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Orientierungsprobleme freiheitlicher Demokratie in Deutschland | APuZ 1-2/1989 | bpb.de

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APuZ 1-2/1989 Orientierungsprobleme freiheitlicher Demokratie in Deutschland Adenauers Kanzlerdemokratie und Regierungstechnik Artikel 1 Kanzlerprinzip und Regierungstechnik im Vergleich: Adenauers Nachfolger

Orientierungsprobleme freiheitlicher Demokratie in Deutschland

Karl Dietrich Bracher

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Vor allem zwei miteinander konkurrierende Orientierungen bestimmen Aufbau und Entwicklung einer neuen deutschen Demokratie nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur. Es ist die Spannungslage zwischen nationalem Einheitsverlangen und Sicherung der Freiheit, zwischen problematischen historischen Traditionen und dezidierten politischen Entscheidungen, die von der ambivalenten Erfahrung mit dem deutschen Nationalstaat und dem Scheitern der Weimarer Demokratie überschattet sind. Anhand der wichtigsten Tendenzen im Verfassungs-und Staatsverständnis der Bundesrepublik werden die Probleme politischer Orientierung zwischen Nations-und Demokratiegedanke, westeuropäischer Integrationspolitik und offener deutscher Frage erörtert. Als „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“ ist die Bundesrepublik in besonderer Weise angewiesen auf die Entfaltung supranationaler Kooperationsstrukturen in einer Welt wachsender ökonomisch-politischer Interdependenz und schrumpfender nationaler Autonomien. Dabei bleibt ein deutscher Staat freiheitlich-demokratischer Orientierung auch im Interesse der Nation vor allem den politischen Grundwerten europäisch-amerikanischer Kultur und der Verteidigung der Menschenrechte verpflichtet.

Sucht man den historischen Ort und die politische Gestalt der Bundesrepublik Deutschland zu bestimmen. so stößt man von Anfang an auf zwei grundlegende Tendenzen der Orientierung, die auch in der weiteren Entwicklung miteinander konkurrieren: Verlangen nach staatlicher Einheit in Freiheit sowie Sorge um Stabilität der neuen Demokratie als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa. Seine Bezeichnung als „Provisorium“ oder „Transitorium“ (Heuss) bezog sich auf den vorläufigen Zustand der Teilung, nicht aber auf die durchaus definitive Entscheidung zur freiheitlichen Demokratie: Die einstige Diffamierung der Weimarer Demokratie als bloßes „Intermezzo“ war Warnung und Lehre.

i.

Das Spannungsverhältnis jener doppelten Orientierung ist schon im Grundgesetz von 1949 angelegt und in der Deutschlandpolitik aller Regierungen der Bundesrepublik enthalten. Dahinter steht die historische Problematik des im Reichsgedanken überhöhten deutschen Nationalstaats von 1871, der schon beim Kräftemessen des Ersten Weltkrieges eine freilich unbewältigte Niederlage erfuhr — mit der erneuten Übersteigerung und Katastrophe im „Dritten Reich“ von 1933. Aber die Gründung einer neuen deutschen Demokratie nach 1945 suchte zugleich die entschiedene Konsequenz zu ziehen aus der innenpolitischen Erfahrung, die das Scheitern der ersten Republik und der scheinbar bruch-lose, pseudolegale Weg von der parlamentarischen Demokratie in die totalitäre Diktatur hinterließ.

Die Grundspannung der neuen Demokratie, die in dieser doppelten Erfahrung nationaler und zugleich demokratischer Leidensgeschichte Deutschlands steckte, ja zurückreicht bis zum Scheitern der sowohl national wie liberal-demokratisch motivierten Revolution von 1848, kam den Zeitgenossen der Bundesrepublik sogleich zu Bewußtsein: so schon in der großen Kontroverse zwischen Adenauer und Schumacher über europäisch-westliche oder nationalpolitische Orientierung, und später im fortdauernden Streit um die Stalin-Note vom März 1952, die der Bundesrepublik eine mögliche nationale Einheit gegen Verzicht auf Einbindung in die westliche Sicherung ihrer neuen Demokratie in Aussicht stellte. Damit stand aber immer aufs neue zugleich deren Wertorientierung zur Debatte, und jener Streit um die Rangordnung reicht bis zu den Folgerungen im Blick auf die Entspannungspolitik lange danach.

Und nicht erst in den sechziger, sondern schon in den frühen fünfziger Jahren, die man heute oft allzu einseitig als bloße Restaurationsperiode abzutun pflegt, erfolgte auch bereits die Neugründung von Zeitgeschichte und Politikwissenschaft, die sich mit ersten Lehrstühlen, Instituten, Zeitschriften und einerwachsenden Fülle an Forschung und Literatur um die Aufarbeitung zumal der jüngsten Vergangenheit und ihrer politisch relevanten, aktuellen Erfahrungen bemühten. Freilich, damals noch in kleinerem Maßstab und gegen erhebliche Widerstände! Zudem gegen den Vorwurf, es sei unhistorisch, die Weimarer Republik als Demokratie zu analysieren, wie damals gegen mein Weimar-Buch von 1955 eingewandt wurde (Werner Conze) — eine Argumentation, die heute in der fragwürdigen Forderung nach „Historisierung des Nationalsozialismus“ von rechts wie links wiederkehrt. Es waren die Probleme, die nach Krieg und Gefangenschaft, Tübingen und Harvard seit 1950 meine Berliner Jahre bestimmten: am neugegründeten Institut für Politische Wissenschaft, an der wiedereröffneten Deutschen Hochschule für Politik und der neuen Freien Universität. Angesichts der Konfrontation von Demokratie und Diktatur im deutschen und europäischen Maßstab hat uns zu jener Zeit nicht zuletzt die kardinale Frage beschäftigt, in welchem Maße Auflösung und Untergang der ersten deutschen Demokratie die Folge einer großen Orientierungskrise waren, die das politische Bewußtsein der Bürger verstört und das Denken der Intelligenz auf Abwege geführt hatte. Neben den historisch-politischen waren es denn auch die philosophisch-moralischen Ursachen der „deutschen Katastrophe“, die ein Hauptthema der neuen Zeitgeschichts-und Politikwissenschaft bildeten.

Was viele von uns damals in erster Linie bewegte und bis heute nicht losläßt, war nicht nur die Aufklärung der Ereignisse selbst, sondern vielmehr die kritische Analyse ihrer historischen und zeitgenössischen Verarbeitung und Ausdeutung, die trotz aller Vergleichbarkeit mit den verschiedenen europäischen Nationalgeschichten doch schließlich jene „deutsche Ideologie“ hervorgebracht oder begünstigt hatte, in der wir den eigentlichen verhängnisvollen Sonderfall deutscher Geschichte erkennen. So begann damals auch meine Darstellung zur „Auflösung der Weimarer Republik“ mit dem Satz: „Im Gegensatz zu ihrer grundsätzlichen Anerkennung und praktischen Bedeutung im westeuropäisch-amerikanischen Raum haben Begriff und Wirklichkeit der Demokratie in Deutschland bis zur Gegenwart eine zwiespältige Beurteilung gefunden.“ Dieser zuletzt in zwei Weltkriegen ausgetragene Unterschied zwischen Deutschland und dem Westen führte in der Tat zu jenem Sonderbewußtsein von einem „Eigenweg“ und „Eigenwert“ deutscher Geschichte, in dem sich der eigentliche Grund für die spezifisch deutsche Form der Orientierungskrise findet. Es war die tiefe Enttäuschung und Nichtverarbeitung, die mit Flucht-oder Illusionsbewegung auf den Schock des Ersten Weltkrieges und seine Folgen reagierte: auf Niederlage und Revolution, Wirtschafts-und Sozialkrise, Gefühl unverdienter Diskriminierung und Verlangen nach Revision. Gewiß ist all dies nicht vom Himmel gefallen, und die Entstehungs-und Formierungsgeschichte des deutschen Nationalbewußtseins im 19. Jahrhundert, zuerst als Gegenbewegung zur französisch-napoleonischen Beherrschung Deutschlands •auftretend, verdient auch in der heutigen Zeit erneuter Sympathien für jenes reiche, eigenständige Jahrhundert volle Beachtung.

Seit einigen Jahren entbrennt mit erneuter Heftigkeit die Auseinandersetzung um die Ursachen und das Wesen jener Orientierungskrise und damit um das Problem der politischen Wertbezogenheit in der Demokratie, die ja als einzige Staatsform den verschiedenen Richtungen politischen Denkens und Wollens bewußt Raum und Wirkung gibt und damit auch Politische Wissenschaft überhaupt erst ermöglicht. Der Streit über deutsche Sonderwege nimmt diese alte Frage wieder auf, die uns nach 1945 und vor allem seit der Wiedergründung deutscher Staatlichkeit vor vier Jahrzehnten so unmittelbar betroffen und zur Auseinandersetzung mit traditioneller nationaler Geschichtsbetrachtung herausgefordert hat.

