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Vom Sozialen zur Politik. Entwicklungslinien, Positionen und Defizite christlicher Soziallehre | APuZ 20/1991 | bpb.de

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APuZ 20/1991 Vom Sozialen zur Politik. Entwicklungslinien, Positionen und Defizite christlicher Soziallehre Der Umbau kirchlicher Soziallehre in eine Ethik sozialer Bewegungen Natur -Gesellschaft -Kultur Auf dem Weg zu einer ökologischen Sozialethik Christliche Sozialethik im Horizont der Ethik der Gegenwart. Zum Problem der Menschenrechte Konfessionalismus und politische Kultur in Deutschland

Vom Sozialen zur Politik. Entwicklungslinien, Positionen und Defizite christlicher Soziallehre

Bernhard Sutor

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Vor 100 Jahren erschien die erste päpstliche Sozialenzyklika. Aus diesem Anlaß wird hier die Entwicklung der katholischen Soziallehre in ihrer zunehmenden Bedeutung für die politische Ethik erörtert. Zunächst ist der Beitrag der katholischen Soziallehre zur Lösung der Sozialen Frage zu skizzieren. Bereits dieser war aber nur möglich durch einen Schritt in die Politik: Eine christlich-soziale Bewegung brachte die Impulse der Lehre politisch zur Geltung und trug zu ihrer Umsetzung in Reformen bei. Sodann kommt die Ausweitung der kirchlichen Sozialverkündigung auf die zentralen politischen Probleme unseres Jahrhunderts, auf Menschenrechte und Demokratie sowie auf Frieden und Entwicklung, zur Sprache. Es handelt sich dabei um eine geschichtlich herausgeforderte Weiterentwicklung aus dem sozialphilosophisch-naturrechtlichen Denkansatz der älteren Lehre, zugleich allerdings auch um eine biblisch-theologische Vertiefung. Es wäre aber eine Fehldeutung von Selbstverständnis und Absichten kirchlicher Sozialverkündigung und katholischer Soziallehre, sie auf politische Theologie zu reduzieren. Diese Lehre wollte nie bei einer biblisch begründeten Kritik stehenbleiben, sondern vernünftig begründbare Forderungen zur Ordnung von Gesellschaft und Staat in öffentlicher Diskussion und Politik wirksam machen. Dazu müssen diese Forderungen allerdings in den neueren Problemfeldem ebenso in die institutioneilen Bedingungen politischer Gestaltung übertragen werden, wie das bezüglich der Sozialen Frage gelang. Andernfalls droht der katholischen Soziallehre die Gefahr, zu einer der heutigen Varianten eines unpolitischen Moralisierens zu degenerieren. Die entscheidende Frage politischer Ethik heißt, wie man das prinzipiell Gute oder Bessere in Recht und Institutionen wirksam machen kann.

Am 15. Mai 1891 erschien die erste päpstliche Sozialenzyklika: Rerum novarum. Eine Erinnerung an dieses Datum ist unter verschiedenen Aspekten möglich. Man könnte in einer historisch-kritischen Analyse die Leistungen und Defizite der Kirche, der katholisch-sozialen Bewegung und der kirchlichen Soziallehre im Bemühen um die Lösung der sozialen Frage prüfen. In einer ideen-und sozial-geschichtlichen Textanalyse könnte die weitere Entfaltung der kirchlichen Sozialverkündigung in ihrem geschichtlichen Kontext bis heute untersucht und nach dem heutigen Stand kirchlicher Sozialverkündigung und katholischer Soziallehre gefragt werden. Dies alles wären wichtige, aber auch sehr anspruchsvolle, den hier gegebenen Rahmen sprengende Vorhaben. Wir wählen einen bescheideneren Ansatz, der aber zugleich, weil er gewissermaßen quer zu den eben genannten Aspekten steht, unter einer spezifischen Frage von diesen Wichtiges aufnimmt. Wir fragen, inwiefern die katholische Soziallehre, wie sie sich in den offiziellen Dokumenten kirchlicher Sozialverkündigung darstellt, zu einer politischen Ethik etwas beiträgt, nach der allenthalben gerufen und gesucht wird.

I. Der Beitrag der katholischen Soziallehre zur Lösung der sozialen Frage

Immer wieder wird der Vorwurf erhoben, die Kirche habe in der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts versagt. Die Würzburger Synode nannte es einen „fortwirkenden Skandal“, daß die Kirche einen großen Teil der Arbeiterschaft verloren habe. Eine solche Anklage hat Gründe in der geschichtlichen Realität und ist deshalb als Aufforderung zum kritischen Nachdenken auch für heutiges Verhalten notwendig. Sie ist aber historisch zu pauschal und tut deshalb den Menschen Unrecht, die sich mit leidenschaftlichem Einsatz und mit nicht geringem Erfolg um die Lösung der sozialen Frage bemüht haben. Wollte man die Anklage genauer formulieren, dann müßte man sagen, daß Isich zu wenige Christen früh und tatkräftig genug um die sozialen Probleme der industriellen Revolution gekümmert haben.

Nur ein genauerer Einblick in die Zeitsituation, in Möglichkeiten und Grenzen kirchlichen Wirkens im 19. Jahrhundert, führt zu einem zutreffenden Urteil. Ganz ungerechtfertigt und historisch zu widerlegen ist jedenfalls die vergröberte Form der Anklage, die kirchliche Sozialverkündigung und die katholisch-soziale Bewegung hätten wenig erreicht oder seien gar gescheitert. Es läßt sich im Gegenteil zeigen, daß katholische Kräfte bereits früher und schließlich auch besser als der alte Liberalismus und der marxistisch geprägte Sozia-lismus Mittel und Wege gefunden haben, die sich als Hilfen zur Lösung der sozialen Frage in den Industrieländern bewährten und sich heute allgemeiner Anerkennung erfreuen. Allerdings war das in Praxis und Theorie ein mühsamer Prozeß, der nicht mit dem Entwurf eines geschlossenen Reformkonzepts oder gar eines alternativen Ordnungsmodells begann, wie sich das manche in Überschätzung gesellschaftlicher Theorien auch heute noch wünschen. 1. Richtungssuche Um ein zutreffendes historisches Urteil zu fällen, muß man wissen, daß die Kirche nach Revolution und Säkularisation im 19. Jahrhundert in jeder Hinsicht neu beginnen mußte. Die kirchliche Organisation war weithin zerstört und ihrer materiellen Grundlagen beraubt, Stiftungen, Bildungs-und Sozialeinrichtungen waren zerschlagen. Der mühsame Wiederaufbau nahm lange Zeit viele Kräfte in Anspruch. Zu diesem Wiederaufbau gesellte sich als neues Element im Laufe des 19. Jahrhunderts eine immer breiter werdende caritative Bewegung, die am Ende des Jahrhunderts z. B. in Deutschland mehr als 10 000 Einrichtungen der verschiedensten Art umfaßte. Freilich hatte man inzwischen längst erkannt, daß die soziale Frage nicht durch Caritas zu lösen war. Auf der Suche nach einer strukturellen Lösung der sozialen Frage bildeten sich im europäischen und besonders auch im deutschen Katholizismus zwei Richtungen, eine sozialreformerische und eine sozialpolitische, heraus Sie konkurrierten besonders in der Frage, wie man sich zu der neuen Wirtschaftsweise des Kapitalismus und zur Industriegesellschaft stellen solle, bis weit ins 20. Jahrhundert miteinander. Die sozialreformerische Richtung verfocht die Idee einer ständischen Sozialreform, d. h. sie suchte die Lösung der Arbeiterfrage in der Wiederherstellung einer in Stände gegliederten Gesellschaft. Soziale Sicherheit sollte aus der Zugehörigkeit zu einem Stand gewonnen werden. Die Prinzipien kapitalistischen Wirtschaftens, Marktorientierung, Erwerbsstreben und individuelle Leistungsbemessung wurden mit Mißtrauen betrachtet und von manchem Vertreter dieser Richtung ausdrücklich abgelehnt.

Die sozialpolitische Richtung dagegen stellte sich grundsätzlich positiv zur neuen Wirtschaftsweise. Sie erkannte ihre Leistungen im Angebot an Arbeitsmöglichkeiten und in der Steigerung des Wohlstandes an. Ihre Kritik richtete sich auf die eklatanten Mängel im sozialen Bereich, besonders auf die Existenzunsicherheit der Lohnarbeiter, auf deren gesundheitliche Gefährdungen am Arbeitsplatz und auf die negativen Folgen der neuen Entwicklung für die Familie. Organisierte Selbsthilfe der Betroffenen und staatliche Sozialpolitik wurden als die beiden Wege der Abhilfe erkannt und dann auch beschritten.

