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Kann man mit DDR-Richtern einen Rechtsstaat machen? | APuZ 29/1991 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 29/1991 Artikel 1 Integrieren statt zerstören. Für eine gemischtwirtschaftliche Strategie in den neuen Bundesländern Aktuelle Entwicklungen von Marktstrukturen in den neuen Bundesländern Zur Beschäftigungssituation in den neuen Bundesländern. Entwicklung und Perspektiven Zum Wohnungs-und Städtebau in den ostdeutschen Ländern Kann man mit DDR-Richtern einen Rechtsstaat machen?

Kann man mit DDR-Richtern einen Rechtsstaat machen?

Rudolf Wassermann

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Zusammenfassung

Die Weiterbeschäftigung der DDR-Richter und -Staatsanwälte in der Bundesrepublik unterliegt starken Bedenken, weil die „sozialistische Rechtspflege" in der DDR rechtlich und faktisch das ergebene Instrument der SED war. Wesensverschieden von der rechtsstaatlichen, von der SED als „bürgerlich“ verfemten Justiz, judizierte sie vom Klassenstandpunkt aus in bewußter Parteilichkeit entsprechend den jeweiligen Beschlüssen der SED. Der Beitrag skizziert die Stellung der rechtsprechenden Gewalt und ihrer unabhängigen Richter in der Bundesrepublik und stellt dieser die ganz anders geartete Struktur der „sozialistischen Rechtspflege“ gegenüber, die weder Gewaltenteilung noch richterliche Unabhängigkeit kannte. Merkmale der DDR-Justiz waren ideologisch die Führung durch die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei, demokratischer Zentralismus und sozialistische Gesetzlichkeit. Als Kernstück der SED-Politik wird die Kaderpolitik in der Justiz dargestellt, ebenso die Richterausbildung in der DDR. Der Einigungsvertrag unterwirft die Richter und Staatsanwälte der ehemaligen DDR einer Eignungsprüfung. Die neuen Bundesländer, denen diese Prüfung übertragen ist, verfahren dabei nach unterschiedlichen Kriterien, die im Beitrag aufgeführt werden. Zweifel an der Selbstreinigungskraft der Prüfungsausschüsse ergaben sich bereits daraus, daß viele Mitglieder dieser Ausschüsse selbst belastet waren und ausgewechselt werden mußten. Die bisherigen Prüfungsausschüsse lassen erkennen, daß bei der Prüfung keineswegs rigide verfahren wird, sondern der überwiegende Teil der DDR-Richter und -Staatsanwälte weiter amtieren darf. Zum Schluß erörtert der Aufsatz die vieldiskutierte Frage, ob sich daraus Probleme für die Justiz im wiedervereinigten Deutschland ergeben.

I. Die Stellung des Richters nach dem Grundgesetz

Es hat Überraschung ausgelöst, daß die Weiterbeschäftigung der Richter der ehemaligen DDR im wiedervereinigten Deutschland nach strengeren Gesichtspunkten bewertet wird, als sie sonst im öffentlichen Dienst angewendet werden (das Auswärtige Amt ausgenommen). Die Unterschiedlichkeit erklärt sich aus der besonderen Stellung, die das Grundgesetz den Richtern einräumt.

Die Wiederherstellung der vom NS-Regime beseitigten richterlichen Unabhängigkeit war nach 1945 beim Wiederaufbau der Rechtspflege eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit. Die Väter des Grundgesetzes gingen indessen in ihrer Justizkonzeption weit über das hinaus, was vorher in den Verfassungen deutscher Staaten Regelungsinhalt gewesen war Schon der Verfassungskonvent in Herrenchiemsee hatte Einigkeit darüber erzielt, daß der Rechtspflege in der Verfassungsurkunde ein eigener Abschnitt gewidmet werden sollte. Im Verlauf der weiteren Beratungen erhielt der IX. Abschnitt des Grundgesetzes dann jenen umfassenden Inhalt, durch den sich die Bundesrepublik auch in dieser Beziehung von den früheren Staatsordnungen auf deutschem Boden abhebt. Die rechtsprechende Gewalt wurde mit einer zuvor nicht erreichten Deutlichkeit von der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt getrennt und als eine besondere Erscheinungsform der einheitlichen Staatsgewalt zu einer echten, die anderen Staatsorgane hemmenden und kontrollierenden Macht ausgestaltet.

Auch in der sprachlichen Fassung des Art. 92 GG, wonach die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist, kommt diese Aufwertung zum Ausdruck; kein anderer den Staatsfunktionen gewidmeter Abschnitt des Grundgesetzes ist mit einer so inhaltsschweren Aussage eingeleitet worden. Die Rechtsprechung sollte nicht mehr im Schatten von Legislative und Exekutive stehen, sondern beide Gewalten im System der freiheitsverbürgenden checks and balances kontrollieren. Auf diese Weise entstand eine Verfassungslage, in welcher der Richter in jedem Falle das letzte Wort hat und das Prinzip der Gewaltenteilung zu einer besonderen Art der justizförmigen Kontrolle überhöht wurde. Es ist vor diesem Hintergrund nur konsequent, wenn an diejenigen, die das Amt des Richters ausüben, besondere Anforderungen sowohl in fachlicher als auch in persönlicher Hinsicht gestellt werden. Die Richter sollen eine Elite an fachlicher Tüchtigkeit bilden, aber auch charaktervolle Persönlichkeiten sein: keine willfährigen Anpasser, sondern Menschen, die sich dessen bewußt sind, daß sie die letzte Zuflucht des Bürgers sind, wenn dieser um sein Recht kämpfen muß.

Dieser besonderen Verantwortung wegen war es ausgeschlossen, alle Justizfunktionäre des früheren DDR-Regimes ohne Prüfung in den Justizdienst der neuen Bundesländer zu übernehmen. Das DDR-Regime kannte keine unabhängige recht-sprechende Gewalt. Seine Richter waren abhängige Systemfunktionäre, die in bewußter Parteilichkeit der Generallinie der Staatspartei SED folgten und ein auf den „Klassenstandpunkt“ der Partei zu beziehendes Recht anwendeten, das dem Rechtssystem und Rechtsverständnis der Bundesrepublik diametral entgegengesetzt war.

Die Entfremdung zwischen Ost und West, zu der die jahrzehntelange Teilung Deutschlands geführt hat, hat zur Folge, daß im Westen Deutschlands wenig bekannt ist, wie das Justizsystem der DDR aussah und funktionierte, welche Rolle darin die Richter und Staatsanwälte spielten, wie diese in das System eingebunden waren und wie sie ihm dienten. Es dürfte daher angebracht sein, einen kurzen Blick auf das Innenleben der DDR auf dem Sektor Justiz zu werfen.

