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Europäische Technologie-und Industriepolitik nach Maastricht | APuZ 10-11/1992 | bpb.de

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APuZ 10-11/1992 Die japanisch-amerikanische Herausforderung. Europas Hochtechnologieindustrien kämpfen ums Überleben Europäische Technologie-und Industriepolitik nach Maastricht Regionalisierung der Industriepolitik? Die Suche der Bundesländer nach einer flexiblen Antwort auf den neuen europäischen Wirtschaftsraum Zum Kompetenzverlust der öffentlichen Meinung im Industriestaat Bundesrepublik. Akzeptanz-und Transferprobleme im Hinblick auf Forschung, Technologie und Wirtschaft

Europäische Technologie-und Industriepolitik nach Maastricht

Joachim Starbatty/Uwe Vetterlein

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit den Beschlüssen von Maastricht im Dezember 1991 ist Industriepolitik wie schon vorher ihre moderne Variante, die Forschungs-und Technologiepolitik, explizite Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft geworden. Daraus kann geschlossen werden, daß der lenkende Einfluß der Gemeinschaft auf unternehmerische Entscheidungen intensiviert werden und zusätzlich Aktionsparameter-z. B. handelspolitischer Natur -industriepolitische Aktionen flankieren und absichern sollen. Aufgrund der zunehmenden Unübersichtlichkeit des technologie-und industriepolitischen Willensbildungsprozesses der Gemeinschaft -vor allem bedingt durch thematische Komplexität und unterschiedliche nationale Interessen -ist offensichtlich ein Zustand erreicht, der in der Organisationslehre mit „Balkanisierung“ umschrieben wird. Bei zusätzlichen industriepolitischen Zielsetzungen würde sich der Komplexitätsgrad und damit zugleich der „Balkanisierungseffekt“ erhöhen. Eine intensivierte staatliche Steuerung der Industriestruktur ist auch einem höheren Prognoserisiko unterworfen. Bei Fehlprognosen und entsprechender Fehlsteuerung kann verstärkter handelspolitischer Protektionismus nicht ausgeschlossen werden. Eine solche Politik liegt aber in der Logik der Dinge und ist seit Maastricht wahrscheinlicher geworden.

I. Technologie-und Industriepolitik als gemeinschaftliche Aufgabe

1. Industriepolitik als neues Tätigkeitsfeld Mit den Beschlüssen von Maastricht im Dezember 1991 ist Industriepolitik -wie schon vorher ihre moderne Variante, die Forschungs-und Technologiepolitik -explizite Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft geworden. Sie wurde neben einer Reihe anderer neuer Politikfelder in den neugefaßten Art. 3 (Tätigkeit der Gemeinschaft) des Gemeinschaftsvertrages, der auf dem EWG-Vertrag basiert, aufgenommen.

Die deutsche Bundesregierung hatte im Vorfeld der Verhandlungen deutlich werden lassen, daß sie Festlegungen auf eine gemeinschaftliche Industrie-politik im Gemeinschaftsvertrag zu vermeiden wünsche. Offensichtlich hat sich jedoch die französische Verhandlungsführung durchgesetzt. Was die im Text verankerten Kautelen -Einstimmigkeit bei Beschlußfassung über industriepolitische Maßnahmen und Nichtdiskriminierungsgebot -praktisch wert sind, muß sich erst noch erweisen. Auch ist noch nicht mit letzter Deutlichkeit ersichtlich, welchen Zweck die Befürworter der Industriepolitik verfolgen; hier ist man -zumindest teilweise -auf Vermutungen angewiesen. Daher haben wir großen Wert auf die kritische Analyse der Begründungen für derzeitige und zukünftige technologie-und industriepolitische Aktionen gelegt. Aus der Art und Weise, wie vermutete weltwirtschaftliche Herausforderungen gesehen werden, kann umrißhaft auf zu erwartende technologie-und industrie-politische Antworten geschlossen werden. Und damit ist auch das Verhältnis von Technologie-und Industriepolitik angesprochen.

Technologiepolitik ist im Grunde eine auf Modernisierung gerichtete Spielart der Industriepolitik. Wenn Industriepolitik gezielte staatliche Einflußnahme auf die Industriestruktur eines Landes oder -im Falle der Europäischen Gemeinschaft (EG) -der Gemeinschaft ist, dann hebt Technologiepolitik ab auf die Entwicklung und Anwendung von Technologien, die für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes (oder der Gemeinschaft) zentral sind. Dabei wird unterstellt, daß weder die Industrieunternehmen selbst noch die Regierungen der einzelnen Länder in der Lage seien, die weltwirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen, daß hierfür vielmehr gemeinschaftliche Aktionen unabdingbar seien. Der mit der Einheitlichen Europäischen Akte in den EWG-Vertrag aufgenommene Artikel 130f gibt der Gemeinschaft und damit der Kommission einen weiten Spielraum für zukunftsweisende Technologiepolitik.

Aus der zusätzlichen Aufnahme der Industriepolitik in den Kanon der Gemeinschaftsaktivitäten kann geschlossen werden, daß der lenkende Einfluß der Gemeinschaft auf unternehmerische Entscheidungen intensiviert werden soll und weitere Aktionsparameter -z. B. handelspolitischer Natur -industriepolitische Aktionen flankieren und absichem sollen. Es kann daher nicht überraschen, daß die Formulierungen des Titels XIV (Industrie) des Vertrags über die Europäische Union einen deutlichen Dissens über die Reichweite industrie-politischer Aktionen erkennen lassen. 2. Entwicklung und Stadien einer gemeinschaftlichen Technologie-und Industriepolitik Trotz kontroverser ordnungspolitischer Positionen war eine gemeinschaftliche Industrie-und Technologiepolitik in bestimmten Sektoren von Anfang an wesentlicher Bestandteil der Politik der Gemeinschaft, wenngleich eine umfassende Industrie-politik in die Gründungsverträge keinen Eingang gefunden hatte.

Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1951 war zunächst zur gemeinsamen Bewirtschaftung dieser -aus damaliger Sicht -Schlüsselressourcen gegründet worden. Später sollten die entsprechenden Teilmärkte stabilisiert werden, um Beschäftigungsschwankungen auszugleichen. Aus systematischer Sicht war dies zunächst Strukturanpassungspolitik unter gemeinschaftlicher Kontrolle, die aber später wegen der anhaltenden Absatzschwierigkeiten bei Kohle und Stahl immer mehr auf Strukturkonservierung gerichtet war. Als man dieser Probleme auf Gemeinschaftsebene nicht mehr Herr wurde, sind Kohle-und Stahlpolitik weitgehend renationalisiert worden. Der zweite der drei Gemeinschaftsverträge (Euratom) betraf ausschließlich einen einzelnen Sektor, die Energiewirtschaft. Die friedliche Nutzung der Kernenergie sollte die Abhängigkeit der Gemeinschaft von Primärenergieimporten mindern. Über gemeinschaftliche Forschung und Steuerung der Versorgung mit dem Rohstoff Uran sollte eine international wettbewerbsfähige Atomindustrie aufgebaut werden. Dieser zweite Versuch einer gemeinschaftlichen Industriepolitik -dieses Mal als vorausschauend-gestaltende Strukturpolitik mit dem Schwerpunkt auf gemeinschaftlicher Forschung in eigens dafür geschaffenen Einrichtungen -scheiterte Anfang der siebziger Jahre vor allem am mangelnden Integrationswillen der Mitgliedstaaten.

Der erste umfassende Ansatz für eine europäische Industriepolitik wurde Anfang der siebziger Jahre entworfen, diskutiert und verworfen. Unter dem Eindruck derselben Phänomene wie heute, nämlich der vermuteten Bedrohung der europäischen Industrie durch übermächtige -damals ausschließlich amerikanische -Konzerne forderte vor allem die französische Regierung eine gemeinschaftliche industriepolitische Strategie. Die EG-Kommission griff diese Initiative 1970 in einem industriepolitischen Memorandum auf und definierte die Bausteine für eine moderne Industriepolitik, wie sie jetzt in Maastricht Eingang in die Gemeinschaftsverträge gefunden haben: -Vollendung des Gemeinsamen Marktes (der damalige Terminus für den Europäischen Binnenmarkt);

-„Umstrukturierung“ der europäischen Unternehmen zu transnationalen Konzernen, die der internationalen Konkurrenz gewachsen seien (staatlich gelenkte strategische Neuordnung der Angebotsseite); -Steuerung des Innovationsprozesses und „Industrieförderung in den technologischen Spitzen-bereichen“(Forschungs-und Technologiepolitik); -eine gemeinsame strategisch ausgerichtete Außenhandelspolitik.

Die Umsetzung dieses Konzeptes scheiterte an der damals noch fehlenden Rechtsgrundlage im EWG-Vertrag, am Widerstand der deutschen Bundesregierung und an den Turbulenzen im Zuge der ersten Erweiterung der Gemeinschaft.

Der entscheidende industriepolitische Einstieg gelang dann Anfang der achtziger Jahre über die Forschungs-und Technologiepolitik, die bis dahin in einer Vielzahl von Einzelprojekten meist nur auf die Schaffung neuer Erkenntnisse ausgerichtet gewesen war. Der außer für Wissenschaft und Forschung auch für Industriepolitik zuständige Kommissar Graf Davignon setzte gemeinsam mit den führenden europäischen Elektronik-Konzernen das erste große Technologieprogramm (ESPRIT) durch, das neben der Forschung eine klare industriepolitische Zielsetzung hatte: Die europäischen Unternehmen sollten ihren technologischen Rückstand gegenüber Amerikanern und Japanern gemeinsam aufholen und sie dann überholen. Unter dem Eindruck einer neuerlichen wirtschaftlichen, vor allem technologischen Bedrohung Europas aus Amerika und Japan wurde Forschungs-und Technologiepolitik in Europa hoffähig. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte, die 1987 ratifiziert wurde, fand sie Eingang in die Römischen Verträge als eigenständiger Titel; die bis dahin eher brüchige Legitimierung der Technologiepolitik über Art. 235 EWG-Vertrag entfiel.

Ein weiterer Meilenstein auf dem langen Wege zu einer gemeinschaftlichen Industriepolitik war die Schaffung einer Europäischen Fusionskontrolle im Jahre 1989. Mehr als anderthalb Jahrzehnte hatte die Kommission um dieses Instrument gekämpft und es schließlich gegen deutschen Widerstand durchgesetzt. Es läßt sich zur strategischen Gestaltung von Märkten einsetzen, um die Konzentration von Unternehmen in bestimmten Branchen zu fördern. Gesamtwirtschaftliche oder industriepolitische Tatbestände sind nicht wie bei der deutschen Fusionskontrolle spektakulärer Gegenstand ministerieller Einzelfallentscheidung, sondern einer Regelprüfung im Verwaltungsverfahren unterworfen.

