Die Initiativen der Bundesländer zu europapolitisehen Fragen sind in der jüngsten Zeit von ihrem Bestreben geprägt worden, die innerstaatliche Willensbildung zur Europapolitik verstärkt zu beeinflussen und von ihrem Bemühen, in der sich bildenden Europäischen Union föderativen Grundsätzen Geltung zu verschaffen. Die politische und wissenschaftliche Diskussion thematisierte in diesem Zusammenhang den Kompetenzverlust der Länder infolge von Souveränitätsabtretungen an die Europäischen Gemeinschaften und die möglichen Zugewinne an Handlungschancen der Landespolitik durch die europäische Integration in einem angestrebten, dreistufig föderativ verfaßten „Europa der Regionen“.
Die Landesregierungen verfolgen das Ziel, durch intensivierte Einflußnahme auf die Europapolitik der Bundesregierung den Abbau ihrer ohnehin schon stark reduzierten Kompetenzen, den sie infolge der europäischen Integration erleiden, auszugleichen. Sie haben die Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte als Mittel benutzt, um ihre Mitwirkung bei der innerstaatlichen Willensbildung in der EG-Politik zu stärken Mit Hilfe eines vom Bundesrat gestellten Antrages zur Änderung des Artikel 24 Abs. 1 Grundgesetz versuchen sie, zukünftige Souveränitätsabtretungen an die Zustimmung des Bundesrates zu binden. Ein kürzlich gefaßter Bundesratsbeschluß verlangt die Beteiligung der Länder an der Erarbeitung der deutschen Verhandlungsposition für die bevorstehenden Regierungskonferenzen zur Schaffung der Wirtschafts-und Währungsreform sowie den institutionellen Reformen der EG, als deren Ziel die Politische Union gilt.
Neben dem Ziel, mehr Einfluß auf europäische Entscheidungen ausüben zu können, wollen die Länder aber auch in einem föderativ verfaßten vereinigten Europa ihre autonomen Rechte durch klare Abgrenzungen der Zuständigkeiten gesichert sehen. Mit großer Genugtuung haben die Landes-regierungen die Stellungnahmen des Präsidenten der EG-Kommission, Jacques Delors, vom Mai 1988 beim Treffen mit den deutschen Ministerpräsidenten und bei späteren Gelegenheiten aufgenommen, in denen Delors seine Entschlossenheit bekundete, die Regionen bzw. Länder als integralen Bestandteil einer entstehenden Europäischen Union anzuerkennen und das Subsidiaritätsprinzip zu wahren. Der Bundesrat griff zudem die Regionalismus-Charta des Europäischen Parlaments vom November 1988 auf, um in Zusammenarbeit mit diesem im Zuge der anstehenden institutioneilen Reformen, insbesondere im Zusammenhang mit der Stärkung der demokratischen Teilhabe der Bürger, auch die regionale Autonomie in einer föderativen Struktur und die Teilhabe an den Entscheidungen der EG-Organe zu sichern
I. Die Eigenstaatlichkeit der Länder ist bedroht
Europäische Integration heißt notwendigerweise Abtretung von bundesdeutschen Hoheitsrechten an die Europäischen Gemeinschaften, wie es Artikel 24 Abs. 1 Grundgesetz vorsieht. Der Bund, dem sowohl die Integrationskompetenz nach Artikel 24 Abs. 1 Grundgesetz wie auch die Zuständigkeit für die Außenpolitik nach Artikel 32 Abs. 1 Grundgesetz obliegt, kann Zuständigkeiten, die nicht seine eigenen, sondern solche der Länder sind, ohne deren Zustimmung oder eine Zustimmung des Bundesrates auf europäische oder andere zwischenstaatliche Organisationen übertragen. Damit betrifft das Integrationshandeln des Bundes nicht nur seine eigenen Institutionen, sondern hat auch Auswirkungen auf die Länder und den Bundesrat. Es gibt keine verfassungsrechtlich fixierte Grenze, die eine mögliche weitere Ausdünnung der ohnehin stark reduzierten autonomen Gesetzgebungskompetenzen der Länder beschränkt, außer der des Artikels 79 Abs. 3 Grundgesetz, in dem die Existenz der Länder selbst sowie deren Mitwirkung an der Gesetzgebung garantiert werden
Mit zunehmender Intensität der Integration sehen sich die Länder, die mehr und mehr von Brüsseler Entscheidungen betroffen sind, in ihrer verfassungsrechtlich garantierten Eigenstaatlichkeit bedroht. Der auch von den Ländern gewollte Integrationsprozeß hat eine Dynamik, die sich nicht an der bundesdeutschen vertikalen föderalstaatlichen Gewaltenteilung orientiert, und die SouveränitätsÜbertragungen lassen sich aus europäischer Sicht kaum auf Bundeskompetenzen beschränken.
Die Bundesregierung, die das EG-Mitglied Bundesrepublik Deutschland in Brüssel vertritt, erhält zudem mit der Übertragung von autonomen Landeskompetenzen auf die EG über ihre Mitwirkung in den EG-Institutionen Kompetenzgewinne in Bereichen, die ihr von Verfassung wegen im innerstaatlichen Verhältnis verschlossen bleiben. Unter diesen Gesichtspunkten geben Bund und Länder nicht gleichermaßen Kompetenzen ab, sondern der Bund verzeichnet den Ländern gegenüber einen Gewinn, für den die Länder keinen Ausgleich erhalten
Durch die europäische Integration verlieren die Länder nicht nur Zuständigkeiten, auch das innerstaatliche Gleichgewicht zwischen Bund und Ländern verändert sich zu ihrem Nachteil. Die Kompetenzabgrenzungen sind im Grundgesetz erschöpfend und umfassend geregelt. Änderungen dieser Balance verlangen im Regelfälle eine Verfassungsänderung, die der Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit auch des Bundesrates bedarf. Anders ist es bei der Übertragung von Zuständigkeiten der Länder auf die Europäischen Gemeinschaften. Über die Rechte, die Artikel 24 Abs. 1, die „offene Flanke des deutschen Föderalismus“, dem Bund verleiht, wird in das innerstaatliche Kompetenzgefüge eingegriffen, ohne daß die Klauseln greifen, die die Verfassung dafür üblicherweise vorsieht.