Man darf sich allerdings diesen Prozeß nicht so vorstellen, als seien die beiden Richtungen von Anfang an klar unterscheidbar oder gar als ab-grenzbare Gruppen erkennbar gewesen. Vielmehr bemühten sich einzelne herausragende Persönlichkeiten um theoretische Klärung und um die Begründung von Reformvorschlägen, indem sie sich mit praktischen Problemen auseinandersetzten. Als im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine organisierte katholisch-soziale Bewegung öffentlich hervortrat und politisch wirksam wurde, folgte sie im wesentlichen der sozialpolitischen Richtung, weil Chancen sichtbar wurden, auf diese Weise etwas zu bewirken.

Die Anfänge dieser Bemühungen reichen in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Erste Vorstöße und Vorschläge von katholischer Seite wurden teils vor (Freiherr von Buß 1837), teils gleichzeitig mit dem Kommunistischen Manifest von Marx und Engels (Gebrüder Reichensperger 1848) geäußert. Die entscheidende Wendung vom rückwärtsgewandten ständischen Denken zu zukunftsorientierter Sozialpolitik bewirkte jedoch im deutschen Katholizismus Bischof Freiherr Wilhelm Emanuel von Ketteier (1811-1877), da er in seinen eigenen praktischen und theoretischen Bemühungen diesen Weg selbst ging. Als Priester und Bischof war er zeitlebens ein tatkräftiger Gründer und Förderer caritativer Einrichtungen. Er war unbefangen genug, über grundsätzliche Reformen sowie über Modelle wie die Produktivgenossenschaft nachzudenken. Aber gerade seine prinzipielle Orientierung, etwa an der thomistischen Naturrechtslehre, befähigte ihn auch, als zeitweiliger politischer Mandatsträger sehr konkrete sozialpolitische Schritte vom Staat zu fordern. So trat er besonders für gesetzlichen Arbeiterschutz und für das Recht der Gewerkschaftsbildung ein und bemühte sich um die theoretische Klärung der Eigentumsfrage. Ohne Kettelers Bemühen ist die erste Sozialenzyklika nicht gut vorstellbar. Ohne seine praktische Tätigkeit im kirchlichen und politischen Feld ist auch der Aufschwung der katholischen Bewegung in Deutschland kaum denkbar.

Rerum novarum steht 1891 jedenfalls nicht am Anfang kirchlicher Bemühungen um die Lösung der sozialen Frage; die Enzyklika ist vielmehr bereits eine erste Bündelung gewonnener Orientierungshilfen. Sie verwarf den Versuch einer kollektivistisch-sozialistischen Lösung und plädierte für eine Kombination solidarischer Selbsthilfe der Arbeiterschaft mit sozialpolitischen Reformen des Gesetzgebers, die von der christlich begründeten und kirchlich geförderten Solidarität zwischen den Kräften der Gesellschaft untermauert werden sollten 2. Phasen sozialpolitischer Wirksamkeit Am deutschen Beispiel soll im folgenden skizziert werden, was unter maßgeblichem Einfluß katholischer Soziallehre und katholisch-sozialer Bewegung an sozialpolitisch-institutionellen Reformen schrittweise erreicht wurde. Organisatorisch entwickelte sich die katholisch-soziale Bewegung in drei Säulen, die rechtlich unabhängig voneinander, aber personell vielfältig verbunden waren, nämlich in den katholischen Sozialverbänden, in den christlichen Gewerkschaften und in der Zentrumspartei. Was die Wirkmöglichkeiten und die Wirksamkeit dieser Bewegung betrifft, muß man drei Phasen deutlich unterscheiden.

Die erste Phase reichte von der Reichsgründung 1871 bis zum Ersten Weltkrieg. Die politische Konstellation, nämlich die Stellung des Zentrums im Reichstag zwischen Liberalen und Konservativen, ermöglichte dem Sozialkatholizismus, eine Reihe von Reformen zu unterstützen, teils sie auch maßgeblich zu gestalten. Die Schwerpunkte waren einerseits die gesetzlichen Sozialversicherungen (Kranken-, Unfall-und Altersversicherung) in den achtziger Jahren, also noch zur Zeit Bismarcks, andererseits die Arbeiterschutzgesetze nach der Entlassung Bismarcks (Sonntagsruhe, Schutz für Jugendliche und Frauen, Gesundheitsschutz, Gewerbeaufsicht, Arbeiterausschüsse).

Die zweite Phase ist die Zeit der Weimarer Republik. Die politische Konstellation brachte das Zentrum, diesmal zwischen Sozialdemokratie und den bürgerlich-liberalen Parteien, wieder in eine Schlüsselstellung. Mit dem katholischen Geistlichen Heinrich Brauns stellte das Zentrum 1920-1928 den Arbeitsminister. An Schwerpunkten sozialpolitischer Gesetzgebung sind, zum Teil als Vollzug von Aufträgen der Weimarer Verfassung, zu nennen: das Betriebsrätegesetz (1920), die Reichsfürsorgeverordnung (1924), das Tarifvertragsgesetz und die Arbeitsgerichtsbarkeit (1926) sowie die Arbeitslosenversicherung (1927). Diese Reformen sind um so höher zu bewerten, als sie vor dem Hintergrund schwerer Belastungen aus einem verlorenen Krieg mit Inflation und Wirtschaftskrisen durchgesetzt werden mußten.

Die dritte Phase begann mit dem Kriegsende 1945. In diese Zeit ging die katholisch-soziale Bewegung einerseits geschwächt hinein. Die Sozialverbände waren stark dezimiert und mußten erst mühsam wieder aufgebaut werden. Die christlichen Gewerkschaften und die Zentrumspartei bestanden nicht mehr bzw. nur noch als Randgruppen. Andererseits ermöglichte die Verbindung von katholisch-sozialen mit evangelischen, konservativen und liberalen Kräften in den Unionsparteien und deren Regierungsposition bis 1969 einen nicht unbeträchtlichen Einfluß des katholisch-sozialen Gedankenguts auf die Gestaltung der Sozialordnung. Die nach dem Krieg zunächst erneut geführte Auseinandersetzung zwischen prinzipiellen Alternativen, nämlich einem christlichen Sozialismus und einer sozial gezähmten Marktwirtschaft, wurde im deutschen Katholizismus zugunsten der letzteren entschieden. An Schwerpunkten sozialpolitisch-institutioneller Reformen der fünfziger und sechziger Jahre sind zu nennen: die Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen (1951/52); die Eigentumspolitik (mit beträchtlichem Erfolg im Wohnungsbau und in der Sparförderung, mit einem gewissen Erfolg im Lastenausgleich, mit geringem Erfolg in der Streuung des Eigentums an Produktivkapital); die Rentenreform mit Einführung der „dynamischen Rente“ (1957); die Reform von Sozialhilfe und Jugendwohlfahrt mit dem Vorrang für die freien Träger (1961); die Bemühungen um einen Familienlastenausgleich (durch Kombination unterschiedlicher Wege, aber ohne durchgreifenden Erfolg) sowie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (1969).

Die hier aufgelisteten Reformen sollen nicht allein für die katholisch-soziale Bewegung in Anspruch genommen werden. Die katholischen Kräfte mußten immer politische Koalitionen eingehen, um wenigstens einen Teil ihrer Vorstellungen durchzusetzen. Dabei mußten einerseits Abstriche gemacht werden, andererseits verbreiteten sich so Denkweisen und Ordnungsvorstellungen der christlich-sozialen Kräfte auch bei anderen Gruppen. Dieser Prozeß führte zur Annäherung von Positionen, die zuvor unvereinbar schienen, und zur allmählichen Ausgestaltung einer Wirtschaftsund Sozialordnung, die die Effizienz der Marktwirtschaft mit sozialem Ausgleich verband und so die Gefahr der Entwicklung einer kapitalistischen Klassengesellschaft bannte, die von Marx vorausgesagt worden war.

Katholische Soziallehre und katholisch-soziale Bewegung konnten also die soziale Frage nur im Verein mit anderen Kräften lösen. Aber die gefundenen Lösungen liegen durchweg näher bei den Grundpositionen der katholischen Soziallehre als bei denen des alten Liberalismus und des marxistischen Sozialismus. Insofern kann man sagen, daß die kirchliche Sozialverkündigung und die an ihr orientierten politischen Kräfte erfolgreich gewesen sind. Gegen den klassischen Liberalismus konnten Koalitions-und Streikrecht, Mitbestimmungsrechte in Betrieb und Unternehmen sowie Arbeits-und Sozialversicherungsrecht, gegen den marxistisch geprägten Sozialismus der Vorrang der freien gesellschaftlichen Initiativen und Kräfte vor dem Staat im Bereich des Wirtschaftens und das Recht auf Privateigentum auch an Produktionsmitteln durchgesetzt werden.