II. Umsetzung der Technologie-und Industriepolitik

1. Entwicklung des Instrumentariums Um die technologische Herausforderung zu bestehen, will die Kommission als Verkörperung des Gemeinschaftsinteresses die Forschungsanstrengungen in „wichtigen“ Bereichen der Grundlagenforschung, die zu identifizieren sind, verstärken und effizienter gestalten -d. h., besser auf die Erfordernisse der Märkte ausrichten. Konsequenterweise setzten die Aktivitäten der Gemeinschaft an der Produktion, der Verbreitung und der Umsetzung von technologischem Wissen in vorher ausgewählten Gebieten an. Sie will dieser Aufgabe im einzelnen wie folgt gerecht werden: 1. Ausbau und anwendungsorientierte Aufbereitung der wissenschaftlichen und technologischen Basis durch eigene Grundlagenforschung; 2. europaweite Stimulation und Koordination der Forschungsanstrengungen der öffentlichen und privaten Institute sowie ihrer Kooperation untereinander und mit der Industrie; Verbesserung des Wissenstransfers in allen Phasen des Innovationsprozesses inklusive technologischer Entwicklungshilfe an die weniger fortgeschrittenen Regionen; Verbesserung der ökonomischen Rahmenbedingungen für die europäische Industrie, insbesondere durch die Schaffung des Binnenmarktes mit allen damit verbundenen Aufgaben und Modifikation der ordnungspolitischen Grundsätze gegenüber dem ursprünglichen Geiste des Wettbewerbs-und Beihilferechts (Art. 85, 86 und 92, 93) durch -Lockerung des EG-Wettbewerbsrechts durch die „Gruppenfreistellungsverordnungen“ und Einzelentscheidungen im Rahmen der Fusionskontrolle, -politische Einflußnahme auf die europäischen Industrieunternehmen: Anbahnung und Förderung supranationaler Kooperationen oder Zusammenschlüsse in Forschung und Entwicklung, aber auch bei Produktion und Vertrieb, -Promotion der Verflechtung staatlicher und privater Forschungs-und Entwicklungspotentiale und öffentlicher Monopole mit privaten Unternehmen (wie bei Telekommunikation und Energie) und -Stimulierung unternehmerischer Innovationstätigkeit über ein gut gemischtes Bukett verschiedener Programme sowie über eine Koordinatorenrolle im Bereich der Schlüsseltechnologien 3. Im Mittelpunkt der Implementation stehen technologiepolitische Programme für ausgewählte Problembereiche. Diese Forschungsprogramme sind hauptsächlich als „cost-shared actions“ ausgebildet, wobei die Unternehmen und Forschungseinrichtungen, die bereit sind, auf bestimmten Gebieten zu forschen und sich zu supranationaler Zusammenarbeit motivieren zu lassen, einen etwa 50prozentigen Zuschuß erhalten. Diese Programme beruhen in der Regel auf einem mit der betroffenen Branche ausgearbeiteten marktstrategischen Konzept und sind in ein Bündel begleitender Maßnahmen eingebettet, die von Forschungsstipendien für junge Wissenschaftler bis zu staatlich forcierten Unternehmenszusammenschlüssen und handelsprotektionistischen Maßnahmen reichen 4.

Die Tätigkeitsfelder der Gemeinschaft, für die spezifische technologiepolitische Programme eingerichtet werden sollen, werden in mehrjährigen Rahmenprogrammen nach technologischem Gebiet und Mittelausstattung fixiert. Inzwischen läuft das dritte Rahmenprogramm, das vierte ist in Vorbereitung. Das jährliche Budget hat inzwischen 1, 9 Mrd. Ecu erreicht; der zuständige Kommissar Pandolfi plädierte erst dieser Tage für eine weitere Verdoppelung dieser Summe 5. 2. Komplexer und zeitaufwendiger Willensbildungsprozß Die Realisierung der Technologie-und Industrie-politik stellt hohe Anforderungen an den politischen Willensbildungsprozeß und die politischen Entscheidungsträger Die Gemeinschaft ist mit ihren Organen noch weniger als nationale Träger eine stabile, klar ausgerichtete politische Einheit in ihrer Politik verschmelzen vielmehr unterschiedliche Lehrmeinungen, Weltanschauungen und politische Interessen, was einer geschlossenen Konzeption nicht gerade förderlich ist. Die EG-Kommission führt jedoch als Garantie für die Entwicklung der richtigen Programme und die richtige Auswahl der Forschungsschwerpunkte ihre hohe Sachkompetenz und den aus ihrer Sicht optimalen Informationsstand bei der Entscheidungsvorbereitung ins Feld. Auch glaubt sie, wegen höchster Fachkompetenz die jeweiligen Programme mit nur geringen Reibungsverlusten umsetzen zu können.

Für die Beurteilung der Forschungs-und Technologiepolitik als vorausschauend-gestaltende Industriepolitik ist deshalb von großer Bedeutung, Aufschluß über folgende Punkte zu erhalten Kann die Kommission trotz eines nicht klar ausformulierten theoretischen Konzepts konsistente Programme entwickeln, diese im Rat durchbringen und später auch durchführen? Oder führen Einflüsse von außen auf Entwicklung, Entscheidungsprozedur und Durchführung zu nicht vorhersehbaren Ergebnissen, die vom ursprünglichen Pfad stark abweichen können? Mit anderen Worten: Ist unter den gegebenen Voraussetzungen eine rationale Planung und Umsetzung technologiepolitischer Programme überhaupt möglich

Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir an anderer Stelle die einzelnen Phasen der Willensbildung in der EG-Kommission und ihr Zusammenspiel mit anderen Gremien und Organen im weiteren Verlauf des gemeinschaftlichen Entscheidungsprozesses abgegrenzt und detailliert analysiert. Eine solche Analyse kann Aufschluß darüber geben, inwieweit eine von allen Seiten für erforderlich gehaltene rationale Programmplanung in der Technologie-und Industriepolitik angesichts der komplexen Strukturen möglich ist und welche Rollen den einzelnen Organen in diesem Prozeß zukommen.

Die mehrjährigen Rahmenprogramme der Gemeinschaft spannen einen Bogen über die technologiepolitischen Optionen und stecken den jeweiligen finanziellen Umfang ab. Die spezifischen Programme sollen dagegen flexibel auf konkrete Problemsituationen zugeschnitten sein und entsprechend implementiert werden; dies ist nur bei einem intensiven Dialog zwischen Kommission, Forschern und Technologieanwendern möglich. Deshalb verfolgt die Kommission einen „bottomup-Ansatz“, in den alle Beteiligten ihre Vorstellungen und Meinungen einbringen können, die dann zu einem Programmentwurf verdichtet werden. Der Entstehungsprozeß solcher Programme wird wesentlich vom Engagement potentieller Nutzer getragen, die auch die Willensbildung in der Kommission zu prägen suchen.

