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Vierzig Jahre Deutscher Bundestag Erfahrungen und Maßstäbe | APuZ 37-38/1989 | bpb.de

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APuZ 37-38/1989 Der Deutsche Bundestag Bewährung und Herausforderung nach vierzig Jahren Vierzig Jahre Deutscher Bundestag Erfahrungen und Maßstäbe Ist unser parlamentarisches System in guter Verfassung? Zum Selbstverständnis des Deutschen Bundestages Zwischen traditionellem und aufgeklärtem Parlamentsverständnis Der Bundestag in einer gespaltenen politischen Kultur Artikel 1

Vierzig Jahre Deutscher Bundestag Erfahrungen und Maßstäbe

Annemarie Renger

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit dem Grundgesetz und der parlamentarischen Institution des Deutschen Bundestages eine solide demokratische Basis gegeben, die den Anforderungen an einen modernen Staat gerecht wird. Nach vierzig Jahren bundesdeutschem Parlamentarismus ergeben sich neue Fragestellungen aufgrund der inzwischen gemachten Erfahrungen und aufgrund neuer Probleme, mit denen sich die Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland konfrontiert sieht. Diskutiert wird z. B. die Rolle des Parlaments gegenüber der starken Stellung der Regierung. Demokratische Institutionen und das Vorhandensein einer demokratischen Kultur sind noch nicht identisch mit der Lösung der anstehenden gesellschaftlichen Probleme. Wer jedoch diese Voraussetzungen für ihre Lösung leugnet, verliert sich im bloß Ökonomischen, bloß Ökologischen, bloß Privaten. Der Bundestag wird die Herausforderungen der kommenden Jahre und Jahrzehnte bewältigen können; mehr plebiszitäre Elemente in unserer Verfassung zu verlangen, wäre ein falscher Schluß.

I.

Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes vor vierzig Jahren haben wir uns eine demokratische Grundordnung gegeben, die — so zeigen es auch die kritischsten Rückblicke auf die vierzigjährige deutsche Nachkriegsgeschichte — den Ansprüchen eines modernen Staatswesens in vollem Umfange gewachsen ist. Wichtiger jedoch als das bloße Vorhandensein eines funktionierenden verfassungsrechtlichen Rahmens scheint mir zu sein, daß die deutsche Bevölkerung dieses Grundgesetz in allen seinen Teilen akzeptiert hat. Im Vergleich mit der Weimarer Republik liegt hier eine wesentliche qualitative, positive Veränderung vor, deren Bedeutung gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann. In dieser grundgesetzlichen Ordnung wird dem Deutschen Bundestag als einzigem unmittelbar demokratisch legitimierten Verfassungsorgan die zentrale Funktion zugemessen.

Zum parlamentarischen Regierungssystem gab es für die Verfasser des Grundgesetzes — mit Ausnahme der Kommunisten — keine Alternative. Parlamentarisches Regierungssystem — das heißt Regierung und Opposition bilden das, was man im englischen Sprachraum als „government" bezeichnet. In unserer grundgesetzlichen Ordnung wird dies u. a.'dadurch zum Ausdruck gebracht, daß der Deutsche Bundestag den Kanzler wählt und das Parlament auch im Notstandsfall die verantwortlichen politischen Entscheidungen trifft. Die klassische Gewaltenteilung — Legislative, Exekutive, Judikative — bildet zwar weiterhin das Prinzip unserer staatlichen Ordnung, die eigentliche Kontrolle der Regierung hat sich aber mehr und mehr auf die jeweiligen Oppositionsparteien im Parlament verlagert, wobei natürlich weiterhin das Parlament als Ganzes die verfassungsmäßige Verantwortung trägt. Zum Verhältnis von Regierung und Opposition, die sich beide ihrer parlamentarischen Verankerung bewußt sein müssen, führte Kurt Schumacher in seiner Antwort auf die erste Regierungserklärung Adenauers am 21. September 1949 im Deutschen Bundestag treffend aus: „Das Wesen des Staates ist nicht die Regierung und das Wesen des Staates ist nicht die Opposition. Das Wesen des Staates ist die Regierung und die Opposition . . . Ihre Aufgabe ist die Begrenzung der Regierungsmacht und die Verhütung ihrer Totalherrschaft.“

