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Zur sozialen und politischen Rolle der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland | APuZ 49/1989 | bpb.de

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APuZ 49/1989 Artikel 1 Zur sozialen und politischen Rolle der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland Professionalisierung als Risiko Zum Berufsethos des Religionslehrers Professionalisierung als Risiko Zum Berufsethos des Religionslehrers SPD und Katholizismus in den fünfziger und sechziger Jahren

Zur sozialen und politischen Rolle der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland

Wolfgang Ockenfels

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Zusammenfassung

Die Geschichte des kirchlich-sozialen Engagements beginnt nicht erst mit der „Arbeiterfrage“ des 19. Jahrhunderts, auf die die erste Sozialenzyklika „Rerum novarum“ (1891) eine wegweisende Antwort gab. Die Kirche hat sich von ihren Anfängen an in Lehre und Praxis um die ethische Gestaltung des sozialen Lebens gekümmert, zunächst im Sinne caritativer Einzelhilfe, seit dem 19. Jahrhundert vor allem durch eine Sozial(strukturen) lehre, die vom kirchlichen Lehramt verbindlich formuliert, von Sozialethikern vermittelt und von der katholischen Sozialbewegung praktisch umgesetzt wird. Der soziale und politische Katholizismus erwies sich als sozialpolitische Avantgarde und war wesentlich an der Lösung der „alten“ sozialen Frage beteiligt. Die „neuen“ sozialen Herausforderungen wurden jedoch nicht rechtzeitig aufgegriffen, die Bewegung stagnierte. Die Kirche ist nicht gesellschaftlich oder demokratisch, sondern religiös legitimiert. Freilich ist mit dem religiösen Verkündigungsauftrag auch die Aufgabe verbunden, sich der ethischen und religiösen Dimension sozialer, ökonomischer und politischer Strukturen zu widmen. Ein Rückzug auf den privaten Bereich religiöser Innerlichkeit ist nicht möglich. Andererseits spricht die Kirche zu sozialen Fragen nicht mit dogmatischer Verbindlichkeit. Konstitutiv für die Soziallehre und den Politikbegriff der Kirche ist die Unterscheidung (nicht strikte Trennung) der „zwei Reiche“. Das Evangelium enthält keine sozialethischen Normen zum Aufbau einer spezifisch „christlichen“ Gesellschaftsordnung. Die Soziallehre ist im Kem nicht viel mehr als die prinzipielle Entfaltung des christlichen Menschenbildes; sie zeigt die Richtung auf, in der nach konkreten Lösungen zu suchen ist. Besonders in der Frage der Konkretisierung und Realisierung zeigen sich die Kompetenzgrenzen des kirchlichen Amtes, die Notwendigkeit einer subsidiären Kompetenzverteilung und die dialogische Verbindung von Wert-und Sachkompetenz. Als neue Herausforderungen und Bewährungsfelder für das soziale und politische Wirken der Kirche und ihrer Gruppen erweisen sich die Probleme, die im Zusammenhang mit dem technischen Fortschritt auftauchen. Anders als einige kirchliche Randgruppen, in denen sich integralistische und fundamentalistische Vereinnahmungstendenzen zeigen, beachtet die „offizielle“ Kirche in der Bundesrepublik die Autonomie der gesellschaftlichen Sachbereiche; sie akzeptiert die Pluralität der Gesellschaft, die auf ein Wertfundament angewiesen bleibt, und respektiert die Säkularität des Staates.

Bekanntlich haben Geschichte und Tradition eine nachhaltige Bedeutung für das Verständnis der Gegenwart und die Bewältigung der Zukunft. Das gilt besonders für eine so altehrwürdige Institution wie die katholische Kirche, die nicht an bestimmte Landesgrenzen und Kulturstufen gebunden ist. Ihr so-ziales und politisches Engagement ist kein typisch neuzeitliches, erst recht kein spezifisch europäisches Phänomen, sondern hat sich seit ihren Anfängen geschichtlich und räumlich unterschiedlich entwickelt, was etwa an den verschiedenen Formen des Kirche-Staat-Verhältnisses deutlich wird.

I. Kirche im Wandel der sozialen Fragen

Die Kirche spricht immer in konkrete geschichtliche Situationen hinein, wenn sie orientierende Antworten auf soziale Fragen zu geben versucht. Mit „sozialer Frage“ sind nicht erst jene gesellschaftlichen Strukturprobleme gemeint, die im Zusammenhang mit der Industrialisierung im vorigen Jahrhundert entstanden sind. „Soziale Fragen“ tauchen immer und überall dann auf, wenn im zwischenmenschlichen Bereich geistiges und materielles Elend entsteht.

Die Geschichte des kirchlich-sozialen Engagements beginnt nicht erst mit der „Arbeiterfrage“ des 19. Jahrhunderts, auf die die erste Sozialenzyklika „Rerum novarum“ (1891) eine Antwort gab, sondern die Kirche hat sich von ihren Anfängen an in Lehre und Praxis um die sittliche Gestaltung des sozialen Lebens gekümmert: um die „soziale“ Frage von Armut. Reichtum und Sklaverei; um die „Wirtschaftsfrage“ von Eigentum, Zins und Wucher; um die „politische“ Frage von Krieg und Frieden und das Verhältnis Kirche-Staat. Solche Fragen und bestimmte Antworten darauf lassen sich bereits bis in die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Testamentes zurückverfolgen — Quellen, auf die sich das kirchliche Lehramt vor allem beruft.

Die Kirche hatte es bis ins 18. Jahrhundert hinein mit einer statisch geordneten Gesellschaft zu tun. die durch Landwirtschaft und Handwerk geprägt war. Innerhalb dieser stabilen, sozial abgesicherten Ständeordnung, die als solche nicht in Frage gestellt wurde, ging es der Kirche zunächst einmal darum, ethisch verantwortbare Lebensbedingungen zu sichern. Das Elend aber, das außerhalb dieser festgefügten und selbstverständlichen Ordnung herrschte, war Gegenstand christlicher Caritas und Fürsorge. Hier war die Kirche die Institution, die sich der Armen und Elenden annahm. Die Gründung caritativer Orden. Spitäler. Asyle etc. geschah zu einer Zeit, als es noch keinen Sozialstaat mit Versorgungsansprüchen gab. Damals gewann die christliche Nächstenliebe eine besonders glaubwürdige institutionelle Form. Die Kirche kümmerte sich damals vor allem um den „traditionellen Typ“ des Armen: um Hungernde und Kranke, um Obdachlose und Flüchtlinge, um die Opfer von Kriegen, Hungersnöten und Seuchen, um Witwen und Waisen. Diese „Randgruppen“ bildeten bis ins 19. Jahrhundert die vorrangige soziale Frage.

Mit der Auflösung der mittelalterlichen Ordnung kam es zu den ersten großen Strukturkrisen: im religiösen Bereich die Reformation, im wirtschaftlichen und sozialen Bereich die Bauernkriege. Diese Aufstände haben (im nachhinein) gezeigt, daß es nicht damit getan ist. caritative Einzelhilfe zu leisten. die immer notwendig bleibt, sondern daß es darauf ankommt, die strukturellen Ursachen des Massenelends rechtzeitig zu erkennen und auszuräumen. Diese uns heute geläufige strukturelle Sicht der Sozialprobleme ist damals auch der Kirche weitgehend versperrt geblieben.

Die Lösung der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts wurde nicht, wie Karl Marx es forderte, revolutionär gelöst, sondern geschah auf dem Weg der Reformen. an denen die Kirche maßgeblich beteiligt war. Die damalige gesellschaftliche Situation in Europa läßt durchaus Ähnlichkeiten mit der gegenwärtigen Entwicklungsproblematik Lateinamerikas erkennen: Die sprunghaft einsetzende Industrialisierung und die mit ihr verbundene rein kapitalistische Wirtschaftsweise führten zu einer verstärkten Arbeitsteilung, zu einer strikten Trennung von Kapital und Arbeit sowie zu einer Behandlung des Faktors Arbeit als bloße Ware, die nach Angebot und Nachfrage gehandelt wurde. Mit der Industrialisierung verbunden war eine große Wanderungsbewegung vom Land in die Stadt und ein rasantes Bevölkerungswachstum. Folge davon war eine geistige, soziale und ökonomische Entwurzelung breiter Bevölkerungsteile, das Auseinanderfallen der Großfamilien als „soziales Netz“ sowie die Verelendung und Proletarisierung der Massen in den Städten.

