bestimmten. Derlei Vorstellungen („unvermittelte Vererbung“, „Vererbung erworbener Eigenschaften“) waren zwar wissenschaftlich längst geprüft und widerlegt; sie kamen aber den Theoretikern des Diamat entgegen. Gestützt auf Stalin und das ZK gelang es Lyssenko allmählich, die wissenschaftliche, westlich orientierte Genetik in der Sowjetunion auszuschalten. Im August 1948 wurde der „Lyssenkoismus“ schließlich zur einzigen auf der Grundlage des Diamat beruhenden Biologie erklärt. Im Protokoll der betreffenden Sitzung heißt es: „Wir Vertreter der sowjetischen Biologie behaupten, daß die Vererbung von Eigenschaften, die Pflanzen und Tiere in ihrem Entwicklungsprozeß erwerben, möglich und notwendig ist. Damit steht jedem Biologen der Weg offen, die Natur der pflanzlichen und tierischen Organismen zu lenken, sie durch die Lenkung der Lebensbedingungen, also auf rein physiologischem Wege, in der für die Praxis erforderlichen Richtung zu verändern.“

Eine Spezialität von Lyssenko und seinen Anhängern war der „Nachweis“ der Umwandlung von Kulturpflanzen in andere Kulturpflanzen, also der Nachweis einer Transmutatio frumentorum. Es handelt sich hier um ein uraltes Problem der spe-kulativen Naturphilosophie, das mit dem Aufkommen der Genetik und des auf Genetik gestützten Neodarwinismus definitiv erledigt schien. Die Lyssenko-Schule nahm das Problem wieder auf und behauptete allen Ernstes, die Umwandlung von Weizen oder Hafer in Roggen, von Weizen in Gerste, aber auch die Umwandlung von Leguminosen, von Cruciferen, von Unkräutern und von Baumarten sei nicht nur möglich, sondern wissenschaftlich bewiesen

Der Lyssenko-Kult erreichte in den Jahren nach 1948 unglaubliche Ausmaße. Er wurde schlicht „der Große“ genannt. Sein Bild hing in allen wissenschaftlichen Instituten. Vereint mit Stalin schmückte es viele Plätze und Parks. Überall in der Sowjetunion wurden Büsten von Lyssenko verkauft.

Die Irrlehren Lyssenkos waren, zum Schaden des russischen Volkes, keine nur akademische Angelegenheit. Im Jahre 1936, als Lyssenko voll in Aktion trat, war die Genetik bereits von erheblicher Relevanz für Agrikultur und Medizin. Die Genetik diente seinerzeit bereits in allen wissenschaftlich und technisch entwickelten Staaten als Grundlage der Pflanzen-und Tierzucht und war dadurch eng mit der landwirtschaftlichen Praxis und Produktivität verbunden. Die Lehre von den Erbkrankheiten des Menschen war 1936 bereits eine wichtige Grundlage für die klinische Diagnose und Therapie, außerdem die Basis für die genetische Familienberatung. Lyssenko hat nicht nur die russische Genetik und Züchtungsforschung zugrunde gerichtet, sondern auch die russische Landwirtschaft und zum Teil die Medizin in unübersehbare Schwierigkeiten gebracht. Nur ein Beispiel: Lyssenko verhinderte entgegen den Plänen von Vavilow den Anbau von Hybridmais, da ihm die zugrundeliegende genetische Technik (Heterosiseffekt) zuwider war. Man schätzt, daß diese Anweisung Lyssenkos für die UdSSR bis 1954 einen Verlust von 30-50 Mrd. Kilo Mais zur Folge hatte.

Natürlich haben viele russische Naturforscher die Scharlatanerie und den Fanatismus Lyssenkos durchschaut. Aber nur wenige waren verwegen genug, ihn anzugreifen. Es war einfach zu gefährlich. Bis Anfang der sechziger Jahre war Lyssenkos Auffassung in Übereinstimmung mit dem Diamat. Erst im Juli 1964, als die führenden russischen Physiker eingriffen und Lyssenko trotz der massiven Unterstützung durch Chruschtschow eine wichtige Wahl in der Akademie der Wissenschaften der UdSSR verlor, bahnte sich das Ende des Lyssenkoismus an. Erst seit 1964 gehören also Mendelgenetik, Populationsgenetik, Molekularbiologie, Kybernetik und andere Attribute der „westlichen“ Biologie zum Repertoire sowjetischer Biologie.