Im Rückblick auf die Entwicklung in den vergangenen vierzig Jahren ist festzustellen, daß dieses Bewußtsein der gemeinsamen parlamentarischen Verantwortung in der Praxis der politischen Arbeit wohl vorhanden ist, aber die Instrumentarien für die Handhabung der Kontrolle dem Parlament und der parlamentarischen Opposition nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. Die Entwicklung in der politischen Praxis hat gezeigt, daß der Regierung gegenüber dem Parlament zu viele Privilegien eingeräumt werden. So ist z. B. ihre Pflicht zur Auskunft gegenüber, dem Parlament unzureichend, und sie hat — noch vor den Abgeordneten — das jederzeitige Rederecht. Was Wunder, daß sie in der Bevölkerung als höherrangig angesehen wird. Hier wird es in der Zukunft notwendig sein, ein geeignetes Instrumentarium zu schaffen, um die parlamentarischen Kontrollfunktionen, insbesondere die der Opposition zu stärken. Dies kann nur im Konsens aller im Bundestag vertretenen Fraktionen erfolgen, weshalb die genauen rechtlichen Verankerungen von allen Parlamentsfraktionen gründlich bedacht werden sollten.

Meine politische Erfahrung aus 36 Parlamentsjahren zeigt mir, daß man das Ansehen des Bundestages mindert, wenn sich Fraktionen, insbesondere solche, die eine Regierungsmehrheit zusammenbringen, zu Erfüllungsgehilfen der jeweiligen Regierungen machen lassen, wie dies z. B. in der Frage des „Flugbenzins“ geschehen ist. Das trifft aber auch auf Fraktionsführungen zu, wenn sie meinen, ihre Mitglieder müßten immer einstimmig votieren. Dies gewinnt insbesondere dann Bedeutung, wenn es sich um Entscheidungen handelt, die eine Zustimmung zu Vorlagen einer anderen Fraktion des Deutschen Bundestages beinhalten. Ein stärkeres Abrücken von dieser Praxis hätte auch zur Folge, daß das Votum des einzelnen Abgeordneten wieder an Bedeutung gewänne — wie es im Grundgesetz auch vorgesehen ist. Angesichts der in Teilen der Öffentlichkeit sicherlich vorhandenen, wenn auch oft leichtfertig überdimensional groß gezeichneten „Staatsverdrossenheit“ kommt dieser parlamentarischen Kontrolle der Exekutive durch alle Fraktionen des Deutschen Bundestages, unter ausdrücklicher Einbeziehung der Regierungsparteien, nach meiner festen Überzeugung eine wesentliche Rolle bei der Rückgewinnung von Vertrauen seitens der Wähler zu.

Daß ein Wechselspiel von Regierung, Mehrheit und Opposition zu den Grundbedingungen für das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie gehört, wird von den Bürgern unseres Staates indessen zweifellos bejaht. Die manchmal leise, manchmal auch laut vorgetragenen Bedenken gegen die neue „Bonner Demokratie“ als eine Schönwetterdemokratie haben sich als falsch erwiesen. Dieser Staat und sein Parlament haben nicht nur schwere innen-und außenpolitische Krisensituationen unbeschädigt überstanden. Sie haben sich auch als handlungs-und damit politikfähig erwiesen, als terroristische Gruppen den Versuch unternahmen, das parlamentarisch-demokratische System der Bundesrepublik Deutschland aus den Angeln zu heben, weil eben in diesen Zeiten Regierung und Opposition sich ihrer staatspolitischen Gesamtverantwortung bewußt waren.