Heute scheinen diese Grundpositionen bei uns Allgemeingut der bestimmenden sozialen und politi-sehen Kräfte zu sein. Das ist wohl einer der Gründe dafür, weshalb die katholische Soziallehre an Geschlossenheit und an Wirksamkeit verloren hat. Das heißt keineswegs, sie hätte auf ihrem ursprünglichen Feld, dem Sozialen im engeren Sinn, keine Aufgaben mehr. Vielmehr zeigen sich heute alte Aufgaben in neuer Gestalt, und es sind neue hinzugetreten. Erinnert sei nur an die strukturelle Benachteiligung der Familie, die heute um so deutlicher hervortritt, je selbstverständlicher die Berufstätigkeit der Frau wird, und beispielsweise an Notstände im Bereich der Pflegeberufe, an die Situation ausländischer Arbeitnehmer und anderer „Randgruppen“.

Für die Frage, um die es uns hier geht, ist ein anderes Fazit aus den bisherigen Überlegungen wichtig. Die sozialpolitischen Reformen zur Lösung der sozialen Frage waren nur auf politischem Weg durchzusetzen. Staatliches Gesetz mußte sowohl der gewerkschaftlichen Selbsthilfebewegung der Arbeiterschaft bis zum Streikrecht und der Tarifhoheit hin Raum schaffen als auch die soziale Sicherung der Arbeitnehmer für die Grundrisiken des Lebens durchsetzen. Um die katholische Soziallehre wirksam zu machen, mußte die katholisch-soziale Bewegung auch zu einer unmittelbar politisch wirkenden Kraft werden. Dieses geschah in Deutschland und in einigen unserer Nachbarländer durchaus in einer gewissen Distanz zu den Vorstellungen Papst Leos XIII., der die katholisch-soziale Bewegung als eine sich auf den vorpolitischen Raum beschränkende soziale Kraft verstanden wissen wollte Die Gründe dafür liegen in dem damals ungeklärten Verhältnis der Katholiken zum laizistischen und demokratisch-pluralistischen Staat, wie er aus den Revolutionen hervorgegangen war. In Italien war die „römische Frage“ nicht geklärt, in Frankreich konnten sich viele Katholiken lange nicht anfreunden mit dem Gedanken der Mitwirkung an diesem Staat. In dem Maße, wie es gelang, das Verhältnis der Kirche zum demokratischen Staat positiv zu klären, erledigte sich nicht nur dieses Problem; seitdem konnte sich vielmehr die katholische Soziallehre auch in neuer Weise mit ihrem gedanklichen Instrumentarium über das Soziale hinaus den politischen Fragen der inneren und der internationalen Ordnung der Völker und Staaten zuwenden, wozu sie auch durch die Krisen und Katastrophen unseres Jahrhunderts unübersehbar herausgefordert wurde.

II. Die politische Ausweitung der katholischen Soziallehre

In den Augen mancher Zeitgenossen, auch im innerkirchlichen Raum, ist die katholische Sozial-lehre heute eine relativ bedeutungslos gewordene Randdisziplin für Fragen des „Sozialen“, die zwar für einige betroffene Gruppen von Bedeutung sein mögen, die aber nicht im Zentrum heutiger politischer Auseinandersetzung stehen. Dagegen zitiert man häufig in Fragen der Menschenrechte, des Friedens, der Entwicklung und der Umwelt auch die Päpste unserer Zeit und das Zweite Vatikanische Konzil. Aber viele tun dieses keineswegs im Bewußtsein einer Kontinuität katholischer Sozial-lehre. Sie sehen darin vielmehr Elemente einer „politischen Theologie“, unmittelbar aus dem Evangelium und der christlichen Glaubenslehre gewonnen. Nun trifft es zwar zu, daß die katholische Soziallehre seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil stärker als zuvor auch theologisch argumentiert und ihre Hauptaussagen in Auslegung der biblischen Offenbarung tiefer zu begründen versucht. Dennoch vertrete ich hier die These, daß die kirchliche Sozialverkündigung, indem sie sich seit Pius XII. und Johannes XXIII. entschieden und intensiv allen wichtigen Politikfeldern zuwandte, aus den zuvor bereits gewonnenen Prinzipien der katholischen Soziallehre heraus argumentierte und diese in Auseinandersetzung mit neuen Problemen weiterentwickelte. Man könnte das Bewußtsein von dieser Kontinuität und den Willen zu ihr aus den offiziellen Texten belegen 1. Von der alten Staatslehre zu Menschenrechten und Demokratie Die Behandlung politischer Ordnungsfragen hat im katholischen Denken eine lange Tradition, die weit vor die Entwicklung der neueren katholischen Soziallehre zurückreicht. Ihr Kernbestand war eine sehr prinzipiell, relativ ungeschichtlich formulierte Lehre vom Staat. Der Staat galt als die Ordnungsmacht, die aus der Sozialnatur der menschlichen Person heraus natürlicherweise not-wendig ist, um das irdische Gemeinwohl seiner Glieder wahrzunehmen. Besonders erörterte Fragen waren die nach der Grenze der Staatsgewalt gegenüber dem Gewissen der Person einerseits sowie gegenüber der Kirche andererseits. Die wesentlichen Antworten darauf wurden bereits im Hochmittelalter von Thomas von Aquin formuliert und in der Spätscholastik der beginnenden Neuzeit ausdifferenziert. In dieser Form wurde die Staatslehre bis ins 19. Jahrhundert hinein weiter überliefert. Revolutionen, der Zusammenbruch der christlich geformten Ständegesellschaft und die Kämpfe zwischen Demokratie und neuen diktatorischen Herrschaftsformen zwangen jedoch die Kirche, die überlieferte Lehre zu revidieren. Dieser Prozeß begann mit Leo XIII., und er führte in mehreren Phasen zur Verbindung der naturrechtlichen Substanz der alten Staatslehre mit der Idee der Menschenrechte und mit der Idee der Demokratie.

Nach der Französischen Revolution lehnten in einer ersten Phase die Repräsentanten der Kirche, besonders die Päpste des 19. Jahrhunderts, die Idee individueller Menschenrechte strikt ab. Deren emanzipatorische und revolutionäre Akzentuierung war unvereinbar mit einem traditionellen Denken in ständischen Ordnungen und in der Vorstellung von legitimer Fürstenherrschaft. Menschenrechte und Demokratie schienen auf die Auflösung „natürlicher“ und „gottgewollter“ Bindungen zu zielen.

Die Phase der allmählichen Annäherung begann mit Leo XIII. und reichte bis zu Pius XII. Es überrascht nicht, daß diese Annäherung zuerst auf dem Feld der sozialen Frage erfolgte. Die Bedeutung der Menschenrechte für die politische Ordnung wurde in dieser Phase noch nicht bedacht. In Rerum Novarum findet man vor allem Forderungen nach der Verwirklichung sozialer Rechte, etwa des Rechtes auf Arbeit und auf gerechten Lohn, des besonderen Schutzes für Frauen und Kinder. Auch das Recht auf Privateigentum einerseits und das Koalitionsrecht der Arbeiter andererseits wurde aus der Natur des Menschen als Person begründet. Pius XL setzte mit der Enzyklika Quadragesimo Anno (1931) diese Linie fort, indem er das Eigentumsrecht mit sozialen Pflichten verband und Kriterien für den gerechten Lohn sowie für ein Verhältnis von Arbeit und Kapital entwickelte, das dem Gemeinwohl entsprechen sollte.

Allerdings mußten sich Pius XL und Pius XII. in ihrer Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Kommunismus auch in neuer Weise mit den politischen Ordnungsfragen befassen. Auf diesem Weg wurde die überlieferte Lehre vom Naturrecht positiv als Begründung für personale Menschenrechte ausgelegt. So konnte Pius XII. in seiner berühmten Weihnachtsansprache von 1944 die Menschenrechte als Grundlage wahrer Demokratie und als Voraussetzung einer internationalen Friedensordnung umschreiben. Damit war die dritte, die positive Phase der Beheimatung der Menschenrechte in der katholischen Soziallehre eingeleitet.