Ab 1964 war nach DDR-Lesart die Lyssenko-Affäre eine bizarre, tragische Verirrung, eine Begleiterscheinung des stalinistischen Personenkults, die keine Relevanz für das Hauptthema besitze. Dieses lautete nach wie vor: Unterordnung der Einzelwissenschaftlichen unter das erkenntnistheoretische Diktat des Diamat. „Vertreter der Konzeption der unvermittelten Vererbung und damit der Vererbung erworbener Eigenschaften finden sich auch heute noch in allen Ländern. (Dieser Satz ist inhaltlich falsch, H. M.). In der Sowjetunion gelang es einer Gruppe von ihnen mit T. D. Lyssenko an der Spitze, unter den Bedingungen des Personenkults um J. W. Stalin, diese Auffassung zur herrschenden zu machen. Dabei mißbrauchten und entstellten sie auch den dialektischen Materialismus zur Rechtfertigung ihrer Ansichten (Lyssenko hatte stets die Rücken-deckung Stalins und des ZK, H. M.). Durch ihre Monopolstellung hemmten sie die Entwicklung der Biologie in der Sowjetunion und verschafften sich auch in anderen sozialistischen Ländern negativen Einfluß. Diese Gruppe lehnte einige sehr wichtige Zweige der Biologie ab und bürgerte die eigenen Standpunkte ein, obwohl sie häufig dem modernen Stand der Wissenschaft und den experimentellen Daten nicht entsprachen. Das zeigte sich besonders auf der Tagung der Lenin-Akademie für Agrarwissenschaften der Sowjetunion vom August 1948, auf der vor allem sehr wichtige Errungenschaften der Genetik negiert und der Wissenschaft eine unbegründete Konzeption über die Art und die Artbildung sowie andere, unbewiesene Thesen aufgezwungen wurden.“

Was mich seinerzeit am „Lyssenkoismus“ faszinierte und mich motiviert hat, viel Zeit für das Studium dieses Phänomens aufzuwenden, war die Frage, welche Faktoren den Aufstieg und die Herrschaft Lyssenkos möglich gemacht haben Ein politisches System, angeblich auf der unfehlba-ren Wahrheit des Diamat begründet und dem Wohl der Arbeiter und Bauern verpflichtet, überläßt es von 1937 bis 1964 einem wissenschaftlich ungebildeten Scharlatan, in der biologischen Forschung, in der Landwirtschaft und selbst in der medizinischen Genetik der „sozialistischen Länder“ die entscheidende Rolle zu spielen.

Den Fall Lyssenko kann man nur verstehen, wenn man den Personenkult und die Macht der Doktrin des Diamat selbst erfahren hat Die über Engels weit hinausgehende ontologische Konzeption des Diamat, wie sie vor allem bei Stalin zu finden ist, machte die Schwierigkeiten, neue, unerwartete Erkenntnisse der Naturwissenschaften zu bewältigen, fast unüberwindlich. Für die ontologische Auffassung bedeutet eine neue, unerwartete Erkenntnis ja nicht einfach eine gewisse Revision des Status quo, sondern eine Veränderung der Aussagen über die Gesetze und Strukturen der Materie an sich. Es war deshalb konsequent, wenn im ontologischen Stadium des Diamat neue, unerwartete (und erst recht „revolutionäre“) Erkenntnisse als Zwang zur Revision des Diamat aufgefaßt und deshalb energisch bekämpft wurden. Die Ergebnisse der modernen Genetik, sowohl der Kreuzungsgenetik als auch der Entwicklungs-und Populationsgenetik, gehörten zu dieser für den Diamat gefährlichen Kategorie von Erkenntnis.