II. Die sozialistische Rechtspflege als Instrument der SED

Die DDR-Justiz, offiziell „Sozialistische Rechtspflege“ genannt war fester Bestandteil des sozialistischen Staatsapparats, der dem Führungsanspruch der SED, einer marxistisch-leninistischen Kaderpartei, unterlag. Die DDR war ein Klassen-staat, die „politische Organisation der Werktätigen“, wie es in der Verfassung hieß. Infolgedessen galten die grundlegenden Prinzipien, die die Tätigkeit und Organisation des sozialistischen Staates in seiner Gesamtheit bestimmten, auch für die sozialistische Rechtspflege, vor allem die Führung durch die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei, der demokratische Zentralismus und die sozialistische Gesetzlichkeit. Die unabdingbare Grundlage für die Tätigkeit der Rechtspflegeorgane bildeten die Beschlüsse der SED, wobei die Parteiorganisationen in den Rechtspflegeorganen dafür zu sorgen hatten, daß diese die Parteibeschlüsse in der Rechtspflege erfüllten.

Der demokratische Zentralismus war das von Lenin entwickelte grundlegende Leitungs-und Organisationsprinzip des sozialistischen Staates das die Rechtspflegeorgane fest in das einheitliche System der Machtausübung eingliederte. Die Organe der sozialistischen Rechtspflege waren keine eigenständigen Institutionen, sondern standen, der Volkskammer unterstellt, unter der Leitung und Kontrolle dieses obersten staatlichen Machtorgans, das in der Realität ein Instrument der SED war. Das Oberste Gericht und der Generalstaatsanwalt der DDR waren der Volkskammer unmittelbar untergeordnete Organe. Der Präsident, die Richter und Schöffen des Obersten Gerichts sowie der Generalstaatsanwalt wurden von der Volkskammer gewählt, waren ihr rechenschaftspflichtig und verantwortlich. Alle anderen Richter und Schöffen und die Mitglieder der gesellschaftlichen Gerichte wurden von den örtlichen Volksvertretungen oder unmittelbar von den Bürgern gewählt; sie waren ihren Wählern berichterstattungspflichtig und konnten von ihnen abberufen werden.

Dem Prinzip des demokratischen Zentralismus entsprechend leiteten das Oberste Gericht und der Generalstaatsanwalt die gesamte Rechtsprechung bzw. die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit nach einheitlichen Prinzipien. Alle anderen Rechtspflegeorgane -dazu gehörten die Untersuchungs-und die Strafvollzugsorgane sowie die Staatlichen Notariate -waren den entsprechenden Organen des Ministerrates -so dem Ministerium des Innern, dem Ministerium für Staatssicherheit, der Zollverwaltung -unterstellt und über den Ministerrat und die zuständigen Minister der Volkskammer untergeordnet. Merkmal des dritten beherrschenden Prinzips der Machtausübung, der sozialistischen Gesetzlichkeit war die bewußte Parteilichkeit, das bewußte Eintreten für die Klasseninteressen der Werktätigen Für die sozialistische Rechtspflege war die Einheit von Gesetzlichkeit und Parteilichkeit charakteristisch und unabdingbar. Das Recht des Arbeiter-und Bauemstaates unparteilich aufzufassen, hätte bedeutet, es seines sozialistischen Charakters zu entkleiden, seine Rolle bei der Gestaltung des Klassenstaates zu untergraben.

Die Herausbildung dieser sozialistischen Rechtspflege hat sich nicht in einem revolutionären Akt, sondern stufenweise vollzogen, je nachdem, wie die alles beherrschende und durchdringende Partei die Etappen der gesellschaftlichen Umgestaltung definierte. Von erstaunlicher Naivität zeugt es, wenn selbst heute noch hohe Richter der Bundesrepublik meinen, im Jahre 1947, als die noch heute existierende Zeitschrift „Neue Justiz“ als publizistisches Organ der Justizverwaltung der Sowjetzone gegründet wurde, hätte man auf die Entwicklung einer demokratisch-rechtsstaatlichen Justiz hoffen können Tatsächlich sicherte damals die Justiz die gesellschaftliche Umgestaltung Mitteldeutschlands unter dem Schlagwort „antifaschistisch-demokratische Ordnung“ auf eine brutale Weise, die keinen Zweifel daran ließ, wohin die Reise ging. „Es muß alles demokratisch aussehen, aber wir müssen das Heft in der Hand behalten“ -diese Parole hatte Ulbricht aus der Sowjetunion mitgebracht, und danach wurde verfahren. Im Vordergrund stand in dieser ersten Etappe der Umwälzung die Lösung der Kaderfrage also die Besetzung der Justizfunktionen mit systemkonformen Personen, um die bürgerlichen Positionen und Traditionen in der Justiz zu überwinden. In Schnellkursen wurden aus der Arbeiterklasse stammende Volksrichter herangebildet, deren hervorstechendstes Merkmal die „klare politische Grundhaltung“ (Hilde Benjamin) war.

Nach der Gründung der DDR wurden die Prinzipien der sozialistischen Rechtspflege festgelegt. Über die Grundsatzbestimmungen der Verfassung vom 7. Oktober 1949 und das Gesetz über die Errichtung des Obersten Gerichts (OG) vom 8. Dezember 1949 hinaus wurde 1952 ein ausgedehntes Gesetzgebungswerk geschaffen, das u. a. ein neues Gesetz über die Staatsanwaltschaft, ein Gerichtsverfassungsgesetz und eine Strafprozeßordnung umfaßte. Zehn Jahre später -1963 -verlangte der auf dem VI. Parteitag der SED 1963 beschlossene „umfassende Aufbau des Sozialismus“ neue Gesetze über die Gerichtsverfassung und die Staatsanwaltschaft.

Mit der Verfassung von 1968 wurden die Grundsätze der sozialistischen Rechtspflege weiter ausgebaut. Im selben Jahr wurde das Gesetz über die gesellschaftlichen Gerichte erlassen. Die folgende Etappe, in der es um die „Gestaltung der entwikkelten sozialistischen Gesellschaft“ ging, brachte 1973 ein Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen und ihre Organe, das u. a. die Wahl und Abberufung der Richter betraf; 1974 folgte ein neues Gerichtsverfassungsgesetz, 1976 ein Statut des Ministeriums der Justiz mit Vorschriften für die Anleitung der Justizorgane unterhalb des OG sowie das Gesetz über das Staatliche Notariat, 1977 ein neues Gesetz über die Staatsanwaltschaft.