Die ersten, die diesen Prozeß zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland kommen sahen und lange vor Marx kritisierten, waren drei katholische Intellektuelle: Joseph Görres, Adam Müller und Franz von Baader. Diese Männer und ihre Kreise waren entschiedene Gegner des Liberalkapitalismus und vertraten das romantische Ideal einer berufsständischen Ordnung in Anlehnung an das Mittelalter. Aber nicht diese restaurative Lösung setzte sich durch, sondern die sozialpolitische Reform. Für diese Reformlinie stehen Namen wie Franz Josef Ritter von Buß. Adolf Kolping und vor allem Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteier. Diese christlich-sozialen Persönlichkeiten waren keine Ausnahmeerscheinungen, nicht das „soziale Feigenblatt“ der Kirche. Sie gelten als Pioniere einer christlich-sozialen Massenbewegung, die über die Zentrumspartei auch politisch wirksam wurde und sich als eigentliche Avantgarde herausstellte. Dieser Bewegung ging es nicht darum, den überaus produktiven Kapitalismus abzuschaffen, sondern ihm die Giftzähne zu ziehen und ihn sozialpolitisch zu bändigen. Die sozialpolitischen Vorstellungen, wie sie besonders von Bischof Ketteier formuliert worden waren, sind dann auch vom päpstlichen Lehramt aufgegriffen worden. In der Enzyklika „Rerum novarum“ von 1891 bestätigte Leo XIII. das, was der deutsche Sozialkatholizismus bereits Jahrzehnte zuvor gefordert und teilweise auch schon durchgesetzt hatte:

1. die Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik, 2. die Verbürgung des Koalitionsrechtes (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) und 3. die soziale Bindung des Privateigentums. Dieses uns heute selbstverständlich erscheinende Programm wurde schrittweise und gegen große Widerstände realisiert. Es hat sich aber schneller durchgesetzt und vor allem besser bewährt als alle Revolutionsversuche. Nicht die marxistische Revolution. sondern die sozialpolitische Reform hat die soziale Frage des 19. Jahrhunderts weitgehend gelöst. Diesen Lernprozeß haben vor allem die Sozialisten durchmachen müssen; gegenwärtig setzt er sich noch fort in den Reformbemühungen des „Ostblocks“. Aber auch vom altliberalen Kapitalismus ist hierzulande nicht mehr viel übriggeblieben; er hat sich zur Sozialen Marktwirtschaft hin entwikkelt. Daß daran die Katholische Soziallehre stark beteiligt war, bezeugen Männer wie Alfred Müller-Armack und Wilhelm Röpke.

Wäre es nicht naheliegend, wenn die lateinamerikanische Kirche und Gesellschaft aus den geschichtlichen Erfahrungen, die Europa im Umgang mit ähnlichen Problemen gemacht hat, lernen könnte? Diese Frage wird gegenwärtig — auch mit Blick auf den „Ostblock“ — unter den katholischen Sozial-ethikern der Bundesrepublik ernsthaft diskutiert. Der „Zweiten“ und „Dritten“ Welt, mit deren kirchlichen Vertretern ein intensiver Dialog im Gange ist, kann dauerhaft nicht durch Almosen und Darlehen geholfen werden, die abhängig machen. Hilfreicher auch als das technische ist das ordnungspolitische und sozialethische „Know how“, das Wissen, wie eine Gesellschaft rechtlich und ökonomisch selbständig handeln kann.

Da die lehramtliche Katholische Soziallehre in Lateinamerika weitgehend unbekannt und unerprobt blieb, konnte eine theologische Bewegung mit revolutionärem Pathos in dieses Vakuum eindringen, die auch hierzulande Anhänger fand. Von Seiten der „Theologie der Befreiung“, die selber ihren marxistisch-europäischen Ursprung nicht verleugnen kann, wird der Katholischen Soziallehre eine einseitig „eurozentrische“ Ausrichtung vorgeworfen, sie tauge nichts für die Lösung der lateinamerikanischen Probleme. Dabei stellt diese Lehre nicht viel mehr dar als das Kontinuum lehramtlicher Aussagen zu sozialen Fragen, die überall in der Welt auftauchen können. Sie ist im Kem nicht mehr als eine kondensierte soziale Werterfahrung der Kirche über nationale Grenzen hinaus, eine soziale Wertorientierung, die sich auf die Heilige Schrift beruft und der allgemein menschlichen Vernunft zugänglich ist.

Daß sich die sozialen Fragen wie die kirchlichen Antworten mit der Zeit geändert haben, ist nicht zu bestreiten. Die Katholische Soziallehre erweist sich nicht als ein geschlossenes Ganzes von gleichbleibender Gültigkeit, sondern als eine Lehrentwicklung, die auch Wandlungen, Akzentverlagerungen und Ergänzungen kennt. Änderungen hat es gegeben etwa in den Stellungnahmen zur Religions-und Pressefreiheit, zur Zins-und Eigentumsfrage und zum demokratischen Staatswesen. Päpstliche und bischöfliche Dokumente zu sozialen Fragen dürfen nicht wie dogmatische Definitionen gelesen werden. Ihre konkreten Formulierungen sind nur in ihrem geschichtlichen Kontext zu erfassen, was jedoch keine generelle Relativierung bedeutet, da es möglich ist, aus der zeit-und geistesgeschichtlichen Einkleidung dieser Lehre den inneren, gleichbleibenden Kern herauszuschälen.

Entscheidend bei der Interpretation und Anwendung lehramtlicher Aussagen ist es, die Substanz, das Prinzip zu erkennen — und zu unterscheiden von dem jeweiligen historischen Kontext, dem geistesgeschichtlichen Kolorit. Es zeigt sich nämlich, daß sich das kirchliche Lehramt in sozialen Fragen meist zu ganz bestimmten Zeitproblemen äußert und sich auf den jeweiligen konkreten Entwicklungsstand bezieht. Das harte Urteil der Kirche z. B. gegen den Liberalismus im vorigen Jahrhundert bezog sich auf den damals noch vorherrschenden quasi dogmatischen Weltanschauungscharakter, von dem sich die heutigen liberalen Strömungen weitgehend distanzieren.

Wie sehr sich die sozialen Problemfelder in unserem Jahrhundert verschoben haben, läßt sich am Entwicklungsgang der päpstlichen Sozialenzykliken ablesen, die auch in den Hirtenworten der deutschen Bischöfe ihre Entsprechung fanden: „Quadragesimo anno“ (1931) verlangt eine bessere Integration und Mitwirkung der Arbeiter im Wirtschaftsleben; gegenüber zentralistischen Tendenzen und Monopolen wird der subsidiäre Aufbau der Gesellschaft hervorgehoben. „Mater et Magistra“ (1961) unterstreicht den Vorrang der Privatinitiative in der Wirtschaft und rückt die internationale Dimension der sozialen Fragen in den Vordergrund. „Pacem in terris“ (1963) klärt die Wert-grundlagen der gesellschaftlichen und politischen Friedensordnung. „Populorum Progressio“ (1967) legt die Bedingungen für den Fortschritt der Entwicklungsländer dar und plädiert für eine internationale Solidarität.

Den neuen sozialen Problemen widmet sich „Octogesima adveniens“ (1971) vor allem zugunsten jener, die an den Rand der Wohlstandsgesellschaft gedrängt werden, weil sie keine mächtigen Interessenverbände hinter sich haben. Dieser „apostolische Brief'weist auch schon auf die ökologischen Grenzen des Wachstums hin, ein Thema, das dann in „Redemptor hominis“ (1979) vertieft wird. Mit „Laborem exercens“ (1981) wird die Wandlung von der alten Arbeiterfrage zur neuen Arbeitsfrage besiegelt. Der Arbeitsbegriff wird entgrenzt, seine sozialethische und religiöse Werthaftigkeit hervorgehoben. Damit wird auch der kreative und innovatorische Charakter der Arbeit unterstrichen. Diese Linie wird weitergeführt in der jüngsten Enzyklika „Sollicitudo rei socialis" (1988), in der das internationale Entwicklungsproblem wieder aufgegriffen und auch unter dem Aspekt von Arbeit und Selbsthilfe abgehandelt wird. In diesem Zusammenhang wird — zum ersten Mal in dieser Ausführlichkeit — die Arbeit und Initiative der Unternehmer als unentbehrlich gewürdigt.