Bis etwa Mitte der dreißiger Jahre waren manche Naturforscher, unter ihnen auch bedeutende, vom Diamat durchaus eingenommen. Sie gingen davon aus, daß es sich dabei um eine seriöse Naturphilosophie handle, die ihrem prinzipiellen Anliegen nach die Naturforschung begünstige. Für eine Reihe „wissenschaftlicher Sozialisten“ -wie sie sich nannten -galt es als Gewißheit, daß die kommunistische Gesellschaftsform auch für die auf Erkenntnis gerichtete Grundlagenforschung den günstigsten Nährboden bilden würde. Der englische Kristallograph Bernal hat diese Auffassungen in einem seinerzeit weithin bekannten, brillanten Traktat: „The Social Function of Science“ propagiert. Überhaupt konzentrierte sich im Cambridge der dreißiger Jahre eine Gruppe hervorragender Naturwissenschaftler, die überzeugte Kommunisten waren und von der Sowjetunion das Heil für die Welt erwarteten. Neben Bernal waren der Genetiker Haldane und der Mathematiker Levy die führenden Köpfe. Die Vorstellung, daß es jemals zu einer ernsthaften Konfrontation zwischen einer wissenschaftlichen Entdeckung und den Aussagen des Diamat kommen könnte, wurde seinerzeit auch von hervorragenden Wissenschaftlern, sofern sie aus politischer Überzeugung dem Sowjetkommunismus nahestanden, verdrängt. Man ging davon aus, daß ein echter Gegensatz zwischen Diamat und Forschung zumindest unwahrscheinlich sei, da der Diamat selber die Qualität einer Wissenschaft besitze und die Einzelwissenschaften lediglich die Detailinformation innerhalb des wissenschaftlich wahren philosophischen Rahmens erarbeiten könnten. Es sei, so wurde argumentiert, a priori ausgeschlossen, daß die Interpretation wissenschaftlicher Information nicht stets in Überein-stimmung mit dem philosophischen Rahmenwerk geschehen könne. Die Ernüchterung in den westlichen Ländern setzte dann Anfang der dreißiger Jahre ein, als sich auf breiter Front herausstellte, daß der Diamat nicht imstande war, den wissenschaftlichen Fortschritt zu integrieren. In der Sowjetunion allerdings wurde fast 30 Jahre lang einem einschlägigen Engels-Zitat mehr Gewicht beigemessen als den Forschungsergebnissen der ganzen Genetik zusammen. Und bis in die jüngste Zeit war es bei philosophischen Diskussionen selbst in der DDR möglich, auch widersinnige Konzepte mit einem Hinweis auf die dialektischen Grundgesetze Engels’ zu rechtfertigen.

IV. (Natur-) Wissenschaft und Parteidoktrin in der DDR

„Wissenschaft wird nicht um ihrer selbst willen betrieben, ihre Zielvorstellungen sind immer an das jeweilige Gesellschaftssystem gebunden. Nur im Sozialismus kann sich die Wissenschaft frei zum Wohle der Menschheit entfalten.“ Demgemäß waren in der DDR die Universitäten strikt nach der Parteilinie ausgerichtet. Den Zwängen politischer Doktrin konnten sich auch die Naturwissenschaften nur begrenzt entziehen. Die Schwäche der Naturwissenschaft in den sozialistischen Staaten, gemessen am Nutzen/Aufwand-Verhältnis und an den Spitzenleistungen, ist in erster Linie auf ihre Politisierung zurückzuführen. Die von der SED-Parteiführung verfügten Kaderkriterien, denen die Berufungspolitik der Hochschullehrer und die Ernennungspolitik der wissenschaftlichen Mitarbeiter zu genügen hatten, ließen nur wenig Spielraum, um hochbegabte oder international anerkannte Wissenschaftler unabhängig von der „führenden Rolle der Partei“ in Spitzenpositionen zu bringen Gegen Angehörige der Universität und gegen die Mitarbeiter der Akademieinstitute gerichtete Disziplinarverfahren, Diskriminierungen, Entlassungen, Rückstufungen usw. aus politischen Gründen zermürbten nicht selten die Tüchtigsten und zerstörten den Geist der Institute. Nach diesen Erfahrungen im Spannungsfeld von Wissenschaft und politischer Ideologie ist es nicht überraschend, wenn es in den „Grundsätzen“ für die Zukunft der Universität Jena -sie wurden von dem Physiker Ernst Schmutzer formuliert -lapidar heißt: „ 8. Parteipolitische Auseinandersetzungen, die selbstverständlich zum Wesen einer demokratisch funktionierenden Gesellschaft gehören, sind außerhalb der Universität auszutragen.“