Auch das Aufkommen von Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums, das sich durchaus nicht als ein neues Phänomen in der kurzen Geschichte unserer Republik darstellt, kann nach meiner Meinung am ehesten dann verhindert werden, wenn sich die demokratischen Parteien, insbesondere die beiden großen Volksparteien, in vollem Umfange ihrer entscheidenden Rolle im demokratischen Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß bewußt sind und diesen auch im politischen Alltag für den Bürger nachvollziehbar darstellen. Es genügt nicht, über die Gemeinsamkeiten der Demokraten zu reden. Notwendig ist ein verantwortungsbewußtes, das Wohl des Ganzen berücksichtigendes Handeln der demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland, um extremistischen Gruppierungen, die populistische, im Grunde aber nicht sachgerechte Behandlung von bestimmten Themen unmöglich zu machen und ihnen auf diese Weise politisch entschieden zu begegnen.

In diesem Zusammenhang sollte die Behauptung nicht kritiklos hingenommen werden, daß ein zeitweiliges Zusammengehen der beiden großen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland — von SPD und CDU — notwendigerweise zu einer Stärkung der am rechten und linken Rand des politischen Spektrums existierenden Gruppierungen führen muß. Die Zeit der „Großen Koalition“ (1966 bis 1969) hat gezeigt, daß es durchaus sinnvoll sein kann, aus einer „langanhaltenden Krise“ (Kiesinger) durch das Zusammengehen der beiden Volksparteien herauszukommen, mit dem Ziel zukunftsorientierte Ansätze einer neuen Politik umzusetzen, wie das in verschiedenen Politikbereichen (Innen-, Wirtschafts-, Finanz-und Außenpolitik) damals geschehen ist und wozu die jeweiligen Parteien allein nicht in der Lage gewesen wären. Damals gelang es auch, die unter dem Signum NPD angetretene Partei, die nach einigen Anfangserfolgen in verschiedene deutsche Landtage einziehen konnte, aus dem Deutschen Bundestag fernzuhalten.

L Es ist sicherlich politisch zu kurz argumentiert, wenn man das Entstehen der außerparlamentarischen Opposition (Apo) wesentlich auf die in Bonn regierende „Große Koalition“ zurückführen wollte. Für das Aufkommen dieser „Bewegung“ waren viel eher die eingetretenen Verkrustungen in der Zeit der konservativen Regierungen verantwortlich wie auch gesellschaftliche Entwicklungen, die sich weltweit vollzogen und von denen auch die Bundesrepublik Deutschland betroffen wurde.

II.

Im Rückblick auf vierzig Jahre parlamentarischer Arbeit und auf die politischen Debatten um die zentralen nationalen Fragen der Nachkriegsgeschichte zeigt sich, daß dem Deutschen Bundestag die entscheidende Rolle in der Gestaltung der Politik der Bundesrepublik zukommt. Die großen Debatten wurden in der Anfangsphase dieser Republik von Persönlichkeiten bestritten, die durch ihre von geschichtlicher Erfahrung geprägten politischen Leidenschaften für die demokratische Entwicklung unseres Landes Grundlegendes geleistet haben. Ich erinnere nur an einige: Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Theodor Heuss, Erich Ollenhauer, Eugen Gerstenmaier, Carlo Schmid und Thomas Dehler. Sie wurden unterstützt aus den Reihen der Wissenschaft, wofür die Namen Theodor Eschen-burg und Eugen Kogon standen, um nur zwei herausragende Persönlichkeiten zu nennen.

Heute, so will es scheinen (oder wird es nur suggeriert?), sind solche herausragenden parlamentarisehen Persönlichkeiten rar geworden. Aber — einmal unterstellt, dies träfe tatsächlich zu — der Verantwortung des Parlaments für den demokratischen Weiterentwicklungsprozeß der Gesellschaft und ihrer Institutionen würde dadurch in keiner Weise Abbruch getan. Im Gegenteil: Die Parlamentarier in ihrer Gesamtheit haben bewiesen, daß sie den neuen weltweiten Herausforderungen gewachsen sind und den politischen Alltag so gestalten können, daß er den gesellschaftlichen Aufgaben der kommenden Jahre und Jahrzehnte gerecht werden.