Der entscheidende Durchbruch erfolgte allerdings erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, und zwar besonders in der Erklärung über die Religionsfreiheit. Sie beendete die Tradition, für den wahren katholischen Glauben eine öffentliche Schutzpflicht des Staates zu fordern und der Kirche eine indirekte, lehrende Gewalt gegenüber dem Staat zuzuschreiben. Sie stellte nicht mehr das „Recht der Wahrheit“ gegen den „Irrtum“, sondern formulierte ausdrücklich das Recht der Person auf Glaubens-, Gewissens-und Religionsfreiheit. Erst damit war es ohne Vorbehalt möglich, die alte Naturrechtslehre in ihrem Kerngehalt neu zu formulieren und so die Menschenrechte im Sinne katholischer Soziallehre zu begründen.

Danach kommt dem Menschen nicht erst, wie in der vorneuzeitlichen Gesellschaft, als Angehörigem eines Standes Recht zu, vielmehr ist er als Person, die sich im Modus von Sozialität entfaltet, bereits bevor ein Gesetzgeber Rechte positiv festsetzt, ursprünglich Träger von Rechten, freilich auch von Pflichten. Das Naturrecht gründet im Personsein des Menschen, der Begriff der Menschenwürde wird als ein naturrechtlicher Grundbegriff ausgelegt. Deshalb dürfen die ebenfalls natur-rechtlich begründeten Ordnungsprinzipien der katholischen Soziallehre (Gemeinwohl, Solidarität, Subsidiarität) nicht gegen die Rechte der Person ausgespielt werden. Sie sind vielmehr ihrerseits aus dem Personsein des Menschen in der Gesellschaft zu begründen. Soziale und politische Ordnungen sind daher nach Maßgabe der Personrechte zu gestalten.

Auf dieser Linie argumentieren seither die sozialen und politischen Rundschreiben der Päpste. So entwickelte Johannes XXIII. das Konzept einer Friedensordnung zwischen den Staaten auf der Grundlage systematisch dargestellter Menschenrechte (Pacem in terris, 1963). Paul VI. formulierte mit Hilfe der Menschenrechte das Konzept einer „integralen Entwicklung“ in bezug auf die Dritte-Welt-Problematik (Populorum progressio, 1967). Freilich werden die Menschenrechte, noch einmal beim jetzigen Papst verstärkt, zunehmend auch aus der biblischen Offenbarung begründet. Diese soll jedoch die philosophische Begründung aus dem Personsein des Menschen keineswegs ersetzen, sondern vielmehr ergänzen und vertiefen.

Die Aneignung der Idee der Menschenrechte durch die katholische Soziallehre war um so leichter möglich, als auch in ihrem allgemeinen profanen Verständnis und in ihrer verfassungsrechtlichen Interpretation eine einseitig individualistische Auslegung zurückgedrängt wurde. Menschenrechte gelten heute nicht mehr nur im Sinne des alten liberalen Verständnisses als subjektive Abwehr-rechte des Individuums gegenüber dem Staat, sondern sind zugleich Grundlage der öffentlichen, der gemeinsamen verbindlichen Ordnung. Sie bedürfen als Freiheiten aller der institutionellen Sicherung und Abgrenzung, und der soziale Rechtsstaat sucht ständig nach Vereinbarung der grundrechtlichen Freiheiten mit sozialer Gerechtigkeit

Eine vergleichbare Annäherung durch die Über-windung einseitiger Auslegungen vollzog sich im Verhältnis von Kirche und Demokratie. Es gab in der Französischen Revolution frühe Ideen von einer „christlichen Demokratie“, die jedoch untergingen im radikalen, laizistischen und messianischen Demokratieverständnis, welches das Prinzip der Volkssouveränität verabsolutierte und so, wie zutreffend formuliert wurde, einen „umgestülpten Absolutismus“ (Hans Maier) vertrat. Die offizielle Kirche machte dagegen ihrerseits Front, weil sie ihre eigene Freiheit mit Recht bedroht sah

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entdeckte jedoch eine christlich-soziale Bewegung in mehreren europäischen Ländern bald den Wert demokratischer Freiheiten für sich selbst und für die Kirche. In der katholischen Staatslehre besann man sich auf die alte thomistische Position vom Ursprung der Staatsgewalt, wie sie am Beginn der Neuzeit bei den Spätscholastikern ausformuliert vorlag. Danach ist die Staatsgewalt ursprünglich nicht, etwa im Sinne eines Gottesgnadentums, die Gewalt eines einzelnen Machtträgers über die ihm Unterworfenen. Die Staatsgewalt liegt vielmehr, gerade weil der Staat zur natürlichen Ordnung gehört, ursprünglich beim gesamten Volk und ist die Befugnis der Gesamtheit über alle einzelnen, eine dem Gemeinwohl dienende Ordnung zu errichten. In welcher Form diese dann errichtet wird, gilt als eine sekundäre, eine geschichtlich zu entscheidende Frage.

Auf dieser Grundlage konnte wiederum Leo XIII. die prinzipielle Neutralität der kirchlichen Lehre gegenüber den Staatsformen erklären. Mit dem Konzept der Demokratie konnte man sich in dem Maße anfreunden, wie das Prinzip der Volkssouveränität in die Ordnung eines freiheitlichen Verfassungsstaates eingefügt wurde. In dieser Ordnung bindet sich der Souverän, also das Volk, selbst an vorgegebene Rechte der Person und erkennt die Rechte der freien gesellschaftlichen Gruppen an. Der demokratische Verfassungsstaat ist also zugleich Rechtsstaat, der die Gewalten teilt, ihre Übertragung befristet, der in der Findung des Gemeinwohls auf die ständige Mitwirkung der Bürger und der freien Gruppierungen setzt, der sich, anders als der liberale Nachtwächterstaat, auch zu seinen sozialen und kulturellen Aufgaben bekennt. Diese politische Ordnung entspricht viel eher den Prinzipien katholischer Soziallehre als jede andere heute in der Welt vorfindbare. Bei Johannes Paul II. erscheint die auf Menschenrechte gegründete Demokratie geradezu als Ausdruck des Wesens des Staates, wenn er sagt, die politische Gemeinschaft bestehe darin, daß die Gesellschaft, die sie bildet, das Volk also, Herr ihres eigenen Geschickes sei In seiner Sozialenzyklika Sollicitudo rei socialis (1987) macht er diesen Gedanken auch zu einer Reformforderung gegenüber vielen Entwicklungsländern. Die „Gesundheit“ einer politischen Gemeinschaft, so der Papst, finde ihren Ausdruck in der freien und verantwortlichen Teilnahme aller Bürger am öffentlichen Leben, in der Rechtssicherheit und in der Achtung und Förderung der Menschenrechte. Diese Komponenten einer gesunden Gesellschaft seien notwendige Bedingungen und sichere Garantien für eine gute Entwicklung 2. Vom „gerechten Krieg“ zum gerechten Frieden Daß die kirchliche Sozialverkündigung sich seit dem Zweiten Weltkrieg intensiv mit der Kriegs-und Friedensfrage befaßt hat, ist unübersehbar. Wir begegnen hier einem der alten Staatslehre vergleichbaren Tatbestand. Die Lehre vom „gerechten Krieg“ wurde in der Form, an der man bis in unser Jahrhundert festhielt, bereits am Ende des Mittelalters von den Theologen der Spätscholastik ausformuliert. In ihrer Erstarrung wurde sie immer unbrauchbarer bzw.dem Mißbrauch ausgesetzt. Die neuen Probleme unseres Jahrhunderts erzwangen dann eine prinzipielle Revision. Will man deren Ergebnis auf eine Formel bringen, so kann man sagen, daß es nicht mehr um „gerechten Krieg“, sondern um gerechten Frieden geht

Damit ist die alte Lehre nicht in jeder Hinsicht überholt. Ihre Absicht war keineswegs, Krieg unbesehen zu rechtfertigen. Ihre Voraussetzung war vielmehr die Pflicht des Staates, seine Bürger gegen Unrecht zu schützen und gegenüber der Souveränität der Einzelstaaten auf ein Recht der Staatengemeinschaft hinzuweisen. Daß Krieg ein Übel sei, hat die Lehre vom gerechten Krieg vorausgesetzt. Sie wollte Kriterien dafür bereitstellen, in der konkreten Situation das geringere Übel bestimmen zu können; es ging also um Hilfen zur Güterabwägung zwischen Krieg und anderen Übeln. Aber schon die revolutionären, die nationalen und imperialen Kriege des 19. Jahrhunderts sprengten den gedanklichen Kontext der alten Lehre, nämlich die Idee einer Rechtsgemeinschaft der Staaten. Sodann stellten die beiden Weltkriege die Kriterien der Verhältnismäßigkeit der Mittel und ihrer Kontrollierbarkeit in Frage. Schließlich haben die modernen Massenvernichtungswaffen die Frage erzwungen, ob und wie man Krieg institutionell unmöglich machen könne.