Ein besonders infames Kapitel aus der letzten Phase der DDR, Mitte der achtziger Jahre, war die Einpassung der bundesdeutschen Naturwissenschaftler -Initiative „Verantwortung für den Frieden“ in das Propagandaarsenal der SED. Die Initiative richtete sich in erster Linie gegen die vom amerikanischen Präsidenten Reagan anvisierte Weltraumrüstung (SDI-Programm). „Daneben“, so ein Repräsentant der Initiative „werden wir während der Friedenswoche (11. -16. November 1985) auch andere Themen behandeln. Zu ihnen gehören die Fragen der Erstschlagstrategie und ihre Waffen und die Strategie für einen begrenzten Krieg in Mitteleuropa. Ein sehr wichtiges Thema wird der Zusammenhang zwischen Rüstung und Wirtschaft sein. Außerdem wollen wir in dieser Woche über Alternativen zur Aufrüstung und neue Wege zur Sicherheit sprechen.“ Erwartungsgemäß wurde die Initiative von den damaligen DDR-Ideologen unter dem Motto „Naturwissenschaftler im Friedenskampf“ großzügig dokumentiert und propagandistisch ausgebeutet: „Unter dem Druck der konsequenten Friedenspolitik der sozialistischen Staaten und der Forderungen der werktätigen Massen in ihren eigenen Ländern waren die imperialistischen Kräfte gezwungen, sich an Maßnahmen zur Festigung des Friedens und der Vergrößerung der Sicherheit in Europa zu beteiligen .. ." Inzwischen liegen die Angriffspläne des Warschauer Pakts gegen die Bundesrepublik und Westeuropa, bis in die Ära Gorbatschow hinein, schwarz auf weiß vor.

V. Biologie zur Zeit des Nationalsozialismus

Die Politisierung der Biologie im Dritten Reich lastet als eine schwere Hypothek auf unserem Fach. Allerdings bedurfte es einer differenzierten Analyse, die erst kürzlich geleistet wurde um den tatsächlichen Vorgängen gerecht zu werden. Auf der einen Seite blieb die Biologie als Wissenschaft, d. h. sowohl ihre Inhalte als auch die Fachvertreter, vom Nationalsozialismus weitgehend unbehelligt Mein Amtsvorgänger zum Beispiel, der Genetiker Friedrich Oehlkers, konnte seine wissenschaftliche Arbeit ungehindert weiterführen, obgleich seine Frau aus einer bekannten jüdischen Familie stammte und er sich zu keiner Konzession an die NS-Ideologie bereit fand. Es war primitiver Antisemitismus, der das Leid, den Freitod des einzigen Sohnes, über die Familie des weltweit renommierten Cytogenetikers brachte. Die Biologie als produzierende Wissenschaft, d. h. im „Dienst am Volk“, sollte die wissenschaftlichen und praktischen Grundlagen der Ernährung und Erhaltung der Volksgesundheit erarbeiten In die Art und Weise, wie die Forschungsinstitutionen dieser Zielvorgabe gerecht wurden, mischte sich die Partei in der Regel nicht ein. Das für die Wirtschaft (Kohle und Stahl) entscheidend wichtige Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie in Dortmund zum Beispiel konnte während der Nazizeit seine Untersuchungen ohne politischen Druck gestalten und auswerten

Es wäre auch eine falsche Geschichtsdeutung, anzunehmen, biologische Theorien -etwa sozialdarwinistische Theorien oder der monistische Biologismus Haeckels -seien die eigentliche Quelle der nationalsozialistischen Ideologie gewesen. Wie Änne Bäumer überzeugend belegt, setzten sich die maßgebenden Vertreter des Nationalsozialismus bewußt von jeder „naturwissenschaftlichen“ Anschauung ab: „Als politische Bewegung lehnt der Nationalsozialismus jede Gleichsetzung mit irgendwelchen Gelehrten und Forschern oder irgendwelchen Forschungszweigen innerhalb der Lebenskunde ab... Der Nationalsozialismus ist eine politische, keine wissenschaftliche Bewegung. . ." Andererseits kann kein Zweifel bestehen, daß viele deutsche Biologen mit (Teilen) der NS-Ideologie sympathisiert haben, nicht selten in widerlicher Weise. Die ganzheitliche, organismische Naturauffassung kam manchen entgegen: „Biologisch zu leben, bedeutet heute naturgemäß ... leben; biologisch denken heißt, so denken, wie es die Lebensgesetze erfordern“ Da Hitler sich in „Mein Kampf“ und in seinen zahllosen Reden zeitgenössischen Strömungen der Biologie emotional geschickt annäherte, konnte er von vielen Biologen zumindest in Einzelbereichen Unterstützung erwarten. „Blut und Boden sind die Grundlage unserer nationalsozialistischen Weltanschauung“, so E. Lehmann, Biologieprofessor in Tübingen, bereits im Jahr 1933. Der renommierte Wilhelm Troll feierte 1935 „die Wiedergeburt der Morphologie aus dem Geist deutscher Wissenschaft“, eine eher komische Verbeugung des großen Gelehrten vor der NS-Ideologie.