Neue Themen aufzugreifen, sie in das Bewußtsein unserer Bürger hinzutragen — dies ist in unterschiedlicher Weise gelungen. Verbesserungen sind notwendig und möglich — und bleiben eine permanente Aufgabe verantwortlicher Politik. Es sollte allerdings nicht verschwiegen werden, daß die Umsetzung von Erkenntnissen in konkrete Politik oftmals einen längeren als allgemein gewünschten Zeitraum in Anspruch nimmt, was vor allem seine Ursache darin hat, daß die sachgerechte Befassung der vorgeschriebenen Instanzen zeitraubend ist. Was hier oft als Versäumnis des Deutschen Bundestages angeprangert wird, hat als Ursache also nicht das repräsentative parlamentarische System, sondern eine Arbeitsweise, die durch institutionelle Vorgaben geprägt ist.

Ein falscher Schluß aus diesen Erfahrungen scheint mir zu sein, verstärkt nach plebiszitären Elementen in unserer Verfassungsordnung zu rufen. Wer Volksabstimmungen auf Bundesebene fordert, muß sich darüber klar sein, daß er damit die politische Verantwortlichkeit, die die Verfassung aus gutem Grund dem Deutschen Bundestag auferlegt hat, an anonyme Kräfte abgibt. Theodor Heuss sprach einmal aufgrund historischer Erfahrung in der Weimarer Republik davon, daß Volksentscheide und Volksbegehren „eine Prämie auf Demagogie“ seien. In einer immer komplizierter und komplexer werdenden Welt, die sich angesichts ihrer weltweiten Interdependenzen nicht mit einfachen Schwarzweißschemata erklären und begreifen läßt, mutet es geradezu als ein gefährlicher Irrtum an, wenn man glaubt, in zentralen gesellschaftlichen Fragen mit simplen Ja-Nein-Kategorien Politik verantwortlich gestalten zu können. Dem lauter werdenden Ruf nach plebiszitären Elementen ist insofern auch schon mit Distanz zu begegnen, als es neben der Vielzahl von Wahlen auf Kommunal-, Landes-und Bundesebene nahezu unbegrenzte Möglichkeiten gibt, in Parteien, Bürgerinitiativen, Selbstverwaltungskörperschaften, Demonstrationen und anderen Ausdrucksformen an der Formulierung des Bürgerwillens aktiv teilzunehmen.

Der Deutsche Bundestag muß der Ort sein und bleiben, an dem öffentliche und kontroverse Diskussionen um komplexe Probleme der Gesellschaft geführt werden. Dabei ist grundsätzlich kein Bereich von einer parlamentarischen Erörterung ausgenommen. Versäumnisse der Vergangenheit müssen Anlaß zu Überlegungen sein, wie der Deutsche Bundestag in Zukunft schneller und vor allem effektiver in die Diskussion um „neue Themen“ einbezogen werden kann. Auch hier ist allerdings sorgsam zu bedenken, daß sich das Parlament nicht in originäre Regierungsaufgaben einmischt und damit seine eigentliche Funktion der Kontrolle der Exekutive beeinträchtigt.

Daß es sich bei allen hier diskutierten Fragen nicht um „parlamentarisches Neuland“ handelt, machen die zahlreichen und profunden Überlegungen von Parlamentariern und Verfassungsrechtlern deutlich, die sich in der Vergangenheit damit auseinandergesetzt haben. Insofern ist auch festzuhalten, daß das viel beklagte zeitliche „Nachhinken“ des Parlaments hinter den momentan diskutierten gesellschaftlichen Problemen durchaus nicht neu ist. Infolge der Einführung moderner Technologien in weiten Bereichen von Wirtschaft, Regierung, Verwaltung und Planung wird es dem Parlament nur dann möglich sein, seine verfassungsmäßigen Aufgaben wahrzunehmen, wenn es technologisch in gleichem Umfang ausgestattet wird wie die zu kontrollierenden Institutionen.