II. Mehr Ländereinfluß auf die Politik der Bundesregierung in den Europäischen Gemeinschaften
Es kann daher nicht überraschen, daß die Landes-regierungen, trotz ihrer umfassenden und unzweideutigen Unterstützung der europäischen Integration, wegen der Beschneidung ihrer Kompetenzen besorgt sind. Nachdem sie seit 1949, insbesondere durch die Verfassungsreform von 1969, Zuständigkeiten an den Bund abgetreten haben im Gegenzug jedoch über den Bundesrat zunehmend mehr Einfluß auf die Bundespolitik gewannen — Kritiker sprechen bereits von einem unitariseben System hinter einer föderalen Fassade —, befürchten sie nun, Zuständigkeiten ohne Gegenleistung, ohne Sicherung ihres Einflusses abgeben zu müssen. Sie sehen die Gefahr, bloße Selbstverwaltungsorgane ohne politische Entscheidungsrechte zu werden. Daher hat der Bundesrat die Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte, deren Zustimmungspflichtigkeit zweifelhaft war genutzt, um mehr Einfluß auf die Politik der Bundesregierung in den europäischen Gremien zu gewinnen. Er verlangte Mitsprache bei der Formulierung der bundesdeutschen Politik im EG-Ministerrat, wenn es um Politikbereiche geht, die nach deutschem Verfassungsrecht der Zuständigkeit der Länder unterliegen oder von großem Interesse für sie sind
Die Sorgen der Länder über eine Beschneidung ihrer Zuständigkeiten reichen zurück bis in das Jahr 1951, als die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet wurde Seit den Anfängen der europäischen Integration versuchten die Länder, die Europapolitik der Bundesregierung zu beeinflussen, wenn es um Angelegenheiten ging, die ihrer Zuständigkeit unterlagen. Bereits 1951 willigte die Bundesregierung ein, einen Unterausschuß des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Bundesrates über europapolitische Fragen zu informieren. Die Forderung nach laufenden Informationen wurde bei der Ratifizierung der Römischen Verträge 1957 wiederholt und rechtlich abgesichert. 1979 dann erlangten die Länder das Recht auf umfassende Informationen und — das war neu — das Recht, eigene Stellungnahmen abzugeben, die die Bundesregierung bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen hat. Darüber hinaus konnten die Länder nun das Hinzuziehen von eigenen Vertretern bei den Verhandlungen in Brüssel verlangen
Weil sich dieses Verfahren jedoch als wenig effizient erwies, intensivierten die Länder 1986 ihre Beteiligung an der Europapolitik des Bundes abermals. Das Ratifizierungsgesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte verpflichtet die Bundesregierung, den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über alle Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaften zu unterrichten, die von Interesse für die Länder sein könnten. Bei Angelegenheiten, die der Gesetzgebung der Länder unterliegen, ermöglicht die Bundesregierung den Ländern eine Stellungnahme vor einer Entscheidung in den EG-Institutionen. Die Bundesregierung hat die Stellungnahme der Länder zu berücksichtigen. In Angelegenheiten der ausschließlichen Gesetzgebung der Länder darf die Bundesregierung von der Stellungnahme der Länder nur aus unabweisbaren außen-oder integrationspolitischen Gründen abweichen. Weicht sie davon ab, hat sie die Gründe dafür anzugeben. Wenn möglich, hat sie auf Verlangen der Länder zwei Vertreter der Landesregierungen an den Verhandlungen mit der EG-Kommission oder in dem Ministerrat zu beteiligen
Im Unterschied zu den bisherigen basiert das neue Verfahren vorrangig aus Gründen der politischen Pragmatik und Effizienz auf dem Bundesratsprinzip und nicht — wie die vorhergehenden — auf einer „echten“ Länderbeteiligung. Die Beteiligung des Bundesrates anstelle der Landesregierungen hat eine bedeutsame rechtliche Folge: Der Bundesrat, der Bundesorgan und Teil der Legislative des Bundes und kein Länderorgan ist, entscheidet unter Anwendung des Mehrheitsprinzips. Damit wird erstmals in Angelegenheiten, die innerstaatlich der Gesetzgebung der Länder unterliegen, vom Grund-satz der Einstimmigkeit bei länderübergreifenden Vereinbarungen abgewichen.