Die kirchliche Sozialverkündigung wandte sich wiederum mit Pius XII. diesen Fragen neu zu. Er reduzierte das Recht des Staates zum Krieg auf ein Recht zur Verteidigung und forderte ein international wirksames Verbot des Angriffskrieges. Von ihm stammt auch die sittliche Verurteilung des totalen Krieges, die sich das Konzil im Blick auf die Massenvernichtungswaffen zu eigen gemacht hat. Johannes XXIII. entwickelte 1963 in seiner Friedensenzyklika die Grundlinien einer innerund zwischenstaatlichen Ordnung aus dem Prinzip der personalen Menschenwürde, die aufbauend auf den Menschenrechten den Krieg überwinden sollte. Auf dieser Linie blieben die offiziellen kirchlichen Verlautbarungen während des Kalten Krieges und vermieden es so, sich in der unfruchtbaren Alternative eines Ja oder Nein zur Abschreckungsstrategie zu verirren. Diese Strategie wurde nur bedingungsweise als moralisch noch annehmbar erklärt, nämlich als glaubwürdig begründbares Mittel einer Politik der Kriegsverhütung, die ihre Risiken verantwortlich kalkuliert und über Verhandlungen und Vereinbarungen zu einer anderen Form der Friedenssicherung zu gelangen versucht

Damit erhielt der Friedensbegriff eine dynamische und zukunftsorientierte Komponente. Friede wird seitdem nicht mehr verstanden als Schutz oder Wiederherstellung einer bestehenden, gestörten Ordnung, sondern als Entwicklung einer neuen Ordnung zwischen den Staaten und Völkern. In einer Weltfriedensordnung soll die Institution Krieg durch gemeinsame rechtlich-politische Institutionen der Völker, die auf weltweiter Solidarität aufbauen und in ihren Zuständigkeiten am Prinzip der Subsidiarität orientiert sind, überwunden werden. Das Ziel, das die kirchlichen Dokumente beschreiben, ist nicht ein Weltstaat, sondern eine Weltföderation. Diese wird zur Wahrnehmung eines über die Möglichkeiten des Einzelstaates hinausgehenden Weltgemeinwohls als notwendig erachtet. Die Orientierung dieser neuen kirchlichen Friedenslehre an den Prinzipien der katholischen Soziallehre ist also ganz offenkundig. 3. Entwicklung als internationale soziale Frage Das dynamische Moment der kirchlichen Friedens-lehre kommt besonders deutlich zum Ausdruck in der Unterscheidung von Friedenssicherung und Friedensförderung. Während Friedenssicherung sich auf die Verhinderung von Krieg richtet und auch in einer gelingenden Weltföderation nötig bleiben wird, zielt Friedensförderung auf die Stärkung der Kräfte des Friedens in und zwischen den Völkern und auf die Verringerung von Konflikt-möglichkeiten. Von den zahlreichen Wegen der Friedensförderung, die in den Dokumenten genannt werden, sind die wichtigsten das Bemühen um Durchsetzung der Menschenrechte und um mehr soziale Gerechtigkeit zwischen den armen und den reichen Völkern. Darin verbindet sich die Entwicklungsproblematik eng mit der des Friedens. Etwas verkürzend und formelhaft konnte so Paul VI. sagen, Entwicklung sei der neue Name für Frieden Damit war keine Gleichsetzung gemeint, aber eben doch eine enge Verbindung, die auf der Erkenntnis beruht, daß krasse soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit die gewaltsame Austragung von Konflikten begünstigen und so den Frieden gefährden. Wenn nach alter biblischer und christlicher Überzeugung sicherer Friede auf Gerechtigkeit aufbaut, müssen die internationale soziale Frage und die Frage des Friedens in engem Zusammenhang gesehen werden. Der Beitrag, den die katholische Kirche seit mehreren Jahrzehnten in Theorie und Praxis zur Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik leistet, ist unübersehbar und bedarf hier keiner Darstellung. Es gibt dazu zahlreiche Dokumente unterschiedlicher kirchlicher Ebenen und Instanzen, vor allem auch bereits zwei Sozialenzykliken (1967 und 1987). Die kirchlichen Hilfswerke, wie sie in Deutschland und in zahlreichen anderen Ländern seit langem bestehen, können als eine moderne Form christlich-sozialer Bewegung verstanden werden. Wir beschränken uns hier darauf, die normative Struktur des Verständnisses von Entwicklung und Entwicklungspolitik zu skizzieren, wie sie im Bemühen um die theoretische Durchdringung von Entwicklungspraxis gewonnen wurde und in den grundlegenden Dokumenten heute greifbar ist.

Aus dem Fundamentalprinzip der Personwürde des Menschen hat bereits Paul VI. 1967 die Forderung nach „integraler Entwicklung“ begründet, die über das Ökonomische hinaus die soziale, die kulturelle, die religiöse Dimension des Menschseins einbezieht. Daraus folgt, daß Entwicklung nicht ohne Selbstbestimmung und Mitbeteiligung der Betroffenen möglich ist und daß sie die kulturelle Eigenart der Völker zu achten hat. Aus dem Gemeinwohlprinzip, dessen weltweite Geltung seit Johannes XXIII. im Begriff des Weltgemeinwohls betont wird, ergeben sich die grundlegenden Forderungen an die einzelnen Staaten, ihr Eigeninteresse nur noch als „wohlverstandenes Interesse“ im weltweiten Rahmen zu interpretieren und die Hilfe für die ärmeren Völker als eine Forderung der Gemeinwohlgerechtigkeit aufzufassen. Dementsprechend gilt auch das Recht auf Privateigentum nicht als absolut, es muß vielmehr so geordnet und wahrgenommen werden, daß es zur Verwirklichung des allgemeinen Nutzungsrechtes aller Menschen an den Erdengütern beiträgt. Alle diese Forderungen führen zu der Konsequenz, es müßten sowohl im Inneren der Entwicklungsländer als auch im internationalen Wirtschaftsverkehr strukturelle Reformen durchgesetzt werden. In der Sprache der Gerechtigkeitslehre ausgedrückt heißt das, die Entwicklungsprobleme seien nicht allein auf der Basis der Tauschgerechtigkeit zu lösen, sie erforderten vielmehr auch neue Institutionen der austeilenden Gerechtigkeit, und zwar sowohl in als auch zwischen den Staaten.

Dem möglichen Mißverständnis, hier werde für die einzelnen Volkswirtschaften oder gar für die Weltwirtschaft an umfassende und dirigistische Planung gedacht, steht die Betonung des Prinzips der Subsidiarität entgegen. Alle Hilfe soll der Selbsthilfe der Betroffenen dienen, sie soll zur Aktivierung der eigenen Kräfte anregen. Kirchliche Entwicklungsarbeit folgt seit langem einem erheblichen Mißtrauen gegen allzu viel staatliche Planung und Verordnung und hat eine Vorliebe für Entwicklung „von unten“, für überschaubare Projekte, in denen die Betroffenen selbst ihre eigenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse schrittweise verbessern. Auf die Weltwirtschaft angewandt bedeutet das Prinzip der Subsidiarität Hilfe durch Handel, das heißt, die Entwicklungsländer sollten in die Lage versetzt werden, sich mit ihrem eigenen Potential am internationalen Austausch mehr und mehr zu beteiligen. Daraus ergibt sich deutliche Kritik am Protektionismus der Industrieländer und ordnungspolitisch die Aufgabe, eine internationale soziale Marktwirtschaft zu entwickeln.

Freilich ist das Prinzip der Subsidiarität mit dem Prinzip der Solidarität ins Gleichgewicht zu bringen. Aus diesem wird in den kirchlichen Dokumenten mit Nachdruck die Pflicht der Staaten und Völker zu gegenseitiger Hilfe abgeleitet, was wiederum auch die Bereitschaft zur Änderung der eigenen Strukturen einschließt. Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika zur Entwicklungsproblematik (1987) das Prinzip der Solidarität durchgehend zum Leitprinzip seiner Darlegungen gemacht. Er stellt es dar als die in der heutigen Weltlage notwendige Antwort auf die zunehmende Interdependenz der Staaten und Völker.