Die neue deutsche Zeitgeschichte seit 1945 und 1949 bedeutet demnach beides: Geschichte eines geteilten Landes und zugleich Entwicklung einer zweiten Demokratie, die sich erfolgreicher als das erste demokratische Experiment zu behaupten weiß.

In dieser „doppelten Zeitgeschichte“ und ihrer wechselseitigen Verflechtung liegt freilich eine Problematik beschlossen, die der so unerwartet raschen Staatsbildung von 1949 bis zum heutigen Tage ihre Prägung gibt. Sie war Nachkriegsgeschichte, die aus der selbstverschuldeten Katastrophe des Hitlerregimes herausführte, und zwar in immer neuer Konfrontation mit der Grunderfahrung der spezifisch „deutschen Diktatur“ von 1933— 1945. Aber sie erhielt einen starken zusätzlichen Antrieb aus der höchst aktuellen Konfrontation zwischen den Supermächten in Ost und West — und aus den so gegensätzlichen politischen Werten, die sie vertraten: diktatorische Einparteienherrschaft oder freiheitliche Demokratie.

II.

Dieses Spannungsgefüge hat die Begründung und Entwicklung von zwei ebenso unterschiedlichen Regierungssystemen aufdem Boden des durch Vertreibung und Besetzung verkleinerten ehemaligen Nationalstaats bestimmt, und es wurde noch kompliziert und verschärft durch die militärischen und ökonomischen Strategien eines „Kalten Krieges“, der in seinen Grundzügen trotz allen Beteuerungen der Entspannungjedenfalls so lange nicht überstanden ist, als an Grenzen und Mauern auf Menschen geschossen wird.

Deutschland war aber nicht nur Objekt, sondern zunehmend auch Subjekt jener Entwicklung, die binnen weniger Jahre zu scheinbar unumstößlichen Entscheidungen geführt hat: Bis heute konstitutive Realität, werden sie doch in ihrer Fortgeltung immer aufs neue in Frage gestellt. Die Abhängigkeit deutscher Politik von der internationalen Macht-lage trat vor allem in den großen Weichenstellungen von 1948/49 zutage. Von Anfang an hing die Bewältigung der Kriegsfolgen, die Organisation des Wiederaufbaus und die Sicherung der dafür notwendigen Kooperation aufs engste mit der Einordnung des besetzten Deutschland in die bipolar gespaltene Europa-und Weltpolitik zusammen. Aber auch die Handlungsfähigkeit deutscher Politik gewann dadurch bald wieder an Gewicht.

Das galt vor allem für die politische Orientierung und demokratische Entfaltung der Bundesrepublik. In ihr erfuhr man den wesentlichen Unterschied zur sowjetisch bestimmten Gründung der DDR und ihrer politisch-gesellschaftlichen Form als einer diktatorisch gesteuerten „Volksdemokratie". Beide Staaten standen zwar im Zeichen der Blockbildung und unter der Kontrolle der Siegermächte, doch trat der grundlegende Unterschied von Anfang an aufs deutlichste hervor: Im Osten kam es anstelle der in den ersten Nachkriegsjahren proklamierten „Demokratisierung“ zur Durchsetzung einer kommunistischen Parteidiktatur, im Westen wurde die stufenweise Änderung des Besatzungsregimes in ein System der internationalen Kooperation erreicht — mit dem historisch so bedeutsamen Ziel, die negative Kontrolle Deutschlands in eine positive Integration mit europäischer und atlantischer Ausrichtung zu verwandeln.

Dies war in der Tat die zukunftsträchtige Substanz der Verhandlungen und Verträge, die vom Marshall-Plan über die Westeuropäische Union, den Europarat. die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl schließlich zu den Deutschlandverträgen und zur Europäischen Gemeinschaft geführt haben. Und hier lag auch der fundamentale Unterschied zur ersten Nachkriegszeit von 1918. Damals hatte der Rückfall in ein Europa der Nationalstaaten zur tödlichen Krise der Demokratien und zum diktatorischen Aufstieg aggressiv-revisionistischer Bewegungen und Systeme, voran des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus geführt. Nun aber wurde diesseits des sowjetischen Machtbereichs eine Politik der engen europäischen Zusammenarbeit in Anlehnung an die USA möglich — mit der Zielvorstellung einer ökonomischen wie politischen Integration, die sich auf Pläne der Widerstandsbewegungen im Kriege und eine Vielfalt von Europa-Bewegungen in der frühen Nachkriegszeit berufen konnte; sie eröffnete auch konkretere Perspektiven für eine übernationale Lösung des deutschen Staatsproblems. Denn sowohl im Blick auf die Wirtschafts-und Sicherheitspolitik wie besonders auf die Stabilisierung der neuen deutschen Demokratie gewann die Europaidee eine machtvolle Funktion: Sie bot ein neues, weiteres Bezugssystem, nachdem der übersteigerte Nationalismus des NS-Regimes nationalstaatliches Denken als letzte Instanz ad absurdum geführt hatte.

Die Politik des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der von 1949 bis 1963, unerwartet lange, an der Regierung blieb, stützte sich von Anbeginn voll aufjenen supranationalen Aspekt der Europa-Politik. Angesichts der machtpolitischen Realitäten am Ausgang der vierziger Jahre wurde die national-staatlicheArgumentation der sozialdemokratischen Opposition unter Führung Kurt Schumachers von der Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung nicht als Alternative angenommen. Das proklamierte Ziel einer Wiedervereinigung rückte in die Ferne, während die Stabilisierung westlicher Kooperation dem unmittelbaren Bedürfnis nach Wiederaufbau und Sicherheit entsprach. Unter diesem Vorzeichen stand auch die Entscheidung für eine liberal-demokratische, marktwirtschaftlich-soziale Staats-und Gesellschaftsordnung. Zwangswirtschaft und Sozialismus waren mit dem Odium der Diktatur, des Kriegs-und Nachkriegselends belastet, und die osteuropäische Zwangssozialisierung, die ökonomische Dauerkrisen zur Folge hatte, wirkte in unmittelbarer Nachbarschaft besonders wenig attraktiv, wie auch die unaufhörlichen Flüchtlingsströme von Ost nach West bewiesen.

Symbolisch wirkte auch die überzeugend liberal-demokratische Erscheinung eines Theodor Heuss, der von 1949 bis 1959 erster Bundespräsident war und schon in der Weimarer Zeit an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin gelehrt hatte. Die Bundesrepublik vermied verfassungspolitische Schwächen, die der Weimarer Republik so früh zum Verhängnis geworden waren. Die Stellung von Kanzler und Regierung wurde gestärkt, die Diktaturgewalt des Präsidenten abgebaut, der parlamentarische Prozeß gefestigt, indem der Sturz eines Kanzlers von der Wahl eines neuen abhängig gemacht wurde — „konstruktives Mißtrauen“ —, das Verbot antidemokratischer Parteien durch das Bundesverfassungsgericht ermöglicht, schließlich die Zersplitterung des Parteienfeldes durch eine Fünf-Prozent-Klausel in den Wahlgesetzen erschwert. Der Sinn all dieser Bestimmungen war, eine Zerstörung der Demokratie mit pseudodemokratischen Mitteln zu verhindern, wie es 1933 geschehen war; die modifizierte, wehrbereite Demokratie von Bonn soll dem prinzipiellen Gegner nicht die unbeschränkte Toleranz gönnen, an der Weimar zugrunde gehen konnte.

Die Gewöhnung an ein besser funktionierendes Parteien-und Parlamentssystem führte aber auch zu einer zunehmend positiven Bewertung der Demokratie selbst, an der es nach 1918 gefehlt hatte. Über das Kanzlerregime eines großen alten Mannes mit fast patriarchalischer Autorität wurde eine Brücke von der obrigkeitsstaatlichen Tradition Deutschlands zur pluralistischen Demokratie geschlagen. Die historische Zersplitterung des Partei-wesens wurde durch eine Konzentration der politischen Gruppierungen auf zwei fast gleich große Parteien abgelöst, die alte SPD und die neue CDU, neben denen sich über drei Jahrzehnte als kleinere dritte Partei — bis zum Erscheinen der „Grünen“

— nur die Liberalen (FDP) behaupten konnten.

Eine solche Konstellation erinnerte an das kooperationsfähige britische oder amerikanische Partei-wesen. Das Bonner System vermochte sich von den Problemen zu lösen, die für die zerklüfteten konti-nentaleuropäischen Parteiensysteme typisch waren. Es war das Ergebnis eines längeren Prozesses der Entideologisierung und Pragmatisierung der Parteien, der im Godesberger Programm von 1959 die Liberalisierung der SPD und schließlich wie in den Ländern so auch im Bund den Test eines vollen Regierungswechsels von der CDU zur SPD ermöglichte.