Auslöser für technologiepolitische Aktivitäten der Kommission sind meist Initiativen der verschiedensten Interessengruppen aus Wissenschaft, Wirtschaft und nationalen Administrationen. Deren Informationen, Anregungen, Anfragen etc. laufen im für Technologiepolitik zuständigen Kabinett zusammen und werden dort aufgegriffen. Beinhaltet ein technologisches Thema politische Brisanz, wird es in qualitativ hochwertigen Gutachten, Studien und Fachveranstaltungen aufgearbeitet. Dabei wird in der Regel auf den (Rück-) Stand der Europäer oder einzelner Mitgliedsländer im Verhältnis zu anderen Ländern oder Blökken und auf die „Wünschbarkeit für Europa“ abgehoben. Die hinzugezogenen Experten aus Wissenschaft und Unternehmen betrachten natürlich jeweils ihr Spezialgebiet als das Schlüsselelement für den Fortschritt Europas und bringen zahlreiche Argumente für dessen notwendige Förderung bei.

Die Verantwortlichen in der Kommission haben anschließend vielfach alle Hände voll zu tun, die manchmal euphorischen Stellungnahmen zu den Möglichkeiten der Gemeinschaft und dem als „überaus dringlich“ dargestellten Handlungsbedarf auf europäischer Ebene wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen. Ihnen obliegt die politisch wie inhaltlich schwierige Aufgabe, aus einer Vielzahl von Ansätzen, die von den verschiedensten Interessengruppen präsentiert und massiv unterstützt werden, die wichtigsten auszuwählen und stimmig in das Rahmenprogramm einzupassen. Es ist deutlich zu erkennen, daß die Kommission einen äußerst schweren Stand gegen die Eigendynamik der erweckten Hoffnungen hat und selbst unter Hinweis auf die finanziellen Restriktionen der Gemeinschaft argumentativ nur schwer gegen die einmal in Bewegung gesetzte Lobby ankommt.

Ist das Procedere innerhalb der Kommission in Fühlungnahme mit Experten, Unternehmen und Verbänden zunächst auf die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung für interne Entscheidungen gerichtet und als Fundus für die politische Argumentation gedacht, so muß jetzt ein politisch überzeugender Programmvorschlag formuliert werden, in dem sich möglichst viele der beteiligten Parteien wiederfinden. In einer Reihe von Gesprächen mit den betreffenden Beratenden Ausschüssen sowie mit Experten und potentiellen Nutzern wird dann informell geklärt, was inhaltlich und politisch umsetzbar ist. Die Entwürfe sind in ihrem politischen Gehalt bisweilen recht vage, ihre Ausgestaltung stützt sich auf vorher sondierte Ansätze, auf die Gutachten der Experten und orientiert sich an den bereits umgesetzten Programmformen; sie sollen möglichst wenig Angriffspunkte für zeitraubende, kontroverse politische Diskussionen bieten Erscheint der Entwurf konsensfähig, wird er offiziell in verschiedenen Ausschüssen vorberaten und dann in das formale Entscheidungsverfahren der Gemeinschaftsorgane eingeschleust.

Der Rat entscheidet über den Vorschlag der Kommission für den Beschluß eines neuen Forschungs-und Technologieprogramms nach Anhörung des Wirtschafts-und Sozialausschusses und in Zusammenarbeit mit dem Parlament. Das neue zweistufige Verfahren -es wurde in Maastricht durch eine noch kompliziertere Variante ergänzt - ist sehr zeitaufwendig und führt regelmäßig zu einer Verwässerung der ursprünglichen Überlegungen.

Ziele werden im Verlauf immer unpräziser, neue Ziele und Wünsche kommen hinzu.

Der Rat entscheidet letztlich über einen sehr vage formulierten Programmvorschlag und verbindet ihn normalerweise mit einer Reihe von Auflagen für die Durchführung. Diese unterstellt er der Kontrolle eines bestehenden oder neu zu schaffenden Ausschusses. Der intensive Dialog der Kommission mit den betroffenen Forschern und Unternehmen birgt erhebliche Gefahren: Oft ist die einmal in Gang gesetzte Eigendynamik kaum mehr zu bremsen. Es fehlt ein zwingender Mechanismus, um in Aussicht gestellte Programme, die sich im Laufe des Erkenntnisprozesses als weniger bedeutsam erweisen oder die bei anderen Trägern besser angebunden werden könnten, zu stoppen.

Das überschlägige Ergebnis unserer Analyse des technologiepolitischen Willensbildungsprozesses lautet: Wegen dessen komplexer Struktur ist die gemeinschaftliche Technologiepolitik unberechenbar und schwer zu kontrollieren. Folgende Feststellung ist keineswegs übertrieben: Aufgrund des erwähnten „bottom up-Ansatzes“ und der thematisehen Komplexität ist aus Sicht der Führungsebene in der Kommission offensichtlich ein Zustand erreicht, der in der Organisationslehre mit „Balkanisierung“ umschrieben wird. Da der Apparat sich teilweise verselbständigt hat, vollziehen sich auf mittlerer und unterer Ebene von oben nicht kontrollierbare Informationsströme und Abstimmungsprozesse -intern und mit Interessenvertretern. Daher steht zu befürchten, daß keine stringenten politischen Konzepte zu erwarten sind, daß sich vielmehr Partikularinteressen und die Interessen der Bürokratie langfristig durchsetzen werden.

Soweit noch industriepolitische Zielsetzungen hinzukommen, deren Reichweite derzeit noch nicht klar abzuschätzen ist, dürfte sich der Komplexitätsgrad erhöhen und damit zugleich der „Balkanisierungseffekt“.