In der Entwicklungsfrage zeigt sich ebenso wie in der Frage der Friedenssicherung, daß die Stärke der kirchlichen Sozialverkündigung im Prinzipiellen und damit in den normativen Begründungen liegt. Die Konzepte einer Weltfriedensordnung und einer internationalen sozialen Marktwirtschaft, die auf diese Weise begründet wurden, müssen jedoch, wenn sie politisch realisierbar werden sollen, im Kontext der politischen Einzelprobleme von der Zielebene auf die Ebene der politischen Mittel und der politischen Handlungsweisen transformiert werden. Das kann nur schrittweise und in einem langwierigen Prozeß geschehen, der viel Geduld erfordert, aber auch die Kraft, die Ziele in der Gestaltung von Institutionen und in politischen Entscheidungen handlungsleitend wirksam werden zu lassen. So wie die katholische Soziallehre einen erheblichen Beitrag dazu geleistet hat, in den Industrieländern durch institutionelle und strukturelle Reformen die soziale Frage zu lösen, so könnte sie auch Kräfte mobilisieren und motivieren, die dazu beitragen, die Konzepte einer Weltfriedensordnung und einer internationalen sozialen Marktwirtschaft politisch und institu-tionell zu realisieren. Freilich sind diese Aufgaben ungleich größer, die einander widerstreitenden Kräfte, Interessen und Überzeugungen vielfältiger. Um so größer ist auch die Gefahr des Schei-terns und weltweiter Katastrophen, weshalb der Ton der kirchlichen Sozialverkündigung, vor allem auch bei Johannes PaulII., in den letzten Jahren wohl noch kritischer und drängender geworden ist.

III. Katholische Soziallehre als politische Ethik

1. Zwischen politischer Theologie und politischer Ethik Die kirchliche Sozialverkündigung seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wird in ihrer hier dargestellten thematischen Breite von vielen gar nicht mehr als Fortsetzung der traditionellen katholischen Soziallehre verstanden. Manche Katholiken lesen und interpretieren sie als eine „politische Theologie“, das heißt als Versuch, die Auslegung des Evangeliums und die Glaubensverkündigung in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung, vor allem als Kritik an den gegenwärtigen Zuständen, wirksam zu machen und unmittelbar auf politische Fragen anzuwenden. Sozialverkündigung gewinnt dann den Charakter einer „prophetischen“ Gesellschaftskritik, und Vertreter der politischen Theologie sehen darin ihre zentrale Aufgabe. Nun ist solche biblisch begründete Kritik angesichts weltweiter Ungerechtigkeiten, gegenüber Krieg, Menschenrechtsverletzungen, Zerstörung der Schöpfung und menschlicher Kultur weithin berechtigt. Die Verkürzung kirchlicher Sozialverkündigung oder gar der katholischen Soziallehre insgesamt auf solche Kritik wäre jedoch höchst problematisch; sie bliebe politisch und ethisch defizitär.

Innerkirchlich war die theologische Vertiefung der katholischen Soziallehre, wie sie seit dem Konzil erfolgte, ein wichtiger Vorgang. Sozialverkündigung und Soziallehre der Kirche dürfen in christlicher und kirchlicher Praxis keine Randexistenz führen. Sie sind, wie Johannes XXIII. sagte, integrierender Bestandteil der christlichen Lehre vom Menschen Sie gehören also zur Mitte dessen, was Kirche heute den Menschen zu sagen versucht. Das muß für den Christen aus der Mitte des Evangeliums begründbar sein. Aber weil diese Lehre über den Kreis gläubiger Katholiken und Christen hinaus in den Dialog mit anderen Menschen und Gruppen eintreten und politisch wirken will, darf sie sich nicht auf theologische Sprache und auf moralisierende Anwendung von Glaubenswahrheiten beschränken. Sie liefe dann Gefahr, außer-kirchlich gar nicht verstanden zu werden, wirkungs-und folgenlos zu bleiben. Die Verkürzung auf moralische Anklage und Appell gibt keine Hilfe für die Suche nach Problemlösungen im Konkreten, auf die es aber ankommt.

Wenn z. B. Johannes PaulII. in einer „theologischen Analyse“ der modernen Probleme Profit-und Machtgier als die entscheidenden Verhaltensweisen dingfest macht, die der zweigeteilten Welt des Kalten Krieges in „liberalen Kapitalismus“ einerseits und „marxistischen Kollektivismus“ andererseits zugrunde lägen, dann mag das in der Perspektive einer christlich-theologischen Anthropologie zutreffen Aber man kann auf dieser Ebene der Argumentation nichts mehr beweisen und nichts widerlegen. Vor allem bleiben für politische Reformen zur Änderung der „Strukturen der Sünde“, die der Papst im gleichen Dokument fordert, diese Kategorien unwirksam, da sie nicht positiv politisch operationalisierbar sind.

Eine Wirschaftsordnung und eine politische Ordnung sind gerade deshalb nötig, weil es Profit-und Machtgier immer gibt und geben wird. Diese sozialschädlichen Neigungen der Menschen müssen normativ und institutionell durch eine politisch zu setzende und zu sichernde Ordnung in die Schranken gewiesen und kompensiert werden. Überwinden oder beseitigen kann Politik sie nicht. Das ist die ethische Quintessenz sowohl der sozialen Marktwirtschaft als auch des demokratischen Verfassungsstaates.

Damit sind wir beim entscheidenden Punkt politischer Ethik. Diese hat drei wesentliche Dimensionen, die gleichermaßen zu entfalten sind und nicht voneinander getrennt werden dürfen: die Zieldimension, die Dimension der Mittel, die Dimension der Handlungs-und Verhaltensweisen. In der Ziel-dimension ist katholische Soziallehre als politische Ethik am stärksten entfaltet, was in der bisherigen Darstellung hinlänglich deutlich wurde. In der Verhaltensdimension neigt sie zu einem religiös begründeten individual-moralischen Appellieren. Meine Erklärung dafür lautet, daß dies in der zu geringen Entfaltung der Dimension der Mittel, in einem Defizit an Aussagen über gesetzlich-institutionelle Wege zu den großen Zielen begründet ist, die sich aus der personalen Basis der Lehre und aus ihren Prinzipien ergeben. Handlungs-und Verhaltensweisen sind nur dann politisch und erfolgreich im Sinn der ethischen Ziele von Politik, wenn sie den institutionell bedingten und begrenzten Möglichkeiten von Politik gerecht werden. Moralisch Wünschenswertes muß in diese Bedingungen von Politik übersetzt werden. 2. Politische Ethik als Institutionen-und Tugendethik Will katholische Soziallehre als eine Ethik politischen Denkens und Handelns wirksam werden, und angesichts ihrer Ausweitung auf alle Politikfelder muß sie dies wollen, dann muß sie ihre sozial-ethische Seite präziser als Ethik politischer Institutionen, ihre individualethische Seite vorsichtiger als Ethik politischer Tugenden, und zwar beide in ihrer gegenseitigen Bedingtheit entfalten.

Es ist hier nicht der Ort, eine Theorie der Institutionen vorzutragen. Es soll nur ein Grundgedanke entwickelt werden, bezogen auf die für die katholische Soziallehre zentralen Prinzipien der Personalität und des Gemeinwohls. Institutionen einer politischen Ordnung haben den Sinn, die Interessen der Personen und Personengruppen möglichst gesichert zur Entfaltung kommen zu lassen und sie zugleich mit dem Gemeinwohl der Gesamtheit zu vereinbaren, sie für dieses nutzbar zu machen. Damit ist jeder moralisierenden Geringschätzung der Interessen eine Absage erteilt. Den Menschen als Person zu verstehen, heißt gerade, ihn als das interessierte Wesen zu verstehen. Person entfaltet sich intentional, in Ausrichtung auf die vielfältigen Werte der Schöpfung und des menschlichen Miteinanders. Allerdings müssen die vielen Interessen in ihrer Konkurrenz angesichts von Konfliktmöglichkeiten, angesichts der immer möglichen Benachteiligung und Unterdrückung Schwächerer und besonders auch angesichts möglicher Gewaltsamkeit nach Regeln miteinander vereinbart und durch Institutionen auch dem Gemeinwohl dienstbar gemacht werden.