Um rasche Entscheidungen zu ermöglichen und Vertraulichkeit sicherzustellen, wurde im Bundesrat eine EG-Kammer geschaffen, die sich anstelle des Bundesratsplenums mit EG-Angelegenheiten beschäftigt und beschließt. Es ist praktikabler, kurzfristig elf Vertreter der Landesregierungen zusammenzurufen als das Bundesratsplenum außerhalb der langfristig festgelegten Sitzungstermine. Im Unterschied zu den Ausschüssen des Bundesrates besitzt die EG-Kammer in EG-Fragen die gleichen Rechte und Kompetenzen wie das Plenum. Die Länder stimmen nach der im Grundgesetz vorgesehenen Stimmengewichtung ab, und nur Bundesratsmitglieder — keine Beamte, die sonst üblicherweise ihre Minister in den Ausschüssen vertreten — können in die EG-Kammer entsandt werden Das neue Beteiligungsverfahren hat den Informationsfluß verbessert und gewährt den Ländern deutlich mehr Einfluß auf die Politik der Bundesregierung in den Organen der EG und führt infolgedessen zu einer stärkeren Berücksichtigung der Interessen der Länder bei Entscheidungen in den europäischen Institutionen. Die Länder nutzen die neuen Beteiligungsmöglichkeiten intensiver als frühere. Früher geäußerte Kritik, die Länder nutzten die ihnen eingeräumten Möglichkeiten nicht, ist heute nicht mehr gerechtfertigt
Aus der Sicht der Länder bildet das neue Verfahren die größtmögliche Einflußnahme unterhalb des verfassungsrechtlich nicht erlaubten Vetos Trotzdem ist die rechtliche und politische Relevanz der Ratifikationsklausel umstritten. 1988 meinte der seinerzeitige Präsident des Bundesrates, Björn Engholm, politische Gesichtspunkte betonend, der Bundesrat habe in europäischen Angelegenheiten nun Gleichberechtigung erreicht Demgegenüber äußerten sich der Direktor des Bundesrates, Georg-Berndt Oschatz, und sein Mitarbeiter Horst Risse, eher juristische Aspekte in den Vordergrund stellend, erheblich skeptischer. Die Errungenschaften des Bundesrates durch das Ratifikationsgesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte seien — im Vergleich zur Vereinbarung von 1979 — nicht besonders erheblich. Im Konfliktfall wird der Bundesrat rechtlich nicht in der Lage sein, die Bundesregierung auf seine Stellungnahme zu verpflichten
III. Grundgesetzänderung zugunsten der Länder?
Um die Beteiligung der Länder auf die Willensbildung der Bundesregierung zu intensivieren, brachte der Bundesrat aufgrund einer von sechs Ländern unterstützten bayerischen Initiative ein bereits älteres Anliegen der Länder im Bundestag ein, nämlich einen Antrag auf Änderung des Grundgesetzes. Nach diesem Begehren sollen die Kompetenzen des Bundes aufgrund Artikel 24 Absatz 1 dahingehend beschränkt werden, daß die Übertragung von Hoheitsrechten auf supranationale Organisationen, unabhängig davon, ob sie verfassungsmäßig den Ländern oder dem Bund zustehen, zukünftig der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Zudem schafft die vom Bundesrat vorgelegte Neuformulierung von Artikel 24 Absatz 1 eine verfassungsrechtliche Grundlage für das Beteiligungsverfahren nach Artikel 2 der Einheitlichen Europäischen Akte, wodurch die Mitwirkung des Bundes-rates bei der europapolitischen Willensbildung der Bundesregierung von Verfassungs wegen festgeschrieben werden soll
Das Verlangen des Bundesrates, nicht nur die Übertragung von Kompetenzen der Länder, sondern auch von solchen des Bundes seiner Zustimmung zu unterwerfen, wird damit begründet, daß mit der Übertragung von Zuständigkeiten des Bundes die Länder ihren über den Bundesrat ausgeübten Einfluß auf Bundesangelegenheiten verlieren. Die Zustimmungspflicht schaffe hier einen gewissen Ausgleich. Weil damit bei der Übertragung von Hoheitsrechten des Bundes, die materiell wie eine Verfassungsänderung wirke, der Gesamtstaat betroffen sei, sei es angemessen zu fordern, daß der Bundesrat wenigstens mit der Mehrheit seiner Stimmen einer solchen Übertragung zustimmt
Man mag geteilter Meinung darüber sein, ob die Länder durch eine solche Initiative wirklich ihren Einfluß verstärken können. Abgesehen von der Frage, ob sich die notwendigen Mehrheiten im Bundestag finden lassen — im Zuge der deutschen Vereinigung notwendige Grundgesetzänderungen oder zukünftige Ergänzungen des EWG-Vertrages bieten hier vielleicht die Möglichkeit, solche Wünsche in einer Paketlösung zu realisieren —, ist nicht unbedingt erkennbar, was erreicht werden kann: Bei einem Erfolg der Initiative würden die europäischen Verträge und deren Änderungen nicht nur der Ratifikation durch den Bundestag, sondern auch der Zustimmungspflichtigkeit des Bundesrates unterliegen. Dies aber ist bereits die übliche Praxis: Bei der Verabschiedung der Römischen Verträge und der Einheitlichen Europäischen Akte konzedierte die Bundesregierung eine Zustimmungspflicht, ohne daß sie dazu verfassungsrechtlich gezwungen gewesen wäre Nachdem die Bundesregierung zweimal den Bundesrat eingeschaltet hat, ist nicht zu erwarten, daß sie (oder eine andere Bundesregierung) von dieser Praxis abweichen wird.
Es ist hingegen schwer vorstellbar, daß eine Ländermehrheit im Ernstfall die Verantwortung auf sich nehmen würde, europäische Verträge scheitern zu lassen. Bundesrat und Bundestag befinden sich hier in der den Landtagen so bekannten Situation übergreifende Vereinbarungen, an deren Entstehung sie nicht beteiligt waren, wegen der zu erwartenden — auch von ihnen nicht erwünschten — politischen Folgewirkungen faktisch nicht scheitern lassen zu können. Eine Änderung des Artikel 24 Absatz 1 Grundgesetz könnte sich damit als Pyrrhussieg erweisen
IV. Beteiligung der Länder an den Regierungskonferenzen zur Änderung der Gemeinschaftsverträge
Ein anderes politisches Gewicht mag die vom Bundesrat beantragte Verfassungsänderung gewinnen, wenn eine zweite bayerische Bundesratsinitiative durchgesetzt werden kann. Bund und Länder stimmen nicht in der Auslegung des Artikels 2 des Ratifizierungsgesetzes zur Einheitlichen Europäischen Akte überein, der die Beteiligung des Bundesrates an der innerstaatlichen Willensbildung normiert. Nach Ansicht der Bundesregierung greift das Beteiligungsverfahren nicht bei Änderungen der europäischen Verträge, sondern erst bei deren Anwendung. Vertragsänderungen lägen nicht „im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften“ Konkret heißt das, daß die Bundesregierung den Bundesrat nicht bei ihren jüngsten Initiativen zur Schaffung einer europäischen Wirtschafts-und Währungsunion sowie der Schaffung einer Politischen Union in die Beratungen einbezogen hat.