Viele dieser kirchenamtlichen Verlautbarungen galten zum Zeitpunkt ihres Erscheinens im (katholischen) Deutschland bereits als Selbstverständlichkeit. Man denke nur an die sozialpolitischen Vorstöße der Zentrumspartei im Kaiserreich und an die sozialstaatlichen Errungenschaften, die der Zentrumspolitiker Heinrich Brauns in der Weimarer Republik bewirkte. War auch der „politische Katholizismus“ nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr wirksam geworden, so konnte die katholische Sozialbewegung doch die sozialpolitische Ausgestaltung der Bundesrepublik deutlich mitprägen. Und zwar einerseits über den Dominikaner und Sozialethiker Eberhard Welty, der die CDU-Pro-grammatik bis zum Ahlener Programm (1947) wesentlich beeinflußte, andererseits durch die „Katholische Arbeitnehmerbewegung“ (KAB), die über die CDU-Sozialausschüsse politisch wirken konnte. So fand der Gedanke der Sozialpartnerschaft (anstelle des Klassenkampfes) Eingang in das Betriebsverfassungsgesetz.

Einfluß gewannen kirchliche Kreise bis in die sechziger Jahre hinein auch auf die Gestaltung der Familien-, Wohnungsbau-und Bildungspolitik sowie auf die Politik der Vermögensbildung. Im „Bund Katholischer Unternehmer“ (BKU) entwickelten Werner Schreiber und Josef Höffner die Formel für die „dynamische Rente“, die allerdings nicht vollständig verwirklicht wurde. Umstritten zwischen KAB und BKU blieb bis heute die Frage der paritätischen Mitbestimmung, die inzwischen freilich an Bedeutung und Interesse verlor. In den siebziger Jahren ging der politische Einfluß der katholisch-sozialen Bewegung erheblich zurück, nicht nur wegen des Regierungswechsels zur SPD-FDP-Koalition, sondern auch wegen des Unvermögens, neue Herausforderungen (z. B. Umweltschutz, Friedenspolitik. technischer Fortschritt) rechtzeitig aufzugreifen und politisch anzugehen. Die Bewegung erlahmte und wurde von „alternativen“ Bewegungen überholt. In den achtziger Jahren verkleinerte sich zudem der sozialpolitische Verteilungsspielraum, der Sozialstaat schien seine finanziellen Grenzen erreicht zu haben und bedarf eines Umbaus nach dem Prinzip der Subsidiarität (Hilfe zur Selbsthilfe). Hier findet die katholische Sozialbewegung ein neues Bewährungsfeld, wenn sie auch nicht mehr an die alten Erfolge anknüpfen kann.

II. Fragen der Legitimation

Was hat die Kirche überhaupt mit sozialen und politischen Fragen zu tun? Je stärker sich die Kirche in „weltliche“ Dinge einmischt, desto mehr läuft sie Gefahr, in Machtkämpfe und Interessenkonflikte hineinzugeraten. Dies ist oft gar nicht zu vermeiden. Auch wenn sich die Kirche „neutral“ verhält, kann sie in parteipolitische Streitfälle hineingezogen werden. Andererseits ist sie um der Wirksamkeit ihrer Soziallehre willen auf (partei-) politische Umsetzung angewiesen, ohne sich an bestimmte Parteien oder Regierungen zu binden, da sie für alle Menschen dasein muß.

Die Kirche ist nicht gesellschaftlich oder demokratisch, sondern religiös legitimiert. Als Gemeinschaft der Gläubigen hat die Kirche in der Gesellschaft — und sei sie auch noch so säkularisiert — das Evangelium vom Reich Gottes öffentlich zu verkündigen und darzustellen. Diese originäre Aufgabe kann sie allerdings nur dann wahmehmen, wenn sie nicht von einem totalitären Regime daran gehindert wird, das den Anspruch erhebt, das endgültige Heil der Menschheit herbeizuführen. Unter politischen Umständen, die eine freie und öffentliche Religionsausübung nicht zulassen, muß die Kirche, um ihre ureigene Aufgabe erfüllen zu können, auch die politischen Bedingungen der Möglichkeit ihrer eigenen Wirksamkeit verbessern.

Es gibt aber auch ökonomische Bedingungen, die die Verkündigung der kirchlichen Botschaft behindern können. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise (1931) schrieb Papst Pius XI. in seiner Enzyklika „Quadragesimo anno“: „Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart können ohne Übertreibung als derartig bezeichnet werden, daß sie einer ungeheuer großen Zahl von Menschen es außerordentlich schwer machen, das eine Notwendige, ihr ewiges Heil zu wirken.“ Wenn also widrige Verhältnisse dazu führen können, die Menschen vom Glauben abzubringen und zu demoralisieren, dann können günstige Bedingungen, in denen die Menschenwürde geachtet wird, das Glaubensleben auch erleichtern. Das bedeutet allerdings nicht, daß die Verbesserung von gesellschaftlichen Strukturen heilsnotwendig wäre. Sonst könnte man sich nicht erklären, daß auch zu Zeiten der Kirchenverfolgung und des großen Elends viele Menschen zum Glauben finden.

Wenn soziale, ökonomische und politische Strukturen heilsrelevant, also nicht gleichgültig für das Heilswirken sind, dann kann sich die Kirche nicht auf den privaten Bereich religiöser Innerlichkeit und Moralität zurückziehen und darf ihre Aufgabe nicht nur in der Pflege von Liturgie, Gebet und Meditation sehen. Eine privatistische und pietistische Abkapselung ist auch mit dem Missionsauftrag der Christen, in alle Welt zu gehen, nicht vereinbar.

Das soziale Engagement der Kirche kann gelegentlich aber auch Formen und Ausmaße annehmen, die den Eindruck entstehen lassen, als habe man es mit einem Partei-oder Gewerkschaftsersatz zu tun und als sei die Kirche nur dazu da, das Gemeinwohl der Gesellschaft zu fördern. Freilich sind Situationen denkbar und (vor allem in Lateinamerika) auch real gegeben, in denen die Kirche gerade in Ermangelung sozialorientierter Parteien und freier Gewerkschaften „in die Bresche springen“ muß. um das Massenelend zurückzudrängen und einigermaßen menschliche und gerechte Verhältnisse herzustellen. Denn einem Verhungernden gegenüber kann man die frohe Botschaft nicht bloß predigen, und es wäre zynisch, ihn auf ein besseres Jenseits zu vertrösten. Ebenso menschenverachtend wäre es zu sagen: Not lehrt beten, also lassen wir es bei der Not.

Wenn besonders den Armen die frohe Botschaft zu verkünden ist, kann es notwendig sein, zunächst einmal die Lage der Armen tatkräftig zu verbessern. Das ist im übrigen schon vom christlichen Liebesgebot her gefordert. Die Gottes-und Nächstenliebe gehören unlösbar zusammen, und ein Glauben ohne „gute Werke“, also ohne gelebte Moral, ist tot. Freilich erschöpft sich der Glaube nicht in Werkgerechtigkeit. Der Inhalt der christlichen Botschaft reicht unendlich weiter, als der Gläubige begreifen und „praktizieren“ kann.

Das verheißene Reich Gottes ist kein innerweltliches Zukunftsreich, das durch Politik und Gesellschaftsreform hergestellt oder verhindert werden könnte. Es ist nicht „von dieser Welt“. Vielmehr ist die Herrschaft Gottes, die mit Jesus Christus begonnen hat und mit seiner Wiederkunft vollendet wird, ein Geschenk der Gnade, das sich nicht politisch verfügbar machen läßt. An dieser geheimnisvollen Heilswirklichkeit kann der gläubige Christ mitwirken, indem er sich in „guten Werken“ der Liebe und Gerechtigkeit bewährt. Er kann sich aber nicht durch eine werkgerechte „Orthopraxis“ das Himmelreich erwerben.