Zu keinem Zeitpunkt ließen die Machthaber der DDR Zweifel daran aufkommen, daß die sozialistische Rechtspflege etwas grundlegend anderes sein müsse als die herkömmliche, von ihnen als „bürgerlich“ apostrophierte Rechtspflege. Eine Gemeinsamkeit, Kontinuität oder Annäherung beider wurden strikt ausgeschlossen. Lenin hatte es als eine „unbedingte Pflicht der proletarischen Revolution“ bezeichnet, die bürgerlichen Gerichtsinstitutionen zu zerschlagen und durch ein neues, sozialistisches Gericht zu ersetzen Dementsprechend wurden in der DDR die Vorstellungen vom Rechtsstaat ebenso bekämpft wie die Gewaltenteilung in Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung als dreier eigenständiger, weitgehend unabhängiger, sich wechselseitig kontrollierender und ausbalancierender Institutionen des freiheilich-demokratischen Staates. Ebenso grundlegend unterschied sich das Verständnis der Unabhängigkeit der Mitglieder der Gerichte bei der Ausübung der Rechtsprechung von dem Begriff der richterlichen Unabhängigkeit in der Bundesrepublik. Neben der Devise, daß die Politik der SED Priorität vor dem gesetzlichen Recht habe, und den entsprechenden Eingriffen der SED („Rechtsfindung nach Wunsch von SED-Funktionären“ ist hier vor allem an die dem Rechtsstaat wesensfremde Leitung der Rechtsprechung zu erinnern, die zentral vom Obersten Gericht, aber auch vom Justizministerium ausgeübt wurde. Das Plenum des OG, dem auch die Direktoren der Bezirksgerichte und die Leiter der Militärobergerichte angehörten, erließ für alle Gerichte verbindliche Richtlinien und Beschlüsse als „Anleitung für die wirksamste, politisch richtige Anwendung der Rechtsnormen“; es leitete die Rechtsprechung auch durch Einzelentscheidungen im Rahmen seiner erstinstanzlichen sowie der Rechtsmittel-und Kassationsrechtsprechung. Dabei schloß die Leitung der Rechtsprechung durch das OG die Organisation und Kontrolle der Verwirklichung der Leitungsentscheidungen sowie auch eine darüber hinausgehende „orientierende Anleitung der Rechtsprechung“ ein.

Das Justizministerium war für die Anleitung und Kontrolle der gerichtlichen Tätigkeit mit Ausnahme der unmittelbaren Leitung der Rechtsprechung zuständig, also nicht nur für die Verwirklichung der sozialistischen Kaderpolitik und die Leitungsund Arbeitsorganisation in den Gerichten, sondern auch für die politisch-fachliche Anleitung und Qualifizierung der Richter.

Eine weitere Besonderheit des DDR-Justizsystems ist die umfassende Stellung der Staatsanwaltschaft, die Art. 97 der DDR-Verfassung als Aufsicht über die strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit bestimmte. Als zentrales Organ der Staats-macht übte die Staatsanwaltschaft -sowjetischem Vorbild entsprechend -nicht nur Aufgaben im Strafverfahren aus, sondern auch in Zivil-, Familien-und Arbeitsrechtsverfahren sowie beim Strafvollzug. Dazu kam die Allgemeine Gesetzlichkeitsaufsicht im Bereich des Schutzes und der Gestaltung der sozialistischen Arbeits-und Lebensbedingungen und der Leitung der Gesellschaftsprozesse durch Aufdecken und Ahndung von Rechts-verletzungen außerhalb des Strafrechts und der gerichtlichen Zuständigkeiten.

Schließlich ist hervorzuheben, daß das DDR-Justiz-system neben den staatlichen auch gesellschaftliche Gerichte in Gestalt der über 22000 Konfliktkommissionen in den Betrieben und ca. 5 200 Schiedskommissionen in den Städten, Stadtbezirken und Genossenschaften kannte, deren Mitglieder keine Berufs-richter waren. Diese Kommissionen übten Rechtsprechung in einfachen zivilrechtlichen, in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten und in Strafsachen aus; ihre Entscheidungen konnten im Einspruchsverfahren vom staatlichen Kreisgericht überprüft werden.

III. Die SED-Kaderpolitik in der DDR-Rechtspflege

Herzstück der SED-Politik im Staatsapparat und damit auch in der Rechtspflege war die Kaderfrage. „Die Kader entscheiden alles“, hatte Stalin immer wieder gesagt, und danach wurde verfahren. Was hierzulande Personalprogramm, Personalpolitik, Personalarbeit heißt, wurde dort als Kaderprogramm, Kaderpolitik und Kaderarbeit bezeichnet, und das bedeutete nicht nur einen terminologischen, sondern auch einen inhaltlichen Unterschied. Im Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie werden als Kader solche Personen bezeichnet, die als Leiter, Funktionäre und Spezialisten in Bereichen der Gesellschaft auf Grund ihrer politischen und fachlichen Fähigkeiten und Eigenschaften tätig sind bzw. als Nachwuchskräfte dafür vorbereitet werden. In erster Linie, so Stalin müssen die Kader die Politik der Arbeiterklasse begreifen, fähig und bereit sein, sich diese Politik zu eigen zu machen und sie gewissenhaft zu verwirklichen. Erst in zweiter Linie wurde Fachwissen gefordert. Kaderarbeit war infolgedessen mehr als die Anwendung organisatorisch-technischer Mittel; sie war vor allem politisch-organisatorisches Mittel zur Sicherung des Herrschaftsanspruchs der Partei.

Alle Personen, die mit Kaderarbeit zu tun hatten, wurden sorgfältig ausgesucht. Nur der SED treu ergebene Genossen durften Kaderarbeit ausüben. Neben der Kaderbedarfsplanung und der Weiterbildung der Kader gehörte zu den Methoden der Kaderpolitik die sogenannte Nomenklatur, das Verzeichnis von Positionen und Funktionen, über deren Besetzung die SED entweder direkt entschied oder für die sie verbindlich die Modalitäten festlegte und sich eine Kontrolle vorbehielt. Die in den hierarchisch geordneten Nomenklaturen erfaßten Personen wurden als Nomenklaturkader bezeichnet. Bei der Rekrutierung wurde zwischen Kaderreservoir, Kadernachwuchs und Kaderreserve unterschieden. Die Kaderabteilungen hatten sich vor allem um die Hoch-und Fachhochschulabsolventen zu kümmern. Nach einem Kadergespräch wurde entschieden, wer in den Kadernachwuchs und damit in die Nomenklatur aufgenommen wurde, entsprechend der Nomenklaturstufe der in Betracht gezogenen Leitungsposition. Hatte sich der Nachwuchskader bei der Erfüllung der ihm übertragenen Aufgaben bewährt, wurde er in die Kaderreserve aufgenommen, was gezielte weitere Vorbereitung und Ausbildung für festgelegte Funktionen und Positionen bedeutete.