Aus verständlichen Gründen sind die Länder mit dieser Interpretation des Ratifizierungsgesetzes nicht einverstanden. Sie wollen das Beteiligungsverfahren auch auf die Verhandlungen über Vertragsänderungen, durch die der „Rahmen der Europäischen Gemeinschaften“ definiert wird, angewandt sehen. Sie weisen darauf hin, daß bereits durch die Verträge die eigentlichen Weichenstellungen erfolgen und dabei bestimmt wird, in welchem Umfang ihren Anliegen Rechnung getragen wird. Aus diesem Grunde hat der Bundesrat einen Entschließungsantrag angenommen, in dem die Beteiligung der Länder bezüglich der Regierungskonferenz zur Änderung der Gemeinschaftsverträge verlangt wird. Der Bundesrat bittet darin die Bundesregierung, an der Entwicklung einer deutschen Verhandlungsposition und an den Verhandlungen selbst beteiligt zu werden. Im Rahmen der vorgesehenen institutioneilen Reformen der Gemeinschaft — Demokratisierung der EG, Stellung des Europäischen Parlaments und der Kommission — verlangen die Länder über den Bundesrat eine Verankerung von Beteiligungsrechten der Länder und Regionen an der Willensbildung und bei Entscheidungen auf europäischer Ebene Die Diskussion um eine eigenständige, institutionell abgesicherte Interessenvertretung der Länder (Regionalkammer) und deren Einbeziehung in die europäische Willensbildung ist dabei unter den Ländern noch nicht abgeschlossen.
Gelingt es den Ländern, diesem Begehren hinreichenden Nachdruck zu verleihen und die Bundesregierung zu bewegen, den Bundesrat auch bei Vertragsverhandlungen zu beteiligen, dann gewinnt die geforderte Grundgesetzänderung erhöhtes politisches Gewicht: Die Länder könnten ihre Interessen schon während des Beratungsstadiums einbringen, sie würden nicht erst einbezogen — wie noch 1985 bei den Verhandlungen über die Einheitliche Europäische Akte —, wenn die Entscheidungen auf Gemeinschaftsebene bereits getroffen sind. Mit der Drohung des möglichen Scheiterns der Verträge im Bundesrat könnten sie aber ihren Forderungen während der Verhandlungen, bevor auf Gemeinschaftsebene die Ergebnisse ausgehandelt sind, entsprechenden Nachdruck verleihen. Der Bund wäre damit erheblich stärker als bisher an das Votum der Länder gebunden. Erst die Kombination von beiden Initiativen — Zustimmungspflichtigkeit von allen Vertragsänderungen und Beteiligung an der Willensbildung während der Vertragsverhandlungen auf Gemeinschaftsebene — könnte den Ländern ein deutlich höheres Gewicht als bisher verleihen.
V. Sicherung der föderativen Strukturen in Europa — Bewahrung der regionalen Kompetenzen
Die Länder sind sich nicht nur einig in ihrem Verlangen nach einer stärkeren Beteiligung am europäischen Willensbildungsprozeß, einmütig haben sie sich auch darüber verständigt, welche Aufgaben unter der ausschließlichen Kompetenz der Länder verbleiben sollen. Bei ihrer Jahreskonferenz im Oktober 1987 verabschiedeten die Ministerpräsidenten einen Katalog von zehn Thesen, in dem sie die Beschränkung der Europäischen Gemeinschaft auf die expliziten vertraglichen Zuständigkeiten und den Schutz der Hoheitsrechte der Länder verlangen Im einzelnen fordern sie: 1. Wahrung der vertraglichen Grundlagen, 2. Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips, 3. Föderalismus statt Zentralismus, 4. Sicherung der Bildungs-und Kulturhoheit der Länder, 5. Wahrung der Rundfunkhoheit der Länder, 6. Sicherung einer wettbewerbsfähigen Landwirtschaft, 7. Sicherung der eigenständigen regionalen Strukturpolitik der Länder, 8. Wahrung wichtiger Qualitäts-und Verbraucherstandards, 9. Notwendigkeit mittelstandsfreundlicher Rahmenbedingungen , 10. Subsidiarität in der Forschungspolitik.