Die Kirche glaubt nicht an die Machbarkeit des „neuen Menschen“ und die Konstruktion eines irdischen Paradieses. Sie läßt sich leiten von der realistischen Einsicht in die Mangelhaftigkeit des konkreten Menschen und in die Vorläufigkeit seines Handelns. Aus christlicher Sicht ist der Mensch ein fehlbares Mängelwesen, das, von der Erbsünden-verstrickung belastet, nicht in der Lage ist, die absolute Gerechtigkeit und das perfekte Glück auf Erden zu realisieren. Die Kirche leidet also nicht an jenem Münchhausen-Komplex der Selbsterlösung, wonach man sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf herausziehen kann. Sie fordert nicht die totalitäre Einheit zwischen Theorie und Praxis, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, sondern nimmt die bleibende Differenz zwischen beiden in Kauf. Sie erträgt die „eschatologische" Differenz zwischen dem „Schon“ des Erlöstseins und dem „Noch nicht“ der vollendeten Erlösung — und leitet aus der Spannung zwischen der göttlichen Verheißung und ihrer endgültigen Erfüllung keinen politisch-revolutionären Befreiungsauftrag ab.

Konstitutiv für die kirchliche Soziallehre und auch für den christlich geprägten abendländischen Politikbegriff ist die Unterscheidung (nicht strikte Trennung) der „zwei Reiche“, des göttlichen und des weltlichen, sowie die Bescheidung des Politischen auf den weltlichen Bereich, der immer nur ein mangelhaftes Provisorium bleibt. Gerade weil sich christliche Hoffnung auf das politisch nicht machbare ewige „Heil der Welt“ bezieht und sich auch nicht mit der ökologisch-pazifistischen Vision einer „heilen Welt“ ersatzweise abfindet, kann sich christlich motivierte Politik darauf konzentrieren, die (staatliche) Gemeinwohlordnung verantwortlich zu gestalten.

Die Kirche ist aber nicht dazu da, irgendeinen gesellschaftlichen Status quo oder einen revolutionären Prozeß dogmatisch zu legitimieren. Wenn die Kirche auch mehr für das ewige Heil als für das zeitliche Wohl des Menschen zuständig und beauftragt ist, so bedeutet das nicht, daß beide Dimensionen völlig zu trennen wären. Als Geschöpf Gottes stellt der Mensch eine Einheit von Geist, unsterblicher Seele und Leib dar. Die Kirche kann diese Einheit nicht auseinanderdividieren — und sich nur um die „Seelen“ kümmern in der Hoffnung auf das Reich Gottes. Diese Hoffnung ist übrigens nicht mit einer innerweltlichen Resignation vereinbar. die jede Ungerechtigkeit duldet und tatenlos auf das Gottesreich wartet.

Zum kirchlichen Verkündigungs-und Heilsauftrag gehört also der notwendige, wenn auch nicht hinreichende Aspekt der ethischen Bewährung, vor allem zugunsten der Armen. Der Eintritt in das Reich Gottes ist bekanntlich an bestimmte ethische Bedingungen geknüpft. Zum Beispiel haben es nach christlicher Lehre „die Reichen“, die sich ganz auf ihren Reichtum verlassen und nur an ihr eigenes Wohl denken, sehr schwer, in das Himmelreich zu kommen. Die kirchliche „Option für die Armen“ motiviert Christen, auch im Bereich des Sozialen und Politischen mitzuwirken, um Leiden zu mindern. Freilich ist einzuräumen, daß die Kirche keine speziellen Patentrezepte zur strukturellen Lösung von Armut und Leid besitzt. Es gibt auch keinen Grund zu der Annahme, daß überhaupt ein gesellschaftlicher Zustand erreicht werden könnte, in dem es keine Armut und keinen Mangel mehr gibt.

Gerade in den westlichen Überflußgesellschaften zeigen sich immer neue Formen von Armut und Elend. Sie haben es vor allem mit Angst, Sinnverlust und Orientierungslosigkeit zu tun, die vielleicht auch mit dem Unvermögen der säkularisierten Gesellschaft Zusammenhängen, moralische und sinn-stiftende Verbindlichkeiten zu begründen und ein Klima des Vertrauens und der Hoffnung zu vermitteln. Auch in einem perfekten Wohlfahrts-und Sozialstaat ist das Seelenheil nicht in den Strukturen zu finden. Glaube, Hoffnung und Liebe lassen sich nicht gesamtgesellschaftlich institutionalisieren, auch nicht in einem „christlichen Staat“, sondern nur auf personaler Ebene erfahren. Auf dieser Ebene liegt wohl auch das Hauptbewährungsfeld der Kirche, der es primär um eine „Bekehrung der Herzen“ gehen muß.

Der kirchlich vermittelte Glauben und das entsprechende sittliche Verhalten sind vorrangig eine personale Angelegenheit. Sie setzen die Gnade, die Freiheit und das Gewissen des einzelnen voraus und dürfen deshalb nicht gesellschaftlich erzwungen werden, etwa durch politische Entscheidungen oder rechtliche Strukturen. Als soziales Wesen ist der Mensch aber auf die Gesellschaft, also auf das Beziehungsgeflecht zwischen den Menschen, naturgemäß ausgerichtet und angewiesen. Seine Werteinstellungen und Handlungen färben auf die gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen ab, deren Träger er ist — und von denen er auch getragen und beeinflußt wird.

Das Evangelium enthält aber keine politischen Handlungsanweisungen zum Aufbau einer spezifisch „christlichen“ Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung. Mit der Bergpredigt läßt sich, wie Bismarck sagte, „kein Staat machen“. Ihr Geltungsbereich ist die Kirche, die zwar als „Kontrastgesellschaft“ gelten und als „Sauerteig“ wirken kann, sich jedoch nicht an die Stelle der Gesamtgesellschaft setzen darf.

Die Kirche hat deshalb in ihrer Soziallehre Ordnungsprinzipien und Wertkriterien entwickelt, die sowohl mit dem Glauben vereinbar als auch der allgemeinen Vernunft zugänglich sind. Diese Lehre wendet sich an „alle Menschen guten Willens“ und pocht nicht nur auf den Glaubensgehorsam. Die Kirche ist legitimiert und sogar verpflichtet, sich kritisch und konstruktiv zu grundlegenden Wertfragen der Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung zu äußern, ohne ein konkretes Modell dogmatisch vorzuschreiben. Damit ist die Frage nach den Grenzen kirchlicher Sachkompetenz aufgeworfen.

III. Grenzen der kirchlichen Kompetenz

Das kirchliche Lehramt ist nach seinem Selbstverständnis nicht nur legitimiert, sondern auch aufgefordert, die jeweiligen sozialen und politischen Fragen aus der Sicht des Glaubens und der Ethik einer Bewertung zu unterziehen. Die lehramtlichen Äußerungen dienen dazu, das verantwortliche Handeln der Gläubigen innerhalb der gegebenen Gesellschafts-und Wirtschaftsordnung zu orientieren und auch zur aktiven Gestaltung und Verbesserung dieser Ordnung anzuregen. Dabei beschränkt sich die Kirche nicht auf eine Schärfung der Gewissen oder auf eine Verbreitung abstrakter Prinzipien und Normen, die nur ständig zu wiederholen wären.

In ihrem wesentlichen Kem stellt die Katholische Soziallehre eine prinzipielle Entfaltung des christlichen Menschenbildes dar. Ihre bleibende Substanz, ihre Hauptprinzipien, lassen sich schnell nennen: Solidarität, Subsidiarität, Gemeinwohl. Sie finden, wie Oswald von Nell-Breuning einmal bemerkte, Platz auf einem Fingernagel. Aber was bedeuten diese Abstraktionen inhaltlich für die Praxis? Wie kann man sie auf das gesellschaftliche Leben beziehen und anwenden? Welche konkreten Erfahrungen und institutionellen Vermittlungen sind dabei zu berücksichtigen? Welche Handlungsmotivationen und -kriterien sind aus dem Glauben zu schöpfen?