Dabei war das Parteiensystem nie politisch-ökonomischen Krisen vom Ausmaß der Weimarer Dauer-krise ausgesetzt. Dies bleibt zu bedenken, wenn aus den Wahlziffem, die seit 1957 regelmäßig über neunzig Prozent der Stimmen für die drei Bonner Parteien erbringen, schon auf politische Stabilität, auf dauerhaft demokratische Verhaltensstruktur und auf eine verläßliche politische Kultur in der Bundesrepublik geschlossen wird. Seit Mitte der sechziger Jahre — nach dem Ende der Ära Adenauer — im Zeichen eines Wechsels der Generationen, der Veränderung der internationalen Situation und des Zurücktretens der Wiedervereinigungsidee, kamen auch die fortdauernden Probleme, das Unfertige des Bonner Staates stärker zum Vorschein.

Aber die politische Basis, auf der die zweite deutsche Republik sich entwickeln konnte, war im Vergleich zur Weimarer Republik und vollends zur DDR unleugbar breiter und sicherer. Die erschütternde Erfahrung des Scheiterns von 1933 und von 1945 wirkte als eine stets präsente Warnung vor den beiden Grundschwächen der jüngsten deutschen Geschichte: Hilflosigkeit gegenüber den Feinden der Demokratie und Anfälligkeit für diktatorische Lösungen. Hinzu kam die Tatsache, daß nun ein breiter Konsens in der Ablehnung der gegenwärtigen kommunistischen wie der vergangenen nationalsozialistischen Herrschaftsansprüche totalitärer Prägung bestand. Der Antitotalitarismus war eine lebendige und positive Kraft, deren politische Bedeutung für die demokratische Entwicklung der vierziger und fünfziger Jahre auch heute nicht unterschätzt werden sollte. Bei späteren Kritikern des Totalitarismusbegriffs fehlt oft eine Anschauung davon, wie konkret die doppelte Bedrohung — jene durch die eben überwundenen Rechtsdiktaturen und jene durch die präsente Ausbreitung des Stalinismus — für die verletzlichen Neuanfänge der europäischen Demokratien nach 1945 tatsächlich gewesen ist.

III.

Unter zwei Begriffe kann mit aller Schärfe — und darum kontrovers — der Unterschied zwischen Weimar und Bonn gefaßt werden: das Postulat des „Verfassungspatriotismus“ (Dolf Sternberger) und die Stellung als „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“ (K. D. Bracher). Beide Bezeichnungen werden zwar heute als betont neue Diskussionspunkte benutzt, sie markieren aber schon in der Entstehungs-und Entwicklungsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie eben das, was aus der Sackgasse der Weimarer Republik herausführt: aus ihrem Wertneutralismus und ihrer Wehrlosigkeit angesichts der Verdrängung demokratischen durch nationalistisches und kompromißfeindliches Denken.

Die Demokratie der Bundesrepublik ist im Unterschied zu dem Mißbrauch des Demokratiebegriffs in Rechts-und Linksdiktaturen auf die Offenheit des politischen Prozesses, auf die konkurrierende Willensbildung der Bevölkerung in frei gebildeten Parteien und Verbänden gegründet. Opposition gilt folglich als fundamentaler Bestandteil der Demokratie; sie bewährt sich im Wechsel zwischen Regierung und Opposition, die sich auf der Ebene des Bundes wie der Länder und Gemeinden in der politischen Verantwortung ablösen.

Die Mehrheitsentscheidung erfolgt in repräsentativ gewählten Parlamenten und nicht durch plebiszitäre Verfahren, die demagogisch zu mißbrauchen sind; auch die Wahl des Bundespräsidenten geschieht im Gegensatz zur Weimarer Republik auf parlamentarisch-föderalistischem Weg. Das demo kratische Prinzip bleibt in den Wahlen und Regierungsbildungen der Bundesrepublik stets bezogen auf den repräsentativen und freiheitlichen Charakter des gewaltenteiligen Verfassungsstaates.

Dieses modifizierte und zugleich wertgebundene Demokratieverständnis ist der Wertneutralität der Weimarer Verfassung entgegengestellt. Im Unterschied zu Weimar wird den Feinden der freiheitlichen Verfassungsordnung die unbegrenzte Freiheit zu deren Zerstörung verweigert, indem Bürger und Parteien zuvorderst auf die Wahrung der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ verpflichtet sind. Um diese wichtige Modifikation ist es immer wieder zu Auseinandersetzungen gekommen. Die verfassungsrechtliche Möglichkeit des Verbots antidemokratischer Parteien wurde in den fünfziger Jahren sowohl gegen Neonazis wie gegen Kommunisten angewandt. Heute ist es in seiner politischen Zweckmäßigkeit ebenso umstritten wie die Frage der Femhaltung politischer Extremisten vom öffentlichen Dienst. Ausländische Kritik an dieser Konsequenz der wehrhaften Demokratie beruht freilich oft auf Unkenntnis der großen Liberalität und der strikt rechtsstaatlichen Gewährleistung der Grundrechte, die das Bonner System auch vor vielen anderen Demokratien auszeichnet.

Gerade das Rechtsstaatlichkeitsprinzip ist nach den abschreckenden Erfahrungen mit der totalitären Diktatur besonders weitgehend ausgestaltet. Am Anfang der Verfassung stehen mit Priorität die Grundrechte: Sie dürfen nicht in ihrem Wesensgehalt angetastet werden. Dem Schutz vor diktatoriB scher Machtkonzentration dient das Prinzip der Gewaltenteilung; es kommt vor allem der Unabhängigkeit der Gerichte und der zentralen Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts zugute. Gleichzeitig wird aber auch eine Stärkung des Parlaments und der Regierung erstrebt: Stärkung des Parlaments durch die Anerkennung der Parteien als Träger der politischen Willensbildung (Parteienstaatsprinzip); Stärkung der Regierung durch die starke Stellung des Bundeskanzlers, dem das Parlament nur konstruktiv durch Wahl eines Nachfolgers mit Mehrheit seiner Mitglieder das Mißtrauen aussprechen kann, während ein Mißtrauensvotum gegen einzelne Minister überhaupt nicht möglich ist („Kanzlerdemokratie“). Allgemeine Rechtssicherheit und Primat des Rechts, Anspruch aller Bürger auf rechtliches Gehör und gesetzliche Begründung aller staatlichen Maßnahmen — diese Grundsätze des Rechtsstaats verdienen besondere Beachtung in einer Zeit, in der die komplizierten Aufgaben des modernen Industrie-und Wohlstandsstaates zu einer ständigen Zunahme der Bürokratie und zur Gefahr der Entfremdung zwischen Bürger und Staat führen. Auch die schwierige Bekämpfung des Terrorismus hat die Regeln des rechtsstaatlichen Verfahrens zu beachten; sie ist dadurch umständlicher und weniger effizient als erwünscht, doch vor der Gefahr diktatorischer Willkür bewahrt.

Ein drittes wichtiges Element der westdeutschen Demokratie ist ihr sozialstaatlicher Charakter. Er entspricht dem allgemeinen Verlangen nach Gleichheit der Chancen und sozialer Sicherung, aber auch den großen gesellschaftlichen Veränderungen, die der Krieg sowie die Flucht und Vertreibung von weit über zehn Millionen Deutschen mit sich brachten. Die verfassungsmäßige Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit war auf den Ausgleich zwischen den verschiedenen Schichten und auf eine menschenwürdige Sozialordnung gerichtet. Im strikten Unterschied zu einer sozialistischen Ordnung sollte dabei aber die liberale Struktur von Staat und Gesellschaft gewahrt bleiben. Das ging weder durch eine Verstaatlichung der Wirtschaft noch einen schrankenlosen Kapitalismus, sondern über den immer erneuten Ausgleich der sozialen und ökonomischen Interessen. Zwar stehen das Grundgesetz und der Kompromiß der Verfassungsgründer von 1949 einer begrenzten Planung und Sozialisierung nicht prinzipiell entgegen; „andererseits weisen Geist des Grundgesetzes und Soziale Marktwirtschaft doch eine hohe Kongruenz auf, denn die freiheitlichen Grundrechte finden sich vorzüglich wieder in ökonomischen Freiheiten wie Konsumenten-, Gewerbe-, Vertrags-, Wettbewerbs-und Arbeiterfreiheiten“ (Dietrich Scheiffele, in: Zeitschrift für Politik, 35 [1988], S. 329 f.).

Die vierzigjährige Geschichte der Bundesrepublik steht denn auch im Zeichen dauernder Auseinandersetzungen um die angemessene Verwirklichung des sozialstaatlichen Postulats. Dabei gehen die Auffassungen bis zum heutigen Tage weit auseinander, weil die Verfassung naturgemäß keine Handlungsanweisungen zur Bewältigung der Abgrenzungsprobleme im einzelnen enthält. Die Spannung zwischen sozialen und kapitalistischen Prinzipien hat im Gedanken der „Sozialen Marktwirtschaft“ und in einer fortschreitenden Ausgestaltung von Mitbestimmung in den Betrieben sowie in der starken Rolle der Gewerkschaften ihren Ausdruck gefunden. Doch hat sich dieses durchaus gemischte System als ein tragfähiger Kompromiß zwischen den sozialen und den liberalen Interessen erwiesen. Er ermöglicht ein erstaunliches Maß an Stabilität und Effizienz der westdeutschen Wirtschaft, höheren Lebensstandard und geringere Streikneigung der Arbeiterschaft als in anderen demokratischen Industriestaaten; Hauptproblem ist nun eine vorwiegend strukturelle Arbeitslosigkeit.

Ein vierter grundlegender Wesenszug der westdeutschen Demokratie ist schließlich ihreföderalistische Ordnung. Auch in ihr verbinden sich ältere deutsche Traditionen mit der Ablehnung des nationalsozialistischen Zentralismus und dem Einfluß der Besatzungsmächte. Die Bundesrepublik entstand aus dem Zusammenschluß der in den Besatzungszonen bestehenden Länder und West-Berlins, Territorien, die politisch, wirtschaftlich und kulturell ein Eigengewicht behielten. Das politische System ist dadurch komplizierter als in demokratischen Zentralstaaten, wie im benachbarten Frankreich, oder in Einheitsdiktaturen, wie in der DDR. Aber die Vorteile sind unverkennbar: Der Föderalismus ermöglicht durch Dezentralisierung der politischen Prozesse ein größeres Maß an Machtkontrolle und Bürgemähe; gegenüber der drohenden Übermacht des Staates ist die Möglichkeit zu mehr Selbstverwaltung auf regionaler Ebene ein wichtiges Korrektiv. Der Föderalismus wirkt sich gewaltenteilig aus, er erweitert die Chancen zu politischer Teilnahme und Verantwortung der Parteien und Gruppen, und er verhindert die unbalancierte Zusammenballung um ein einziges Zentrum (wie Paris oder London), die der Entwicklung des übrigen Landes schaden könnte.

IV.

Im Blick auf diese Grundprinzipien politischer Orientierung (die teilweise schon durch den Parlamentarischen Rat der Verfassungsänderung entzogen worden sind) treten nun vier Entwicklungsphasen hervor. 1. Die Zeit vor und während der Gründung einer neuen Demokratie in Deutschland, die vierziger Jahre, waren vom politischen Vakuum der „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) und dem „Abschied von der bisherigen Geschichte“ (Alfred Weber) geprägt. Die Suche nach politischer und staatlicher Orientierung stand im Zeichen der doppelten Erfahrung einer Befreiung von der selbstverschuldeten Diktatur des Nationalsozialismus und der Drohung einer neuen, nun kommunistischen Diktatur im Osten Europas mit der zunehmend deutlicher werdenden Teilung Deutschlands. Vor allem aber wurde in der Bundesrepublik zugleich mit der Verankerung der Grundrechte das Prinzip der „streitbaren Demokratie“ begründet und der Weimarer Erfahrung demokratischer Wehrlosigkeit entgegengesetzt. Es galt einer deutschen politischen Tradition zu wehren, die immer wieder zwischen zwei Extremen schwankte: zwischen Staatsvergottung und Staatsenthaltung, zwischen Obrigkeitsstaat und Radikalismus.

Die doppelte Erfahrung des Totalitarismus — des deutschen im „Dritten Reich“, des kommunistischen im Osten Europas und der späteren DDR — war der Ausgangspunkt für jene rasche Um-und Neuorientierung im Westen Deutschlands, die zu Beginn der fünfziger Jahre nun auch eine positive Selbstbestimmung gewann: Vor allem durch die Einbeziehung in den Westen und in einen beginnenden Einigungsprozeß Westeuropas, welcher rascher als irgend erwartet die Rückkehr in den Kreis der freiheitlichen Staaten und den Aufschwung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse erlaubte — und die Anschauung der amerikanischen Demokratie in ein positives Leitbild verwandelte. 2. Dieser Prozeß einer Veränderung und Neugewinnung des Staatsverständnisses im freien Teil Deutschlands fand in der raschen materiellen Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik seine scheinbare Bestätigung, freilich mit erheblichen, bis heute ungelösten Implikationen und Einschränkungen. Während im älteren deutschen Nationalgefühl im Laufe des 19. Jahrhunderts Staats-und Demokratiebewußtsein auseinandergefallen waren, sind es nun in der zweiten deutschen Demokratie Staats-verständnis und Nationsverständnis, die nicht mehr dasselbe bedeuten. Der Neuaufbau stand von Anfang an im Zeichen der anhaltenden Spannung zwischen der Wiederbegründung und Festigung der parlamentarischen Demokratie in Westdeutschland und der Forderung nach Erhaltung der nationalen Einheit, nach einer Lösung der „deutschen Frage“ im Zeichen freier Selbstbestimmung. Die fünfziger Jahre waren zwar bewegt von der wachsenden Zuversicht, daß Bonn nicht (mehr) Weimar sei, doch eher verdrängt blieb die Tatsache, daß weder die Erstarkung des Westens noch die Leistungsfähigkeit und Stabilität der zweiten deutschen Demokratie eine nationale „Wiedervereinigung“ näher rükken ließen, geschweige denn sie gleichsam automatisch ermöglichten. 3. Anders in den sechziger Jahren: Die Aufmerksamkeit und das Engagement zumal der verstärkt auftretenden Nachkriegsgeneration richtete sich, dem unmittelbaren Erlebnis der Gründungszeit entrückt, auf Änderung der inneren Verhältnisse und Erfüllung der demokratischen Ideale und löste so eine Revolution steigender Erwartungen aus. Es war eine Wendung nach innen, mit den Postulaten und Kampfrufen der totalen Demokratisierung und allgültigen Mitbestimmung in Staat und Gesellschaft, und ebenfalls gegen jene ältere deutsche Spannung zwischen Staats-und Demokratieverständnisgerichtet, die 1848 und 1871, 1918 und 1933 zutage getreten war.

Aber es war auch eine Wendung nach außen, wo eine „Dritte Welt“ jenseits der Ost-West-Konfrontation entstanden war, an die sich Wünsche und Zielsetzungen der neuen Generation heften konnten; sie führten gleichzeitig zum Zweifel an Amerika als dem zumal in den Augen der Vietnamkrieg-Kritiker verblassenden Idealbild oder Orientierungspunkt. Das Schlüsseljahr 1968 signalisierte beides: Die Selbstkritik am Westen und seinen Werten und zugleich die Hoffnung auf die lösende Wirkung einer Entspannung über die feindlichen Lager von Demokratie und Diktatur hinweg. An beidem waren die politischen Vorstellungen zumal der jüngeren Deutschen stark beteiligt, woran auch der sowjetische Einmarsch in Prag 1968 kaum etwas änderte.

Mehr denn je wurden nun die großen Entscheidungen und Weichenstellungen der ersten Nachkriegsjahre in Frage gestellt: außen-wie innenpolitisch, politisch wie moralisch. Auch der Streit um die Anwendung des Totalitarismusbegriffs auf die kommunistischen Systeme und des Faschismusbegriffs aufwestliche autoritäre Regime ging nicht nur um die Vergleichbarkeit linker und rechter Diktaturen; er wurde symptomatisch fürjene „Hinterfragung“ eines westdeutschen Staatsverständnisses, das ja nicht zuletzt auf dem antitotalitären Nachkriegskonsens beruhte und zur zunehmenden Bejahung der zweiten deutschen Demokratie geführt hatte. 4. Der „Zeitgeist“ der siebziger Jahre entwickelte sich vor allem in zwei Richtungen, die sich teils überschnitten, teils ablösten. Dem radikaldemokratischen Progressismus der Protestbewegungen folgte auf der Linken wie auf der Rechten eine Welle pessimistischer Ideologeme. Die Diskussion über das Schlagwort von der „Tendenzwende“ (1975) bezeichnete zugleich ein Gegeneinander verschiedener Politik-und Demokratiebegriffe, das verunsichernd und polarisierend auf den Wandel der politischen Kultur und ihrer Werte einwirkte, den Grundkonsens der Bundesrepublik überhaupt in Frage zu stellen drohte.

Freilich zeigte sich nun erneut ein wichtiger Unterschied zwischen der ersten und der zweiten deutschen Republik. Er besteht darin, daß sich heute fast alle politischen Kräfte betont auf die Verfassung berufen, während vor 1933 ihre Ausklammerung. oder Bekämpfung die vorherrschende Ten-B denz war. Gewiß gab es seinerzeit eine ausgebreitete staatsrechtliche Literatur zur Auslegung der Weimarer Verfassung, führten verfassungskundige Juristen damals in allen politischen Lagern und Richtungen nicht weniger das Wort denn heute. Der fast diametrale Unterschied zu Weimar läßt sich aber wohl auf die Formel bringen: Damals erschien die demokratische Verfassung selbst allzu vielen als ein lästiges, zu umgehendes Übel, heute ist es gerade die intensive Ausdeutung und Nutzung, die das Grundgesetz ins Zentrum des politischen Kalküls und der Argumentation aller Gruppen rückt. Es wird in übereinstimmender Emphase und zugleich widerstreitender Absicht als Grundlage und Rechtfertigung der eigenen politischen Bestrebungen zitiert. Durch die Jahre ist diese Tendenz allenthalben stärker geworden: Zeichen einer „Normalisierung“ auch in der Einstellung auf die Funktion der Verfassung als Grundlage des Staates. Bis zu den Parteiverboten der fünfziger Jahre war dieser Prozeß noch keineswegs selbstverständlich, in den radikalen Parteien jedenfalls durchaus kontrovers. Heute spielt selbst in den Kontroversen um die Beschäftigung Radikaler im öffentlichen Dienst gerade die Berufung auf die Verfassung in allen politischen Lagern die entscheidende Rolle.

Dieses Verfassungs-und Systemverständnis ist bemerkenswert nicht nur im Vergleich zur Weimarer Republik, sondern auch im Hinblick darauf, daß der politische Konsens unserer Gesellschaft keineswegs so einheitlich ist, wie oft behauptet wird, wenn man nur das wirtschaftliche Wohlgedeihen und seinen Reflex in systemkonformen Wahlen betrachtet. In Wahrheit steht das Verfassungsverständnis sowohl am Anfang, bei der Schaffung des Grundgesetzes, wie auch heute, 40 Jahre danach, im Zeichen recht verschiedener Überzeugungen und Erwartungen. Diese manifestierten sich noch in der Zeit des ersten deutschen Bundestages in einer Vielzahl von Parteien, verloren dann aber im Laufe der folgenden Konsolidierung von Kanzlerdemokratie und Parteiensystem an Schärfe, glichen sich der Entwicklung an. Nicht zuletzt auch dank der überragend wichtigen Wirksamkeit des Bundesverfassungsgerichts wuchs ein verfassungspolitischer Konsens. Anders als 1919 war die Situation von 1948/49 gekennzeichnet durch die doppelte Erfahrung der gescheiterten ersten Demokratie und der blutig widerlegten Diktatur. Der Konsens wurde überdies durch den unabweisbaren Zusammenhang zwischen der Schaffung der Verfassung und der Erlangung größerer Selbständigkeiten für eine deutsche Politik gegenüber dem Besatzungsregime gefördert. Dies wirkte mit, daß ein Verfassungswerk von so entschiedener, substantieller Strukturierung entstehen und angenommen werden konnte, obwohl doch erhebliche Widersprüche sowohl in den Demokratieauffassungen der Beteiligten wie zugleich im nationalen oder postnationalen Verständnis von Verfassung und Staat enthalten waren.

V

Die Belastungsproben, denen sich die Bundesrepublik Deutschland seit den sechziger Jahren zunehmend gegenübersah — amerikanisch-sowjetische Annäherung und Krise der Europa-Politik —. machten freilich die Empfindlichkeit der westdeutschen Position deutlich und brachten Symptome der Unruhe hervor, die alte und neue Schwächen der deutschen Demokratie anzeigten. Im zeitweiligen Aufstieg der autoritär-nationalistischen NPD einerseits, in der ebenso raschen Radikalisierung von antiautoritären, neoromantischen Studenten-und Jugendbewegungen andererseits, die das bisherige Selbstverständnis der Bundesrepublik in Frage stellten, trat jenes Krisenpotential in Erscheinung, das seit dem Sturz der Regierung Erhard und dem Experiment der Großen Koalition auf eine neue Polarisierung hinwirkte. Die politischen Reaktionen auf jede auch nur befürchtete Rezession (wie 1966/67) schürten Ängste, eine Wirtschaftskrise wie die von 1930 könnte ein so sensibles, auf sozialen und ökonomischen Fortschritt gebautes System schwer treffen. Seit 1967 verstärkten sich im Zeichen der ökonomischen Rezession, des Vietnam-Krieges und der Studentenunruhen denn auch vorübergehend die Vorbehalte gegen die Bonner Demokratie. Der Aufstieg des rechtsradikalen Nationalismus und des linksradikalen Utopismus profitierte von den Mißgefühlen gegen die Große Koalition, die einer wirksamen parlamentarischen Opposition in Fragen wie der Notstandsgesetzgebung wenig Raum zu bieten schien, weil nur die kleine FDP gegen die Regierung stand. Die Situation reizte zu Rebellionen gegen das parlamentarische Establishment und das System selbst. Antisystemliteratur wurde vorübergehend zu einer intellektuellen Mode, von der die antikapitalistische, neomarxistische Agitation der Neuen Linken profitierte. Die Schatten von Weimar tauchten auf: extreme Polarisierung und Antiparlamentarismus von rechts und links.

Aber in der weiteren Entwicklung wurde dann offenbar, wie viel stabiler die zweite Demokratie in Deutschland begründet ist. Am eindringlichsten tritt dies im funktionsfähigen Parteiensystem, in der Regierungskontinuität der Kanzlerdemokratie und in der Zurückdrängungjener rechts-und linksextremistischen Gruppierungen hervor, die das Leben der ersten deutschen Republik zerstört hatten. Diese Merkmale gelten auch angesichts der neuen Anfechtungen des deutschen und internationalen Terrorismus mit dem Höhepunkt der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und der Wirtschaftsführer Jürgen Ponto und Hanns-Martin Schleyer 1977/78 sowie hinsichtlich der Auseinandersetzung um eine extremistische Unterwanderung des öffentlichen Dienstes. Der systemfeindbehen Parole vom „Marsch durch die Institutionen“ steht das verfassungspolitische Selbstverständnis derstreitbaren, abwehrbereiten Demokratie entgegen. Solange diese sich in dem antitotalitären Grundprinzip ihrer Verfassung nicht beirren läßt und den Tendenzen und Kampagnen der Verunsicherung nicht nachgibt, bleiben die Schatten von Weimar gebannt: die Gefahren einer Über-Toleranz gegen jene, die Freiheitsrechte für freiheitsfeindliche Ziele zu mißbrauchen suchen.

Daß Bonn nicht Weimar ist, diesen Unterschied signalisierten auch die Regierungswechsel von 1969 und 1974, die Sozialdemokraten erstmals nach vierzig Jahren wieder in die beiden höchsten Positionen des Staates brachten: den Emigranten und Widerstandskämpfer Willy Brandt als Kanzler, den profilierten Protestanten Gustav Heinemann als Bundespräsidenten. Heinemanns Nachfolger war 1974 bis 1979 Walter Scheel, der zuvor Brandts Ostpolitik der Entspannung als Außenminister mitverantwortet hatte. Die neue Führung und mit ihr die Funktionsfähigkeit des Systems hatten sich an der Behandlung lange aufgeschobener Grundprobleme zu bewähren, vornehmlich einer umstrittenen Ost-politik, die sich den schmerzlichen Konsequenzen von 1949 für das Deutschland-Problem und für die deutschen Ostgrenzen stellte.

Die Politik Helmut Schmidts (1974— 1982) suchte wirksam zwischen den partei-und staatspolitischen, ideologischen und realistischen Positionen zu vermitteln, denen die Deutschlandpolitik im Zeichen allzu eilfertiger Entspannungshoffnungen unterworfen war. Gewiß hat das Bundesverfassungsgericht das Offenhalten der deutschen Frage als verfassungspolitisches Gebot bestätigt; doch von einer Schaukelpolitik zwischen West und Ost kann dabei nicht die Rede sein. Die Bundesrepublik bleibt angewiesen auf ihre Zugehörigkeit zu Westeuropa und auf Fortschritte der Integrationspolitik, der sie ihre Existenz und Entwicklung verdankt. Nur wenn die Möglichkeit einer gesamteuropäischen Kooperation konkretere Formen annähme, würde sich auch die Frage einer politischen Annäherung der zwei Staaten in Deutschland und ihrer Wiedervereinigung neu stellen. Aber dies setzt Änderungen der weltpolitischen Konstellation voraus, die auch auf längere Sicht kaum abzusehen sind. Unmittelbare Aufgabe bleibt die weitere Verflechtung und Handlungsfähigkeit des freien Europa. In diesem Sinne vertritt unter den Präsidenten Carstens und Weizsäcker auch die Regierung Helmut Kohl seit 1982 durchaus die Grundpositionen der Deutschlandpolitik. Der sichere wirtschafts-und bündnispolitische Kurs, dem die Bundesrepublik ihre gefestigte Stellung in Europa verdankt, fing die Enttäuschung in der Deutschlandfrage über den Verzicht auf nationale Einheit auf. Zwar erwies sich der Weg von der Nichtanerkennung der Teilung und der DDR bis zu ihrer allmählichen Hinnahme als lang und schmerzlich. Aber er ersparte den Politikern, die an der offiziellen Wiedervereinigungsthese festhielten, wie der Bevölkerung, die sich allmählich an den Status quo gewöhnte, jene fragwürdige Belastungsprobe, die das Entweder-Oder einer Entscheidung zwischen demokratischer Westorientierung und neutralistischer oder prosowjetischer Wiedervereinigungspolitik bedeutete.

Die Bundesrepublik gewann mit der zügigen Entwicklung und ihrer Stabilisierung als einer parlamentarischen Demokratie schneller als erwartet eine neue, adäquatere Rolle als mittlere Macht mit einem engen Verhältnis zu Westeuropa, in freiheitlicher Selbsteinschätzung, aber ohne Großmacht-träume. Sie ist darin repräsentativ für die Möglichkeiten, die ein freies Europa besitzt, das von der politischen Weltmachtrolle Abschied zu nehmen hatte, aber durch den raschen Wiederaufbau und die starke Kooperation einen Teil seiner Bedeutung als starke Wirtschaftsmacht und Träger der Demokratie im Rahmen einer größeren Gemeinschaft, der westlichen Staats-und Kulturgemeinschaft, zurückgewinnen konnte.

VI.

Freilich existieren von Anfang an auch jene Kräfte, die der pluralistischen, parlamentarischen Demokratie selbst prinzipiell kritisch gegenüberstehen. Sie treten in der Situation von 1949 und danach vorwiegend als Kontinuität rechtsautoritärer und antidemokratischer Staatsideologien hervor. Seit den sechziger Jahren verstärkt sich dann aber vor allem eine von extremen Forderungen getragene Kritik an der angeblichen „Nichterfüllung“ des Grundgesetzes im Sinne einer totalen Demokratisierung auch der Gesellschaft. Dies bedeutet gleichsam eine Überstrapazierung der Verfassungsnormen. Die nur scheinbar paradoxe Konsequenz ist die Forderung nach Systemsprengung oder Systemüberwindung — wobei offen bleibt, wohin dies führen soll: Zur angeblich totalen Erfüllung oder zur Abschaffung der Verfassung.

Hier wird der Punkt erreicht, an dem die rigorose Konfrontation von Norm und Wirklichkeit geradezu gegen die Existenz und Funktion des Verfassungssystems selbst wirken kann, so emphatisch dies auch im Namen der Verfassung geschehen mag. Wenn es richtig ist, daß die Weimarer Repu-blik wesentlich durch den Verfassungsmißbrauch und die extensive Nutzung der Verfassungstoleranz von rechtsextremen Verfassungsfeinden zerstört worden ist, dann haben wir hier eine umgekehrte mögliche Variante linksextremer Verfassungszerstörung vor uns. Sie erscheint der betont aus den Weimarer Erfahrungen hervorgegangenen Struktur des Grundgesetzes angepaßt: Die Aushöhlung des „Systems“ erfolgt nun durch die beschwörende Überforderung des Grundgesetzes mit einem perfektionistischen Demokratiebegriff, was letztlich ebenfalls auf Verfassungsbeseitigung mittels Verfassungsmißbrauch hinausläuft. In beiden Fällen stützt sich die Argumentation auf eine Totalkritik am empirischen Parteienstaat und auf ein Plädoyer gegen das, was abschätzig als bürgerlich-liberale, repräsentative „Formaldemokratie“ abgetan wird, der eine plebiszitäre, totalstaatliche oder totalgesellschaftliche Form der (Basis-) „Demokratisierung“ entgegengestellt wird. Darin liegt übrigens seitje die seltsame und doch nicht zufällige Affinität rechter und linker Extremismen, ob sie nun von rechts autoritärstaatlich oder von links rätedemokratisch begründet werden — doch erfahrungsgemäß beide mit diktatorischen Konsequenzen.

Indem Unvollkommenheiten und Schwächen der empirischen Staats-und Gesellschaftsordnung zur Struktur-und Systemkrise des liberalen Verfassungswesens überhöht und einem verabsolutierten Ideal . reiner* Demokratie gegenübergestellt werden. geht der Blick für die politischen Möglichkeiten verloren, rückt gewollt oder ungewollt die Alternative der Diktatur in Reichweite. Das erinnert an die so verhängnisvoll einflußreiche Methode eines Staatstheoretikers wie Carl Schmitt, der einst durch die Konfrontierung einer theoretisch idealisierten Parlamentsdemokratie mit den empirischen Machtverhältnissen der Weimarer Republik einen angeblich unlösbaren Widerspruch in der pluralistischen Demokratie überhaupt konstruierte und so schließlich zur Rechtfertigung des totalen Staates gelangte.

Teile der „Neuen Linken“ und vor ihr der „Kritischen Theorie“ haben jedenfalls jenes Verfahren der Überforderung entlehnt, wenngleich die ideologischen Vorzeichen vertauscht. Die vermeintlich herrschaftsfreie „Öffentlichkeit“ des klassischen Liberalismus, die etwa auch Habermas in scharfer Dialektik den sozio-ökonomischen und technokratischen Verkrustungen der modernen Parlaments-demokratie entgegenhielt, inzwischen freilich wieder abgeschwächt hat, diente seinerzeit dem Verdikt über den „spätbürgerlichen“, untergangsreifen Charakter des repräsentativen „Systems“: Seine Verfassungsordnung, hieß es, degenerierte schließlich zur Fassade oder zum Vorwand ungehemmter Herrschaft, die Wirklichkeit werde sich Bahn brechen zur großen Veränderung im alt-oder neomarxistischen Sinne. Immer wieder beobachten wir eine tiefe Affinität rechts-und linksideologischer Argumente gegen den gewaltenteiligen Rechtsstaat, mögen sie technologischer oder radikaldemokratischer Herkunft sein. Im Unterschied zu den zwanziger Jahren sind diese Argumente heute nicht nur gegen brüchige Krisenregime gerichtet, die wie die Weimarer Republik nur noch mit umstrittenen Ausnahmeregelungen und funktionsschwachen Parlamenten existieren. Die Kritik gilt dem Prinzip selbst und wendet sich gerade auch gegen jene Staaten, die wie die Bundesrepublik als stabile, von breiten Kreisen der Bevölkerung getragene Demokratien mit differenzierter Machtverteilung gelten. Es sind nicht nur Funktionsschwächen des Systems, aus denen eine Krise abgelesen wird, es ist das repräsentative System selbst, das unter das Verdikt fällt. Ein „Hauch von Totalitarismus“ (Sontheimer), ja von totalitärem Demokratieverständnis (J. L. Talmon) wird spürbar, das an Zeiten politischer Verführung und ideologischer Perversion erinnert.

Aber was sich von solchen extremen Tendenzen schließlich in der Forderung nach einer vollständigen „Alternative“ zu bündeln und am systemkritischen Aufstieg der ökologischen Partei der „Grünen“ zu partizipieren suchte, vermochte allen Sympathien und Befürchtungen zum Trotz so wenig wie der Terrorismus die Stabilität der zweiten deutschen Demokratie zu erschüttern.

VII.

Wie steht es nun mit der Streitfrage nach der Fortdauer des nationalen Problems? Auch ein so geschichtsbewußter Politiker wie Alois Mertes hat gefordert, die deutsche Frage zuerst als eine menschenrechtliche zu sehen und nicht einfach als eine territoriale. Wir sind damit zugleich bei der Diskussion um das Modewort von der „nationalen Identität“. Dabei ist auch nach vier Jahrzehnten Deutschland-Diskussion unklar geblieben, was es wirklich heiße, „sich selbst anzuerkennen“, wie es der Historiker Golo Mann, der wohlwollende Beobachter von draußen und drinnen, schon lange vor der neuen nationalen Identitätsdiskussion gefordert hatte. Er bekannte sich nach den Erfahrungen einer verworrenen deutschen Geschichte als Weltbürger. „Schweizer und Deutscher auch“, und entgegnete einer deutschen Diskussion, die ein gesamtdeutsches Disengagement für möglich halten und die nationale Frage über die westeuropäische und atlantische Beziehung der Bundesrepublik Deutschland stellen wollte, nicht ohne Ironie: „Im übrigen ist man halt mit sich selbst identisch, mit all den Schwierigkeiten, die viele Identitäten bedeuten“.

Solche besonnenen Stimmen suchen die Antwort nicht in den scharfen Alternativen der National-staatstheorie, sondern im Vorrang der freiheitlichen Demokratie und des europäischen Friedens. Denn auch mit Konzeptionen, die in der „Kulturnation“ den neuen Bezugspunkt sehen möchten, wird natürlich das staatlich-politische Problem nicht gelöst, selbst wenn sie den Kulturzusammenhang als Ersatz für eine politische Klammer von Deutschland-West und -Ost verstehen. Und in der Wiederbelebung des Heimatgefühls mag man eher eine Kompensation für die machtpolitischen Realitäten der Teilung sehen (v. Bredow). Auch die Umfragen geben keine klaren Antworten. Wenn sich die große Mehrheit weiterhin für das verfassungsmäßige Gebot einer Wiedervereinigung ausspricht, identifiziert sie sich doch gleichzeitig mit der Bundesrepublik Deutschland als Staat. Es zeigt sich, was durch die Hoffnungen auf einen „Wandel durch Annäherung“ verwischt war: daß der grundlegende Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur, die Teilung in Freiheit und Unfreiheit, den eigentlichen Faktor der Selbstbestimmung darstellt.

Neben dem sprachlichen und kulturellen Kriterium der Nation ist es daspolitische Kriterium, das inzwischen, vierzig Jahre nach der „Stunde Null“, auch zu einem historischen wird und die Frage nach der deutschen Identität von der Erwartung auf Wiedervereinigung allmählich wegführt. Freiheit oder Wiedervereinigung? Diese Frage von Karl Jaspers (1959) war zehn Jahre nach Gründung der Bundesrepublik noch heftig umstritten. Aber das fundamentale deutsche Interesse, ablesbar auch an den politischen Wahlen und freiheitlichen Optionen der deutschen Bevölkerung (wo solche möglich sind), bleibt die Zugehörigkeit zur politischen und historischen Tradition des freiheitlich-demokratischen Westens. So komplex das Problem der „nationalen Identität“ für die Deutschen nach wie vor ist, so erscheint doch der Nationalstaat heute nur als eine Ebene für politische Entscheidungen und Identifikationen unter anderen. Denn „die Sicherung und Entwicklung von Freiheit und Demokratie bei uns und anderen, die unserer Unterstützung und Kooperation bedürfen, ist die nicht relativierbare Aufgabe unserer Politik in Gegenwart und Zukunft“ (Alexander Schwan).

Aber dabei ist auch nie zu vergessen, daß die Deutschen in der DDR nach wie vor die Leidtragenden sind. Und wenn im Blick auf die neuere Literatur der DDR geradezu eine deutschsprachige „Konvergenz-Bewegung“ beobachtet wird (Hans Mayer), so ist diese doch politisch nicht abzusehen, führt vielmehr zu Auswanderung, Ausbürgerung oder innerer Zermürbung. An der deutschen Frage immer zu rütteln oder über ihr träumend zu verzweifeln, Abhängigkeiten und Realitäten nicht wahrhaben zu wollen: Solche Neigungen nähren jene deutsche Unruhe und bohrende Unzufriedenheit mit der Welt, die auch das unterminieren und zerstören könnte, was an gesicherter politischer Freiheit im Westen vorhanden ist und zugleich die Hoffnung auf eine nicht totalitäre Zukunft Europas überhaupt erhält.

Auch scheinbar konsolidierte, in sich geschlossene und historisch gegründete Nationalstaaten haben heute ihre Identitätsprobleme. Das gilt nicht nur für Entwicklungsländer und neue Staaten. Ein Blick auf die älteren, kontinuitätsbewußten Demokratien des Westens, vollends auf die ideologisch forcierten Diktaturen des Kommunismus wie der Dritten Welt zeigt, in welchem Maße die nationalstaatliche Organisation heute von übernationalen Bedingungen und Faktoren wirtschaftlicher und ideeller Art. aber auch von sozialen und regionalen Sonderbindungen überlagert wird. Die Bundesrepublik ist trotz der fortdauernden Bedeutung der deutschen Frage kein Sonderfall, der die Deutschen auf Sonderwege verweist. Ihre geographische Mittellage zu dramatisieren, wie es in der nationalen Identitätsdiskussion wieder geschieht, hieße die wehleidigen Klagen und auch die überheblichen Gedanken aus einer schließlich fehlgegangenen deutschen Vergangenheit wiederholen.

Ihre Lage macht die Bundesrepublik vielmehr zu einem offenen, lebendigen Schauplatz für alle zeitgenössischen Tendenzen und gewiß auch für Ängste und Träume, die in der DDR und Osteuropa nicht so ungehindert ausgetragen werden können. Wie-viel schwieriger ist deren „Mittellage“, um wieviel mehr sind sie abhängig und eingekreist, wieviel ungewisser müssen sie in die Zukunft blicken als die vom Westen getragene zweite deutsche Demokratie! Aber vieles kommt darum auch auf das Vertrauen und die Unterstützung der westlichen Partner der Bundesrepublik an. Die Spannungslage in einem nach wie vor geteilten Europa ist nur auszuhalten, wenn an diesem wechselseitigen Grundvertrag der europäisch-atlantischen Gemeinschaft festgehalten wird.

So wenig die Schwierigkeiten mit der europäischen Integration einen notorischen Euro-Pessimismus rechtfertigen, so wenig besteht Anlaß zu einem besonderen deutschen Teuto-Pessimismus. Die Bundesrepublik hat sich über die Turbulenzen seit Mitte der sechziger Jahre hinweg als ein leistungsund wandlungsfähiges, stabiles und offenes Gemeinwesen erwiesen. Auch wenn man nicht gleich wieder von einem „deutschen Modell“ sprechen mag, so kann man durchaus ihr erfolgreiches System der Sozialen Marktwirtschaft und ihre starke Stellung unter den modernen Industriestaaten hervorheben. Zwischen übermäßigem Stolz auf Erreichtes und unmäßiger Selbstkritik an den Unvollkommenheiten pluralistischer Demokratie bietet sie freiheitliche Identifikationsmöglichkeiten wie kein anderer deutscher Staat zuvor. Die europäische und atlantische Gemeinschaft gibt ihr den Rückhalt, um vor der besonderen Herausforderung zu bestehen, unter der sie nach dem Ende der deutschen Diktatur existiert: zunächst als postnationale Demokratie unter Nationalstaaten zu leben und damit — ohnehin begünstigt und privilegiert gegenüber der Bevölkerung der DDR — die Konsequenzen selbstverschuldeter Diktatur und folgender Teilung zu tragen, aber auch den Erfahrungen sowohl der ersten gescheiterten wie der neuen erfolgreicheren Demokratie als Signal und Hoffnungsträger deutscher Freiheit gerecht zu werden — ob nun eine Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands näher rückt oder nicht.

Ein Offenhalten der deutschen Frage ist nur möglich, wenn es auf dieser primären Entscheidung für den Westen und die freiheitliche Demokratie beruht, und wenn es den grundlegenden Unterschied der Systeme als maßgebenden Prüfstein auch einer Entspannungspolitik beachtet, die eine „Systemöffnung“ erstrebt und doch mit dem weiterhin antagonistischen Verständnis der kommunistischen Koexistenzpolitik zu rechnen hat, ihm gewachsen sein muß. Sonst ist es in Wahrheit kein Offenhalten, sondern ein Rückfall in ältere und neuere deutsche Sonderwegsillusionen.

VIII.

Blicken wir zurück. Der nationalstaatliche Weg Deutschlands von 1870/71 war historisch schwierig und politisch komplex; er bedeutete eine Rebellion gegen die deutsche Mittellage und führte selbst unter den günstigen Bedingungen des Sieges über Frankreich und der Bismarckzeit nur zu einem unvollständigen Nationalstaat. Nicht zuletzt die antiwestliche Wendung und ein nationalistischer Revisionismus führten seit dem Ersten Weltkrieg zur Isolierung und Selbstzerstörung, zuerst der Demokratie, dann auch des Reiches. Die Frage, wie nach der Niederlage von 1945 deutsche Freiheit politisch zu retten und staatlich zu organisieren war. enthielt denn auch genau diese Problematik einer nichtnationalstaatlichen, doch gleichwohl verteidigungswürdigen und -fähigen deutschen Demokratie.

Zugespitzt hieß dies als Konsequenz sowjetischer Expansionspolitik und antitotalitärer Selbstbehauptung: die „Staatsräson der Bundesrepublik“ (W. Besson) lag zuvörderst in ihrer freiheitlich-demokratischen Identität mit dem Westen. Verbürgte nicht gerade diese supranationale Orientierung, die illusionslos mit der Macht und Ideologie der Sowjetunion rechnete, auch einen realistischeren Ansatzpunkt zur Wahrnehmung gesamtdeutscher Verantwortung — von den Wirtschaftsbeziehungen bis zur Menschenrechtspolitik der KSZE, und nicht zuletzt als Signal und Hoffnungsträger auch für die Bevölkerung der DDR?

Mit Alexander Schwan teile ich darum die Bedenken gegen einen national-kollektiven Identitätsbegriff überhaupt, der zumal nach der deutschen Erfahrung dem Mißbrauch politischer Verabsolutierung ausgesetzt ist — von Rousseaus „volont generale“ bis zur „Volksgemeinschaft“. Das Bekenntnis zur deutschen Einheit, die Überwindung der Teilung im nationalstaatlichen Sinne ist nach den historischen und politischen Voraussetzungen unserer Lage nur im Rahmen einer europäischen Lösung denkbar, die der freiheitlich-demokratischen Verfassung den ersten Rang zuerkennt. Das ist auch die Voraussetzung für jene „freie Selbstbestimmung“, von der das Grundgesetz spricht — allerdings nicht mit dem Vorrang der Einheit vor der Freiheit. Den Begriff der nationalen Identität dagegen auszuspielen, wäre verhängnisvoll. Eben dies ist es, was ich den Zustand einer „postnationalen Demokratie“ genannt habe — und weshalb mir diese Beschreibung des deutschen Problems (oder Dilemmas) nach wie vor zutreffend und redlich erscheint.

Es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, welcher der zahlreichen Faktoren in erster Linie für die bemerkenswerte Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zur Normalität eines demokratischen Staates namhaft zu machen ist: Außen-, Wirtschafts-und Innenpolitik sind gleichermaßen beteiligt. Der Verfassung, ihrer Anerkennung und Realisierung, der demokratischen Abwehr diktatorischer, neutralistischer Anfechtungen von außen und radikaler Tendenzen von innen kommt jedenfalls hohe Bedeutung zu. Aber grundlegend ist und bleibt schließlich die Einfügung der Bundesrepublik in den übernationalen Rahmen der Europapolitik, ihr Verzicht auf eine in der Vergangenheit so verhängnisvolle nationalistische Machtpolitik, ihr Streben nach Partnerschaft mit den Nachbarn und das Bewußtsein der wechselseitigen Abhängigkeit auf wirtschaftlichem wie auf politischem Gebiet.

Diesem Erfordernis hat schon die Verfassung der Bundesrepublik in besonderer Weise Rechnung getragen, indem sie eine Selbstbeschränkung der nationalstaatlichen Hoheitsrechte „zugunsten zwischenstaatlicher Einrichtungen“ sowie „zur Wahrung des Friedens“ und zur „Unterbindung eines Angriffskrieges“ (Artikel 24 bis 26 des Grundgesetzes) vorsieht — ein Novum in der Geschichte der modernen Staaten. Es entspricht jedoch der Lage eines Landes in der Mitte Europas, das von der weiteren Entwicklung des Ost-West-Konflikts und der Nord-Süd-Problematik im Zeichen der Teilung Europas und Deutschlands nach wie vor in besonderem Maße betroffen ist. Die übernationale Offenheit, die auch die Verfassung zeigt, kommt der Europapolitik und den dafür grundlegenden deutsch-französischen Beziehungen zugute, die den tiefen Wandel gegenüber der früheren Geschichte besonders eindringlich demonstrieren. „Verfassungspatriotismus“ (Dolf Stemberger) lautet denn auch die Forderung, die über das problemreiche Bemühen um eine Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats hinaus zum Kem des Staats-verständnisses erhoben wurde. Vor allem zeigt die deutsche Erfahrung der letzten vier Jahrzehnte, daß freiheitliche Demokratien auch unter erheblichen Belastungen lebensfähiger sein können als die Diktaturen, die einen Großteil der Erde beherrschen. Die Entwicklung der Bundesrepublik hat die bisher liberalste und höchstentfaltete Staatsgesellschaft der deutschen Geschichte hervorgebracht. Die Probleme der deutschen Teilung und des Ost-West-Konfliktes hat sie nicht gelöst, denn diese beruhen auf dem grundlegenden Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur. Daß dieser Konflikt nicht auf Kosten der Demokratie gelöst werden darf, auch nicht in der Frage der nationalen Einheit, ist der schmerzliche Teil der deutschen Erfahrung. Aber sie leistet damit zugleich einen übernationalen Beitrag zur vorrangigen Verteidigung einer freiheitlichen Staatspolitik, die wir gerade auch denen schulden, die über ihre Staatsform nicht selbst bestimmen können — und die doch darauf hoffen, daß die Geschichte nicht endgültig im Meer der Diktaturen untergeht.

Dazu noch zwei Stimmen aus Frankreich, dem einstigen „Erbfeind“, die das Ausmaß der Neuorientierung deutlich machen. Ein scharfblickender Politikwissenschaftler erinnert uns an den „ursprünglichen Vertrag der [westlichen] Allianz — Deutschland wählt den Westen, aber der Westen akzeptiert das Problem der deutschen Teilung als sein eigenes“ (Pierre Hässner). Und Robert Schuman, der große Architekt deutsch-französischer und europäischer Einigung, hinterläßt die Mahnung: „Den Nationalismus der anderen können wir nicht widerlegen, wenn wir ihm unseren eigenen Nationalismus gegenüberstellen.“

Auch das Verlangen nach deutscher Einheit wird am ehesten insoweit mit den Interessen und Befürchtungen der anderen vereinbar, als der Nationalstaat jedenfalls seinen absoluten Souveränitätsanspruch zurücknimmt und bei weiterer Föderalisierung Europas (besser als: „Europäisierung Europas“!) nur noch eine unter mehreren Ebenen der Politik bildet, so daß eine nationale Lösung der deutschen Frage als europäisch erträglich empfunden und damit überhaupt realistisch würde. Dies entspricht auch der sich wandelnden Vorstellung von „nationalen Interessen“, die heute angesichts der transnationalen Verflechtung immer weniger ohne dezidiert europäischen Bezug denkbar sind — ob es nun um Wirtschafts-, Umwelt-oder Sicherheitspolitik, ja um die politische Wertorientierung überhaupt geht. Selbst die Sowjetunion glaubt, ohne den freilich vieldeutigen Slogan „Europäisches Haus“ und enge Beziehungen zur Europäischen Gemeinschaft nicht mehr auszukommen.

Die nicht nur in England beliebte Kritik an Brüssel erscheint als ein Rückzugsgefecht angesichts der Relativierung nationalstaatlicher Autonomieansprüche. Im Hinblick auf die europäische Verflechtung ist die post-oder transnationale Orientierung deutscher Demokratie, von der ich gesprochen habe, nicht mehr als Verzicht oder gar „Verrat“ gegenüber der Nation zu verdächtigen, sondern entspricht der sich ändernden Stellung der Einzelstaaten in einer freiheitlich-demokratischen Staatengemeinschaft, die gerade als solche auch nach Osten immer mehr Anziehungskraft gewinnt. Freilich, zum direkt gewählten Europäischen Parlament muß die noch fehlende Verfassung der Gemeinschaft kommen, die im Zeitalter der Identitätssuche auch einem europäischen Verfassungspatriotismus Auftrieb und Halt geben kann.

Es ist die Last und zugleich Chance unserer geschichtlichen Erbschaft, daß wir gerade auch um unserer nationalen Existenz willen unausweichlich einer supranationalen Orientierung bedürfen, daß demokratisches Politikverständnis nicht mehr hinter nationalstaatliches zurückfällt und daß damit zugleich paradigmatisch einer zunehmend interdependenten Staatenwelt Rechnung getragen wird. Und dies am Ende eines Jahrhunderts, in dem die Freiheit aufs äußerste gefährdet war, solange verblendete national-und sozialimperiale Ideologien sich über demokratische und menschenrechtliche Wertorientierungen erhoben.

Zum ersten Mal nach Jahrhunderten der Kriege und Unterdrückungen bietet die Leitidee eines neuen Europa konkret und praktikabel der Welt ein Modell der übernationalen Konfliktlösung und integralen Zusammenarbeit zur Sicherung sowohl der Freiheit wie des Friedens. Nach den Untaten des NS-Regimes und aus der Erfahrung einer Epoche mit so schrecklichen Folgen für die Menschen und Völker Europas bleibt ein deutscher Staat vor allem den politischen Grundwerten europäisch-amerikanischer Kultur, zumal der Bewahrung und Verteidigung der Menschenrechte, verpflichtet.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Karl Dietrich Bracher, Dr. phil., Drs. hum. lett., jur., rer. pol. h. c., geb. 1922; o. Professor emeritus für Wissenschaft von der Politik und Zeitgeschichte an der Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Die Auflösung der Weimarer Republik (1955); Die nationalsozialistische Machtergreifung (1960); Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur (1964); Die deutsche Diktatur (1969); Das deutsche Dilemma (1971); Die Krise Europas 1917— 1975 (1976 und 1979); Zeitgeschichtliche Kontroversen (1976 und 1984); Schlüsselwörter in der Geschichte (1978); Geschichte und Gewalt (1981); Zeit der Ideologien (1982); Die totalitäre Erfahrung (1987); Verfall und Fortschritt im Denken der frühen römischen Kaiserzeit (1987).