Dieses Bestreben der Länder, bestimmte Politikbereiche unter ihrer alleinigen Zuständigkeit zu halten, steht in einem gewissen Widerspruch zur Konstruktion des EWG-Vertrages. Er überträgt den Organen der EG nicht die Zuständigkeit für bestimmte Politikbereiche — analog zur Kompetenzverteilung des Grundgesetzes —, sondern verpflichtet sie auf bestimmte integrationspolitische Ziele, die durch entsprechende „Maßnahmen“ er- reicht werden sollen Diese unterschiedlichen Formen der Aufgabenbestimmung führen notwendigerweise zu Konflikten, zumal dann, wenn die Kommission (und der Ministerrat) mit deutlicher Billigung des Europäischen Gerichtshofes den gewollten Integrationsprozeß durch eine extensive Ausschöpfung ihrer Kompetenzen vorantreibt. Darüber hinaus neigt die EG-Gesetzgebung zu einer hohen Regelintensität mit detaillierten Vorschriften die den ausführenden nationalen Einrichtungen wenig Spielraum lassen
Sehr deutlich traten diese unterschiedlichen Ansätze — Schaffung einheitlicher Marktbedingungen oder Schutz der regionalen Autonomie — im Konflikt um die EG-Rundfunkrichtlinie hervor, die vom EG-Ministerrat am 13. April 1989 gegen die Stimmen von Belgien, Dänemark und der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet wurde. Angesichts neuer Sendetechniken beabsichtigte die EG-Kommission, für die Fernsehgesellschaften vergleichbare Rahmenbedingungen in allen EG-Mitgliedstaaten zu schaffen. Innerhalb der Gemeinschaft sollten alle Sendungen unbehindert von nationalen Vorschriften verbreitet werden können, sofern sie den Vorschriften des Herkunftslandes und der EG-Richtlinie entsprachen. Die Länder — mit Ausnahme Niedersachsens — sahen in dieser Vorschrift einen nicht hinnehmbaren Eingriff in ihre grundgesetzlich garantierte Rundfunkhoheit der im Gemeinschaftsrecht keine hinreichende Grundlage finde. Der von der Kommission geltend gemachten Kompetenz zur Harmonisierung des Dienstleistungsverkehrs wurde die kulturelle und gesellschaftspolitische Funktion des Rundfunks entgegen gehalten. Im Bereich der Kulturpolitik habe die Gemeinschaft jedoch keine ausdrücklichen Rechtssetzungsbefugnisse
Angesichts der drohenden Einwirkung der EG in diesen Zuständigkeitsbereich rief die bayerische Staatsregierung, unterstützt von einigen weiteren Ländern, das Bundesverfassungsgericht an, um durch eine Eilentscheidung die Bundesregierung zu verpflichten, entgegen ihrer ursprünglichen Absicht in Brüssel gegen die EG-Rundfunkrichtlinie zu stimmen Das Bundesverfassungsgericht sah durch eine solche Bindung der Bundesregierung deren Verhandlungsspielräume unzulässig eingeschränkt und lehnte den bayerischen Eilantrag ab entschied jedoch noch nicht in der Hauptsache. Die Frage, inwieweit die Länder die Bundesregierung in Angelegenheiten, die nach dem Grundgesetz in ihren Kompetenzbereich fallen, über den Bundesrat auf eine bestimmte Politik verpflichten können, blieb noch offen. Unabhängig von der Auseinandersetzung in Karlsruhe stimmte die Bundesregierung im Ministerrat gegen die Rundfunkrichtlinie, blieb jedoch in der Minderheit
Die Länder sind sich einig in der Kritik am Artikel 235 des EWG-Vertrages der der EG letztlich eine Generalkompetenz attestiert. Dieser Artikel, der der Gemeinschaft in „unvorgesehenen Fällen“ Kompetenzen ohne deren explizite Nennung im EWG-Vertrag zubilligt, ist aus der Sicht der Länder die „offene Flanke“, durch die die EG-Kommission in die Zuständigkeiten der Länder eingreifen kann Insbesondere der über diese Rechtsgrundlage begründete Anspruch der EG-Kommission auf eine eigenständige Ausführung von EG-Richtlinien und eine vor-Ort-Kontrolle der nationalen Verwaltungen wird von den Landesregierungen zurückgewiesen, weil hier die Grundlage ihrer politischen Potenz, nämlich der ihnen grundgesetzlich übertragene Vollzug von Bundesrecht (und damit implizit auch EG-Recht) nach Artikel 83 Grundgesetz, tangiert wird
Besondere Besorgnis erregen die Bemühungen der EG, die Rechtsgrundlagen für den Verbraucher-und Umweltschutz zu harmonisieren, weil die Länder hier eine „Nivellierung“ auf „niedrigstem Niveau“ befürchten Allerdings kann diese Kritik nicht gänzlich überzeugen, denn nach dem EWG-Vertrag sind die Aktivitäten der EG in diesen Angelegenheiten auf die Bereiche beschränkt, die — in Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip — von der Gemeinschaft erfolgreicher geregelt werden können als von den einzelnen Mitgliedstaaten. Darüber hinaus räumt der EWG-Vertrag den Mitgliedsländern das Recht zu weitergehenden Regelungen ein Auch dem Einwand der „Nivellierung nach unten“ wird man kaum vorbehaltlos zustimmen können, wenngleich es Beispiele gibt, die diesen Vorwurf belegen Nicht übersehen werden dürfen allerdings andere Bestimmungen wie die Trinkwasserrichtlinie, die seit Oktober 1989 in Kraft ist und wesentlich schärfere Grenzwerte für Schadstoffe als die deutsche Gesetzgebung vorsieht Die Vermutung liegt nahe, daß es den Ländern in manchen Fällen — Bier, das nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut ist, oder Milchersatzstoffe — weder um Kompetenzfragen oder Verbraucherschutz als vielmehr um den Schutz ihrer Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz geht.
In der Forderung nach Beachtung des Subsidiaritätsprinzips — „Entscheidung in Brüssel, wo immer nötig — Entscheidung vor Ort, wo immer möglich“ — sind sich alle Länder einig Unterschiedliche Einschätzungen werden jedoch deutlich, wenn es um einzelne Politikvorhaben geht und prinzipiellere Erwägungen in den Hintergrund treten. Allgemein gesprochen sind es die kleineren und schwächeren Länder, die eher bereit sind, im Zuge der Kooperation mit „Europa“ auf eigene Zuständigkeiten zu verzichten als die stärkeren und größeren.