Organisatorisch war für die Kaderpolitik im Bereich der Gerichte das Justizministerium der DDR zuständig, für die Staatsanwaltschaften die Generalstaatsanwaltschaft der DDR. Es bestand eine exakte Planung für die Einstellung der Studierwilligen wie für die Einstellung als Richter oder Staatsanwalt. Wie wichtig die SED diese Aufgaben nahm, zeigt die Tatsache, daß sie nicht den Ministern überlassen wurden, wenn diese nicht der SED, sondern einer der Blockparteien angehörten. Justizminister der DDR waren lange Zeit erprobte SED-Kämpen wie Erich Fechner, der als stellvertretender SPD-Vorsitzender zusammen mit Otto Grotewohl seine Partei 1946 in die Vereinigung mit der KPD geführt hatte, aber nach dem Volksaufstand am Juni 1953 als Parteifeind aus der SED ausgeschlossen, später allerdings rehabilitiert und wieder in die Partei aufgenommen wurde. Fechners Nachfolger wurde die besonders fanatische Kommunistin Hilde Benjamin, die Schwägerin des bekannten Schriftstellers Walter Benjamin. Danach überließ die SED das Justizministerium einer Blockpartei, und zwar der LDPD, die es mit Wünsche 13) und Heusinger als Justizminister besetzte. Das führte dazu, daß die Kaderarbeit im Justizministerium von SED-Staatssekretären ausgeübt wurde. Der Klassenauftrag, den das Justizministerium bei der Kaderarbeit zu erfüllen hatte, bestand u. a. in der Forderung, daß 65 Prozent der Justizkader aus der Arbeiterklasse kommen sollten. Das hatte zur Folge, daß z. B. jährlich 30 Kader aus der Produktion kommen mußten. Für die Studierwilligen bedeutete dies, daß sie nach dem Studium zunächst in der Produktion arbeiten mußten, um dann zum Studium zu gelangen.

Auch der Frauenanteil gehörte zu den Spezifika der Kaderpolitik. Der Frauenanteil bei den Mitgliedern der Bezirks-und Kreisgerichte belief sich auf etwa 55 Prozent, in Leitungsfunktionen betrug er etwa 30 Prozent. Da zahlreiche Richterinnen und Staatsanwältinnen durch Mutterschutz ausfielen, wurde der Schlüssel bei der Zulassung zum Studium von zunächst 3 : 1 (drei Frauen auf je einen Mann) später auf 2 : 1 geändert.

Dafür, daß nur sorgfältig ausgesiebte Frauen und Männer zum rechtswissenschaftlichen Studium gelangten, sorgte das Prinzip der „Delegierung“, die für Richter vom Justizministerium, für Staatsanwälte durch die Generalstaatsanwaltschaft vorgenommen wurde. Diese wiederum erhielten ihre Meldungen durch andere staatliche Organe, durch Betriebe und gesellschaftliche Organisationen unter maßgeblicher Beeinflussung durch die SED. Für den Zugang zum Beruf des Richters oder des Staatsanwalts war zuletzt für Männer ein Armee-dienst von drei Jahren, für Frauen Produktionsarbeit, mindestens aber ein einjähriges Justizpraktikum erforderlich.

Das Ergebnis dieses parteilichen Auswahlverfahrens war, daß die Gerichte fast ausschließlich von SED-Mitgliedern besetzt waren. Vor der Auswahl fand jeweils eine Kadervorlage bei der SED statt, so daß von dieser die entscheidenden Weichen gestellt wurden. Passieren konnte nur, wer sich gesellschaftspolitisch betätigt hatte. Es kam auf den „Klassenstandpunkt“ an. Für Karrieren zum Leiter von Gerichten oder Staatsanwaltschaften stand die politische Zuverlässigkeit weitaus an erster Stelle, ebenso für die Beförderung zum Stellvertreter der Leiter. Die Kadervorlagen an den Staatssekretär des Justizministeriums, der darüber entschied, ob jemand in den sogenannten Reserve-kader aufgenommen wurde, erfolgten ohne Wissen des Richters oder Staatsanwalts.

Nicht nur die Richter des Obersten Gerichts und die in der Generalstaatsanwaltschaft herausgehobenen Staatsanwälte gehörten zur ersten Nomenklaturstufe, sondern auch die Direktoren der Bezirksgerichte und die Leiter der Bezirksstaatsanwaltschaften. Über die Besetzung dieser Positiqnen fällte daher die zuständige Abteilung des SED-Zentralkomitees die Entscheidung, während für die darunter eingestuften Positionen und Funktionen der Staatssekretär des Justizministeriums zuständig war.

Schließlich noch ein Hinweis auf die Ausbildung der DDR-Richter und -Staatsanwälte: Das rechts-wissenschaftliche Studium war einbezogen in das sogenannte einheitliche sozialistische Bildungssystem. Bei der sozialistischen Hochschulreform von 1968 wurde ihm die Aufgabe zugewiesen, sozialistische Juristen heranzubilden, die sich den Klassenstandpunkt der Arbeiterklasse zu eigen machen und Objekt der Kaderpolitik des Regimes werden sollten. Von Anfang an wurde in der Ausbildung zwischen Rechtspflege-, Wirtschafts-und Verwaltungsjuristen unterschieden. Das „Ziel der klassenmäßigen Erziehung“ der Rechtspflegejuristen definierte der damalige Justizminister Kurt Wünsche dahin, „vor allem folgende Eigenschaften bei den Richtern, Inspekteuren und Staatlichen Notaren heranzubilden:

-Treue zur Deutschen Demokratischen Republik und Einsatz aller Kräfte und Fähigkeiten für die allseitige Stärkung der Arbeiter-und Bauernmacht;

-Prinzipienfestigkeit und politische Zuverlässigkeit in jeder Situation;

-Unversöhnlichkeit gegenüber allen den sozialistischen Aufbau hemmenden Erscheinungen, Entwicklung und Förderung von Kritik und Selbstkritik;

-enge Verbindung mit den Werktätigen und ständige Nutzung ihrer Erfahrungen, Förderung der Entwicklung sozialistischer Kollektive;

-Charakterfestigkeit und vorbildliches Verhalten im gesellschaftlichen und persönlichen Le55 ben im Sinne der 10 Gebote der sozialistischen Moral.“

Die Ausbildung gliederte sich in das Grund-und das Fachstudium. Abgeschlossen wurde das Studium nach vierjähriger Dauer mit dem akademischen Grad eines Diploms. Die Ausbildung der Rechtspflegejuristen der DDR hatte seit Anfang der siebziger Jahre folgende Studieninhalte:

Grundstudium:

-Marxistisch-leninistische Philosophie -Politische Ökonomie des Kapitalismus, des Sozialismus;

ökonomisches System des Sozialismus in der DDR -Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, historische Mission der Arbeiterklasse in der gegenwärtigen Epoche und die führende Rolle der Partei.