Ein wesentliches Moment der Verzögerung parlamentarischer Arbeit scheint mir darin zu liegen, daß die Abgeordneten selbst sich mehr von außen in die Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen herein-reden lassen, als in irgendeinem anderen Arbeitsbereich als zulässig und möglich erachtet wird. Karl Mommer, der bereits Ende der sechziger Jahre im Auftrag der SPD-Fraktion eine „Reformstudie“ erarbeitet hatte, sah darin zu Recht „einen enthüllenden Schluß auf sein (des Bundestages) unterentwikkeltes Selbstbewußtsein im Verhältnis zur Exekutive“ und meinte, darin auch Relikte „obrigkeitsstaatlichen Denkens“ ausfindig machen zu können.

Wer sich beispielsweise an die ausufemde Diskussion um die Neubauten des Deutschen Bundestages erinnert, deren Planung bereits im Jahre 1981 abgeschlossen war, wird nicht umhinkönnen, festzustellen, daß die Boulevardpresse einen entscheidenden Anteil an der nur zögerlichen und bruchstückhaften Umsetzung der Planungsvorhaben hat. Was Mommer 1969 mit dem „unterentwickelten Selbstbewußtsein“ des Parlaments umschrieb — hier wurde es vor aller Augen demonstriert. Die ebenso griffigen wie unsinnigen Formulierungen vom „Klotz am Rhein“ machten die Runde — und damit waren politische Entscheidungen blockiert, was sich als eine schwere Belastung für die politisch-parlamentarische Arbeit erweisen sollte.

Ein Thema, das ebenfalls von den Medien ständig behandelt wird und sich in der Vergangenheit zu einem „Dauerbrenner“ entwickelte, ist die Frage der finanziellen Ausstattung der Abgeordneten. Die Abgeordnetenentschädigung soll das Mitglied des Deutschen Bundestages in seiner Unabhängigkeit stärken und ihm eine Ausübung seines Mandates ermöglichen, die durch finanzielle Zwänge nicht beschränkt wird. Die meisten Abgeordneten sind keine Politiker auf Lebenszeit, sondern üben ihr Mandat in einer gewissen zeitlichen Frist aus. Daher muß sichergestellt werden, daß ihnen durch die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben keine beruflichen und finanziellen Nachteile entstehen.

Kritik wird vor allem — und wie ich meine — zu Unrecht daran geübt, daß der Deutsche Bundestag in „eigener Sache“ berät und beschließt. Hier wird vorschnell und ohne Berechtigung von der „Selbstbedienung“ der Parlamentariergeredet — so, als ob sich die Abgeordneten des deutschen Parlamentes in ungehöriger Weise finanziell bereicherten.

Ich habe in meiner Amtszeit als Präsidentin des Deutschen Bundestages diese Kritik aufgenommen und prüfen lassen, ob sich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben andere, bessere Lösungsmöglichkeiten anbieten. Ich bin damals zu dem Ergebnis gekommen, daß es gerade die öffentliche Verantwortung in eigener Sache ist, die einen besonders sorgsamen Umgang mit dieser Frage gebietet. Zu dieser Auffassung bekenne ich mich auch heute noch. Wenn allenthalben von dem mangelnden Selbstverständnis der Abgeordneten geredet wird, so zeigt gerade die Tatsache, daß sie über ihre finanzielle Entschädigung selbst beschließen und sich dafür verantworten müssen, daß es sich bei dem gegenwärtigen Verfahren um ein demokratisches handelt.

In der andauernden Diskussion um dieses Verfahren wird vielfach in der Öffentlichkeit und in den Medien statt mit nachprüfbaren Fakten mit Behauptungen operiert, die dem Parlament insgesamt Schaden zugefügt haben. Wenn man diese mehr formalen kritischen Einwände gegen die Praxis der Arbeit des Parlaments befolgte — ob sie nun zutreffend sind oder nicht, sei hier nicht weiter diskutiert —, müßte dann nicht die Idealkonstruktion einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie vor uns entstehen? Wer so formal dächte, würde sicherlich einen wesentlichen Aspekt des parlamentarisch-politischen Alltages ausblenden, der aber zentrale Beachtung verdient. Ich spreche von den auf der politischen Bühne Handelnden: den Abgeordneten, den Politikern.