III. Technologie-und industriepolitische Begründungsmuster

1. Bedrohung durch vom Pentagon finanzierte Forschung Die Begründungen für die Notwendigkeit gemeinschaftlicher Aktionen zur Sicherung und Hebung der Wettbewerbsfähigkeit gleichen sich in ihrer theoretischen Struktur, wenn auch jeweils unterschiedliche außenwirtschaftliche Anlässe thematisiert werden. Tatsächliche oder politisch bedingte Wettbewerbsvorteile der internationalen Konkurrenten resultieren aus -einer „uneinholbaren“ technologischen Überlegenheit, -Größenvorteilen von internationalen Unternehmen, -der Größe der „home markets“, -staatlichen Subventionen oder anderen wettbewerbsverzerrenden Maßnahmen in Drittstaaten oder -„unfairen“ Praktiken der Konkurrenten.

Ins Feld geführt wird auch Markt-oder Untemehmerversagen im „EG-Inland“. Alle diese Argumente dienen zur Rechtfertigung staatlicher Interventionen oft entgegen marktwirtschaftlichen und freihändlerischen Prinzipien. Anfang der achtziger Jahre waren es wie schon Ende der sechziger Jahre amerikanische Unternehmen, deren schiere Größe und technische Überlegenheit Europa zu bedrohen schienen. Als wesentliche Faktoren für diesen technologischen Vorsprung der amerikanischen Industrie wurden die enormen Forschungsmittel, die über das Verteidigungsministerium (Pentagon) in die Wirtschaft flossen und noch immer fließen, sowie die mit der Militärforschung verbundene Geheimhaltung angegeben. Durch diese Mittel entstünde nicht nur ein enormes Wissenspotential; der Zugriff hierauf würde wegen der strategischen Bedeutung von Spitzentechnologien auf amerikanische Unternehmen beschränkt. Zentrale Erfindungen müßten in Europa noch einmal gemacht werden („to reinvent the wheel"). Hinzu traten noch Überlegungen, die darauf hinausliefen, daß einige Produkte -darunter die Mikroelektronik -eine viel zu hohe politische Bedeutung gewonnen hätten, als daß man ihre Verfügbarkeit Angebot und Nachfrage auf dem Weltmarkt überlassen könnte; „strategische Außenhandelspolitik“ und „interblock-trading“ sind die Stichworte für den Ersatz von Marktmechanismen durch politischen Voluntarismus

Daß diese Sachverhalte und die damit begründete Überlegenheit amerikanischer Unternehmen europäische Technologie-und Industriepolitik unabdingbar machen, ist inzwischen längst durch die Realität widerlegt. 2. „Spielregelverletzungen“ der Japaner?

a) Konfliktorientierte Sicht des Außenhandels Als „pazifische Herausforderung“ war die japanische Wirtschaft bereits Anfang der achtziger Jahre identifiziert worden. Doch im Gegensatz zur abgeflauten Diskussion um die amerikanische Herausforderung erhält die um Japan seit gut einem Jahr neue Impulse. Die flaue Konjunktur auf den Weltmärkten hat den Wettbewerb verschärft und technologische wie preisliche Defizite europäischer Anbieter stärker zu Tage treten lassen.

Diese Schwierigkeiten haben -in merkantilistischer Tradition -die Außenpolitik auf den Plan gerufen. Während sich die Ökonomen im Bundes-wirtschaftsministerium und vor allem deutsche Unternehmen um den Erhalt und Ausbau des Allgemeinen Handels-und Zahlungsabkommens (GATT) und um die Liberalisierung des Welthandels bemühen, warnen außenpolitisch orientierte Experten vor dem Verlust der nationalen (europäischen) Kontrolle über strategisch wichtige Schlüsseltechnologien. Außenhandel wird nicht mehr unter dem Aspekt des Güter-und Leistungsaustausches zur Nutzung von komparativen Vorteilen und zur Wohlfahrtsmehrung gesehen, sondern unter dem Aspekt möglicher Kolonisierung durch das strategische Zusammenspiel japanischer Technologiegiganten -Außenhandel als ein Ersatz für militärische Konfliktaustragung: „Die Welt befindet sich in einem Zustand der wirtschaftlichen Kriegsführung. Wo Länder einst um territoriale und koloniale Eroberungen kämpften, kämpfen sie jetzt um Märkte und Technologien“ -so zitiert Konrad Seitz zustimmend einen französischen Wissenschaftler

Wenn man sich der Frage zuwendet, worauf die vermutete japanische Überlegenheit gründet, so konzentriert sich die Bedrohung im wesentlichen auf drei Produktmärkte: Silicium-Chips, Automobile und Werkzeugmaschinenmarkt. Auf dem Markt für Halbleiter-Chips haben japanische Unternehmen einen Weltmarktanteil von etwa 90 Prozent erreicht (rechnet man die Eigenproduktion von IBM und AT& T hinzu, sind es nur noch 65 Prozent die Anteilsgewinne auf den beiden anderen Märkten sind ebenfalls deutlich sichtbar. Dies war nur möglich, so wird oft argumentiert, durch -die massive staatliche Unterstützung der Industrie über das MITI (das japanische Handels-und Industrieministerium), das Forschungsund Entwicklungsressourcen bereitstelle, globale Marktszenarien und -prognosen entwerfe und so den Unternehmen Kosten und Risiken abnehme;

-die enge Kooperation japanischer Unternehmen untereinander und mit Forschungslabors bei der Produktentwicklung wiederum unter der Anleitung des MITI;

-unfaire, aggressive Handelspraktiken (je nach Markt durch Dumping, strategische Angebots-verknappung oder „laser beaming“);

-günstigere Arbeitsmarktbedingungen (niedrigere Löhne, höhere Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer bei geringerem Anspruchsniveau); -deutliche Überlegenheit in der Verfahrenstechnik -das Thema „lean production“ („schlanke Produktion“) durch Auslagerung von Wertschöpfungsanteilen und den Abbau von nicht unmittelbar in der Produktion tätigen Personals durch eine durchgreifende Neustrukturierung der Fertigung wird auch hierzulande in Managerkreisen intensiv diskutiert. b) Ist der Chip-Markt etwas Besonderes?

Während man zumindest aus deutscher Sicht akzeptiert, daß sich die japanischen Unternehmen im Automobilsektor und in Teilen des Werkzeugmaschinenbaus deutliche Vorteile in der Fertigung bezüglich Kosten und Qualität „fair und reell“ erarbeitet haben, die im Marktprozeß wieder eingeholt und überholt werden können, wird bezüglich der Entwicklung bei den Chips ein anderes Bild gezeichnet.

Speicherchips seien der entscheidende strategische Rohstoff. Die Japaner würden ihn kontrollieren wollen wie die arabischen Staaten in den siebziger Jahren das Rohöl. Die Japaner würden -geführt vom MITI -die Spielregeln des Marktes verletzen, indem sie die Verfügbarkeit von Chips strategisch steuerten. Sie seien dabei, den Chip-Markt durch Dumping in ihre Hände zu bringen, um später die nachgelagerte Industrie anderer Staaten entweder mit hohen Preisen oder durch die Steuerung der Angebotsmenge zu kontrollieren oder gar auszuschalten. Offensichtlich hat das MITI gemeinsam mit den führenden japanischen Elektrounternehmen den Markt für Speicherchips „entdeckt“ und entsprechende Konzepte für gemeinsame Forschung entworfen. Die Unternehmen glaubten an die Richtigkeit dieser im Einvernehmen mit allen verfügbaren Experten erarbeiteten Prognose und richteten ihre Produktionsstruktur entsprechend aus. So entstanden riesige Kapazitäten, die die Märkte Mitte der achtziger Jahre mit Speicherchips überschwemmten; das den Japaner unterstellte „konzertierte Dumping“ war insofern ein von Über-kapazitäten ausgelöster Verdrängungswettbewerb.

Der auf Druck amerikanischer Hersteller zustande gekommene amerikanisch-japanische Halbleiter-pakt schützte im Ergebnis nicht die amerikanischen Produzenten, sondern „zwang“ die Japaner, durch. Mengenbeschränkungen die Preise auf eine vertraglich festgelegte Höhe (ein Mehrfaches des Marktpreises) zu heben. So kam es zu Friktionen bei der weltweiten Versorgung mit Chips -also keineswegs ein strategisches Manöver der Japaner, um den Chip-Markt auszutrocknen Künstliche Verknappung und hoher Preis setzten -entsprechend den Regeln der Kartelltheorie -falsche Marktsignale: In den USA, in Europa, aber auch in Südkorea wurden zusätzliche Kapazitäten aufgebaut, die, solange das Kartell funktionierte, rentabel schienen, heute aber, nachdem die Preise zwischenzeitlich rapide gefallen sind, zumindest in Europa not-leidend sind. Es bleibt festzuhalten: -Die Japaner haben heute kein Monopol auf die Entwicklung und Versorgung mit SpeicherChips;

-Japaner und Amerikaner liegen im Rennen um die nächste Chip-Generation (16-Megabit-Chip)

dicht beisammen, von „uneinholbaren technologischen Vorsprüngen“ ist in dieser Branche nicht mehr die Rede;

-Prognosen zur Festlegung zukünftiger Schlüsseltechnologien oder zur Bestimmung potentieller Absatzmärkte werden durch das Hinzuziehen von noch so vielen Experten nicht sicherer -weder beim MITI noch in einem deutschen oder europäischen Beratungszirkel;

-gibt ein solches Gremium doch ein Votum ab, so muß ein zwingender Mechanismus verhindern, daß alle Unternehmen in die als besonders gewinnträchtig ausgewiesenen Bereiche drängen. Ein MITI, dies zeigt auch die japanische Erfahrung, hätte in letzter Konsequenz eine staatliche Zuteilung von Pfründen bzw.

Ressourcen zur Folge, wenn es nicht zu übersetzten Marktfeldern, also zu Überkapazitäten, kommen soll.

Auch das Argument, wer den Chip-Markt beherrsche, bestimme über die nachgelagerte Produktion, hält einer sorgfältigen kritischen Prüfung nicht stand. Chips ersetzen eine Vielzahl von Komponenten und Produktionsschritten in traditionellen Produkten -ein klassisches Beispiel für Produkt-und Verfahrensinnovation. Hersteller von Endgeräten oder Bauteilen, die dieser Entwicklung nicht Rechnung tragen, scheiden über kurz oder lang aus -der typische Fall eines durch technischen Fortschritt induzierten Strukturwandels. Wer Speicherchips produziert, beherrscht aber weder die Herstellung von „maßgeschneiderten“ Halbleitern noch die Produktion von Prozessoren, ganz zu schweigen von der technischen Anwendung, die sich in Software-Programmen niederschlägt. Hier haben vor allem amerikanische und einige europäische Unternehmen die Nase vorn. Es fehlen nach wie vor die Belege dafür, weshalb Hersteller von Waschmaschinen oder Geldautomaten, die technologisch auf dem neuesten Stand sind, von ihrem Chipslieferanten abhängiger sein sollen als vom Lieferanten der geeigneten Stahllegierungen c) Komparative Vorteile der Japaner in der Automobil-und Werkzeugmaschinenindustrie In dieser Branche haben sich europäische Produzenten mit den komparativen Vorteilen japanischer Unternehmen bei Qualität, Flexibilität und Effizienz in der Fertigung auseinanderzusetzen. Auch hier glaubte man zunächst an eine strukturelle Überlegenheit des japanischen Wirtschaftsund Gesellschaftssystems, bis die Japaner Fertigungsstätten als sogenannte „transplants" in den USA errichteten, die nahezu identische Ergebnisse liefern wie japanische Fertigungsstätten. Dieses Fertigungssystem („lean production“) beinhaltet die grundsätzliche Abkehr von der Fordschen Fließbandfertigung und der von F. W. Taylor entwickelten Zerlegung von Arbeitsprozessen (Taylorismus) sowie die Orientierung auf Gruppenfertigungen, an denen sich auch europäische Automobilhersteller versuchen (Volvo, VW, Mercedes-Benz). Hinzu tritt die Fähigkeit japanischer Unternehmen, Fertigungsprozesse bis ins letzte Detail zu optimieren.

Es handelt sich um den geradezu klassischen Fall wettbewerblich induzierter Verfahrensinnovationen, die einen womöglich tiefgreifenden Struktur-wandel in der Automobilindustrie und auch in den Zulieferindustrien auslösen werden. Die deutschen Unternehmen sind offensichtlich dabei, sich diesen neuen Erfordernissen zu stellen

Eine solche Haltung steht in erheblichem Interessengegensatz zu französischen und italienischen Unternehmen, die zumindest für die Automobil-branche auf europäischer Ebene ähnliche Schutzmaßnahmen und Forschungsprogramme fordern, wie sie die Elektroindustrie erhalten hat. Daß die Förderung dieser Branche nicht den gewünschten Erfolg -nämlich Wettbewerbsfähigkeit auf globalen Märkten -erbracht hat, spielt für sie keine Rolle. Sie agieren fast ausschließlich auf europäischen Märkten; im Gegensatz zu deutschen Unternehmen haben sie kaum Interesse an einer Teilnahme am globalen Wettbewerb. Sie wären überdies durch mögliche Gegenmaßnahmen auf einen europäischen Protektionismus weniger betroffen.

Es herrscht in der Bundesrepublik ein breiter Konsens darüber, daß sich Technologie-und Industrie-politik über staatliche Eingriffe in unternehmerische Entscheidungen -sei es mittels Lenkung am „goldenen Zügel“ (Subventionen), mittels staatlicher Zuteilung von Investitionsmitteln oder gar staatlicher Marktaufteilung -mit dem herrschenden Verständnis von Markt und Wettbewerb nicht verträgt. Es wird jedoch auch in Deutschland darüber spekuliert, ob man nicht auf nationaler oder europäischer Ebene -statt des „umständlichen“ wettbewerblichen Suchprozesses -Expertenwissen über die zukünftigen Entwicklungen von Forschung, Technologie und Märkten zusammentragen könnte, um die Qualität von Prognosen zu verbessern -Vorbild ist ohne Zweifel das japanische MITI.

Wir stoßen hier auf das generelle Prognoseproblem Wirtschaften -und auch Forschen -ist Handeln unter Unsicherheit. Prognosen werden nicht dadurch wahrscheinlicher, daß sich viele Köpfe zählende Expertenkommissionen mit der Zukunft bestimmter Industrien oder Technologien beschäftigen. Das heißt, die Identifikation von „Schlüsseltechnologien“ bleibt unsicher. Selbst wenn Technologiekommissionen die Fähigkeiten

IV. Konsequenzen europäischer Technologie-und Industriepolitik hätten, zukünftige Entwicklungslinien hinreichend exakt zu erfassen, hätten die Unternehmen nicht mehr Sicherheit als zuvor. Könnten bestimmte Entwicklungen rational prognostiziert und begründet werden, dann wären grundsätzlich alle Expertenteams, soweit sie professionell arbeiten, zu richtigen Prognosen in der Lage.

Ist das Wissen um die Zukunftsmärkte und -technologien aber ubiquitär, dann ist für unternehmerische Entscheidungen wenig gewonnen. Glaubt ein Unternehmer an die Richtigkeit einer solchen Prognose -und mit ihm viele andere dann muß er damit rechnen, daß die Investition nicht ertragreich ist, weil zu viele dasselbe gedacht bzw. dieselben Schlußfolgerungen aus den Prognosen gezogen haben. Hält er sich hingegen zurück -und mit ihm wiederum viele andere Unternehmer aus denselben Gründen, weil sie ebenfalls mit übersetzten Märkten rechnen -, dann wäre womöglich die Investition doch lukrativ gewesen. Hieraus erwächst eine unendliche Kette von wechselseitig vermuteten Reaktionen und Gegenreaktionen, die niemals durch einen Akt der Erkenntnis, sondern immer nur durch einen Willkürakt unterbrochen werden kann

In unserem Beispiel müßten Staat, EG-Kommission oder die Unternehmen selbst auswählen, wer nun die prognostizierten technologischen Möglichkeiten nutzen darf. Logische Konsequenz solcher Expertenkommissionen wären staatliche Investitionslenkung oder private Aufteilung von Märkten (Kartelle).

Sollten die Prognosen jedoch falsch sein, geraten die jeweiligen Unternehmen oder sogar ganze Wirtschaftszweige in eine Anpassungskrise; Rufe nach staatlicher Hilfe und nach Protektionismus dürften -gemessen an der heutigen Reaktion europäischer Elektronik-und Automobilhersteller -nicht auf sich warten lassen. Das hierzu erforderliche Instrumentarium ist seit Maastricht aktivierbar. Die Annahme, daß es entsprechend dem Wunsche notleidender Produzenten eingesetzt wird, ist natürlich auch nur eine Prognose und damit möglichem Scheitern unterworfen. Eine solche Politik liegt jedoch in der Logik der Dinge und ist seit Maastricht wahrscheinlicher geworden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Man erinnere sich an die vor allem von Jean Jaques Servan-Schreiber mit seinem Buch „Le Dfi Americain“, Paris 1967 (dt.: Die amerikanische Herausforderung), ausgelöste Diskussion.