Anthropologie und Rassenkunde wurden im Dritten Reich in entsetzlicher Weise ideologisiert. Das biologische Wissen über die tatsächlich gegebenen Unterschiede zwischen Menschen, Rassen und Völkern wurde zu einem Ungleichwertigkeitsdogma pervertiert. Dieses wurde, wissenschaftlich legitimiert, als „Wahrheit“ ausgegeben. Holocaust und Euthanasie erhielten damit ein „wissenschaftliches“ Fundament. „Die praktische Umsetzung der scheinbar biologisch-wissenschaftlich legitimierten Politik hatte katastrophale Auswirkungen. Es sei allerdings hier einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es nicht die Biologen waren, die die vernichtenden Konsequenzen aus den von ihnen entwickelten Theorien zogen“.

Auch wenn man die Auffassung teilt, daß Holocaust, Euthanasie und die entsetzlichen „Experimente“ von KZ-Ärzten nicht der Biologie angelastet werden dürfen -die Tatsache, daß die Biologie ein Werkzeug der Nationalsozialisten wurde, bleibt bestehen. Ein Begreifen dessen, was seinerzeit geschah, bedeutet die Verpflichtung, neuen Anfängen zu wehren.

VI. Politische Ideologie und Expertentum

Zwölf Naturwissenschaftler, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler, die als ausgewiesene Gegner der Kernenergienutzung gelten, haben sich Mitte Dezember 1991 in Hannover als „Beirat für Fragen des Kernenergieausstiegs“ konstituiert. Das von der Rot-Grünen Landesregierung berufene Gremium soll die Regierung Schröder bei der Zielsetzung unterstützen, „im Rahmen des geltenden Rechts alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Nutzung der Kernenergie zu beenden“

Auch wenn sich die beteiligten Physiker gegen den Vorwurf der ausstiegsorientierten Einseitigkeit mit dem Hinweis auf die „satzungsgemäß zugesicherte Unabhängigkeit des Beirats in Sachfragen“ verwahren, wird dem Gremium der Makel politisch-ideologischer Voreingenommenheit anhaften. Mit Recht, denn mit (Natur-) Wissenschaftlern bestückte Gremien, deren Mitglieder aufgrund eines politischen Vorurteils ausgewählt wurden, untergraben das Ansehen des Expertentums. Man kann sich politisch für einen Ausstieg aus der Kernenergie entscheiden, sicher -aber nach allem, was wir über den Sachverhalt wissen, läßt sich diese Entscheidung nicht wissenschaftlich begründen.

Die Stellung des Experten an der Nahtstelle zwischen Wissenschaft und Politik ist im Gegensatz klar definiert Erkenntnis ist nicht unmittelbar praxisfähig. Erkenntnis bedarf der Vermittlung. Es ist der Experte, der aus theoretisch-kognitiver Erkenntnis Verfügungswissen formt und in das öffentliche Bewußtsein, in die Wirtschaft, die Industrie und in die wissenschaftliche Politikberatung, die Technikfolgenabschätzung eingeschlossen, einbringt.

Für das Verfügungswissen brauchbare Sätze haben in der Regel die Struktur von „Wenn-dann-Sätzen“, zum Beispiel: Wenn man das Ziel Y erreichen will, muß man die Maßnahme X treffen. Und komplementär dazu: Wenn man die Zielsetzung Y realisiert, sind die Nebenfolgen Z zu erwarten, oder: Wenn man die Folgen Y vermeiden will, dann muß man die Faktorenkonstellation X vermeiden. Sätze wie „Die Konstellation X ist gut“ haben erst dann eine wissenschaftliche Bedeutung, wenn man sie in die Form bringt: „Ich sage voraus, daß die Faktorenkonstellation X als gut befunden wird, um die Folgen Y zu erreichen“. Ob es moralisch gut oder gerecht ist, das Ziel Y anzustreben, ist in den „Wenn-dann-Sätzen" des Verfügungswissens nicht ausgesagt. Dies ist Sache der Entscheidungsfindung. Und diese ist, sofern es sich um kollektive Entscheidungen handelt, die Domäne der Politik.

Solange wir in einer pluralistischen Demokratie leben, werden mit Recht über die Ziele im Streite liegen; es ist deshalb nicht Sache der Experten, der politischen Entscheidung vorzugreifen oder sich von einem politisch-ideologischen Vorurteil leiten zu lassen. Für den Experten mag es ein Schock sein -und seinerzeit, als ich zum ersten Mal in diese Dimensionen hineingeriet, war es für mich ein Schock-, zu erkennen, wie unsicher fast alle politischen Entscheidungen sind, weil die rein rationale Begründung nicht ausreicht. Aber der Wissenschaftler muß sich innerlich darauf einstellen, wenn er auf den ihm zufallenden Part am politischen Entscheidungsprozeß nicht ganz verzichten will. Seine Aufgabe ist es, „unbeirrt von äußeren Rücksichten die wissenschaftliche Wahrheit zu suchen und zu bekennen“ 30. Es gibt, im Unterschied zur wissenschaftlichen Wahrheit, keine politische Wahrheit, es gibt nur die Handlungsentscheidung aufgrund der jeweiligen politischen Konstellation.

Wo liegen die objektiven Schwierigkeiten, also jene Schwachpunkte, die auch dem moralisch integren Experten zu schaffen machen? Verfügungswissen ist seiner Natur und Herkunft nach unterschiedlich verläßlich! Ein Gutachten über die Konjunktur ist aus triftigen Gründen weniger zuverlässig als ein Gutachten über die Thermodynamik einer Verbrennungsmaschine. Die Wettervorhersage ist aus prinzipiellen Gründen weniger genau als die Vorhersage einer Mondfinsternis. Aussagen über das Aids-Virus sind ihrer Natur nach zuverlässiger als Aussagen über die Epidemiologie der Krankheit.

Auch die abgestufte Seriosität der Aussagen darf der Öffentlichkeit nicht unterschlagen werden. Was in der Phantasie des Experten stimmt, zum Beispiel die solare Wasserstoffwelt, stimmt noch lange nicht auf dem Papier. Und was auf dem Papier steht, funktioniert noch lange nicht in der Praxis. Der verantwortungsbewußte, der vertrauenswürdige Experte wird keinen Zweifel daran lassen, was „bewiesen“ ist, was ihm als „gesichert“ erscheint, was „möglich“ ist und was „vielleicht möglich“ ist. Meine Erfahrung sagt mir, daß die meisten Experten vertrauenswürdig sind. Wären sie es nicht, würde unser auf Technologie und Vertrauen gegründetes Zusammenleben längst nicht mehr funktionieren.

Widersprüche zwischen Wissenschaftlern, die als Sachverständige auftreten, hat es allerdings immer gegeben. Wenn es sich um beweisfähige Wissenschaft handelt, kann ein solcher Widerspruch nur dadurch zustande kommen, daß mindestens einer der Kontrahenten mehr behauptet, als er wissenschaftlich beweisen kann. Das Problem wird in der Wissenschaft üblicherweise dadurch gelöst, daß die Gutachter, von denen entgegengesetzte Stellungnahmen vorliegen, zur Zusammenarbeit (z. B. zu einem Punkt-für-Punkt-Vergleich) veranlaßt werden, mit dem Ziel, die Diskrepanzen zu lokalisieren. Solange nur fachlich kompetente und moralisch integre Personen in die Kontroverse verwickelt sind, wird sich stets eine Lösung finden -und sei es.der Verzicht auf eine Aussage aus Unkenntnis oder aus prinzipiellen Erkenntnisgrenzen-, weil jede Partei weiß, daß in der Wissenschaft einander entgegengesetzte Aussagen nicht gleichzeitig wahr sein können.

Da die Öffentlichkeit über diese Zusammenhänge nicht viel weiß, ist es kein Wunder, daß es den Medien und den jeweils unterlegenen Interessengruppen immer wieder gelingt, das öffentliche Vertrauen in Expertenaussagen zu erschüttern. Mit dieser zynischen Praxis haben wir die Öffentlichkeit völlig verwirrt. Ein Experte wird heute in der Regel nicht mehr als neutraler Sachverständiger betrachtet, sondern als Interessenvertreter. Die Krise des Expertenwesens macht uns in der täglichen Praxis immer mehr zu schaffen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Heinz Robert Schlette, Ideologie, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/Christoph Wild (Hrsg.), Grundbegriffe, München Handbuch philosophischer 3, Band 1973, S. 720ff.