In der Regel ist es Bayern, das Zuständigkeitsfragen in der Europapolitik am entschiedensten thematisiert. Nachdem bereits der damalige bayerische Bundesratsminister und heutige EG-Kommissar Schmidhuber der EG „Kompetenzanmaßungen“ vorgeworfen hatte, stellte ein bayerischer Beamter auf einer verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagung 1987 die Notwendigkeit europäischer Zuständigkeiten für die Bereiche in Frage, für die es keiner Bundeskompetenz bedürfe Faktisch impliziert das die Weigerung, der EG Zuständigkeiten im Bereich der Landespolitik einzuräumen. Dieses Argument übersieht allerdings die umfängliche Koordinierung von Landespolitiken auf der Länderebene mit dem Ziel „akkordierter Landesgesetzgebung“ die gerade das Bedürfnis nach einheitlichen Regelungen in Bereichen unterstreicht, für die der Bund nicht zuständig ist Allerdings zeichnet sich seit einiger Zeit ein Wandel ab: Der bayerische Ministerpräsident Max Streibl konzedierte, daß auch die Länder für weitere Integrationsfortschritte auf Kompetenzen verzichten müßten Integrationsfreundlicher argumentierte der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Engholm, indem er die Notwendigkeit des Erhalts der Eigenständigkeit der Länder im Zuge der europäischen Integration zwar betonte, jedoch unterstrich, daß nicht mehr alles, was der Zuständigkeit der Länder unterliegt, von ihnen noch sinnvoll innerhalb ihrer Grenzen geregelt werden könne. Für diese Bereiche — er nannte u. a.den grenzübergreifenden kulturellen Austausch und die Rahmengesetzgebung für den Umweltschutz — befürwortete er eine europäische Zuständigkeit, wenn der „europäische Mehrwert“ dies rechtfertige. In den Fällen, in denen sich eine europäische Gesetzgebung als wirkungsvoll erweise, so argumentierte er durchaus im Sinne des Subsidiaritätsprinzips, sollten die Länder bereit sein, Kompetenzen abzugeben Andere Länder, z. B. Nordrhein-Westfalen, erkennen die Gewinne an politischen Handlungsmöglichkeiten, die ihnen für ihr Land aus europäischen Programmen wie COMMETT, ERASMUS und LINGUA erwachsen, auch wenn sie in einer Spannung zu den Landeskompetenzen stehen
Berlin befindet sich auch hier in einer besonderen Situation. Für die Stadt hat die europäische Integration ein hohes Gewicht. Im Unterschied zu Bundes-gesetzen kennt das EG-Recht keine besonderen Berlin-Klauseln und gilt daher unmittelbar. Die Umsetzung und Anwendung von EG-Recht dokumentiert die Einbindung der Stadt in die westliche Gemeinschaft und damit implizit auch die Zugehörigkeit zur Bundesrepublik. Der rot-grüne Berliner Senat ist deshalb sehr offen für die Zusammenarbeit mit EG-Organen und sucht sie. Konkret wird dieses beispielsweise in dem Bemühen, durch die Kooperation mit europäischen Institutionen Berlin zu einem Zentrum von Wissenschaft und Forschung auszubauen Der Prozeß der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat das Berliner Interesse an der europäischen Integration weiter erhöht. Deutsche Vereinigung und europäische Integration greifen ineinander, Vereinigung heißt nicht Abkehr von Europa, sondern Einbeziehung der DDR. Da die DDR während der Übergangszeit bis zur staatsrechtlichen Vereinigung nicht in den Kontext der Europäischen Gemeinschaften einbezogen wird, versucht der Berliner Senat, ausgehend vom Großraum Berlin, auch die Interessen der DDR mit einzubringen Da Berlin mit dem Verfall des „Ostblocks“ die Funktion einer Drehscheibe in den östlichen Bereich Europas gewinnen wird, befürchtet man, daß durch die grundsätzlich unterstützte Weiterentwicklung der Gemeinschaft der Zwölf die Hürden zur Europäischen Gemeinschaft für die sich demokratisierenden Staaten Mittel-und Osteuropas erhöht werden.
Es wäre allerdings ein Fehler, zu vermuten, das Herangehen der verschiedenen Landesregierungen an die diversen Aspekte der EG hänge vom parteipolitischen Standort ab, es gebe quasi ein Gefälle der Integrationsbereitschaft von „Rot-Grün“ nach „Schwarz“. Daß dem nicht so ist, beweisen Lothar Späths ausgesprochen integrationsfreüdiger „Traum von Europa“ einerseits und die eher zurückhaltende Position von Johannes Rau andererseits.
VI. Das Europa der Regionen — die Länder in Europa
Unter dem Eindruck der Erosion ihrer Zuständigkeiten fordern die Länder nicht nur eine Beteiligung an der Europapolitik, die Ministerpräsidenten treten auch für ein föderativ strukturiertes „Europa der Regionen“ ein Bei dem Treffen des Präsidenten der EG-Kommission, Jacques Delors, mit den deutschen Ministerpräsidenten am 19. Mai 1988, fanden die Bedenken und Wünsche der Län-der besondere Aufmerksamkeit. Der damalige bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß kritisierte die Kommission, weil sie ihre Befugnisse überschreite, und verlangte eine klare Beschränkung ihrer Tätigkeit auf die in dem EWG-Vertrag und der Einheitlichen Europäischen Akte vorgesehenen Zuständigkeiten. Darüber hinaus verlangte er von der EG-Kommission die Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips und damit einen Verzicht auf Maßnahmen, die auch von den Mitgliedstaaten selbst vorgenommen werden können