Fachstudium: -Strafrecht -Straf-und Strafprozeßrecht -Zivil-und Zivilprozeßrecht -Familienrecht -Arbeitsrecht -LPG-Recht -Boden-und Notariatsrecht sowie Grundkenntnisse in anderen Fächern.

Inhalt und Anforderungen dieses Studiums waren in keiner Weise mit denen des Jurastudiums in der Bundesrepublik zu vergleichen. Gravierende Unterschiede bestand nicht nur in den Studieninhalten, sondern auch in der juristischen Arbeitstechnik und im Umgang mit der wissenschaftlichen Literatur, ferner in den Anforderungen, die im Examen gestellt wurden. Eine dem Referendariat vergleichbare praktische Ausbildung und das zweite Examen zum Abschluß dieser Ausbildung kannte die DDR nicht. Es war lediglich seit einiger Zeit eine einjährige Praktikantenzeit vorgesehen, die als Richter oder Staatsanwalt abzuleisten war.

IV, Die Überprüfungsverfahren für Richter und Staatsanwälte nach dem Einigungsvertrag

Es liegt auf der Hand, wie problematisch in Anbetracht dieser Lage das Ansinnen war, die DDR-Rechtspflege in das Justizssystem der Bundesrepublik zu integrieren. An Verständnis für die Position der Verhandlungsführer der DDR fehlte es bei ihren Partnern aus der Bundesrepublik nicht, als über den Beitritt der DDR verhandelt wurde. Es konnte und durfte jedoch nicht übersehen werden, daß die DDR-Juristen in einer ganz anderen Rechtskultur zu Hause waren und in welcher Weise sich die Justiz als Instrument der SED betätigt hatte. Die DDR-Justizfunktionäre sprachen von der Mitverantwortung, die sie für die Deformation des Rechtssystems und den politischen Mißbrauch der Rechtsprechung in der DDR getragen hatten. Das war eher beschönigend gesagt. Zu welchen Urteilen es dabei gekommen war, ist an anderer Stelle dargestellt worden. Die unsäglichen Tiraden parteiischer Justiz waren ebensowenig wegzuwischen wie die Entrechtung der Beschuldigten und Angeklagten in den Verfahren, die insbesondere die Bevölkerung in der DDR selbst nicht aus ihrem Gedächtnis getilgt hatte.

Ins Gewicht fiel durchaus, daß die Noch-DDR neben anderen Reformgesetzen im Juni 1990 auch ein neues Richtergesetz beschlossen hatte und von den ursprünglich etwa 1400 Richtern der DDR zahlreiche freiwillig ausgeschieden waren, so daß die Gerichte und Staatsanwaltschaften vorwiegend mit jüngeren DDR-Juristen besetzt waren. Letztlich entscheidend mußte jedoch die Erwägung sein, daß im demokratischen Rechtsstaat nur solche Personen als Richter und Staatsanwälte amtieren dürfen, die als Repräsentanten einer rechtsstaatlichen Justiz glaubhaft sind und Gewähr dafür bieten, daß sie sich bei ihrer Tätigkeit von der grundgesetzlichen Wertordnung leiten lassen.

So wurde im Einigungsvertrag bestimmt, daß für diejenigen DDR-Juristen, die Richter bleiben wollen, ein Überprüfungsverfahren durch Richter-Wahlausschüsse stattfinden sollte. Die Richter, die nach einem positiven Ergebnis der Überprüfung weiterbeschäftigt werden, sind zunächst als Richter auf Probe oder Zeit in den neuen Bundesländern tätig. Nach mindestens dreijähriger, höchstens fünfjähriger Tätigkeit können sie zu Richtern auf Lebenszeit ernannt werden. Sie erwerben damit zugleich die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz und können auch im Bundesgebiet außerhalb der neuen Länder als Richter tätig sein. Für die rund 1000 Staatsanwälte der DDR wurde eine vergleichbare Regelung getroffen. Nach dem Einigungsvertrag sollte die Überprüfung durch die Ausschüsse für die Richterwahl und die Berufung der Staatsanwälte bis zum 15. April 1991 abgeschlossen sein. Dieser Termin erwies sich jedoch als unrealistisch, weil die Überprüfung nur langsam in Gang kam. Es zeigte sich nämlich, daß in die Prüfungsausschüsse Richter und Staatsanwälte gewählt worden waren, die selber belastet waren. In den sächsischen Bezirken Chemnitz, Dresden und Leipzig z. B. mußten sieben Richter und Staatsanwälte, die in die Ausschüsse für die Richterwahl und für die Berufung der Staatsanwälte gewählt worden waren, durch andere, unbelastete Kollegen ersetzt werden. Zudem traten Abgeordnete, die der Landtag in die Ausschüsse gewählt hatte, von ihren Mandaten zurück und mußten ausgetauscht werden. Die gleichen Probleme traten in den anderen der insgesamt 14 Bezirke auf, in denen die Ausschüsse gebildet wurden. Infolgedessen mußten zunächst die Ausschüsse selbst überprüft werden, was die Zeit bis April/Mai 1991 in Anspruch nahm.

Ein weiteres Problem trat dadurch auf, daß ein Erlaß der Modrow-Regierung im Februar 1990 den Richtern und Staatsanwälten -wie allen Kadern des Regimes -die Möglichkeit eröffnet hatte, ihre Kaderakten zu schönen, und zwar durch die Entfernung politisch belastender Vorgänge. Teilweise wurden aus den Kaderakten, die den Richtern und Staatsanwälten zugesandt wurden, auch die Lebensläufe entfernt, so daß viele Akten erst mit dem Jahre 1990 begannen. Aus diesem Grunde wurden Fragebogen entworfen und den Richtern und Staatsanwälten zur Beantwortung übergeben, die darauf abzielten, die Lücken in den Kaderakten wenigstens teilweise zu schließen.

Wenig erfreulich war auch ein Defizit, das dem übertriebenen Föderalismus zu verdanken ist, dessen sich die neuen Bundesländer befleißigen: Für die Wahl der Richter und die Berufung der Staatsanwälte hat jedes Land eigene Prüfungskriterien mit der Folge aufgestellt, daß die Ausschüsse ihrer Beurteilung unterschiedliche Maßstäbe zugrunde legen. Eine Abstimmung unter den Ländern ist bisher nicht zustandegekommen, so sehr in der Öffentlichkeit auch darauf gedrängt wurde. Spötter sprechen deshalb von der „Gnade der regionalen Geburt“, womit gemeint ist, daß Bewerber in einem Land durch die Prüfung kommen, die mit ihrer Biographie in einem anderen Land scheitern könnten, weil dort strengere Anforderungen gestellt werden (oder umgekehrt).

Wie buntscheckig das Bild ist, zeigt sich, wenn man die Auskünfte aus den Justizministerien von Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Thüringen und Sachsen miteinander vergleicht. (Sachsen-Anhalt fehlt, weil dessen Justizminister leider wegen Überlastung keine Auskünfte erteilt hat).

In Sachsen, wo die Überprüfung am weitesten fortgeschritten ist, orientieren die Vorsitzenden der Ausschüsse für die Richterwahl und für die Berufung der Staatsanwälte ihre Entscheidung, ob sie einen Bewerber vorschlagen, an zwei Fragen:

-Wird der Bewerber nach seinem früheren Verhalten im Amt von den Bürgern als glaubhafter Repräsentant einer rechtsstaatlichen Justiz akzeptiert werden?

-Wird der Bewerber sich im Falle seiner Berufung loyal, dem Geist und dem Buchstaben nach, von der Wert-und Rechtsordnung der Bundesrepublik leiten lassen?

Die Antwort auf diese Leitfragen wird für jeden Bewerber individuell gesucht. Festgefügte Kriterienraster werden nicht angelegt.

In Brandenburg haben die entsprechenden Ausschüsse am 22. November 1990 zur Feststellung der politischen Integrität der Bewerber Entscheidungsgrundsätze beschlossen, denen der Justizminister zugestimmt hat. Danach sollen Bewerber in der Regel eingestellt werden, wenn der Gesamteindruck erwarten läßt, daß sie das angestrebte Amt in Treue zum freiheitlichen, demokratischen, föderalen, sozialen und ökologisch orientierten Rechtsstaat führen werden. Für die Feststellungen, aus denen dieser Gesamteindruck gewonnen wird, gilt folgendes:

„ 1. Wenn ein Richter oder Staatsanwalt a) in der Art seiner Prozeßführung (z. B. durch seine Behandlung der Beteiligten oder durch rechtlich nicht gebotene politische Bemerkungen) oder b) in den Begründungen seiner Urteile, Beschlüsse, Anträge oder Plädoyers (z. B. durch besondere Hinweise auf politische Gründe oder durch politische Begründung einer weitgehenden Ausschöpfung des Entscheidungsspielraums bzw. Strafmaßes oder durch erkennbar tendenzielle Auslegung des Rechts angesichts besonderer politischer Ereignisse) oder c) bei anderen richterlichen oder staatsanwaltlichen Handlungen (z. B. Haftbefehlen, Arresten, Anträgen dazu) das juristische gebotene Maß zu Lasten eines Verfahrensbeteiligten überschritten hat, spricht dies unter dem Gesichtspunkt der politischen Integrität eher gegen seine persönliche Befähigung. 2. Dasselbe soll auch gelten, a) wenn ein Bewerber das kollegiale Klima seiner Behörde oder seines Betriebes durch wiederholte Propagierung der Berechtigung des SED-Regimes und seiner wesentlichen Handlungen nachhaltig beeinflußt hat, b) wenn er besondere politische Aufträge der SED, die über die mit der bloßen Mitgliedschaft verbundenen Pflichten hinausgingen, durchgeführt hat, c) wenn er öffentliche politische Reden zur Berechtigung des SED-Regimes und seiner wesentlichen Handlungen gehalten hat, die über die Pflichtreden zu routinemäßigen Anlässen hinausgingen, d) wenn er seine Machtposition über seine allgemeinen beruflichen Pflichten hinaus zur politischen Einflußnahme ausgenutzt hat.“

Von diesen Grundsätzen sind Ausnahmen vorgesehen. So sollen in der Regel solche Bewerber nicht weiterbeschäftigt werden, die über die normalen Dienstpflichten hinaus mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zusammengearbeitet haben, Mitglieder in den Leitungsgremien der SED (von der Kreisleitung aufwärts) waren oder Tätigkeiten in höheren Funktionen anderer politischer Organisationen der Nationalen Front ausgeübt haben. Das gleiche gilt für die Mitglieder des aufgehobenen Obersten Gerichts der DDR, für ehemalige Generalstaatsanwälte oder Staatsanwälte beim Generalstaatsanwalt, für die Direktoren und stellvertretenden Direktoren der Bezirksgerichte, die Bezirksstaatsanwälte und ihre Stellvertreter, die Kaderleiter beim Bezirksgericht, beim Bezirks-staatsanwalt oder bei übergeordneten Justizbehörden, ferner für die Richter und Staatsanwälte, die im politischen Strafrecht tätig waren. Bei Bewerbern, die bisher weder Richter noch Staatsanwalt waren, schließen Funktionen mit vergleichbarem politischen Entscheidungsgewicht die Einstellung ebenfalls aus.

Diesem ausgedehnten, konkreten Negativkatalog steht auf der anderen Seite der Grundsatz gegenüber, bei der Beurteilung positiv zu berücksichtigen, wenn der Bewerber sich nachweisbar darum bemüht hat, das SED-Regime zu liberalisieren oder zur Abmilderung seiner Härten beizutragen, oder wenn im Einzelfall andere schwerwiegende Gründe für eine Abweichung vorliegen. Es kommt dann allerdings auch darauf an, daß der Gesamteindruck, den der Bewerber macht, die Prognose der Verfassungstreue rechtfertigt. Der Richter oder Staatsanwalt darf nicht bei der Prozeßführung, in den Entscheidungsgründen und bei anderen richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Handlungen das „juristisch gebotene Maß“ zu Lasten eines Verfahrensbeteiligten überschritten haben. Ähnliche eingehende Erwägungen hat man in Thüringen angestellt, ohne allerdings zu solchen Präzisierungen wie in Brandenburg zu gelangen. Von bindenden Kriterien für die Ausschüsse hat man bewußt abgesehen. Das Justizministerium hat jedoch Gesichtspunkte zusammengestellt, die bei der Prüfung beachtet werden sollen. Zweifel an der persönlichen Eignung, so heißt es, dürfen angebracht sein, wenn sich der Bewerber als „jederzeitiger vorbehaltloser Vollstrecker von Staatsmacht“ verstanden hat und durch „inhumanen Rigorismus“ hervorgetreten ist. Als Indizien, die dafür sprechen, werden genannt: vorauseilender Gehorsam, unverhältnismäßige Härte im Richter-spruch, Übernahme von Funktionen im Bereich der Justizverwaltung, der Partei und der Staatssicherheit. Eine bloße Gesinnungsprüfung ist unzulässig, pauschale Systemverurteilung dürfe nicht erfolgen, die Mitgliedschaft in bestimmten politischen Organisationen nicht von der Weiterbeschäftigung ausschließen.

'• Ein zusätzliches partei-und staatstragendes Engagement, die aktive Wahrnehmung von Ämtern in den Parteien und in der Justizverwaltung sowie die Vertretung und Durchsetzung der jeweiligen parteipolitischen Leitlinien in der richterlichen Arbeit könnten allerdings der Weiterbeschäftigung entgegenstehen. Bei der Überprüfung der dienstlichen Tätigkeit werde Unrechts-, Willkür-und Übermaßurteilen, offensichtlich rechtsstaatswidrigen Verfolgungsmaßnahmen und der Mitwirkung an der Staatsschutzrechtsprechung besondere Aufmerksamkeit zu widmen sein. Den Ausschüssen wird ferner der Hinweis auf den Weg gegeben, daß ihre Entscheidungen Zukunftsprognosen sind, bei denen auch zu überlegen sein wird, inwieweit Bewerbern das Recht zur Umkehr zugebilligt und die Chance zum Neubeginn eröffnet werden müsse. Unterschiedlich beantwortet wird in den Ländern auch die Frage, ob der Justizminister an die Ausschußentscheidungen gebunden ist. Z. B. geht der Justizminister von Brandenburg davon aus, daß die ablehnenden Entscheidungen der Ausschüsse nach der von der Volkskammer beschlossenen Ordnung über die Richterwahlausschüsse vom 22. Juli 1990 endgültig sind und nur mit der Klage vor dem Verwaltungsgericht angefochten werden können. Einem positiven Votum wird demgegenüber nur empfehlender Charakter eingeräumt. Ebenso wird die Frage in Thüringen beurteilt, während man in Sachsen der Meinung ist, Divergenzen zwischen dem Richterwahlausschuß und dem Justizministerium dürften kaum praktisch werden.

Einen ganz anderen Weg geht Mecklenburg-Vorpommern. Dort kam die Landesregierung zu dem Ergebnis, daß die Überprüfung der in den Ausschüssen tätigen Richter und Staatsanwälte auf Verfehlungen während des SED-Regimes einem zügigen Aufbau der Justiz im Wege stände. Deshalb beschloß der Landtag am 5. Juni 1991 ein Gesetz, wonach abweichend vom Einigungsvertrag der Justizminister im Benehmen mit dem Rechtsausschuß des Landtages die Richter und Staatsanwälte ernennt.

V. Ausblick

Bei dieser Vielfalt der Länder-Regelungen ist es naturgemäß schwierig, Voraussagen dafür zu machen, zu welchen Ergebnissen die Überprüfung gelangt. Am weitesten fortgeschritten ist diese in Sachsen, wo insgesamt 600 Bewerbungen vorlagen. Es zeichnet sich in diesem Lande ab, daß rund ein Drittel der Geprüften als ungeeignet befunden wird, während zwei Drittel ein positives Votum über ihre Weiterbeschäftigung erhalten. Bedenkt man, daß der Parlamentarische Staatssekretär des Bundesjustizministeriums um die Jahreswende 1990/91 noch davon ausging, 90 Prozent der DDR-Richter und Staatsanwälte würden an der Über-prüfung scheitern so wird deutlich, daß die Ausschüsse -d. h. die hier tätigen Juristen aus den neuen Bundesländern -weit weniger streng verfahren, als damals erwartet wurde. Der Umstand, daß die meisten der Richter und Richterinnen, Staatsanwälte und Staatsanwältinnen, die sich der Überprüfung stellen, unter 35 Jahre alt und oft infolge der kurzen Ausbildungszeit in der DDR noch jünger sind, spielte bei diesen Ergebnissen sicherlich eine Rolle.

Möglicherweise wird der Prozentsatz der Abgelehnten in den anderen Ländern höher als in Sachsen liegen. Trotz aller Vorbehalte, die sich aus dem weiten Ermessensspielraum der Ausschüsse ergeben, kann man aber die sächsischen Ergebnisse wohl als einen Fingerzeig betrachten, wie die Überprüfung insgesamt ausgehen wird: Nicht gerade wie das Hornberger Schießen, aber keineswegs so einschneidend, wie es angesichts der Vergangenheit der DDR-Justiz von vielen erwartet worden war. ’ Für die Justiz in den neuen Bundesländern bedeutet dieser Trend, daß das neue Recht großenteils von Richtern gesprochen werden wird, die unter dem SED-Regime als Justizfunktionäre dessen Handlanger waren. Für die Menschen in der ehemaligen DDR wird es bedrückend sein, in den Gerichten den früheren Juristen wieder zu begegnen. Es ist dies, wie der sächsische Justizminister Heitmann formulierte, die „Kehrseite der friedlich verlaufenen Revolution“ Alle in der ehemaligen DDR seien, wenn auch in unterschiedlicher Weise, in das DDR-System verwoben gewesen. Man könne ein ganzes Volk, so Heitmann, nicht auswechseln.

Natürlich drängt sich da die Erinnerung an die Jahre nach dem Untergang des NS-Systems auf. Nach 1945 wurden alle Richter und Staatsanwälte, die NS-Mitglieder gewesen waren, zunächst aus dem öffentlichen Dienst entlassen, aber, sobald sie entnazifiziert worden waren, wieder als Richter oder Staatsanwälte eingestellt. Das trug -nicht unberechtigterweise -der Justiz der Bundesrepublik scharfe Kritik von vielen Seiten ein. Jetzt, nach dem Untergang des SED-Regimes, schweigen gerade die, die zuvor die schärfste Kritik an dieser damaligen Praxis geübt hatten. Etwa deshalb, weil es sich heute um Kommunisten und nicht um Nazis handelt? Oder weil sie erkannt haben, daß die Probleme differenzierter sind, als sie bei ihren Anklagen gegen das „Comeback der NS-Richter“ glaubten?

Diese Rückkehr der NS-Richter war keine geringe Hypothek für die Justiz des Grundgesetzes, darauf ist oft hingewiesen worden. Jetzt werden wir erneut mit einer solchen Hypothek leben müssen. Viele ehemalige SED-Richter und -Staatsanwälte haben gewiß die Chance, die sie jetzt erhalten, verdient; einige mögen durch die Maschen der Überprüfung geschlüpft sein.

Wie dem auch sei: Bei Vergleichen mit der Zeit nach 1945 ist in Erinnerung zu rufen, daß die nach der Entnazifizierung wieder eingestellten Richter und Staatsanwälte, die Mitglieder der NSDAP oder ihrer Gliederungen gewesen waren, ganz überwiegend loyal am Aufbau des demokratischen Rechtsstaats mitgearbeitet haben. Das fiel ihnen schon deshalb leicht, weil das NS-System sich selber so gründlich diskreditiert hatte, daß sich nch 1945 von einigen Unbelehrbaren abgesehen kaum jemand noch zu ihm bekennen mochte. In ähnlicher Weise hat 1989 das SED-System Bankrott gemacht. Die Frage ist, ob die Abkehr ähnlich tief reicht wie seinerzeit die vom Nationalsozialismus

Sicher ist das nicht. Anders als die NSDAP 1945 ist diesmal die SED nicht verboten worden. In PDS umbenannt, genießt sie ihr großes Vermögen weiter und nimmt an den Privilegien teil, die die Bundesrepublik den Parteien und deren Mandats-trägern in den Parlamenten gewährt. Um so dringender ist es, die weiterbeschäftigten Richter und Staatsanwälte nicht sich selbst zu überlassen. Damit sie nicht nur äußerlich den Weg zum Richter-bild des Grundgesetzes finden, sondern die freiheitlich-demokratische Grundordnung auch innerlich bejahen, sind Hilfen nötig sowohl zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als auch zur Neuorientierung auf die Zukunft. Nicht zuletzt liegt hier eine Aufgabe für die politische Bildung.

Aber auch in fachlicher Hinsicht ist viel zu tun. Die Richter aus der ehemaligen DDR dürfen nicht, wie kürzlich in einer großen Tageszeitung zu lesen war, als Richter dritter Klasse betrachtet werden. Der Einigungsvertrag hat die fachliche Qualität als gegeben vorausgesetzt. Aus der Fiktion eine Realität zu machen, ist die Aufgabe beruflicher Zukunft. Sie ist lösbar, wenngleich nicht von heute auf morgen. Das. kann gar nicht anders sein, wenn man bedenkt, wie groß der Unterschied zwischen dem Rechtssystem der DDR und der Rechtskultur der Bundesrepublik gewesen ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dazu und zum Folgenden vgl. Rudolf Wassermann, Die richterliche Gewalt, Heidelberg 1985, S. 28ff. und die dort angeführten Belege.

  2. Vgl. das offizielle DDR-Lehrbuch Grundlagen der Rechtspflege, verfaßt von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Kurt Wünsche, Ost-Berlin 1983, S. 15 ff,

  3. Zur Bedeutung des demokratischen Zentralismus im Staatsaufbau vgl. Karl Polak, Zur Dialektik in der Staatslehre, Ost-Berlin 1963, S. 179 ff.

  4. Vgl. Kleines Politisches Wörterbuch, Neuausgabe, OstBerlin 1988, S. 889f.; Lehrbuch Marxistisch-leninistische Staats-und Rechtstheorie, hrsg. vom Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR, Ost-Berlin 1975, S. 594 ff.

  5. Vgl. Grundlagen der Rechtspflege (Anm. 2), S. 24.

  6. Vgl. Hilde Benjamin/Helmut Anders/Kurt Görner, Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1945-1949, Ost-Berlin 1976; Josef Streit, Zur Entwicklung der Rechtspflege in der DDR; in: Neue Justiz, (1978) 6, S. 238ff., (1978) 7, S. 282f., (1978) 9, S. 370ff„ (1978) 10, S. 414ff„ (1978) 12, S. 510ff., (1979) 2, S. 50ff.; Kurt Wünsche, Zur Herausbildung des sozialistischen Gerichtsverfassungsrechts der DDR, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschafts-und Sprachwissenschaftliche Reihe, (1978) 2, S. 231ff.

  7. Vgl. Editorial des Herausgeberbeirats in: Neue Justiz, (1991) 4, S. 137.

  8. Vgl. Hilde Benjamin, Aus Reden und Aufsätzen, OstBerlin 1982, S. 46ff.

  9. Vgl. W(ladimir) I(jitsch) Lenin, Werke, Bd. 3, Ost-Berlin 1966, S. 161.

  10. Jürgen Richter, Nach dem Umbruch in der DDR -Die Situation in der Justiz -Bestandsaufnahme und Perspektiven, in: Deutsche Richterzeitung, (1990), S. 111.

  11. Vgl. Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, Ost-Berlin 19772, S. 325. Zu den Begriffen Kader, Kaderarbeit, Kaderpolitik,. Kaderprogramm, Kaderreserve s. a. die Artikel zu den genannten Stichwörtern in: Kleines politisches Wörterbuch (Anm. 4), S. 467f.

  12. Vgl. J(oseph) W(issarionowitsch) Stalin, Werke, Bd. 13, Ost-Berlin 1953, S. 60. Zur wechselnden Orientierung der Kaderpolitik, in der die fachliche Qualifikation höher bewertet wurde, vgl. Gert-Joachim Glaeßner, Artikel „Kaderpolitik“, in: DDR-Handbuch, hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bd. 1, Köln 1985, S. 697ff. Stets wurde aber auch die politische Eignung der Kader als primäres Ziel betrachtet.

  13. Zum Lebenslauf von Kurt Wünsche, der von 1967 bis 1972 und 1989/90 DDR-Justizminister war, s. Recht und Politik, (1990), S. 77.

  14. Kurt Wünsche, Die Aufgaben des Ministeriums der Justiz auf dem Gebiet der sozialistischen Rechtspflege, in: Neue Justiz, (1969), S. 68.

  15. Vgl. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. 8. 1990 und das dazugehörige Gesetz vom 23. 9. 1990 (BGBl. II S. 885) sowie Horst Viehmann, Einigungsvertrag, Justiz und Rechtspflege, Heidelberg 1990, S. 24f.

  16. Vgl. Friedemann Sittig, Müssen 90% der ehemaligen DDR-Richter gehen?, Gespräch mit Friedrich-Adolf Jahn, in: Welt am Sonntag vom 18. 10. 1990, S. 4.

  17. Vgl. das Interview „Wir erleben die Kehrseite einer friedlichen Revolution“, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. 4. 1991, S. 11.

  18. Vgl. Rudolf Wassermann, Auch die Justiz kann aus der Geschichte nicht aussteigen, Baden-Baden 1990, S. 186ff.

Weitere Inhalte

Rudolf Wassermann, Dr. jur. h. c., geb. 1925; 1971-1990 Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig und des Niedersächsischen Landesjustizprüfungsamts; Mitglied des Niedersächsischen Staats-gerichtshofs. Veröffentlichungen u. a.: Die richterliche Gewalt. Macht und Verantwortung des Richters in der modernen Gesellschaft, Heidelberg 1985; Recht, Gewalt, Widerstand, Berlin 1985; Die Zuschauerdemokratie, Düsseldorf 1986; Rechtsstaat ohne Rechtsbewußtsein?, Hannover 1988; Auch die Justiz kann aus der Geschichte nicht aussteigen, Baden-Baden 1990.