Glaubte man Meinungsumfragen, so müßte man angesichts der vernichtenden Urteile über Politiker an unserem politischen System und seinen Repräsentanten verzweifeln, wenngleich auch hier schon auffällt, daß das „System“ nicht so sehr kritisiert wird wie seine Vertreter. Zweifellos ist in den letzten Jahren durch das Verhalten von einzelnen Politikern dem „Image“ des deutschen Parlamentarismus Schaden zugefügt worden. Ich muß hier nicht die einzelnen Vorgänge in Erinnerung rufen, die, zumeist mit dem Beiwort „Skandal“ oder „Affäre“ versehen, das Vertrauen der Bürger in diejenigen nachhaltig gestört haben, die von ihnen mit der Wahrnehmung politischer Mandate beauftragt wurden. Unstreitig ist auch die Feststellung, daß es solche Art von „Skandalen“ und „Affären“ zu allen Zeiten und in allen politischen Systemen gegeben hat und auch weiter geben wird. Bei uns werden sie allerdings in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen öffentlich gemacht. Dennoch darf nicht darüber hinweggesehen werden, daß der Bundestag in der Öffentlichkeit und — vor allem — in den Medien einer besonderen Kritik unterliegt.

Zunächst möchte ich feststellen, daß es ohne Beispiel ist, wie es mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland und der Verabschiedung des Grundgesetzes als ihrer vorläufigen Verfassung nach der totalen und bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches den Deutschen binnen kurzem selbst gelang, einen funktionierenden Parlamentarismus wieder ins Leben zu rufen. Im Bundestag wurden die entscheidenden Fragen der Nation kontrovers behandelt, beraten und beschlossen. In der Rückschau auf die ersten Jahre des deutschen Nachkriegsparlamentarismus ist sentimentale Verklärung allerdings nicht angebracht, weil man den damals politisch Handelnden mit einer solchen Art der Betrachtung nicht gerecht werden würde.

Es waren — so meine Erinnerung und Erfahrung — zupackende Männer und Frauen aus allen Schichten unseres Volkes, die den „Typus“ des damaligen Abgeordneten ausmachten. Heute sind bei der Beschreibung des Abgeordneten andere Bedingungen zu berücksichtigen. Aufgrund der allgemein verbesserten Ausbildungschancen (Stichwort: Chancengleichheit) hat sich nach meiner Erfahrung ein in allen Parteien anzutreffender Typus herausgebildet, der aufgrund der gleichen oder gleichwertigen Ausbildungsgänge „auswechselbarer“ geworden ist. Es fehlen zusehends die „Originale“ — hier nicht als Karikatur verstanden, sondern in des Wortes erster Bedeutung. Es fehlen — und dies trägt wohl entscheidend zur Wahrnehmung eines veränderten „Image“ des Deutschen Bundestages bei -die politischen Leitfiguren, die einer Partei und/oder Fraktion unverwechselbare Konturen verleihen.

Wer jedoch die politischen Debatten im Deutschen Bundestag regelmäßig verfolgt, wird indes auch die Feststellung machen, daß es durchaus eine beeindruckende Zahl von herausragenden Debattenbeiträgen gibt. Mit der oben getroffenen Einschätzung der Führungspersönlichkeiten aus der „Frühgeschichte“ des Deutschen Bundestages soll denn auch nicht suggeriert werden, in der Gegenwart seien politische Talente seltener als früher geworden. Es ist manchmal geradezu erstaunlich, wie spontanes Auftreten und Aufgreifen von politischen Problemen dazu beiträgt, Verkrustungen im parlamentarisch-politischen Alltag aufzubrechen und die neugewonnene Freizügigkeit im Umgang als Gewinn für alle in die parlamentarische Arbeit einzubringen.