Delors seinerseits begrüßte das Interesse der Länder an der Gemeinschaft. Auch er betonte, daß die Tätigkeit der EG auf die Bereiche beschränkt werden solle, die nicht sinnvoll auf der nationalstaatlichen Ebene erledigt werden könnten und unterstrich damit auch das Subsidiaritätsprinzip. Zugleich betonte er die Notwendigkeit der Schaffung von Regionen innerhalb eines vereinten Europas, die mit autonomen Kompetenzen ausgestattet seien. Unter diesen Gesichtspunkten sah er in der Bundesrepublik ein Modell für die Dezentralisierung und Regionalisierung Europas. Gleichwohl wies er das Verlangen der Ministerpräsidenten nach einer strikten (und statischen) Teilung der Zuständigkeiten zwischen der EG-Kommission und den Mitgliedstaaten zurück und befürwortete statt dessen eine intensivierte Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Landesregierungen. Die Kommission beabsichtige nicht, sich in die Aufgaben der Länder einzumischen, aber sie wolle sie ergänzen. Die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Ländern eröffne den Ländern neue Handlungsmöglichkeiten
Delors’ weithin begrüßten Bemerkungen über die Stellung der Länder in einer zukünftigen Europäischen Union wurden durch die Regionalismus-Charta des Europäischen Parlaments vom 18. November 1988 deutlich unterstützt Diese Charta verlangt die Bildung und Bewahrung von Regionen als politische Körperschaften innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Die deutsche föderative Ordnung diente auch dem Europäischen Parlament als Modell für eine föderative europäische Ordnung. Obwohl die in der Charta benutzten Begriffe andere sind als die deutschen, ist nicht zu übersehen, daß der Föderalismus des Grundgesetzes hier Pate gestanden hat
Die Länder nahmen die Regionalismus-Charta des Europäischen Parlaments mit großer Zustimmung auf. Die nordrhein-westfälische Landesregierung brachte im Bundesrat eine Resolution ein, die die Forderung des Europäischen Parlaments nach einer dezentralisierten europäischen politischen Ordnung und regionaler Autonomie innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft unterstützt Sie war konzipiert als Signal für ein Europa mit mehr regionaler Eigenständigkeit und Demokratie Dezentralisierung erhalte nicht nur die kulturellen Verschiedenheiten in Europa, sie habe sich auch als wirtschaftlich effizienter erwiesen und als erfolgreicher beim Ausgleich regionaler Disparitäten. Föderale Ordnungen eröffneten mehr Möglichkeiten zur demokratischen Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger eines Landes und vermittelten politischen Entscheidungen ein höheres Maß an Akzeptanz. Demgegenüber — so die Kritik — orientierten sich die Institutionen der EG eher an zentralistischen als föderativen Integrationsvorstellungen und beachteten zu wenig das Subsidiaritätsprinzip und den Grundsatz der Dezentralisierung. Ferner verlangte der Bundesrat in Überein-stimmung mit dem Europäischen Parlament eine Beteiligung der Regionen an der europäischen Willensbildung und insbesondere bei den anstehenden Änderungen der Römischen Verträge.
Die Länder sehen sich vor die Frage gestellt, ob ein „Europa der Regionen“ ihnen neue politische Handlungsmöglichkeiten eröffnet, die Ersatz bieten können für die Zuständigkeiten, die sie bereits an europäische Einrichtungen verloren haben oder aller Wahrscheinlichkeit nach noch verlieren werden. Verschiedene Gesichtspunkte müssen dabei berücksichtigt werden: Eine Tendenz zur Dezentralisierung und Akzeptanz regionaler Autonomie hat — in unterschiedlichem Ausmaß — zumindest in den größeren Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft breiten Boden gewonnen; einige (Belgien und Spanien) befinden sich bereits in einem Übergang zu föderalstaatlichen Ordnungen. Regionalisierung und stärkere Betonung regionaler Interessen erlauben und fördern regional konkurrierende politische Problemlösungen innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten Die Entwicklung hin zu größeren Spielräumen der Länder und Regionen eröffnet neue Möglichkeiten für transnationale Kooperation, die auch Ausdruck einer echten Gemeinschaftsbildung ist. Die Zusammenarbeit des Saarlandes mit Lothringen und Luxemburg wurde als die Saar-Lor-Lux-Kooperation bekannt Eines der Ziele dieser Zusammenarbeit ist die Koordinierung der regionalen Stahlpolitik. Die Zusammenarbeit der europäischen High-tech-Regionen Baden-Württemberg, Katalonien, Lombardei und des Departments Rhöne-Alpes dient der Forschungsförderung und der Entwicklung neuer Industrien Die grenzübersfthreitende Kooperation beschränkt sich nicht auf die Mitglieder der EG. So haben sich die Länder und Regionen der Alpen in der ARGE Alp zusammengefunden, um die Interessen der Alpenregion grenzüberschreitend zu vertreten.