Auf diese Fragen sucht die Kirche Antworten zu geben, die der jeweiligen sozialen Herausforderung angemessen sind. Bei den päpstlichen Enzykliken und bischöflichen Hirtenworten handelt es sich um praxisbezogene rahmenhafte Orientierungen, welche die Richtung anzeigen, in der nach konkreten Lösungen zu suchen ist. Die technisch-instrumentellen Lösungen einzelner Sachprobleme liegen allerdings nicht in der Kompetenz des kirchlichen Amtes, sondern die Kirche überläßt diese Frage dem Sachverstand der „Laien“, d. h.der Fachleute, die zu unterschiedlichen Urteilen über die Mittel und Wege kommen können, die zum selben Ziel führen.

Zwischen den allgemeinen Prinzipien und den konkreten Lösungen liegt ein langer und oft verschlungener Weg.den die Kirche in der realistischen Wahrnehmung, ethischen Bewertung und Bewältigung der Wirklichkeit zurücklegen muß. Die meisten kirchlichen Dokumente zu sozialen und politisehen Fragen beginnen mit einer — wenigstens skizzenhaften — Beschreibung und Bewertung der Situation, in die sie jeweils hineinsprechen. Sie fragen nach den Wirkungen der sozioökonomischen Strukturen und gehen auch auf die Möglichkeit oder Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen ein.

Um ihrer Wirksamkeit willen ist die Kirche auf eine zutreffende Analyse der jeweiligen Situation angewiesen. Die kirchlichen Verlautbarungen beanspruchen für sich keine besondere Kompetenz für wissenschaftliche Analysen, sondern sind hier auf die Ergebnisse der Fachwissenschaften angewiesen, um auf konkrete Situationen, auf die materiellen Vorgegebenheiten und gesellschaftlichen Konditionen menschlicher Existenz eingehen zu können.

Für ein sachgerechtes Eingehen auf soziale und politische Fragen ist die Berücksichtigung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse notwendig. Die Frage, wie konkret und zutreffend sich das kirchliche Lehramt zu sozialen Fragen äußern kann, hängt freilich auch mit der Frage zusammen, wie zuverlässig und wirklichkeitsgetreu sozialwissenschaftliche Aussagen sein können. Die moralische Glaubwürdigkeit einer Kirche, die sich ganz auf eine geborgte wissenschaftliche Kompetenz verließe, müßte aber in dem Maße Schaden nehmen, wie die Wissenschaften dem Irrtum unterworfen sind.

Soziologen und Volkswirtschaftler räumen zunehmend ein, wie unvollkommen und provisorisch ihre Analysen und Therapievorschläge sind, wie unzutreffend vor allem ihre Prognosen sein können. Der Verheißungsglanz der Zukunfts-und Friedensforschung ist erloschen. In der Diskussion um Kernenergie und Umweltschutz gibt es auch unter Naturwissenschaftlern erhebliche Meinungsunterschiede, was zu großen Vertrauenseinbußen geführt hat. Immer deutlicher tritt der hypothetische Charakter wissenschaftlicher Aussagen hervor, die falsifizierbar sind und nur so lange gelten, wie sie sich in der Praxis bewähren.

Je mehr die kirchliche Sozialverkündigung sachwissenschaftliche Analysen übernimmt, desto stärker gewinnt ihr Sprechen einen hypothetisch-falsifizierbaren Charakter, der einen Verbindlichkeitsschwund signalisiert, weil er auf einer oft bestreitbaren Sachkompetenz aufbaut. Andererseits — und hier zeigt sich ein echtes Dilemma — büßt die Kirche einen erheblichen Teil ihrer Wirkungsmöglichkeiten ein, wenn sie auf den sozialwissenschaftlichen und auch naturwissenschaftlichen Zugang zur konkreten Wirklichkeit verzichtet. Zur Lösung dieses Dilemmas bietet sich ein pragmatischer Mittelweg an, auf dem sich die Kirche über ihre theologische Wissenschaft am allgemeinen wissenschaftlichen Dialog beteiligt. In diesem Dialog geht es um ein doppeltes Programm: Daß nämlich die Kirche einerseits ihre Wertkriterien in den wissenschaftlichen Diskurs einführt — und daß sie sich andererseits jener empirischen Einzelwissenschaften vorsichtig bedient, deren Ergebnisse in der Praxis nachprüfbar sind und sich allgemein bewährt haben.

Freilich kann die Kirche nicht jetzt noch dem neuzeitlichen Fortschrittsmythos erliegen, als ob durch die modernen Wissenschaften im Laufe der Zeit alle Probleme lösbar, alle Zukunftsvorhaben planbar und durch Technik machbar seien. Am Beispiel der Gentechnologie wird gegenwärtig besonders deutlich, daß Fachwissenschaften nicht nur alte Probleme lösen, sondern auch gravierende neue hervorrufen können. Auch die empirischen Sozial-wissenschaften sind auf ethische Normen angewiesen, die sie nicht mit ihren eigenen Methoden begründen können. Hier kann sich die ethische Wert-kompetenz der Kirche bewähren.

Es gibt immer noch Gläubige, die mit allzu großen Erwartungen an das kirchliche Lehramt herantreten und in ihm eine universale soziale Problemlösungsinstanz erblicken, die von Rom oder den orts-kirchlichen Zentralen aus sämtliche Probleme in aller Welt überblicken und lösen könnte. Das Lehramt wäre jedoch überfordert, die komplexen internationalen Zusammenhänge in den Griff zu bekommen und konkret zu sagen, wie im einzelnen die Armut in Brasilien oder Polen zu beseitigen, die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik abzubauen und der Umweltschutz zu institutionalisieren sei. Selbst wenn es auch gelegentlich konkrete Maßnahmen vorschlägt, ist damit noch nicht die Garantie der Realisierbarkeit gegeben.

Aus diesen Gründen gibt es auch in der Kirche eine Kompetenzverteilung nach dem Subsidiaritätsprinzip. Die ortskirchlichen Bischöfe und nationalen Bischofskonferenzen sind viel näher an den Brennpunkten und können sachkompetenter und deutlicher sprechen als Rom. In ihren Hirtenworten können sie sich auch leichter mit detaillierten Vorschlägen vorwagen, als es die zurückhaltend formulierten päpstlichen Enzykliken tun.

Aber auch für diese Ebene der kirchlichen Sozial-verkündigung gilt der Verzicht, konkrete Lösungen und Modelle autoritativ vorzuschreiben. Damit nimmt die Kirche Rücksicht auf die relative Autonomie der gesellschaftlichen Sachbereiche, die ihre eigenen Regelkreise haben. Sie akzeptiert die Pluralität der Gesellschaft, deren Gruppen auf verschiedenen Wegen ihre Werte verwirklichen können. Und sie respektiert die Säkularität des Staates, der nicht im Dienst einer bestimmten Religion steht, sondern ethischen Werten verpflichtet ist, die konsensfähig sind.

Gesellschaftlich ernst genommen wird die Kirche nicht, wenn sie sich nur auf eine sentimentale „Kompetenz der Betroffenheit“ beruft, die Inflation von Solidaritätserklärungen verstärkt und das jugendbewegte Protestverhalten nachahmt. Die kirchlichen Repräsentanten in der Bundesrepublik lassen in ihren gesellschaftlich relevanten Äußerungen überwiegend erkennen, daß sie sich nicht in rhetorischer Kritik erschöpfen und sich nicht auf eine Abwehrhaltung versteifen, die in der bloßen Verneinung des Negativen besteht. Vielmehr erweist sich ihre „Kompetenz der Verantwortung“ vor allem darin, daß sie sich konstruktiv und wertbewußt an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligt. Gefragt ist dabei eine praktische Verbindung von Wert-und Sachkompetenz, die nur in einem Zusammenspiel von kirchlichem Amt, wissenschaftlicher Vermittlung und praktischer Bewährung gelingen kann.

IV. Autoren, Träger und Adressaten der kirchlichen Lehrschreiben

Als lehramtliche Träger und verbindliche Autoren kirchlicher Stellungnahmen sind der Papst und die Bischöfe anzusprechen. Das „ordentliche“ Lehramt definiert also den Inhalt und die Grenzen der kirchlichen Sozialverkündigung. Allerdings erhebt es dabei nicht den Anspruch auf Unfehlbarkeit. Die Kirche kennt keine sozialen, politischen oder öko-nomischen Dogmen. Soziale Fragen lassen sich nicht dogmatisch klären und ein für allemal festlegen oder lösen. Vielmehr ist das Lehramt auf den praktischen und theoretischen Sachverstand der Laien und Priester verwiesen, wenn es den Zugang zur sozialen Wirklichkeit sucht. Päpste und Bischöfe lassen sich meist fachlich beraten, bevor sie mit sozialen Verlautbarungen an die Öffentlichkeit treten.

So darf man hinter den Sozialenzykliken und Hirtenworten einen Stab von „Ghostwritern“ vermuten. Schon „Rerum novarum“ (1891) verdankte sich weitgehend den Beratungsergebnissen der „Union de Fribourg“, einer Vereinigung von Gelehrten und Praktikern. Von „Quadragesimo anno“ (1931) ist bekannt, daß sie überwiegend von den deutschen Sozialwissenschaftlem Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning verfaßt wurde. Zu den Autoren und Trägern der Katholischen Sozial-lehre auf weit-und ortskirchlicher Ebene gehören indirekt also auch die theologischen Fachvertreter, die nicht nur die nachträgliche Systematisierung und kritische Reflexion besorgen, sondern auch an der inhaltlichen Entwicklung der lehramtlichen Sozialverkündigung oft maßgeblichen Anteil haben.

Ihrerseits sind diese Ebenen des Lehramtes und der Wissenschaft meist sehr eng mit einer dritten Ebene verbunden, nämlich mit der katholischen Sozialbewegung. Dazu zählen in der Bundesrepublik Deutschland vor allem die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB), das Kolpingwerk, die Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung (KKV) sowie der Bund Katholischer Unternehmer (BKU). Diesen kirchlichen Sozialverbänden und Gruppen ist mehr die praktisch-konkrete Vermittlung der Katholischen Soziallehre in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bereich aufgetragen. Dabei sind sie keineswegs bloß ausführende Organe, die die „Theorie“ nur in die „Praxis“ umzusetzen hätten. Auf dieser Ebene zeichnet sich eine breite Pluralität von Initiativen ab, die von unterschiedlichen Standorten, Interessen und Sachkompetenzen geprägt sind. Diese vielfältigen Aktionen bedürfen des objektivierenden Filters der wissenschaftlichen Ebene, um sich auf die Lehrentwicklung der Amtsebene auswirken zu können.

Diese Arbeitsteilung zwischen Amt, Wissenschaft und Bewegung bedeutet keine Einbahnstraße von „oben nach unten“ oder von „unten nach oben“. Vielmehr bilden die drei Ebenen einen dynamischen Zusammenhang. Sie sind voneinander abhängig und durchdringen sich gegenseitig. Wie variabel hier faktisch die Grenzen verlaufen, zeigt die Entstehungs-und Wirkungsgeschichte einer Enzyklika wie „Rerum novarum“. Freilich repräsentieren weder einzelne Wissenschaftler und Verbände noch einzelne Bischöfe und Priester die Katholische Soziallehre schlechthin, wenn man die abgestufte Verbindlichkeit zwischen den Amtsträgem und den Laien, zwischen der universalen Kirche und der Ortskirche berücksichtigt. Damit kann der Kembereich der Soziallehre leichtervor ideologischen Vereinseitigungen und partikulären Interessen geschützt werden.

Natürlich strebt jede sozial orientierte Gruppe innerhalb der Kirche danach, die Autorität der Kirche für sich in Anspruch zu nehmen. Zwar kann die Kirche sich von diesen Gruppen nicht für deren Zwecke vereinnahmen lassen, andererseits ist sie aber auf den Sachverstand dieser Gruppen angewiesen. In der Praxis kommt es freilich nicht nur auf den autoritativen Geltungsanspruch des kirchlichen Amtes und die Gehorsamsbereitschaft der Gläubigen an, sondern vor allem auf die überzeugenden Argumente und die Mitwirkungsbereitschaft ihrer Adressaten.

In der Bundesrepublik Deutschland und in den meisten anderen Ortskirchen gelten bischöfliche Hirtenbriefe vor allem als pastorale Ermahnungen der Bischöfe (als Autoren) an Kirchenvolk und Öffentlichkeit (als Adressaten). Die einflußnehmenden Berater und Verbände bleiben meist verborgen. Die Diskussion über die veröffentlichten Stellungnahmen spielt sich meist in der innerkirchlichen Öffentlichkeit ab und erreicht nur dann, wenn es sich um kontroverse Themen handelt, ein breiteres Publikum.

Ganz anders gehen seit einigen Jahren die amerikanischen Bischöfe vor. Das von ihnen 1986 verabschiedete Dokument über „Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle — Hirtenbrief über die Katholische Soziallehre und die amerikanische Wirtschaft“ hat mehr internationale Aufmerksamkeit und Resonanz gefunden als irgendeine andere bischöfliche Verlautbarung. Originell daran ist nicht so sehr die inhaltliche Aussage, sondern die außergewöhnliche Vorgehensweise. Sie erinnert an eine ausgeklügelte Marketing-Strategie: Hier können die „Konsumenten“ über ihr nachgefragtes „Produkt“ mitbestimmen. Die Adressaten sind zugleich Mitautoren dessen, wonach sie sich auszurichten haben.

Die Beratung des Hirtenbriefs geriet zu einem großangelegten Dialog zwischen Laien und Hierarchie, zwischen Kirche und „weltlicher“ Öffentlichkeit. Drei Entwürfe wurden ausführlich diskutiert. In zahlreichen Hearings, Symposien und Gutachten konnten sich die unterschiedlichsten Positionen und Argumente öffentlich artikulieren. Die Ergebnisse dieser Diskussion, die weit über die Landesgrenzen hinausging, wurden in den Entwürfen und schließlich in der Endfassung des Hirtenbriefs berücksichtigt. Dieser Diskussions-und Klärungsprozeß vollzieht sich hierzulande kirchenintern, und zwar in und mit den katholischen Sozialverbänden, die auch im „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“ ein Forum und Entscheidungsgremium finden, sowie vor allem in den einschlägigen Fachkommissionen der Deutschen Bischofskonferenz. Hingegen hat die Kirche in den Vereinigten Staaten bis heute keinen sozialen Verbandskatholizismus hervorgebracht, der ihr öffentliche Wirksamkeit und Anerkennung eingebracht hätte. Die Katholische Sozial-lehre war in Vergessenheit geraten. Das mag die Bischöfe in den USA — und neuerdings auch in Österreich — dazu bewegt haben, sich einem langwierigen öffentlichen Prozeß der Konsultationen und Diskussionen zu unterziehen. Ob sich die amerikanische Methode auch auf die bundesrepublikanische Kirche übertragen läßt, ist gegenwärtig noch umstritten und hängt wohl auch vom Erfolg des österreichischen Experiments ab.

Den deutschen (wie auch den amerikanischen) Bischöfen läßt sich nicht der Vorwurf machen, sie strebten eine integralistische Vereinnahmung der Gesellschaft oder eine klerikale Bevormundung der Politik an. Die kirchliche Hierarchie bekennt sich vielmehr ausdrücklich dazu, die verantwortliche Selbständigkeit der gesellschaftlichen Teilbereiche zu respektieren. Sie erkennt die „rechtmäßige Eigengesetzlichkeit der Kultur und vor allem der Wissenschaften“ an („Gaudium et spes“ Nr. 59). Sie schreibt der pluralistischen Gesellschaft nicht vor, wie sie auf einem angeblich einzig legitimen und gangbaren Weg die gebotenen Zielwerte realisieren kann. Und sie legt Wert darauf, daß der Staat „weltlich“ bleibt und sich nicht anmaßt, religiöse Heilserwartungen politisch zu erfüllen.

Ein Rückfall in den Fundamentalismus, der sich aber nicht auf die Katholische Soziallehre berufen kann, sondern eher der politischen „Theologie der Befreiung“ zuzurechnen ist, zeichnet sich in einigen kirchlichen Randbewegungen ab. Kennzeichnend dafür ist. daß ökonomische und politische Fragen zu dogmatischen Glaubensfragen hochstilisiert und in den Gottesdienst hineingezogen werden. Demonstrative Wallfahrten, Meßfeiern und andere Gebetsveranstaltungen werden gelegentlich zugunsten einer Interessengruppe oder politischen Bewegung abgehalten, etwa für eine Friedensbewegung, die sich gegen die Nachrüstung einsetzte. Geistliche in Amtstracht setzen ihre religiöse Autorität für umstrittene politische Ziele und Methoden ein — und damit auch aufs Spiel, indem sie etwa gegen Atomkraftwerke demonstrieren oder entsprechende Gottesdienste abhalten.

Wenn aber die Liturgie einseitig politisch instrumentalisiert wird, riskiert man. daß sie, die die Einheit der Kirche darstellen soll, zum Sprengsatz wird und den innerkirchlichen Frieden gefährdet. Denn man kann als Katholik mit guten Gründen für eine Nachrüstung sein, um zu einer gleichgewichtigen Abrüstung zu kommen, und für die Sicherung der Kernenergie plädieren, um größere Gefahren, die durch das Verbrennen fossiler Stoffe entstehen, abzuwenden. Die rationale Auseinandersetzung zwischen kirchlichen Gruppen um solche konkreten Streitfragen, die das kirchliche Amt nicht eindeutig entschieden hat und entscheiden kann, ist legitim und notwendig. Dafür ist freilich der Gottesdienst der denkbar ungeeignetste Ort. Und Parolen wie „Gott ist für die 35-Stunden-Woche“ schrecken Gläubige und Ungläubige gleichermaßen ab.

Die Kirche hat es nicht mehr nur mit Adressaten zu tun, die der Kirche verbunden sind, sondern zunehmend mit Angehörigen anderer Konfessionen, mit Nichtgläubigen und Atheisten. Mit ihren Stellungnahmen appelliert die Kirche werbend an die sittliche Vernunft aller Menschen — und nicht nur an den Glaubensgehorsam kirchengebundener Christen. So hat die Kirche in der Auseinandersetzung um den Paragraphen 218 nicht nur ihre Gläubigen an die moralische Sünde und Schuld der Abtreibung erinnert, sondern den verstärkten staatlichen Rechtsschutz des ungeborenen Lebens gefordert, und zwar mit dem auch im Grundgesetz verankerten Rechtsargument, daß jeder, auch der ungeborene Mensch, ein natürliches Recht auf Leben hat. Auch die kirchenoffiziellen Stellungnahmen zu den Themen Friedenssicherung, Umweltschutz, Arbeitslosigkeit, Gentechnologie und Asylrecht argumentieren überwiegend „naturrechtlich“ (bzw. schöpfungstheologisch, insofern „Natur“ als „Schöpfung“ vorverstanden wird) und berufen sich dabei auf die Würde und die Rechte, die dem Menschen vorgegeben sind.

Gegenstand der kirchlichen Sozialverkündigung sind nicht der modellhafte Aufbau und die religiöse Ausrichtung kirchlicher Gemeinden, die als „Basisgemeinden“ oder „Kontrastgesellschaft“ die strukturelle Umgestaltung der „bürgerlichen“ Gesellschaft bewirken sollen. Die Kirche hat zwar als „Sauerteig“, als „Licht der Welt“ und „Stadt auf dem Berge“ ein glaubwürdiges Zeugnis für alle Menschen abzulegen. Dieser hohe Auftrag, der ohnehin nur mangelhaft erfüllt wird, kann aber nicht den Anspruch begründen, innerkirchliche Strukturen und Glaubensnormen auf die Gesamtgesellschaft zu übertragen und mit staatlich-rechtlichen Mitteln durchzusetzen. Das würde gegen die Religionsfreiheit verstoßen, welche die Erzwingung einer religiös-moralischen Handlung ausschließt. Die Kirche bezweckt keine integralistische Verkirchlichung der Gesellschaft, sondern will — gemeinsam mit anderen Kräften — an der menschengerechten Gestaltung der Gesellschaft mitwirken. Gerade der säkularisierte Staat einer pluralisierten Gesellschaft lebt von weltanschaulichen und ethischen Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren und seinen Bürgern vorschreiben kann. Die Gemeinwohlordnung von Gesellschaft und Staat ist auf eine Moral der Bürger angewiesen, die nicht ins Beliebige abgleitet oder nur den Stärkeren nützt. Der Mangel an Moral kann auch nicht durch zunehmende Rechtsverordnungen kompensiert werden, da sonst der Rechtsstaat an seiner eigenen Verrechtlichung erstickt. Im Zeitalter eines empirisch feststellbaren „Wertewandels“ geht es um die Sicherung eines allgemeinverbindlichen Grundwert-bestandes, der dem konkreten Wertpluralismus einen tragfähigen Boden verleiht und ihm auch Grenzen setzt.

Zur dauerhaften Stiftung und Vermittlung dieses Wert-und Sinnzusammenhangs bedarf es gewisser Institutionen, darunter vor allem der Familie und der Kirche. Beide Institutionen sind (wie viele andere) in eine Krise geraten; sie haben, was die Sinn-und Wertvermittlung betrifft, Konkurrenz bekommen vor allem durch die Medien, die freilich ihre Moralvorstellungen nicht religiös begründen können. Die Kirche ist aber nicht nur eine „moralische Anstalt“, die eine nützliche gesellschaftliche Funktion zu erfüllen oder als Weltverbesserungsinstanz eine erfolgversprechende Rolle zu spielen hat.

Soll sich die Kirche überhaupt an dem üblichen Rollenspiel der Gesellschaft beteiligen, von dem sie nicht weiß, wer die Rollen verteilt und welches Stück gespielt werden soll? Oder soll sie nicht vielmehr eine eigenständige Aufgabe erfüllen, gelegen oder ungelegen und auch auf die Gefahr hin, als Spielverderber zu gelten? Das paulinische „Paßt euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch durch ein neues Denken“ deutet eher auf die zweite Möglichkeit hin, nämlich auf die Aufgabe der Kirche, nicht nur die „Zeichen der Zeit“ aus dem Glauben zu deuten, sondern auch aktiv zu setzen. Demnach müßte die Kirche selber ein Zeichen der Zeit und für die Zeit werden, deren Geist freilich nicht die heile Welt, sondern das Heil der Welt verheißt.

V. Neue Herausforderungen

Dieses Heil ist allerdings kein politischer Begriff, sondern eine geheimnisvolle Glaubenswirklichkeit, und jede Politik, die endgültige Heilsansprüche zu erfüllen versucht, wird totalitär. Dagegen hat die Kirche ihren „eschatologischen Vorbehalt“ anzumelden. Diese kritische Funktion reicht allerdings nicht aus, damit sich die Kirche und die Christen in der Welt sittlich bewähren können. Die Kirche muß um der Glaubwürdigkeit ihrer Heilsbotschaft willen konstruktiv am Aufbau menschenwürdiger Verhältnisse mitwirken, unter denen die freie Übernahme religiöser und sittlicher Verantwortung erleichtert wird. Zu den größten Herausforderungen für die Kirche gehört gegenwärtig wohl die moralische Dimension des technischen Fortschritts.

Die Gegenwart ist von starken Vorbehalten gegenüber einer verwissenschaftlichten und technisierten Lebenswelt geprägt. Ein Großteil der Bevölkerung glaubt nicht mehr an die Segnungen des technischen Fortschritts, sondern fürchtet eher den Fluch der technischen Tat, die Natur und Menschheit zu zerstören droht. Der alte technologische Fortschrittsglaube ist verflogen, der sein „Prinzip Hoffnung“ (Emst Bloch) auf immer modernere Techniken setzte. Die Naturwissenschaften verloren ihren „Verheißungsglanz“ (Hermann Lübbe) und die Technik ihre moralische Unschuld. Die „Wunder“ der Technik werden zunehmend entmythologisiert und im „postmodernen Epochenwandel“ durch neue Mythen ersetzt. Die euphorische, quasireligiöse Hoffnung auf eine technisch machbare Welt-verbesserung droht nun gelegentlich in ein anderes Extrem umzuschlagen, nämlich in eine manchmal apokalyptisch anmutende Angst vor technischen Modernisierungsprozessen. Als besonders bedrohlich gelten heute vor allem die Kernenergie und die Gentechnik.

Die Sorgen und Ängste markieren nicht nur ein sozialpsychologisches, sondern vor allem ein sozial-ethisches Problem. Denn ob und wieweit diese Ängste rational und praktisch bewältigt werden können, hängt wesentlich davon ab. ob es vernünftig-plausible sozialethische Maßstäbe und ordnungspolitische Regeln und Institutionen gibt, die der technischen Entwicklung Sinn und Ziel geben, ihr aber auch deutliche Grenzen setzen.

Seit Leo XIII. hat die Kirche immer wieder gefordert, die technischen Errungenschaften an sittlichen Maßstäben zu messen. Das hat ihr dann oft den Vorwurf eingebracht, eher ein fortschrittshemmendes Element zu sein. Fest steht für die Kirche der Grundsatz, daß die Technik dem Menschen zu dienen hat und nicht der Mensch der Technik. Diese Aussage über den Dienstwert des technischen Fortschritts zugunsten der Subjektstellung des Menschen mag zwar trivial klingen, sie provoziert uns aber zu selbstkritischen Fragen: Haben wir das Bewußtsein, Technik nur zu „bedienen“ — oder dient sie uns wirklich? Dient sie allen — oder nur wenigen? Können wir die Technik, mit der wir es zu tun haben, überhaupt noch kontrollieren? Innerhalb einer Arbeitnehmergesellschaft wie der unseren stellt sich angesichts des rapiden technischen Wandels die Frage nach der Zukunft der Arbeitswelt. Die Arbeitswelt stellt nach wie vor einen großen, wenn auch schwindenden Teil unserer Lebenswelt dar — und enthält immer noch den Hauptzündstoff für soziale Fragen, mit denen sich die Kirche zu befassen hat. Bei Sozialpolitikern unbestritten sind die Verdienste, die sich die Kirche zur Lösung der „alten“ sozialen Fragen des 19. Jahrhunderts erworben hat. Die „Arbeiterfrage“ als Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital konnte in diesem Jahrhundert weitgehend sozial entschärft werden. Daran war die katholische Sozialbewegung wesentlich beteiligt, wenn auch ihre Forderungen noch nicht allesamt eingelöst wurden. Nun kommt es für sie darauf an. die durch den technischen Wandel ausgelösten „neuen“ sozialen Fragen rechtzeitig zu erkennen und praktisch zu bewältigen.

Für die Zukunft zeichnen sich hier vor allem folgende Herausforderungen ab, an denen sich die sozialethische Problemlösungskompetenz der Kirche bewähren muß. Da ist zunächst die Frage der andauernden Arbeitslosigkeit, die auch durch den technischen Fortschritt bedingt ist. In dieser Frage haben die Bischöfe, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und die einzelnen Sozialverbände verschiedene Stellungnahmen abgegeben, in denen mit je verschiedener Akzentuierung an die Verantwortung des Staates und der Tarifparteien appelliert wurde. Im kirchlichen Bereich gibt es zahlreiche Einzelinitiativen zur praktischen Hilfe für Arbeitslose, aber diese Aktionen haben eher symbolischen Wert zur Schärfung des öffentlichen Bewußtseins und können das Problem nicht strukturell angehen. In dieser Frage partizipiert die Kirche an der allgemeinen Hilflosigkeit.

Der technische Fortschritt macht sich auch dergestalt bemerkbar, daß er gerade jene einfachen und stereotypen Arbeiten entbehrlich macht, die vielfach als unzumutbar gelten, und dabei Raum schafft für anspruchsvollere Tätigkeiten, die aber viele überfordern. Vor allem ältere Menschen werden vom technischen Fortschritt überholt und bleiben als „Fußkranke“ zurück. Einmal erworbene Berufs-kenntnisse sind „leicht verderbliche Güter“ geworden, so daß die Bereitschaft zum permanenten Studium, zur geistigen und räumlichen Mobilität gefragt ist. Die Hochtechnisierung sämtlicher Lebensbereiche ist freilich weder wünschenswert noch möglich, weil sie die personale Zuwendung und Hilfsbereitschaft nicht ersetzen kann. Immer drängender stellt sich aber die Frage, ob es auch für „technische Legastheniker“ noch genügend sinnvolle und bezahlbare Arbeiten gibt. Diesen „Problemgruppen“ muß sich die Kirche verstärkt zuwenden. Auf der anderen Seite wird das Arbeitsleben zunehmend beherrscht von einer „technischen Intelligenz“. die über ein gewaltiges Leistungspotential und infolgedessen auch über ein derartiges Leistungsverweigerungspotential verfügt, daß ein Streik weniger Spezialisten ganze Industriezweige lahmlegen kann, und zwar auch auf Kosten der übrigen Arbeitnehmer. Im Zeitalter der technisch bedingten Individualisierung, Differenzierung und Flexibilisierung besteht die Gefahr, daß gewerkschaftliche Solidarität zu einer Mangelware wird, was der Tarifautonomie und dem Arbeitsfrieden sehr abträglich sein könnte. Hier sind vor allem die „Christlich-Sozialen“ in den Gewerkschaften herausgefordert, neue Klassenbildungen zu vermeiden und die neuen Leistungseliten durch einen differenzierten Interessenausgleich zu integrieren.

Zwei weitere, noch nicht bewältigte Problemfelder im Gefolge des technischen Fortschritts sind in der Zunahme der Sonntagsarbeit sowie in der wachsenden Freizeit zu sehen. In diesen beiden Punkten wird der Kirche eine besondere religiöse und moralische Kompetenz von der Gesellschaft zugebilligt. Deshalb, so scheint es, stehen die Wirkungschancen für eine kirchliche Neuprägung der religiösen Sonntagskultur und einer „Ethik der Freizeit“ nicht schlecht, und gerade die kirchlichen Sozialverbände könnten hier neue Initiativen ergreifen, statt über ihre zurückgehende öffentliche Wirkung zu klagen. Bei dem rasanten Fortschritt der Technik, der nicht automatisch auch eine verbesserte humane Lebensgestaltung eröffnet, gibt es immer mehr „Zurückgebliebene“, die trotz Aufklärung und Bildung nicht mehr mithalten können. Ständig wächst die Abhängigkeit der Bürger und Politiker vom Sachverstand der Fachleute. Die Akzeptanz wird immer mehr zur Vertrauenssache — und diese hängt wesentlich von der moralischen Integrität und Glaubwürdigkeit der Fachleute ab, die durch Spezialisierung immer weiter voneinander abrücken. Um so dringlicher erscheint die Suche nach einem gemeinsamen Sinnbestand im Dialog der kirchlichen Sozialethik mit denen, die die Weichen des technischen Fortschritts stellen, und jenen, die Gefahr laufen, von der Entwicklung überrollt oder auf das soziale Abstellgleis geschoben zu werden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Wolfgang Ockenfels, Dr. phil., Dr. theol. habil., geb. 1947; seit 1985 Professor für Christliche Sozialwissenschaft an der Theologischen Fakultät Trier. Veröffentlichungen u. a.: Gewerkschaften und Staat, Walberberg 1979; Wahlkampf-Brevier, Walberberg 1980; (Hrsg.) Technik und Gewissen, Köln 1985; Politisierter Glaube?, Bonn 1987; (Hrsg.) Krise der Gewerkschaften — Krise der Tarifautonomie?, Bonn 1987; Kleine Katholische Soziallehre, Trier 1989.