  2. Vgl. EG-Kommission, Die Industriepolitik der Gemeinschaft. Memorandum der Kommission an den Rat, Brüssel 1970.

  3. Hier wird in der Tat eine Rolle angestrebt, die dem japanischen MITI nahekommt.

  4. Paradebeispiel ist die Elektroindustrie; die Automobilindustrie ist ein weiterer Kandidat.

  5. Vgl. Euro-Info-Rundschreiben des DIHT vom 14. 1. 1992.

  6. Dieser Abschnitt stützt sich insbesondere auf Joachim Starbatty/Uwe Vetterlein, Die Technologiepolitik der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1990, S. 41 ff.

  7. Vgl. Fritz W. Scharpf, Politische Planung zwischen Anspruch und Realität, discussion paper series, International Institute of Management, Wissenschaftszentrum Berlin 1979, S. 4f., 12f.

  8. Vgl. Uwe Vetterlein, Entwurf einer systematischen Erfolgskontrolle für die Technologiepolitik der Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden, 1991, S. 30ff.

  9. Vgl. F. W. Scharpf (Anm. 7), S. 2ff., 13; Scharpf stellt dies für das politische System der Bundesrepublik generell in Frage; systematische Planung auf politischer Ebene ist für ihn nicht möglich.

  10. Vgl. J. Starbatty/U. Vetterlein (Anm. 6), S. 41 ff.

  11. Das scheint vor allem in jüngster Zeit zu gelten: Die argumentative Untermauerung der jüngsten Programmvorschläge wird auf Anweisung von Kommissar Pandolfi immer dürftiger, häufig werden die Begründungen des Vorläufer-Programmes abgeschrieben; genauere Begründungen gibt es nur auf massiven Druck von Rat oder Parlament.

  12. Vgl. Art. 189b und c des neuen Vertragswerkes.

  13. Vgl. Henry Mintzberg. The Structuring of Organizations, Englewood Cliffs, N. J. 1979.

  14. Die theoretischen Grundlagen für solche Überlegungen liefert z. B. Paul R. Krugman, Strategie Trade Policy and the New International Economics, Cambridge/Mass. -London 1986; vgl. auch das Interview mit ihm in: Wirtschaftswoche, Nr. 42 vom 11. Oktober 1991, S. 58f.

  15. Konrad Seitz, Japan, der große Eroberer, in: Rheinischer Merkur/Christ und Welt vom 14. Dezember 1990.

  16. Vgl. Nikos Tzermias, Ungebrochener Pioniergeist im Silicon Valley, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30. 6. /1. 7. 1991, S. 11.

  17. Vgl. die Studie von Yames B. Womach/Daniel T. Jones/Daniel Ross, The Machine that Changed the World, New York 1990; diese Studie erregte gemeinhin als „MIT-Studie“ (Massachusetts Institute of Technology) einiges Aufsehen.

  18. Vgl. o. V„ Die Halbleider, in: highTech, (1988) 3, S. 86.

  19. Vgl. hierzu: N. Tzermias (Anm. 16), S. 11, und Joachim Starbatty/Uwe Vetterlein, Die Dominanz japanischer Chip-Produzenten, in: Neue Zürcher Zeitung vom 27. März 1991, S. 41f.

  20. Die deutschen Kfz-Zulieferer beispielsweise haben in Zusammenarbeit mit der Deutschen Industrie-und Handelskammer in Japan ein Thesenpapier erarbeitet, das offensive Marktstrategien für den Zugang zum japanischen Markt erkennen läßt (Deutsche Industrie-und Handelskammer in Japan, Die Deutschen Kraftfahrzeugzulieferer im Wettbewerb mit Japan, Tokyo, August 1991). Von unfairen Wettbewerbspraktiken und einem Bedarf an staatlicher Unterstützung findet sich in diesem Papier kein Wort. Ähnlich auch der Präsident des Verbandes Deutscher Maschinen-und Anlagenbau, Berthold Leibinger, selbst mittelständischer Hersteller von Werkzeugmaschinen, vor Mitgliedern seines Verbandes (Berthold Leibinger, Zukunftschancen des deutschen Maschinenbaus unter veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen, Vortrag beim Neujahrsempfang der Industrie-und Handelskammer Karlsruhe am 14. Januar 1991, in: IHK-Vorträge, 1/91/V, S. llf.).

  21. Der interessierte Leser wird -zwecks ausführlicher Begründung -auf J. Starbatty/U. Vetterlein (Anm. 6) verwiesen.

  22. Vgl. Oskar Morgenstern, Vollkommene Voraussicht und wirtschaftliches Gleichgewicht, in: Hans Albert (Hrsg.), Theorie und Realität, Tübingen 1964, S. 258.

Weitere Inhalte

Joachim Starbatty, Dr. rer. pol., geb. 1940; seit 1983 Ordinarius für Wirtschaftspolitik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; Leiter des Projektbereichs „Europäische Technologiepolitik“ im Rahmen der DFG-Forschergruppe „Internationale Wirtschaftsordnung“ an der Universität Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: Stabilitätspolitik in der freiheitlich-sozialstaatlichen Demokratie, Baden-Baden 1977; Die englischen Klassiker der Nationalökonomie -Lehre und Wirkung, Darmstadt 1985; (Hrsg.) Klassiker des ökonomischen Denkens, Bd. I: Von Plato bis John Stuart Mill, und Bd. II: Von Karl Marx bis John Maynard Keynes, München 1989; (zus. mit U. Vetterlein) Die Technologiepolitik der Europäischen Gemeinschaft -Entstehung, Praxis und ordnungspolitische Konformität, Baden-Baden 1990. Uwe Vetterlein, Dr. rer. pol., geb. 1960; 1986-1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG-Forschergruppe „Internationale Wirtschaftsordnung“; seit 1991 Geschäftsführer der Industrie-und Handelskammer Karlsruhe. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit J. Starbatty) Die Technologiepolitik der Europäischen Gemeinschaft -Entstehung, Praxis und ordnungspolitische Konformität, Baden-Baden 1990; Entwurf einer systematischen Erfolgskontrolle für die Technologiepolitik der Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden 1991.