  2. Vgl. John Ziman, Public Knowledge, Cambridge 1968.

  3. Vgl. Hans Mohr, The Ethics of Science, in: Interdisciplinary Science Review, 5 (1979) 4, S. 45 ff.

  4. Vgl. Stephen Hall, Baltimore resigns at Rockefeller, in: Science, 254 (1991), S. 1447.

  5. Vgl. Hans Mohr, Lectures on Structure and Significance of Science, New York 1977, S. 143 ff.

  6. Vgl.ders., Biologische Erkenntnis, Stuttgart 1981, S. 185.

  7. Vgl. ebd., S. 181ff.

  8. Vgl. Shores A. Medwedjew, Der Fall Lyssenko. Eine Wissenschaft kapituliert, Hamburg 1971.

  9. Eine eingehende Darstellung findet sich bei H. Mohr (Anm. 6), S. 182 ff.

  10. Trofim D. Lyssenko, Die Situation in der biologischen Wissenschaft, Stenographischer Bericht von der Tagung der W. -I. -Lenin-Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der Sowjetunion vom 31. Juli bis 7. August 1948, Deutsche Übersetzung: W. Höppner und I. Meier, Redaktion: S. G. Saakow, Berlin 1948, S. 423.

  11. Vgl. ebd., S. 12.

  12. Der DDR-Biologe Mauritz in -Dittrich hat seiner glän zenden wissenschaftsgeschichtlichen Habilitationsschrift „Getreideumwandlung und Artproblem, eine historische Orientierung“ das Problem der Transmutatio frumentorum ad absurdum geführt. Merkwürdigerweise wurde seine Studie vom VEB Gustav Fischer Verlag in Jena 1959 publiziert. Der hervorragend begabte Dittrich begab sich damit der Chance einer professionellen Laufbahn.

  13. Rolf Löther, Biologie und Weltanschauung, Leipzig 1972, S. 48.

  14. Ich hatte 1961 als Gastprofessor in Moskau die seltene Gelegenheit, das von Lyssenko geleitete Institut zu besuchen und die einschlägigen Sammlungen zu besichtigen.

  15. Der für die DDR-Biologie maßgebende Ideologe, Rolf Löther, hat seinerzeit (1972) die verpflichtende Doktrin auf die prägnante Formel gebracht: „Der dialektische Materialismus, die von Marx, Engels und Lenin begründete wissenschaftliche Philosophie der Arbeiterklasse und des Sozialismus, ist die philosophische Grundlage der modernen Naturwissenschaft.“ (Anm. 13), S. 22.

  16. Karl-Friedrich Wessel/Hans-Dieter Urbig (Hrsg.), Naturwissenschaft im Friedenskampf, Berlin 1987, S. 17.

  17. Ernst Schmutzer, Neue Zeiten, große Ziele und verwurzelte Probleme, in: Mitteilungen des Hochschulverbandes, 6(1991), S. 307ff.

  18. Ebd., S. 309.

  19. Vgl. K. -F. Wessel/H. -D. Urbig (Anm. 16), S. 240.

  20. Ebd., S. 16.

  21. Vgl. Änne Bäumer, NS-Biologie, Stuttgart 1990.

  22. Vgl. dies., Die Politisierung der Biologie zur Zeit des Nationalsozialismus (1), in: Biologie in unserer Zeit, 19 (1989), S. 76ff.

  23. Vgl. ebd.

  24. Die Geschichte dieses Instituts dürfte für die Institutionen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft repräsentativ sein. Wenn es zu einer Politisierung der Institute kam, war sie vermutlich eher auf entsprechende „Neigungen“ von Instituts-angehörigen zurückzuführen als auf äußeren Druck.

  25. Ä. Bäumer (Anm. 25).

  26. Ebd.

  27. Ebd.

  28. Dt. Hannover, 16. Dezember 1991, Beirat für den Atomenergie-Ausstieg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Dezember 1991, S. 6.

  29. Vgl. Hans Mohr, Homo investigans und die Ethik der Wissenschaft, in: Hans Lenk (Hrsg.), Wissenschaft und Ethik, Stuttgart 1991.

Weitere Inhalte

Hans Mohr, Dr. rer. nat., Dr. h. c. mult., geb. 1930; Ordinarius für Biologie an der Universität Freiburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der Wissenschaftstheorie, Erkenntnislehre, Anthropologie und Biologie.