So hat etwa die Institution persönlichen Eigentums den Sinn, die sorgsame und wirksame Nutzung der knappen Güter in persönlicher Freiheit zu ermöglichen und diese Nutzung zugleich rechtlich so zu umschreiben, daß sie anderen nicht schadet, sondern zugleich auch zu öffentlicher Wohlfahrt beiträgt. Wohlgemerkt soll das die Institution leisten, nicht aber die moralische Anstrengung der Eigentümer. Diese sollen ihrem Interesse folgen und sich dabei darauf verlassen können, daß sie bei Nutzung ihres Eigentums nach geltendem Recht moralisch nichts Falsches tun. Institutionen sollen auch und gerade von ständiger moralischer Anstrengung entlasten. Sie sollen das Miteinander der Vielen in ihren unterschiedlichen Interessen durch rechtliche Regelung entmoralisieren. Oswald von Nell-Breuning sah einen Hauptvorteil sozial geordneter Marktwirtschaft im Vergleich zur zentral gelenkten Wirtschaft darin, daß erstere die Menschen moralisch weniger in Anspruch und Pflicht nehme. Auch Moral sei ein knappes Gut, meinte er, mit dem Politik haushälterisch umgehen müsse

Hingegen ist bei vielen Christen die Meinung verbreitet, diejenige Ordnung sei die bessere, sei die moralisch höherstehende, die die einzelnen und Gruppen für das Gemeinwohl möglichst umfassend in Pflicht nimmt. Daß aber das Gemeinwohl kein über den gesellschaftlichen Kräften frei schwebendes, von der Entfaltung und vom Wohlergehen der Person unabhängiges Gut ist, wird dabei übersehen. Eine politische Ordnung, die ihre Bürger ständig moralisch an die Kandare nimmt, statt Recht zu setzen und für gute Institutionen zu sorgen, macht die Menschen unfrei und pervertiert zugleich die Politik. Denn der moralische Kern des Menschen, seine Moralität, sein Gewissen, wie wir in christlicher Tradition sagen, entzieht sich dem äußeren Zugriff. Wer diesen dennoch versucht, verletzt die Würde der Person. Das alles ist aus den Prinzipien der katholischen Soziallehre gut begründbar.

Politik soll sich also nicht anmaßen, die Menschen grundsätzlich ändern oder moralisch bessern zu wollen. Sie hat Vorkehrungen für ein erträgliches, ein einigermaßen friedliches und gerechtes Miteinander zu treffen, weil die Menschen nun einmal so sind, wie sie nach aller Erfahrung sind, und wie gerade auch die christliche Verkündigung sie kennt. Es ist eine widerspruchsvolle Zumutung, die manche politisierenden Theologen an Politik richten, sie solle auf die Bekehrung der Menschen zielen oder gar von der „Umkehr“ im biblischen Sinn ausgehen. Die Praxis kirchlicher Seelsorge setzte dagegen immer voraus, daß Umkehr im Sinne des Evangeliums immer wieder neu zu geschehen habe, daß sie immer nur partiell gelinge und wir keineswegs aus menschlicher Kraft eine heile Welt herstellen könnten. Wie also sollte ausgerechnet Politik dazu kommen, eine solche vor-auszusetzen, statt in ihren Gesetzen und in der Gestaltung der Institutionen auch mit dem Bösen, wenn auch nicht nur mit diesem, zu rechnen?

Die Kunst der Politik und damit ihr Ethos besteht demnach darin, eine gute Ordnung der Gesellschaft freier Menschen zu gestalten und zu sichern, die zugleich die moralischen Defizite unseres Menschseins einigermaßen kompensiert. Eine solche Ordnung hat als wesentliche Ziele den inneren und äußeren Frieden in Freiheit und sozialer Gerechtigkeit und ist in dem Maße, wie die Realisierung dieser Ziele gelingt, identisch mit dem, was katholische Soziallehre im Begriff des Gemeinwohls dem Staat als Finalursache zuschreibt. Dieses Gemeinwohl zu realisieren, bleibt eine ständige Aufgabe, die im Austragen von Interessen-und Zielkonflikten besteht; und die häufig nur durch die Wahl des geringeren Übels erfüllt werden kann, weil alles seinen Preis hat oder, anders gesagt, weil Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zwar zusammengehören, aber in der konkreten Situation auch in Spannung zueinander stehen. Diese Aufgabe erfordert ständiges Bemühen sowohl der politischen Repräsentation als auch der Bürger. Politik kann nicht die endgültig gute Ordnung schaffen, und die katholische Soziallehre zielt keineswegs auf eine solche. Das Gefüge ihrer Prinzipien weist vielmehr mit Nachdruck auf die eben angedeuteten, strukturell gegebenen Spannungsverhältnisse hin. Den Grund dafür sieht sie darin, daß der Mensch als Person zwar alles Gesellschaftliche überragt, aber zugleich seine Personalität nur im Modus von Sozialität entfalten kann.

Im Lichte der katholischen Soziallehre kann man deshalb politische Ethik auch nicht auf Institutionenethik beschränken. Institutionen leisten das, was sie leisten sollen, nicht mechanisch. Vielmehr muß ihr Sinn stets neu von den handelnden Menschen erfüllt werden, und zugleich sind sie dem Mißbrauch ausgesetzt. Das erfordert von den Menschen die Bereitschaft, im Sinne der Institutionen miteinander umzugehen. Das individualethische Verhalten hat also eine politische Seite. Die Gestaltung einer guten Gemeinwohlordnung fordert politische Urteilskraft, Regeltreue, Gesetzes-loyalität, Gemeinsinn, Zivilcourage, Maßhalten im Gebrauch der öffentlich und rechtlich gegebenen Möglichkeiten. Die traditionelle christliche Tugendlehre sah in der Gerechtigkeit die soziale und politische Haupttugend. In der heutigen katholischen Soziallehre spricht man eher von Solidarität, was bei genauerer Prüfung nichts wesentlich anderes meint, aber einen stärker appellativen Charakter hat 3. Die bleibende Aufgabe Die heutige kirchliche Sozialverkündigung ist entschieden von der Überzeugung getragen, daß die Menschen in den westlichen Industriegesellschaften und in den demokratisch verfaßten Staaten künftig mehr an Solidarität aufbringen müssen, wenn die Umwelt-und die Entwicklungsprobleme sowie das damit eng verbundene Friedensproblem einigermaßen erträglich gelöst werden sollen. In der Tat kann man für unsere östlichen Nachbarn, für die Armutsregionen der Erde und für die Kultur der Schöpfung nicht viel erwarten, wenn ausgerechnet die Wohlstandsgesellschaften nach dem Prinzip der Besitzstandswahrung und -mehrung den Löwenanteil ihres Zuwachses an Sozialprodukt jährlich unter sich selbst verteilen. Der hier fortlebende bürgerliche Individualismus, inzwischen im System kollektiver Interessenvertretung in den Egoismus großer Verbände umgewandelt und strukturell verfestigt, ist der katholischen Soziallehre mit Recht verdächtig und bedürfte erheblicher Korrektur durch mehr Solidarität. Nur hat es wenig Sinn, solche Solidarität nur zu predigen, nur appellativ zu fordern. Es müssen vielmehr Wege ermittelt und von der Politik dann auch gegangen werden, um mehr Solidarität gesetzlich und institutionell wirksam zu machen.

Dies gelingt nicht rein theoretisch, nicht durch Entwicklung und Verkündigung einer Lehre, sondern es kann nur in Wechselwirkung von Theorie und Praxis gelingen. Eben dieses ist der christlich-sozialen Bewegung im Bemühen um die Lösung der sozialen Frage früher im Verbund mit anderen Kräften gelungen. Die schrittweise Entwicklung und Durchsetzung gesetzlich-institutioneller Reformen im ökonomisch-sozialen Bereich, wie sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geschahen, stehen nun als Aufgabe vor uns in der ökologischen Reform der sozialen Marktwirtschaft, in der Entwicklungspolitik und in der Friedenssicherung.

Für Entwicklungspolitik erfordert das z. B. eine intensive Auswertung bisheriger praktischer Erfahrungen kirchlicher Entwicklungsarbeit und ihre theoretische Verdichtung zu Modellen einer „integralen Entwicklung“. Diese wäre gekennzeichnet durch Selbstentfaltung der Armen, indem sie ihre eigenen Möglichkeiten im sozio-ökonomischen, kulturellen und politischen Feld entwickeln. Damit wären dann die vom gegenwärtigen Papst geforderten politischen Reformen in Richtung auf Sicherung von Menschenrechten, von Rechtsstaatlichkeit und politischer Beteiligung unmittelbar zu verknüpfen. Entwicklung von unten und strukturelle Reformen der Staaten gehören also zusammen.