Interregionale Kooperation und transnationale Zusammenarbeit verschiedener Regionen wie auch die sich weiter entwickelnden Arbeitsbeziehungen zwischen den Regionen und der EG-Kommission schaffen ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Obwohl die Länder keinen formalen Einfluß auf die europäische Gesetzgebung besitzen, heißt es, daß die EG-Organe ein steigendes Interesse an Beziehungen zu den subnationalen Verwaltungsebenen der einzelnen Mitgliedstaaten entwickeln, weil man die Kenntnisse und Fähigkeiten derer erkannt hat, die europäisches Recht im täglichen Vollzug umsetzen müssen. Parallel dazu versuchen die Länder ihren Einfluß auf „Brüssel“ zu verstärken. Um den gegenseitigen Austausch zu fördern und um stärker Einfluß zu nehmen, haben die Länder " in Brüssel Büros eröffnet. Sie dienen dem Informationsaustausch zwischen EG-Institutionen und den jeweiligen Landesregierungen, anderen Einrichtungen der Länder und privaten Unternehmen. Sie unterstützen Interessenten bei der Aufnahme von Kontakten zu EG-Behörden und helfen, Anträge erfolgreich durch die europäische Bürokratie zu schleusen. Schließlich repräsentieren sie die einzelnen Länder kulturell und bieten Gelegenheit für die Diskussion verschiedenster europäischer Themen Die Bereitschaft der Landesregierungen und der europäischen Einrichtungen, ihren Austausch untereinander zu intensivieren, dient nicht nur der realen Vergemeinschaftung innerhalb der EG, sie hilft auch, das Gewicht der Länder im Zuge der europäischen Integration zu sichern
Die Länder versuchen, Verbündete in anderen europäischen Regionen und autonomen Gebieten für ihr Begehren nach regionaler Autonomie und einer Beteiligung an der europäischen Willensbildung zu finden. Auf zwei Konferenzen im Oktober 1989 in München und im April 1990 in Brüssel, an denen Vertreter von knapp 40 Ländern und europäischen Regionen teilnahmen, fanden die Wünsche der deutschen Länder nach einem föderalen Aufbau des sich vereinigenden Europas und der Anwendung des Subsidiaritätsprinzip einhellige Unterstützung. Im Hinblick auf die für Ende 1990 geplante Regierungskonferenz formulierte man sehr konkrete Anliegen. Im einzelnen verlangten die Vertreter der Regionen und Länder einen dreistufigen Aufbau Europas, wobei jede Ebene — Länder bzw. Regionen, Nationalstaaten, Gemeinschaft — über jeweils ein legislatives und exekutives Organ verfügen soll. Sie forderten ferner eine klare Abgrenzung der Kompetenzen, ein unmittelbares Initiativ-und Mitwirkungsrecht der Länder bzw. Regionen an der Gesetzgebung der Gemeinschaft, soweit ihre Interessen und Rechte betroffen sind, sowie ein allgemeines und gleiches Stimmrecht für das Europäische Parlament. In die Gemeinschaftsverträge soll ein Klagerecht der Länder bzw. Regionen vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg eingeführt werden. Die Mitgliedstaaten sollen die Möglichkeit erhalten, ihr Stimmrecht im Ministerrat an Vertreter der Länder oder Regionen zu delegieren. Schließlich sollen die Länder bzw. Regionen in den europäischen Entscheidungsprozeß institutionell eingebunden werden. Dazu wurden zwar bereits verschiedene Modelle — z. B. das der Regionalkammer — diskutiert, jedoch hat man sich noch auf keines verständigt
VII. Perspektiven
Es ist nicht auszuschließen, daß durch die europäische Integration und wohl auch durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ein Grundprinzip der bundesdeutschen Innenpolitik, die besondere Betonung der Rechts-und Wirtschaftseinheit, an Gewicht verlieren wird Innerhalb des Binnenmarktes wird es für einheitliche Regelungen innerhalb eines nationalen Raumes kaum überzeugende Gründe geben, wenn die europäische Gesetzgebung regional differenzierte Lösungen erlaubt oder anstrebt. Wenn die EG-Kommission und der Ministerrat die weit verbreitete Forderung nach regionaler Autonomie akzeptieren, dann werden regionale und lokale Regelungen vermutlich zu Lasten nationaler Bestimmungen, die zunehmend durch europäische ersetzt werden, an Bedeutung gewinnen. In der Konsequenz kann dies heißen, daß infolge der europäischen Integration die Länder neue politische Handlungschancen gewinnen werden, die ihnen die Möglichkeit zu mehr Unterschiedlichkeit, zu mehr Vielfalt einräumen Langfristig ist es nicht auszuschließen, daß eine weitergehende und intensivierte europäische Integration, obwohl sie den Ländern Kompetenzen nimmt — mehr noch dem Bund —, per saldo nicht notwendigerweise zu Einbußen an politischen Gestaltungsmöglichkeiten führt. Die Integration könnte anstelle der verlorenen Zuständigkeiten neue Gestaltungsmöglichkeiten erschließen, die regionale politische Konkurrenz fördern und damit zu einer Verbesserung und regionalen Differenzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge führen
Aus der Sicht der Landesregierungen mag dies eine zu optimistische Perspektive sein, die keine Grundlage im täglichen Geschäft mit der EG-Kommission und der Bundesregierung findet. Es wird beklagt, daß die allgemeinen Grundsätze über die Respektierung der Rechte der Länder und Regionen sich nicht in der praktischen Politik der europäischen Behörden niederschlagen Andere Beobachter unter den führenden Landespolitikern meinen hingegen, eine veränderte Haltung der Brüsseler Bürokratie festzustellen und erkennen einen Wandel hin zu größerer Rücksichtnahme auf regionale Belange (so konstatierte Streibl erst kürzlich „einen Umdenkungsprozeß“ bei der EG-Kommission Aber auch sie räumen ein — so der saarländische „Europaminister“ Ottokar Hahn —, daß eine große Bürokratie nur langsam ihre (schlechten) Gewohnheiten ändert.
Es ist nach wie vor eine offene Frage, ob ein vereinigtes Europa von einer Brüssel Bürokratie dominiert werden wird, oder ob sich ein gewisses Gleichgewicht zwischen „Brüssel“ und den europäischen Regionen etabliert. In der Bundesrepublik Deutschland haben die Länder und der Bundesrat diese Frage erfolgreich auf die politische und wissenschaftliche Tagesordnung gesetzt. Der Einfluß der Länder auf die Politik in der Europäischen Gemeinschaft ist deutlich gestiegen. Das Verlangen nach einer föderal strukturierten Europäischen Union ist artikuliert und im Grundsatz von der EG-Kommission sowie dem Europäischen Parlament akzeptiert worden.
Im Unterschied zu den Ländern und dem Bundesrat hat es der Bundestag allerdings bisher noch nicht vermocht, die Beschneidung seiner legislativen Rechte im Zuge der europäischen Integration zu einem Thema der öffentlichen Diskussion zu erheben. Er verfügt nicht über so weitreichende echte Mitwirkungsrechte, wie sie der Bundesrat durch das Ratifizierungsgesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte errungen hat. Die vergleichsweise bescheidene Mitwirkung des Bundestages zeigt sich schlaglichtartig darin, daß er über keinen Ausschuß für EG-Angelegenheiten verfügt, sondern sich lediglich ein Unterausschuß des Auswärtigen Ausschusses mit Europaangelegenheiten befaßt.