Für das Erscheinungsbild des Parlaments spielt eine wesentliche Rolle, daß die großen politischen Fragen in den zurückliegenden vierzig Jahren zumeist außerhalb des Bundestages richtungsweisend beantwortet wurden, so daß in den Augen vieler Beobachter der parlamentarischen Szene „nur noch" Ergänzungs-oder Detailfragen für die Behandlung durch das Parlament übriggeblieben sind. Gerade die in den letzten zehn Jahren aufkommenden neuen politischen Themen wie Kernenergie und Umweltschutz haben deutlich gemacht, daß sich ein modernes Staatswesen ständig neuen Herausforderungen stellen muß, wobei die modernen Technologien an die Entscheidungsfähigkeit der Abgeordneten neue Anforderungen stellen. Es handelt sich dabei nicht primär um Spezialwissen in diesen einzelnen Sparten — das kann von Gremien, die dem Parlament nachgeordnet sind und ihm zuarbeiten bereitgestellt werden —, sondern es handelt sich nach meiner Auffassung vorwiegend darum, den gesamtpolitischen Stellenwert auszuloten, den solche Entscheidungen implizieren.

Hier geht es nach meinen Beobachtungen im Parlament und in der Fraktionsarbeit vor allen Dingen darum, daß der einzelne Abgeordnete in die Lage versetzt wird, durch umfassende Information und Diskussion seine politische Willensbildung so zu betreiben, daß er verantwortliche Entscheidungen treffen kann. Es darf nicht sein, daß sich die Entscheidungskriterien immer mehr nur noch in Sondergruppen ausfindig machen lassen, denn damit wird eine gesamtpolitische Entscheidungsfähigkeit des Deutschen Bundestages hintangesetzt. Hierzu ist es nach meiner Erfahrung nötig, daß sich das Parlament die Initiative des Handelns nicht von der Exekutive aus der Hand nehmen läßt, allerdings auch nicht von den Fraktionen und ihren Führungen.

Ein in meinen Augen wesentliches Moment der anhaltenden Parlamentskritik liegt denn auch gerade darin, daß den Mandatsträgem vielfach — und vermehrt in der jüngsten Zeit — der Vorwurf gemacht wird, sie schauten immer nur auf die oftmals von der Exekutive angeforderten Tagesentscheidungen und verlören dabei zusehends die ihren Entscheidungen innewohnenden Implikationen für die Bereiche aus den Augen, die im Augenblick zwar nicht Gegenstand der Parlamentsberatung, aber mittel-oder unmittelbar davon mitbetroffen seien.

Hier wird es vermehrt darauf ankommen, daß Politiker (aber nicht nur sie) in der Lage sind, die echten von den nur scheinbaren Problemen zu unterscheiden. Nicht alles, was uns als „gesellschaftliches Problem“ von den Medien in ihrer erfreulichen Vielfalt präsentiert wird, erweist sich bei genauerem Hinsehen als ein wirkliches Problem. Für den parlamentarisch verantwortlich handelnden Politiker heißt die Konsequenz daraus, so meine ich, sich vor einer Atomisierung seines Sachwissens und, damit zusammenhängend, seiner eigenen Entscheidungskompetenz zu hüten.

Für die Zukunft wird daher die Weitsichtigkeit politischer Entscheidungen von größerer Bedeutung sein, als die inzwischen erreichte beachtliche Quantität von Anträgen und verabschiedeten Gesetzen in den einzelnen Legislaturperioden. Der Deutsche Bundestag in seiner Gesamtheit wie auch die in ihm vertretenen Parteien und Fraktionen werden sich bei diesen neuen Herausforderungen auf die alte Tugend der demokratischen Auseinandersetzung besinnen müssen, nach der der politische Meinungsbildungsprozeß von unten nach oben verläuft.

Mein politischer Mentor, Kurt Schumacher, hat auf einem der ersten Parteitage der von ihm nach dem Zweiten Weltkrieg wiederbegründeten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ausgeführt, daß es ein demokratisches Staatswesen nur dann geben kann, wenn die Strukturen der in ihm entscheidenden Parteien auch den demokratischen Erfordernissen entsprechen. Ein demokratisch geführter Meinungsbildungsprozeß — der sehr kontrovers sein kann — wird jedenfalls nachhaltiger von der Mehrheit der Bevölkerung und der eigenen Wählerklientel getragen, als dies bei oktroyierten Meinungen und Auffassungen der Fall ist, die in kleinen Zirkeln und Gremien gebildet wurden, die einem demokratischen Für und Wider in der innerparteilichen Diskussion entzogen waren und an denen Kritik zu üben als unsolidarisch gebrandmarkt wird.