Was die internationalen Wirtschaftsbeziehungen betrifft, genügt nicht die Anklage angeblicher Ausbeutungsverhältnisse und der Appell an unsere Solidarität. Vielmehr muß nach zwischenstaatlichen und internationalen Institutionen gesucht werden, die geeignet sind, Ergebnisse von Markt und Tauschgerechtigkeit nach Maßgabe distributiver Gerechtigkeit zu ergänzen und zu korrigieren. Das Ordnungskonzept der sozialen Marktwirtschaft zeichnet sich gerade dadurch aus, daß es die Entfaltung der Marktkräfte, auch in ihrer sozial positiven Wirkung, ermöglicht, daß es aber zugleich institutionell sichert, was der Markt von sich aus nicht leisten kann. An beidem fehlt es international, an Markt wie an gemeinsamen Institutionen. Entsprechende Reformen würden allerdings auf manche Strukturen bei uns erheblich zurückwirken, z. B. auf die europäische Landwirtschaft; aber die davon Betroffenen dürften wir dies nicht allein ausbaden lassen.

Vergleichbares gilt für die Friedenssicherung. Wir erleben zur Zeit aus Anlaß des Krieges am Golf eine neue Welle einer auch christlich motivierten Friedensbewegung. Die berechtigte Anklage bisheriger Versäumnisse der Politik, die moralische Verurteilung kurzsichtiger Aufrüstung einer friedensgefährdenden Diktatur und der Schrecken über die unschuldigen Opfer des Krieges sowie über seine immensen Schäden könnten Anlaß sein, genauer über künftige gemeinsame und institutionell verstärkte Bemühungen von Staatengruppen und der Vereinten Nationen nachzudenken, um Krieg unmöglich zu machen. Instrumente regionaler und weltweiter gemeinsamer Sicherheit gibt es im Ansatz, sie sind entwicklungsfähig.

Im Augenblick ist jedoch zu befürchten, daß das durch den Golfkrieg ausgelöste Erschrecken die Tendenzen eines unpolitischen, antiinstitutionellen Pazifismus auch unter Christen verstärkt. Solche Tendenzen sind bis in die kirchliche Hierarchie hinein festzustellen. Obwohl die kirchliche Lehre über gerechten Frieden eindeutig ist, fehlt es dennoch auch unter Christen weithin an der Einsicht, daß die biblische Weisung der Gewaltlosigkeit, will man sie politisch wirksam machen, gerade nicht die Hinnahme von Gewalt um jeden Preis, sondern vertraglich und institutionell gesicherte Verhältnisse der Gegenseitigkeit und unablässiges Bemühen um die Sicherung und Mehrung von Recht und Gerechtigkeit fordert.

Wer katholische Soziallehre auf politische Theologie reduziert, was konkret immer politisierende Theologie heißt, stärkt vielleicht für gläubige Christen ihren biblisch-christlichen Grundimpuls und ihre gesellschaftskritische Anklage. Er schwächt aber zugleich die politische Wirksamkeit, weil er über Anklage und Kritik hinaus keine positiven Schritte begründen kann oder sie beliebig begründet, indem er zu gerade sich anbietenden sozialwissenschaftlichen Theorien und Modellen Zuflucht nimmt. Dagegen nimmt die katholische Soziallehre mit ihren philosophisch-naturrechtlich begründeten Prinzipien die vom Konzil eingeschärfte relative Eigengesetzlichkeit der weltlichen Sachbereiche und Aufgabenfelder ernst und stellt sich der argumentativen Begründung konkreter institutioneller Lösungen in ihrem Für und Wider. Das haben manche ihrer Vertreter im Feld des Ökonomisch-Sozialen in hervorragender Weise geleistet. Man führe sich nur einmal vor Augen, mit welch unerbittlicher Sachlichkeit ein Oswald von Nell-Breuning Fragen der Sozialpolitik fachlich und zugleich prinzipiell ausgeleuchtet hat. Auf den anderen Politikfeldern, auf die sich kirchliche Sozial-verkündigung ausgeweitet hat, ist das ebenso dringlich, aber bisher nicht genügend geleistet.

Es fehlt keineswegs an Ansätzen dazu. Es gibt z. B. auf den Feldern Entwicklung und Frieden hilfreiche, der breiten Öffentlichkeit wenig bekannte Studien von Fachleuten und Fachgremien zur politischen Konkretisierung der prinzipiellen Konzepte katholischer Soziallehre Es gibt die vielfältigen, teils auch schriftlich fixierten Erfahrungen der kirchlichen Hilfswerke. Es gibt zu zahlreichen Politikfeldern Stellungnahmen katholischer Verbände und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, die aus den Prinzipien der katholischen Soziallehre gedacht sind und häufig in konkrete Vorschläge und Forderungen an politische Instanzen münden Die Gewohnheiten unseres Mediensystems sind allerdings kaum geeignet, diesen Bemühungen größere Resonanz zu verschaf-fen. Selbst eine päpstliche Sozialenzyklika kann sich allenfalls einige Tage öffentlicher Aufmerksamkeit erfreuen. Hingegen ist „Kritisches“, besonders auch Kirchenkritisches, immer gefragt, und deshalb finden manche punktuell zugespitzten Aussagen politisierender Theologen weit mehr Aufmerksamkeit und öffentliches Echo als die vielfältige Arbeit zahlreicher Christen und christlicher Gruppen, die sich bemühen, kirchliche Sozialverkündigung mit Sachverstand und politischer Urteilskraft in ethisch verantwortbare politische Problemlösungen einzubringen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur historischen Entwicklung vgl. Anton Rauscher (Hrsg.), Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803-1963. 2Bde., München 1981/82; Heinz Hurten, Kurze Geschichte des deutschen Katholizismus 1800-1960, Mainz 1986. Die beiden Richtungen sind dargestellt von Lothar Roos in: A. Rauscher, ebd., Bd. 2, S. 52ff.

  2. Die amtlichen Texte sind gesammelt in: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmerbewegung Deutschland (KAB) (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre, Bandl, Kevelaer 19856.

  3. Vgl. Hans Maier, Kirche und Demokratie, Freiburg i. Br. 1972, S. 82 ff. und 108ff.

  4. Man vgl. dazu nur die „Leitlinien für das Studium und den Unterricht der Soziallehre der Kirche“, die 1989 von der Kongregation für das katholische Bildungswesen vorgelegt wurden. Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles, Heft 91, Bonn 1989.

  5. Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 197811, S.

  6. Vgl. Hans Maier, Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie, München 1975.

  7. Vgl. Johannes Paul II., Redemptor hominis, in: Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.) (Anm. 4), Nr. 17, S. 39.

  8. Vgl. Johannes Paul II., Sollicitudo rei socialis, in: Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.) (Anm. 4), Nr. 44, S. 55.

  9. Vgl. Norbert Glatzel/Ernst Josef Nagel (Hrsg.), Frieden in Sicherheit. Zur Weiterentwicklung der katholischen Friedensethik, Freiburg i. Br. 1981.

  10. Vgl. „Gerechtigkeit schafft Frieden“. Wort der Deutschen Bischofskonferenz zum Frieden, Bonn 1983.

  11. Vgl. Populorum progressio, Nr. 76.

  12. Vgl. Mater et magistra, Nr. 222.

  13. Vgl. Sollicitudo rei socialis, Nr. 35 ff.

  14. Vgl. Oswald von Nell-Breuning, Macht, ökonomisches und moralisches Gesetz, in: Die Neue Ordnung, 29(1975), S. 421.

  15. Ausführlicher dazu Bernhard Sutor, Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis Christlicher Gesellschaftslehre, Paderborn 1991.

  16. Vgl. dazu z. B. die inzwischen fast 50Bände umfassende „Wissenschaftliche Reihe“ der Deutschen Kommission Justitia et Pax, in der Expertisen zu zahlreichen Einzelfragen der Friedenssicherung und der Entwicklung veröffentlicht sind.

  17. Neben einem Hinweis auf die Reihe „Berichte und Dokumente“ des Zentralkomitees der deutschen Katholiken sei eigens genannt: Hans Buchheim/Felix Raabe (Hrsg.), Christliche Botschaft und Politik. Texte des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zu Politik, Staat, Verfassung und Recht, Paderborn 19902.

Weitere Inhalte

Bernhard Sutor, Dr. phil., geb. 1930; o. Professor für Politikwissenschaft (Didaktik der Sozialkunde und Christliche Soziallehre) an der Katholischen Universität Eichstätt. Veröffentlichungen u. a.: Politik und Philosophie, Mainz 1966; Grundgesetz und politische Bildung, Hannover-Mainz 1976; Neue Grundlegung politischer Bildung, 2 Bde., Paderborn 1984; Politische Ethik, Paderborn 1991; zahlreiche Aufsätze und Beiträge zur politischen Didaktik, zur politischen Philosophie und Ethik.