Es ist nicht zu leugnen, daß ein Spannungsverhältnis aus der Unabhängigkeit des Abgeordneten (Artikel 38 Abs. 1 GG) und der Mitwirkung der Parteien am Prozeß der politischen Willensbildung (Artikel 21 GG) herrührt. Daraus werden sich wegen der geschilderten Entwicklungen neue Reibungsflächen ergeben. Die demokratischen politischen Parteien werden darauf achten müssen, daß ihnen eines ihrer Wesensmerkmale, die demokratische innerparteiliche Willensbildung mit Mehrheitsmeinung und Minderheitsrechten, nicht abhandenkommt.

Für das Ansehen des Deutschen Bundestages wird in Zukunft auch eine entscheidende Rolle spielen, ob es seinen Mitgliedern gelingt, im politischen Umgang einen Stil zu finden, der bei aller parteipolitischen Gegnerschaft doch den demokratischen — den menschlichen Umgang prägenden — Grundkonsens erkennen läßt. Hierfür könnten die Erfahrungen aus der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland und ihres Parlaments nutzbar gemacht werden. Bei aller parteipolitischen Gegnerschaft gab es damals eine Grundübereinstimmung zwischen den demokratischen Parteien im Deutschen Bundestag.

Für die Darstellung des Deutschen Bundestages als „Forum der Nation“ kann es sich nur als abträglich erweisen, wenn die eigenen Meinungen dogmenartig vorgetragen und die davon abweichenden Auffassungen als quasi „ketzerisch“ bell handelt werden. Die persönlichen Verunglimpfungen im Parlament, die bis zu Beleidigungen der Persönlichkeit gehen, haben in der Vergangenheit dazu beigetragen, daß in der Außenwirkung des Deutschen Bundestages Schäden entstanden sind, die nach meiner festen Überzeugung nicht mit institutionell betriebenen Verbesserungen und Veränderungen behoben werden können.

Die viel beklagte Entwicklung des Deutschen Bundestages zu einem „Beamtenparlament“, dem schon von der beruflichen Struktur her wesentliche Lebenserfahrung fehle, kann nur dann gebremst werden, wenn es in den demokratischen Parteien verstärkte Bemühungen gibt, Menschen aus anderen Arbeitsbereichen für die politische Arbeit freizustellen — mit allen damit verbundenen Konsequenzen für die Betroffenen.

III.

In der Rückschau aufvierzig Jahre Arbeit des Deutschen Bundestages bleibt festzuhalten, daß sich dieses Parlament in seinen vielfältigen Aufgaben trotz aller Kritik bewährt hat. Eine wesentliche Veränderung der politischen Arbeit des Parlamentes kann/wird sich durch die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft ergeben.

Bei allen denkbaren Konstruktionen hinsichtlich der Befugnisse des im Entstehen begriffenen Europa-Parlaments gilt es dafür Sorge zu tragen, daß die nationalen Parlamente jedenfalls so lange entscheidende Kontrollfunktionen wirksam ausüben können, wie dem Europa-Parlament die Kompetenzen vorenthalten werden, die es benötigt, um Regierungen der Mitgliedsstaaten und die Kommission der Gemeinschaft kontrollieren zu können. Carl Friedrich von Weizsäcker hat einmal in der einem Wissenschaftler geziemenden sprachlichen Distanz davon gesprochen, daß die parlamentarische Demokratie eine der „intelligenteren Kultur-erfindungen“ sei. Dem kann ich nur zustimmen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Annemarie Renger, geb. 1919; seit 1953 Mitglied des Deutschen Bundestages; 1972— 1976 Präsidentin des Deutschen Bundestages; 1961 — 1973 Mitglied des Parteivorstandes der SPD; 1970— 1973 Mitglied des Präsidiums; 1969-1972 Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag; Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages; seit 1976 Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag.