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Die deutschen Juden und der Nationalsozialismus 1933-1939 | APuZ 43/1988 | bpb.de

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APuZ 43/1988 München 1938: Illusion des Friedens Die „Reichskristallnacht": Der Judenpogrom vom November 1938 Die deutschen Juden und der Nationalsozialismus 1933-1939 Wird Österreichs Geschichte umgeschrieben?

Die deutschen Juden und der Nationalsozialismus 1933-1939

Wolfgang Benz

/ 36 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das deutsche Judentum verhielt sich angesichts der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ zunächst in seiner Mehrzahl ängstlich abwartend. Zumeist fühlte und dachte man „deutsch“ und hoffte auf die schützende Kraft von Recht und Gesetz, die Mäßigung der Nationalsozialisten durch internationale Einflüsse und die Hilfe des Reichspräsidenten Hindenburg. Unter dem Druck nationalsozialistischer Pressionen schlossen sich dann jedoch — wenn auch nur zögernd — die jüdischen Reihen, und insbesondere die Zionisten drängten auf innere Erneuerung, eine bewußte und demonstrative Hinwendung zum Judentum. Unter dem Dach des „Zentralausschusses für Hilfe und Aufbau“ bemühten sich seit April 1933 alle wichtigen jüdischen Organisationen, den in der deutschen Gesellschaft zusehends isolierten und verarmenden Juden wirtschaftliche, soziale und kulturelle Unterstützung zu geben. Die schlimmste Diskriminierung der deutschen Juden bestand schließlich darin, daß der Nachfolger des Zentralausschusses — die 1938 von den Nationalsozialisten verordnete und eingesetzte „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ — von 1939 bis 1943 gezwungen wurde, für die Verfolgung und Vernichtung der Juden administrative Hilfsdienste zu leisten.

I. Der Antisemitismus wird Staatsdoktrin

Anfang 1933 lebten im Deutschen Reich etwas mehr als eine halbe Million Menschen, die sich zum Judentum bekannten (0. 76 Prozent der Gesamtbevölkerung). Zur Besonderheit dieser Minorität gehörte, daß sie in einigen Berufen überproportional häufig vertreten war, vor allem im Handel (u. a. als Makler und Bankiers), in den Berufsgruppen der Ärzte und Rechtsanwälte und in künstlerischen Berufen. Das hatte lange zurückliegende soziale und politische Gründe, für die die Juden selbst die geringste Verantwortung trugen Die traditionelle Judenfeindschaft mit ihren lange über die formelle bürgerliche Gleichstellung der Emanzipationszeit hinaus wirksamen gesellschaftlichen Diskriminierungen scherte sich indes nicht darum, was Ursache, was Wirkung war. Ebenso war es den Antisemiten wenig wichtig, wie die Juden als kulturelle und religiöse Minderheit in Deutschland tatsächlich lebten; ihnen war nur am Zerrbild einer allen Deutschen feindlich gesonnenen, Wucher und Schacher treibenden Schar fremdartiger „Schmarotzer“ gelegen, das sich als politisches Instrument gebrauchen ließ Überspitzt formuliert hätte der Antisemitismus gar nicht gegen die in der Wirklichkeit existenten Juden gerichtet sein müssen, denn seine Funktion bestand ja auch — und bis 1933 sogar in erster Linie — darin, als Motivations-und Rechtfertigungsideologie Anhänger zu mobilisieren und beim Kampf um die Macht zu aktivieren.

Konkretisieren ließ sich der seit dem 19. Jahrhundert anwachsende Rassenantisemitismus am ehesten an der Gruppe der — mehrheitlich die polnische Staatsbürgerschaft besitzenden — Ostjuden, die im Deutschen Reich lebten. Diese Ostjuden, die den Kaftan oder wenigstens einen Gehrock trugen, die jiddisch sprachen und nicht nur im Religiösen orthodox waren, traten überwiegend in Berlin in Erscheinung. Im Scheunenviertel, unweit vom Alexanderplatz, führten die meisten von ihnen ein kümmerliches Leben. Man konnte sich ins osteuropäische „Stetl" versetzt fühlen, unter die Kleinhändler und Arbeitslosen, die die Straßen bevölkerten, und unter die Frommen, die die Bethäuser und Synagogen füllten.

Aus der Perspektive der deutschen Juden, der Emanzipierten und Assimilierten, für die Jiddisch eine Fremdsprache war, die die Sitten und Gebräuche der Ostjuden als seltsam empfanden, waren diese Menschen allenfalls Objekte der Fürsorge, wie man sie in Elend und Not lebenden entfernten Verwandten eben schuldet. Die Unterstützung von Auswanderungsbestrebungen dieser Ostjuden nach Übersee lag den alteingesessenen deutschen Juden vor allem am Herzen, aus naheliegenden Gründen. Denn keinesfalls wollten sie mit diesen knapp 99 000 Glaubensbrüdern identifiziert werden, die 1933 in der Statistik des Deutschen Reiches besonders aufgeführt wurden, weil sie die deutsche Staatsbürgerschaft nicht hatten. Daß ihnen genau dieses widerfuhr, vergrößerte nur noch die Distanz. Schlimmer als diese auf bewußter Karikatur oder absichtsvollem Mißverständnis beruhende Konkretisierung des Jüdischen in der nationalsozialistischen Propaganda waren freilich die Verschwörungstheorien. die auf sozialem Neid aufbauten und die die — keineswegs in der Überzahlbefindlichen — wohlsituierten Juden zum Ausgangspunkt nahmen, um Machenschaften eines „Weltjudentums“ gegen „die Deutschen“ zu unterstellen. Das war insbesondere bei Kleinbürgern und verarmten Angehörigen des Mittelstands wirksam, weil es simple Erklärungsmuster für die kaum zu durchschauenden Ursachen der ökonomischen Katastrophe der Inflation von 1923 lieferte. Weniger primitiv. aber nicht weniger falsch war der Vorwurf, die deutschen Juden lebten in einer doppelten Loyalität. nämlich zuerst als Juden, dann als Deutsche. Genauso falsch war die Behauptung, die jüdische Minderheit in Deutschland sei eine soziologisch, kulturell, politisch und geistig geschlossene Gruppe mit gleichartigen Überzeugungen und Verhaltensweisen. Am 30. Januar 1933 hatte sich die antisemitische Propaganda der Nationalsozialisten als erfolgreich erwiesen. Der Antisemitismus wurde — daran waren bald alle Zweifel vergeblich — zur Staatsdoktrin erhoben, und es war — wenn auch nur für eine ganz kurze Zeit — allenfalls die Frage, ob die Ju-denfeindschaft durch staatliche Maßnahmen in Taten umgesetzt werden oder ob sich der zum Erfolg gelangte Nationalsozialismus mit Drohgebärden begnügen würde. Darauf hofften natürlich viele, die in angstvollem Abwarten die Hitler-Regierung beobachteten.

II. Reaktionen auf den 30. Januar 1933

Die „Jüdische Rundschau“, das Organ der Zionisten, schrieb zum Amtsantritt Hitlers, mit der Bildung einer Regierung, in der die NSDAP die wichtigsten Positionen innehabe, sei der Zustand der Unklarheit beendet: „Wir stehen als Juden vor der Tatsache, daß eine uns feindliche Macht die Regierungsgewalt in Deutschland übernommen hat.“ Der Nationalsozialismus sei „eine entscheidende Kraft im deutschen Volke“ geworden, „die gering zu schätzen irrig wäre“. Wenn Hitler „im letzten halben Jahr der Weg zur Macht versperrt“ gewesen sei, „so gewiß nicht wegen seines antisemitischen Programms“. Vielmehr könne man eher behaupten. unter dem Druck der NSDAP sei „auch ohne Machtergreifung Hitlers die Ausschaltung der Juden bereits betrieben“ worden

Mit dieser Auffassung standen die Zionisten der Zukunft skeptischer gegenüber als die im „CentralVerein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ organisierten Juden, die sich programmatisch ebenso zum „Judentum“ wie zum „Deutschtum“ bekannten, die dem Traum einer deutsch-jüdischen Symbiose anhingen und deren nationale Hoffnungen und Sehnsüchte sich in nichts von denen der nichtjüdischen deutschen Staatsbürger unterschieden. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten gaben sich aber die jüdischen Kommentatoren auch in den folgenden Wochen und oft noch darüber hinaus überzeugt, daß zwischen dem Volkstribun Hitler mit seiner SA. die „Juda verrecke“ brüllte, und dem von deutschnationalen und anderen hochkonservativen Notablen flankierten Reichskanzler Hitler ein grundlegender Unterschied bestehe. Was der Parteiführer Hitler propagiert habe, könne der Kanzler Hitler nicht realisieren, ja nicht einmal wollen. Im übrigen glaubte man an die Kraft der Normen, an die Verankerung der Gleichberechtigung der deutschen Juden in der Reichsverfassung, die nicht durch das Programm der NSDAP einfach ersetzt werden könne, und beschwor die Realitäten, die man für unabänderlich hielt: das Interesse der Juden der Welt an ihren deutschen Glaubensbrüdern, die Kräfte im deutschen Volk, „die sich gegen eine barbarische antijüdische Politik wenden würden“, und die Stellung Deutschlands „innerhalb der gesamten Kulturnationen“, die vom Verhalten des Reiches in der Judenfrage abhängig sei

Das Präsidium des Centralvereins übergab am 30. Januar 1933 der Öffentlichkeit eine Resolution, deren Quintessenz lautete: „Im übrigen gilt heute ganz besonders die Parole: Ruhig abwarten.“ Dies war auch der Tenor des Artikels, den Ludwig Holländer, der Direktor des Centralvereins, anläßlich der „Machtergreifung“ verfaßte: „Ernst und besorgt blicken die deutschen Juden in die Zukunft“, hieß es da, und es habe keinen Sinn sich über die Gefahr zu täuschen, die darin bestehe, daß die führenden Männer seiner judenfeindlichen Partei nun die Politik beherrschten. Aber: „Auch in dieser Zeit werden die deutschen Juden ihre Ruhe nicht verlieren, die ihnen das Bewußtsein untrennbarer Verbundenheit mit allem wirklich Deutschen gibt . . . Viel zu tief ist in ihnen das Bewußtsein verwurzelt, was für sie der deutsche Lebensraum bedeutet. Dieses Bewußtsein und nicht zuletzt die Tatsache ihrer Leistungen für Deutschland geben den deutschen Juden heute Kraft und Halt.“

Holländer steigerte sich zu einer pathetischen Beschwörung jener Tugenden, die dem Centralverein als Leitmotive galten (und die auch die ideologische Gegenposition zum Zionismus markierten): „Nur aufrechtes Bekenntnis zu unserem wahren Wesen, unbedingte Mannhaftigkeit und stärkster Nachdruck in der Selbstbehauptung dessen, was wirklich deutsch und wirklich jüdisch ist, wird dem heute lebenden Geschlecht der deutschen Juden Anspruch geben, vor der Geschichte zu bestehen.“

Darüber hinaus baute man im Centralverein auf Recht und Gesetz und auf die — viele Gegner der Regierung Hitler tröstende — Vermutung, daß sich das Bündnis der bürgerlichen Konservativen mit der NSDAP als kurzlebiges Experiment herausstellen würde. Zudem setzte man auf den greisen Reichspräsidenten von Hindenburg, zu dessen „Gerechtigkeitssinn und Verfassungstreue“ man Vertrauen bekundete und von dem man hoffte, daß er sich als Fels in der Brandung erweisen werde Auf den Reichspräsidenten richteten sich im Frühjahr 1933 die Hoffnungen vieler. Vor allem den kleinen Leuten erschien er als mächtiger Gebieter, dessen Wort dem Treiben der Antisemiten Einhalt gebieten könne. Eine Berlinerin. Frieda Friedmann, klagte in einem Brief vom 23. Februar 1933 dem Reichspräsidenten ihr Leid. Es war kein Einzelschicksal: „Ich war 1914 verlobt, mein Verlobter fiel 1914. Zwei meiner Brüder Max und Julius Cohn fielen im Jahre 1916 und 1918. Mein letzter Bruder Willy kam erblindet durch Verschüttung aus dem Felde zurück . . . Alle haben das Eiserne Kreuz für Verdienst am Vaterland. Jetzt jedoch ist es in unserem Vaterlande so gekommen, daß auf der Straße öffentlich Broschüren gehandelt werden: Juden raus! 1 öffentliche Aufforderung zu Pogromen und Gewalttaten gegen die Juden. Wir sind Juden und haben unsere vollste Pflicht für das Vaterland erfüllt. Sollte Ew. Exzellenz da nicht Abhilfe schaffen können und dessen eingedenk sein, was auch die Juden dem Vaterland geleistet haben? Ist die Judenhetze Tapferkeit oder Feigheit, wenn es im deutschen Staat bei 60 Millionen Menschen 1 % Juden gibt?“

Das Büro des Reichspräsidenten bestätigte umgehend den Empfang des Schreibens. Staatssekretär Meissner versicherte Frau Friedmann, daß der Herr Reichspräsident mit Anteilnahme vom schweren Kriegsschicksal der Familie Kenntnis genommen habe und mitteilen lasse, daß er die erwähnten Ausschreitungen gegen jüdische Reichsangehörige lebhaft mißbillige und bedauere. Der Brief wurde auch der Reichskanzlei zur Kenntnis gebracht und Hitler vorgelegt, der an den Rand schrieb: „Die Behauptungen dieser Dame sind ein Schwindel! Es ist selbstverständlich nicht eine Aufforderung zum Progrom (so!) erfolgt!“

So groß die Besorgnis bei den Vertretern der jüdischen Organisationen war. stärker war die Begeisterung eines beträchtlichen Bevölkerungsteils, der die schlechten Zeiten für überwunden hielt und sich emotionalen Aufwallungen hingab. stimuliert durch nationale Reden, durch Fackelzüge, durch Demonstrationen, die den Anbruch eines neuen Zeitalters illustrierten. Selbst im kühlen Hamburg gingen die Wogen hoch, als Nationalsozialisten und die Männer vom Stahlhelm gemeinsam durch die Straßen zogen: „Wir waren wie berauscht vor Begeisterung, geblendet vom Licht der Fackeln gerade vor unsern Gesichtern und immer in ihrem Dunst, wie in einer süßen Wolke von Weihrauch. Und vor uns Männer, Männer. Männer, braun, bunt, grau, braun, eine Flut von einer Stunde und 20 Minuten . . . Juda, verrecke 1, wurde auch mal gerufen und vom Judenblut gesungen, das vom Messer spritzen solle.“

Luise Solmitz, die diese Sätze am 6. Februar 1933 in ihr Tagebuch schrieb, fügte später, als sich ihre Begeisterung über Hitler gelegt hatte, hinzu: „Wer nahm das damals ernst?! 11 Frau Solmitz war mit einem Juden verheiratet. Ihr Mann war als Fliegeroffizier des Ersten Weltkriegs mit Göring persönlich bekannt und durfte sich deshalb später dessen schützender Hand erfreuen, aber das änderte nichts daran, daß die Familie dann von den Nürnberger Gesetzen betroffen war. daß die Tochter der Tagebuchschreiberin als „Halbjüdin“ ihre Schule verlassen mußte. Das bewirkte schließlich die Bekehrung der Frau Solmitz vom Nationalsozialismus

Die optimistische Vermutung, daß die Judenfeindschaft der NSDAP nicht in Judenverfolgung münden würde, teilten mit dem Centralverein auch andere Gruppen im deutschen Judentum. Im „Israelit“, dem „Centralorgan für das orthodoxe Judentum“. war zu lesen, daß das Kabinett Hitler zwar eine „schwere stimmungsmäßige Belastung der ganzen deutschen Judenheit“ bedeute. Aber man gab sich zuversichtlich, daß die neue Regierung nicht nach den Rezepten im „Völkischen Beobachter“ und im „Angriff“ vorgehen, also „kurzer Hand die deutschen Juden ihrer verfassungsmäßigen Rechte entkleiden, sie in ein Rassen-Ghetto sperren oder den Raub-und Mord-Instinkten des Pöbels preisgeben 11 werde. Des Ernstes der Lage müsse man sich jedoch bewußt sein, denn je weniger die neuen Männer die versprochenen wirtschafts-und sozialpolitischen Wunder wirken könnten.desto näher hege für sie der Wunsch, „doch wenigstens ein paar Absätze aus dem rassentheoretischen Programm der Partei in die politische Wirklichkeit umzusetzen 11, und das könne „ohne sensationelle und kompromittierende Judengesetze auf dem Wege des . trockenen Pogroms 1, der systematischen Aussperrung und Aushungerung der Juden im wirtschaftlichen und kulturellen Leben leicht geschehen“

Es gab aber auch Gruppierungen im deutschen Judentum. die sich bemühten, die neue Regierung in rosigem Licht zu sehen. Der „Verband national-deutscher Juden“ hatte sich längst weit rechts im politischen Spektrum der Weimarer Republik etabliert. Zur Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 hatte der Verband die Parole ausgegeben „Wählt deutsch! (Gemeint war die Deutschnationale Volkspartei.) Unser Vaterland ist dort, wo unsere Seele ist . . . Diese unverbrüchliche Verbundenheit mit dem deutschen Volke kann uns nicht geraubt werden, nicht durch Drohungen irregeleiteterJudenfeinde, nicht durch Hirngespinste einiger dem Deutschtum künstlich entfremdeter Zionisten, nicht durch Angstpolitik einer kleinen wurzellosen Zwischenschicht. Das Volksgefühl gibt den Ausschlag, nicht die sogenannte , Rasse

Verschiedene Motive bestimmten die Haltung der „nationaldeutschen Juden“: Die Frontstellung gegen den Marxismus gehörte dazu, aber auch das zwanghafte Bedürfnis, äußersten Patriotismus zu beweisen. Daß der Verband unter Führung des Rechtsanwalts Max Naumann sich von den Zionisten wie auch von den Ostjuden distanzierte, lag auf der Hand, ebenso, daß er von den anderen Richtungen im Judentum mit Argwohn betrachtet wurde. Nationalsozialismus ohne die antisemitischen Ingredienzen seiner Ideologie wäre dieser Richtung — und anderen patriotischen deutschen Juden bis hin zu jener kleinen Organisation, die sich „Deutscher Vortrupp-Gefolgschaft deutscher Juden“ nannte und sich besonders chauvinistisch gebärdete — schon recht gewesen.

Die „nationaldeutschen“ Juden wurden natürlich von der NSDAP höhnisch zurückgewiesen. Im „Völkischen Beobachter“ konnten sie lesen, daß die „plumpen und verächtlichen Anbiederungsversuche“ des Verbands nationaldeutscher Juden den Nationalsozialisten pathologisch anmuteten und daß die ultradeutsche Gebärde sinnlos sei Der Verband wurde im Herbst 1935 verboten. Im Frühjahr 1935 hatte Max Naumann noch von Hitler verlangt. bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht die „nationaldeutschen Juden“ den „Ariern“ gleichzustellen und nicht vom Waffendienst auszuschließen. Zudem hatte Naumann das Angebot gemacht. für die notwendige „Abgrenzung zwischen den zuzulassenden nationaldeutschen Juden und den nicht zuzulassenden Fremdjuden“ Anregungen zu unterbreiten

Auch der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten übte sich in selbstverleugnender Loyalität. Seine Hauptaufgabe sah der betont national auftretende Reichs-bund wie schon vor 1933 darin, mit Hinweis auf die 12 000 jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs der antisemitischen Propaganda vom „Drückebergertum“ der Juden entgegenzutreten. Dazu diente in erster Linie die Zeitschrift „Der Schild“, die im August 1933 in einer Sondernummer erschien, in der die Rechtsposition der jüdischen Deutschen eindringlich beschworen wurde. Der Hauptmann a. D. und Bundesvorsitzende Löwenstein z. B. betonte, daß die jüdischen Frontkämpfer auch nach dem Krieg ihren Mann in den Kämpfen „gegen Chaos und Bolschewismus“ gestanden hätten, und definierte das Recht und die Pflicht der deutschen Juden: „Auf deutschem Boden ist das geistige und körperliche Erbgut der deutschen Juden in fast zwei Jahrtausenden gewachsen; das innere Recht an diesem deutschen Boden kann keiner uns streitig machen. Dieses Recht ist aber ebenso das Fundament unserer Pflicht gegenüber Deutschland, an dessen nationalem Neubau wir mit all unseren Kräften mitwirken wollen und für das wir allezeit nach innen wie nach außen in der Treue stehen, die das Mark auch unserer Ehre ist.“

Die öffentlichen Reaktionen der verschiedenen politischen bzw. ideologischen Richtungen im Judentum dürfen freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Mehrheit der Juden die Ereignisse sicherlich ängstlich abwartend, aber vor allem indifferent hinnahm. Es waren die wenigsten, die auf die neue Regierung mit dem Gedanken an Auswanderung reagierten. Diejenigen, die sich politisch oder literarisch gegen die Hitlerbewegung exponiert hatten — wie der Schriftsteller Lion Feuchtwanger oder der Pazifist Emil Gumbel —, flohen natürlich ins Exil. Aber die Mehrzahl fühlte sich persönlich nicht bedroht und dachte nicht an Auswanderung. Daß nur die Emigration lebensrettend war und daß viele trotz der Flucht nach Frankreich und Holland den Häschern der Gestapo in die Hände fallen sollten — wer konnte das vor dem November 1938 wissen? Zudem gab es bürokratische, juristische und emotionale Hindernisse, die der Auswanderung entgegenstanden.

Im Rückblick ist es nicht schwer festzustellen, daß diejenigen, die am frühesten von Maßnahmen der neuen Regierung betroffen wurden, die größeren Chancen hatten. Margot Bloch-Wresinski etwa, eine junge Sozialarbeiterin in Berlin, verlor im Mai 1933 ihre Stelle und schloß sich einem Jugendgefährten an, der schon zwei Monate vorher als Jude die Kündigung erhalten hatte. Er wollte sich „als Pionier zum Aufbau von Palästina melden“. Die jungen Leute bereiteten sich im Memelland auf einem Gut auf das Siedlerleben in Palästina vor.

„Hachscharah", Ertüchtigung, hieß dieses Training. Ende 1934 gingen sie in Haifa an Land Die Wendung zum Zionismus und der Anschluß an den „Hechaluz“, die Pionierorganisation der jungen Juden für Palästina, war jedoch die Ausnahme. Die Erinnerung des jungen Frankfurter Juden Georg Kiever an die Anfänge der NS-Zeit überliefert die typischere Reaktion. Die Wendung vieler Juden zum Zionismus war ihm ebenso unverständlich wie die Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft. Er lebte in einem bewußt assimilierten Elternhaus, in dem keine tiefe Bindung zur jüdischen Religion bestand. „Dem ganzen damaligen Rummel vom wiedererweckten jüdischen Bewußtsein stand ich ablehnend gegenüber. Dabei war anfänglich durchaus nicht eine betonte deutsche Haltung meinerseits ausschlaggebend, das kam erst später. Vorläufig war meine Absicht, in absehbarer Zeit einen technischen Beruf zu ergreifen, wesentlicher.“

III. Legalität und Loyalität

Ludwig Feuchtwanger, der Bruder des Schriftstellers Lion Feuchtwanger und Herausgeber der „Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung“, veröffentlichte Mitte Februar 1933 grundsätzliche Betrachtungen zur jüdischen Situation, in denen er u. a. das Kardinalproblem aller Staatsbürger unter nationalsozialistischer Herrschaft aufwarf, nämlich die Frage nach der dem NS-Regime zustehenden Loyalität und nach der Legalität einer Obrigkeit, die verfassungsrechtliche Maximen offensichtlich nicht ernst nahm und die „jeden Widerstand und jede Gegenwehr zum Unrecht und zur Rechtswidrigkeit, zur „Illegalität’" machte

Feuchtwanger nannte die Dinge früher als andere beim Namen und zitierte keinen Geringeren als Carl Schmitt, der im Jahr vor Hitlers Machtbeginn das Problem von Legalität und Legitimität untersucht und darauf hingewiesen hatte, welche Möglichkeiten darin lagen, wenn die Mehrheit Legalität willkürlich definieren könne: Wer 51 von hundert beherrsche, könne die restlichen 49 auf legale Weise illegal machen.

Feuchtwanger, der Mitte Februar 1933 allenfalls ahnen konnte, daß nach den Märzwahlen 1933 und mit dem Ermächtigungsgesetz genau dies geschehen würde, ließ seine Leser nicht im unklaren darüber, daß die Weimarer Verfassung die Möglichkeit bot, mittels qualifizierter Mehrheit die Juden auf „legale“ Weise zu entrechten. Er schloß seine Betrachtung mit resignierter Gelassenheit, aber trotz allem wohl in der Überzeugung, daß Legalität und Vernunft schließlich triumphieren müßten: „Die letzten Jahre haben uns gelehrt, nichts für unmöglich zu halten . . . Über Menschen-und Bürger-rechte eines Teils des deutschen Volkes kann nicht abgezahlt werden. Ohne Furcht, ja zuversichtlich und gelassen schreiten wir den Ereignissen entgegen. Ein erhärtetes und völlig sicher gewordenes, geachtetes Judentum wird aus den Wechselfällen unseres staatlichen und politischen Lebens hervorgehen.“

Nach der Reichstagswahl vom 5. März, die der NSDAP 43, 9 Prozent und der Koalition mit den Deutschnationalen knapp die absolute Mehrheit brachte, wurden die Stimmen stärker, die eine Art Rückzug ins innere Exil, verbunden mit der Belebungjüdischer Tradition und der Neubesinnung auf jüdische Religiosität und jüdischen Geist, propagierten. Im „Israelitischen Familienblatt“, das in den innerjüdischen Richtungsstreitigkeiten neutral war. konnte man Mitte März als Nutzanwendung aus dem Tagesgeschehen lesen, wenn es draußen gewittere, müsse man den Schutz seines Hauses, die Geborgenheit der jüdischen Familie und Gemeinde aufsuchen. „Die jüdische Familie ist die feste Burg, in die wir uns in der Stunde der Not flüchten. Aber diese Burg muß stark, mit Idealismus ausgestattet sein. Und die jüdische Gemeinde ist ihrem Ursprünge und ihrem Berufe nach eine erweiterte jüdische Familie, unserem Herzen ebenso nah und teuer wie jene.“

Geboten schien die Tugend der Entsagung, empfohlen als alte jüdische Kunst, und als notwendig wurde das Wiederfinden jüdischer Eigenart, die Bewahrung jüdischer Ehre und — als Voraussetzung dazu — die Überwindung der Zerrissenheit im Judentum erachtet: „Wenn je ein Waffenstillstand im Kampfe der Richtungen und Parteien not tat, dann heute. Die schwere Lage muß uns einig finden. Das jüdische Bewußtsein muß gestärkt, das Gefühl für jüdische Würde gesteigert werden.“

IV. Die Reaktionen auf den 1. April 1933: Protest und Plädoyer für Vernunft und Anstand

Die von der NSDAP Ende März angekündigte und am 1. April 1933 in Szene gesetzte Boykott-Aktion brachte für die Juden nach den Wochen bangen Ahnens das erste tiefe Erschrecken und das erste Signal, daß die Nationalsozialisten sich nicht, wie gehofft, auf die gewohnten antisemitischen Deklamationen beschränken würden. Die Proteste und Verwahrungen, die Ende März von jüdischen Offiziellen verfaßt wurden, bestanden aus einer Mischung aus feierlicher Zurückweisung der „ungeheuerlichen Anschuldigungen, die gegen uns deutsche Juden erhoben werden“, aus entschiedener Distanzierung von der ausländischen Presse, die mit ihrer Berichterstattung über die Judenpolitik der Hitler-Regierung den Vorwand für den April-Boykott geliefert hatte, und aus Appellen an Anstand und Vernunft. In keinem dieser Dokumente, die den Regierungsstellen aller Ebenen bis hinauf zur Reichskanzlei zugestellt oder in der jüdischen Presse veröffentlicht wurden, fehlte der Hinweis auf die jüdischen Opfer im Ersten Weltkrieg. So schrieb Dr. Alfred Neumeyer als Präsident der Bayerischen Israelitischen Gemeinden „in tiefer Ergebenheit“ an den neuen Ministerpräsidenten von Bayern. General von Epp: „Wir deutschen Juden haben stets für Deutschland gearbeitet, viele Tausende von uns haben im Krieg ihr Leben für Deutschland geopfert, das Wohl des Vaterlandes war uns stets die höchste Aufgabe. Wir können und wollen den Maßnahmen, die sich gegen uns wenden, nicht mit äußeren Mitteln entgegentreten. Aber wir werden sie standhaft ertragen im Bewußtsein. daß uns schweres Unrecht geschieht. Der göttliche Herrscher der Welt wird uns die Kraft dazu geben. Wir beten zu ihm, daß er unseren deutschen Volksgenossen bald die Einsicht schenken möge, daß der Weg zum großen Ziel des nationalen Wiederaufbaues Deutschlands nicht über die Unterdrückung der Juden geht.“

An den frischgebackenen Oberpräsidenten der Provinz Hannover, den SA-Führer Viktor Lutze, schrieb der zweite Vorsitzende der Ortsgruppe des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten in Hannover, als einstiger Frontkämpfer und Offizier könne er es nicht mit seiner Ehre vereinbaren, „zuzusehen, wie gegen die jüdische Gemeinschaft ohne Unterschied ihrer Einstellung und Vergangenheit Vorwürfe gerichtet werden, die nicht nur ihre materielle Existenz vernichten, sondern was noch schlimmer ist. ihre Ehre in den Staub ziehen“

Weniger selbstbewußt wurde auf höherer Ebene agiert. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens hatte am 24. März eine Presseerklärung herausgegeben, in der es hieß: „Das deutsche Volk befindet sich seit Wochen in einem politischen Umschwung gewaltigen Ausmaßes. Hierbei ist es zu politischen Racheakten und Ausschreitungen auch gegen Juden gekommen. Die Reichsregierung wie die Länderregierungen haben sich mit Erfolg bemüht, möglichst schnell Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Der Befehl des Reichskanzlers, Einzelaktionen zu unterlassen, hat seine Wirkung getan.“ Der „Völkische Beobachter“ hielt indes auch diesen Beschwichtigungsversuch für eine jüdische Frechheit und prophezeite: „Auch dieser Central-Verein mit dem irreführenden Namen .deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens* wird sich an die Tatsachen gewöhnen müssen, die die wahrhaft berechtigte Ausschaltung des Judentums auf allen Gebieten des deutschen Lebens mit sich bringen.“

Die Zionistische Vereinigung für Deutschland erhob in ihrer Erklärung vom 26. März weltweiten Einspruch „gegen jede deutschfeindliche Propaganda“, gegen „alle nicht der Wahrheit entsprechenden Greuelmeldungen und gewissenlose Sensationsnachrichten“, und die „Jüdische Rundschau“ beteuerte am Tag vor dem Boykott noch einmal, die „Greuelpropaganda“ im Ausland sei nicht jüdischen Ursprungs. Ob man in der Redaktion der „Jüdischen Rundschau“ den folgenden Satz wirklich glaubte, muß dahingestellt bleiben: „Wir sind überzeugt, daß auch große Teile der nationalsozialistischen Partei und selbst ihre höchsten Führer, die in dieser Zeit mit anderen Geschäften überlastet sind, die wirklichen Zusammenhänge nicht entsprechend würdigen.“ Vermutlich wußten die Redakteure es besser, wollten aber nichts unversucht lassen, den Schaden zu begrenzen.

Die Mahnung zur Vernunft wurde immerhin mit einiger Skepsis artikuliert, wenn es hieß, die NSDAP habe heute die unbeschränkte Macht in Deutschland und könne den angeordneten Boykott durchführen. Die deutschen Juden würden dann zur Auswanderung gezwungen, aber ein solcher beispielloser Vorgang würde der Hilfe von legitimierten völkerrechtlichen Instanzen bedürfen. Daß so etwas geschehe, könne man nicht glauben, weil sich die Machthaber doch nicht der Wahrheit verschließen könnten, daß das Judentum keinen Kampfgegen oder in Deutschland erstrebe. Freilich sei es Heuchelei, zu behaupten, daß die „nationaleRevolution“ von den Juden freudig begrüßt worden sei, da der siegreiche deutsche Nationalismus im Zeichen radikaler Judenfeindschaft stehe. Trotzdem habe das nationale Judentum — gemeint waren die Zionisten — volles Verständnis „für jede nationale Bewegung und besonders auch für jede Erhebung gegen einen unerträglichen, die Ehre eines Volkes verletzenden Druck“

Stellungnahmen innerhalb der jüdischen Gemeinden waren darauf abgestimmt, Trost zu spenden, Zuversicht zu stärken und die Hoffnung zu verbreiten. daß das Eintreten für den Fortbestand der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden in Deutschland wenn nicht Erfolg haben würde, so doch wenigstens in Besonnenheit und Würde geschehe. „Verzagt nicht! Schließt die Reihen!“, rief der Vorstand der Frankfurter Israelitischen Gemeinde seinen Gemeindemitgliedern zu: „Kein ehrenhafter Jude darf in dieser Zeit fahnenflüchtig werden. Helft uns. das Vätererbe zu bewahren, und wenn die Not der Zeit den Einzelnen hart anfaßt, so gedenkt der Worte, die wir am bevorstehenden Pessachfest, dem Fest der Befreiung, von altersher sprechen: , Von Geschlecht zu Geschlecht sind sie gegen uns aufgestanden, uns zu vernichten. Aber der Heilige, gelobt sei Er. hat uns aus ihrer Hand errettet. 4“

Die offizielle Reaktion der Repräsentanten des deutschen Judentums auf die Boykott-Ankündigung bestand in einem Appell an den Reichskanzler, in dem sie beteuerten, daß sie sich „mit allen

Fasern ihres Herzens der deutschen Heimat verbunden“ fühlten. Das Plädoyer, Rechtsverwahrung und Hilferuf in einem, schloß mit Beschwörungen: „Wir rufen dem deutschen Volke, dem Gerechtigkeit stets höchste Tugend war, zu: Der Vorwurf, unser Volk geschädigt zu haben, berührt aufs tiefste unsere Ehre. Um der Wahrheit willen und um unserer Ehre willen erheben wir feierlich Verwahrung gegen diese Anklage. Wir vertrauen auf den Herrn Reichspräsidenten und auf die Reichsregierung, daß sie uns Recht und Lebensmöglichkeit in unserem deutschen Vaterlande nicht nehmen lassen werden. Wir wiederholen in dieser Stunde das Bekenntnis unserer Zugehörigkeit zum deutschen Volke, an dessen Erneuerung und Aufstieg mitzuarbeiten unsere heiligste Pflicht, unser Recht und unser sehnlichster Wunsch ist.“

Gegen solche Erklärungen standen die Aktionen einzelner wie des jungen zionistischen Rabbiners und Jugendführer Joachim Prinz. Prinz gestaltete den Sabbatgottesdienst im Berliner Friedenstempel vor dem Boykott-Tag zu einer dramatischen Demonstration jüdischen Selbstverständnis und erklärte in seiner Kanzelrede: „Wir Juden werden unser Judentum verteidigen, wir haben keine Waffen, denn das ist unsere Waffe.“ Bis zu seiner Auswanderung nach New York im Jahre 1937 wurde der unerschrockene Mann mehrfach verhaftet, weil er die Kanzel immer wieder zum Forum jüdischer Selbstbehauptung und der Anklage gegen die nationalsozialistische Diktatur machte.

V. Die Wendung nach innen — „Ja-Sagen zum Judentum“

Die jüdischen Reihen schlossen sich auch nach dem 1. April 1933 nur zögernd. Das Bedürfnis nach Positionsbestimmung. nach Definition des jüdischen Selbstverständnisses, nach der Wiederbelebung jüdischer Eigenart wurde allenthalben artikuliert und — streng nach Richtungen geschieden — zur wichtigsten Forderung der Zeit erhoben. In der jüdischen Presse tauchte verschiedentlich folgender Gedankengang auf: Der Nationalsozialismus sei

Ausdruck der Selbstbesinnung der deutschen Menschen, er stehe für die nationale Wiedergeburt des deutschen Wesens, und die Antwort auf jüdischer Seite müsse (schon weil der Antisemitismus der Nationalsozialisten dies erzwinge) in der Rückbesinnung auf traditionelle jüdische Werte und Leistungen bestehen.

Das wurde von den einzelnen Fraktionen des Judentums ganz unterschiedlich verstanden. Die Zionisten warfen den Mitgliedern des Centralvereins vor, sie erschöpften sich in der Aufzählung der Leistungen und Verdienste, die das deutsche Judentum zugunsten der deutschen Nation erbracht habe, um mit dem Goethe-Wort „Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an“ zu resignieren. Die Zionisten verlangten statt dessen ein energisches Bekenntnis zum Judentum und die Auseinandersetzung in „der Judenfrage“ mit dem „Deutschtum“, die sie sich freilich ehrenvoller gedacht hatten: „Wir hätten gewünscht, daß die Initiative rechtzeitig von den Juden ausgegangen wäre oder daß wenigstens in einem Stadium, wo die Zuspitzung der Lage bereitsoffenkundig war, die deutschen Juden das Wesen des Geschehens begriffen hätten.“

Besonders kritisch äußerten sich die jungen Juden, die sich in der zionistischen Jugendbewegung engagierten und nach bewußt jüdischen Antworten auf die nationalsozialistische Herrschaft suchten. Im Rundschreiben des Kreises „Werkleute — Bund deutsch-jüdischer Jugend“ wurden Ende April 1933 die Motive dargelegt, warum diese jungen Leute, die bisher als Juden entschieden in Deutschland engagiert waren, nun entschlossen waren, einen Kibbuz in Palästina aufzubauen. Sie wollten zwar nichts übereilen, sich aber auch nicht richtungslos treiben lassen und „vor allem nicht der bei Eltern heute recht häufigen Panikstimmung nachgeben“. Aber auch die Bitterkeit über die Zerrissenheit innerhalb der deutschen Judenheit wurde deutlich artikuliert: „Wir meinen, daß die vielen Mißstände, die wir heute im deutschen Judentum sehen, ganz weitgehend an seiner jüdisch-geistigen Substanzlosigkeit liegen. Denn wir sind enttäuscht von den deutschen Juden. Wir hatten gehofft, daß die jüdische Antwort auf das Geschehen nur eine sein würde: restlose Solidarität, innere Einkehr, Revision der bisherigen Überzeugungen, echte Sorge um die Gemeinschaft. Statt dessen sehen wir Verneinung, krassen Egoismus, bei großen Organisationen mangelnden Mut zum wirklichen Neudenken, Schimpfen statt Besinnung.“

Die „Werkleute“ standen ideologisch dem „Haschomer Hazair“ nahe, einer in Galizien gegründeten zionistischen Jugendgruppe, die ihren politischen Standort links von der Sozialdemokratie und in ihrem lebensreformerischen Anspruch elitäre Züge hatte. „Werkleute“ und „Haschomer Hazair“ waren — trotz ihrer geringen Zahl — als Siedler erfolgreich. Kibbuzim wie Hasorea und Daliah sind Beweise dafür

Von orthodoxer Seite wurde die Erneuerung aus dem Geist der jüdischen Religion propagiert, was im Aufruf zur Teschuwo (Umkehr und Buße) gipfelte. Kritik an der Uneinigkeit der Juden mischte sich mit Sendungsbewußtsein: „Warum schweigen die Führer, die Berufenen in diesen schicksalsträchtigen Tagen . . . wahrlich, stünde heute die Orthodoxie da, markvoll, kernig und geschlossen, jene zahlreichen liberalen, assimilierten, pseudojüdischen Kreise würden aufhorchen, Sicherheit suchen und Richtschnur bei den Getreuen der Thora.“

Der Eifer der Frommen ging weit, und die Notwendigkeit der Erneuerung aus dem Geist der Religion wurde auch aus der Ablehnung von Zionismus und Assimilantentum begründet. Es sei ein tragisches Verhängnis, daß der Nationalsozialismus „bei der Prüfung seiner Beziehungen zum deutschen Judentum überhaupt noch nicht auf die historische jüdische Religion und deren Repräsentanten, die deutsch-jüdische Orthodoxie“ gestoßen sei. Denn der geschichtliche Sinn des jüdischen Menschen in der deutschen Gegenwart könne nur von der historischen jüdischen Religion erfaßt und gedeutet werden. Selbstbesinnung und Selbsterneuerung des deutschen Judentums müßten daher in der Wieder-anknüpfung an die religiösen Traditionen bestehen. Dann werde auch das deutsche Volk, das sich soeben auf seine eigene Geschichte besinne, „Deutschlands Juden verstehen, wenn sie in ihrer geschichtlich beglaubigten Gestalt, als Menschen der überlieferten Religion, in seiner Mitte weilen“

Die traditionell-gesetzestreuen und orthodoxen Rabbiner Deutschlands deuteten in einem Aufruf im April die Ereignisse des Frühjahrs 1933 als höhere Fügung, die in harter Sprache zur deutschen Judenheit spreche, „um durch Heldenmut in Leid und Kummer uns auf eine höhere Stufe sittlichen religiösen Menschentums emporzuheben“, und forderten, vor allem zwei Wege zur Umkehr zu beschreiten, die Heiligung des Sabbats und die Beobachtung der Speisegesetze. In der Mißachtung dieser Religionsgesetze sahen sie historische Schuld, die zu überwinden den Anfang der Umkehr bedeute

Die Widrigkeiten des Alltags wurden aber bald für gesetzestreue Juden zu großen Problemen. Die Veränderung der Lebensumstände im nationalsozialistischen Deutschland traf die frommen Juden in doppelter Hinsicht: Mit der beruflichen Situation war auch das religiöse Leben tangiert. Das galt insbesondere für die „Landjuden“, die Viehhandel trieben: Wenn sich nun keine nichtjüdischen Arbeitskräfte oder hilfsbereite Nachbarn mehr fan-'den, die am Sabbat die Kühe molken, mußte der Rabbiner klären (und dabei die wirtschaftlichen Existenzprobleme der Betroffenen abwägen), ob die „Landjuden“ von dem religiösen Gesetz der Arbeitsruhe am Sabbat suspendiert werden könnten, ob der Schaden tragbar sei; denn gegen Überlassung der Milch hätten die nichtjüdischen Helferdie Kühe schon gemolken. Das hätte immerhin die Quälerei des Viehs, die der Rabbi ebenfalls bedachte, verhindert, aber eine empfindliche Schädigung der jüdischen Besitzer bedeutet. Diese Probleme standen u. a. in Würzburg und Fulda zur Debatte, nachdem die christlichen Nachbarn den Juden die traditionelle Hilfe am Sabbat verweigert hatten

Die „Jüdische Rundschau“ wurde im Frühjahr 1933 zum geistigen Wegweiser für die deutschen Juden durch eine Folge von Artikeln, die mit dem vielzitierten Aufsatz „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“ des Chefredakteurs Robert Weltsch einen bedeutenden Auftakt hatte Der 1. April könne und müsse der Tag des jüdischen Erwachens und der jüdischen Wiedergeburt sein. Daß der jüdische Neubeginn im Zeichen des Zionismus stehen müsse, verstand sich für die „Jüdische Rundschau“ und ihre Leser von selbst. Die Zionisten waren nach dem 1. April 1933. an dem den deutschen Juden nachdrücklich demonstriert wurde, daß ihr Heimat-recht in Deutschland ausgelöscht werden sollte, die einzige Fraktion der deutschen Judenheit, die eine Perspektive bot. Die Durchhalteparolen der Zeitung des Centralvereins hingegen waren wenig tröstlich. „Haltung!“ lautete dort die Losung, und der Historiker Ismar Elbogen propagierte unter dieser Überschrift: „Denken wir an die Geschichte unserer Väter, die immer wieder solche Katastrophen erlebt und dennoch den Lebenswillen nicht aufgegeben haben!“

Die Schlußfolgerung lautete, die Lage der deutschen Juden sei nur so lange verzweifelt, als sie an sich selbst zweifelten, eine Gemeinschaft gehe nicht unter, solange sie sich nicht selbst aufgebe. In die Praxis umgesetzt, bedeutete das Wohlfahrtsmaßnahmen und Existenzsicherung auf bescheidenem Niveau. Berufsumschichtung und andere Anstrengungen der jüdischen Selbsthilfe wie Wirtschaftsberatung. genossenschaftliche Zusammenschlüsse und Arbeitsvermittlung. Dieser Weg wurde in den folgenden Jahren beschritten. Mit bewundernswertem Einsatz bemühten sich Organisationen wie die „Zentralstelle für jüdische Wirtschaftshilfe“ oder der „Zentralausschuß der deutschen Juden für Hilfe und Aufbau“ um ein Notdach. Zukunftweisend konnten diese Anstrengungen aber nicht sein, und mehr und mehr war diese Arbeit von der bitteren Erkenntnis geprägt, daß es für Juden in Deutschland keine Existenzmöglichkeit mehr gab. Daß die Vertreter der Juden den Lebensraum, der blieb (wenngleich er immer kleiner wurde), verteidigten und daß viele sich an ihr Dasein in Deutschland klammerten, war nur natürlich

Unter den vielen Denkschriften, die von Vertretern der Juden an die Reichsregierung adressiert wurden, gab es auch eine vom Oktober 1933, die die orthodox-jüdischen Organisationen verfaßt hatten. Wegen ihrer strengen Gesetzestreue galten sie den liberalen und assimilierten Juden als weltfremd und altmodisch, sie standen auch im Rufe besonderer Leidensfähigkeit. Wenn es Versuche zur Anpassung oder gar Anbiederung an die Verhältnisse gegeben hatte, so gehört dieses Schreiben der orthodoxen Juden an Hitler sicher nicht dazu. Nach der Zurückweisung der antijüdischen Propagandaphrasen wurde hier die Lage der Juden in Deutschland nach einem halben Jahr NS-Herrschaft als unerträglich bezeichnet und bemerkt, die deutsche Regierung könne leicht in den Verdacht geraten, sie betreibe bewußt die Vernichtung des deutschen Judentums. Wenn dies aber zutreffe, dann zögen es die Vertreter der Orthodoxie vor, der Realität ins Auge zu sehen: „Wenn Sie, Herr Reichskanzler, und die von Ihnen geführte nationale Regierung, wenn die verantwortlichen Mitglieder der Reichs-leitung der NSDAP sich in der Tat als Endziel die Ausmerzung des deutschen Judentums aus dem deutschen Volke gesetzt haben sollten, dann wollen wir uns nicht länger Illusionen hingeben und lieber die bittere Wahrheit erfahren.“

Die Erkenntnis, daß die Basis jüdischen Lebens in Deutschland verloren ging, war im Frühjahr 1933 jedoch noch nicht besonders verbreitet. Der Schock der Boykott-Aktion stärkte freilich die Autorität der Zionisten, die — je radikaler sich das NS-Regime gab und je bedrohlicher die Situation für die Juden in Deutschland wurde — sich darauf berufen konnten, mit ihrer Propaganda zur Stärkung des jüdischen Selbstbewußtseins und zur Gründung einer eigenen Nation auf palästinensischem Boden auf dem richtigen Wege zu sein, und dies schon seit langer Zeit. Die Leitartikel in der „Jüdischen Rundschau“, die zur Erneuerung des Judentums aufriefen, gaben in der Folgezeit auch vielen Nicht-zionisten moralischen Halt. Unter dem Titel „JaSagen zum Judentum“ wurde konstatiert, das Gemeinschaftsgefühl unter Juden sei stärker geworden. Jüdische Menschen, die vor kurzem noch achtlos und gleichgültig aneinander vorbeigingen, seien einander nähergekommen. „Man empfindet den Juden als Schicksalsgenossen, als Bruder. Jüdische Menschen können wieder miteinander sprechen.“ Aber darum ging es nicht in erster Linie. Die weltanschaulichen Differenzen im Judentum verschwanden keineswegs plötzlich in der Versenkung, die Funktionäre des Centralvereins warnten auch weiterhin davor, sich durch die bewußte und demonstrative Hinwendung zum Jüdischen, in Gruppenisolation — gemeint war: ins Ghetto — zu begeben. Die Zionisten hatten indessen mit ihrem Appell „Ja-Sagen zum Judentum“ eine Aufbruchstimmung erzeugt, die nicht nur nach Taten — etwa der „Hachscharah", der Ertüchtigung fürs Siedlerleben — drängte, sondern auch zur Suche nach einem neuen jüdischen Selbstgefühl, einer Bestimmung des Standorts: „Wir Juden, die wir die jüdische Gemeinschaft nicht als , aufgezwungen‘ betrachten, sondern als eine natürliche geschichtliche Gegebenheit, zu der wir innerlich ja sagen und aus der heraus wir unser gesamtes Leben gestalten wollen, nehmen für uns in Anspruch, die deutsche Bildung und Kultur, in der wir aufgewachsen sind, als unentwindbaren Besitz zu behalten und als deutsche Bürger für das Ganze einzustehen.“

In anderem Artikel findet sich die Mahnung zum jüdischen Erwachen, ganz unabhängig von der deutschen Judenpolitik und einer theoretisch denkbaren Wiederherstellung der formalen Gleichberechtigung. Harte Arbeit müßten die Juden an sich selbst leisten mit dem Ziel eines neuen, selbstbewußten Judentums. Ebensowenig wie die Taufe als Eintrittsbillet in die deutsche Gesellschaft eine brauchbare Lösung jüdischer Probleme gewesen sei, könne man jetzt darauf vertrauen, sich durch individuellen Übertritt in andere geographische Gefilde zu retten. Die Bemerkung, daß die Völker andere Sorgen hätten als das Los der deutschen Juden, sollte sich nur zu bald für viele als bittere Wahrheit herausstellen

Eine „Wendung nach innen“ wollten auch die Anhänger des Centralvereins, die Akzente lagen freilich auf der Forderung nach jüdischer Solidarität in schwerer Zeit, auf der Forderung, ein neues soziales Netz zu knüpfen. Das Zauberwort aber hieß „jüdische Kultur“. Die Forderung nach neuer Definition des Begriffs und nach Aktivitäten im Felde der jüdischen Kultur sollte zweierlei bewirken, die Festigung derjüdischen Position nach innen und die Bewahrung der Errungenschaften von Emanzipation und Assimilation nach außen

VI. Einheit in später Stunde

In einer Grußadresse zu Leo Baecks 60. Geburtstag charakterisierte Max Kreutzberger, der Direktor der „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden“ in Berlin, den Zustand des Judentums in Deutschland als „ein Bild chaotischer Verwirrung, innerer Standortlosigkeit und mangelnder Zielstrebigkeit“ Das war im Mai 1933. Zu dieser Zeit arbeiteten jedoch bereits führende Männer aus allen Lagern des deutschen Judentums mit Eifer daran, das jüdische Leben neu zu strukturieren — organisatorisch mit dem Ziel eines für alle Richtungen repräsentativen Dachverbands, kulturell in der Hoffnung auf die Zusammenfassung der Kräfte zur Artikulationjüdischen Selbstbewußtseins und sozial, um der Notwendigkeit zu wirtschaftlicher Selbsthilfe und Fürsorge zu entsprechen.

Auf dem letztgenannten Tätigkeitsfeld kamen mit der Gründung des „Zentralausschusses für Hilfe und Aufbau“ im April 1933 die Dinge am schnellsten in Fahrt. Zum einen gab es bereits Organisationen wie die „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden“ oder den „Hilfsverein der deutschen Juden“ und das Palästina-Amt der Jewish Agency, zum anderen war angesichts der äußeren Bedrohung die Einigung auf ökonomischem und sozialem Gebiet leichter als in den politisch und ideologisch besetzten Bereichen. So waren im Zentralausschuß alle wichtigen jüdischen Organisationen vertreten, der Central-Verein, die Zionistische Vereinigung für Deutschland, der preußische Landesverband jüdischer Gemeinden, die Jüdische Gemeinde Berlin, der Jüdische Frauenbund und die orthodoxe Landesorganisation der Agudas Jisroel. Dem Zentralausschuß präsidierte der prominente Rabbiner Leo Baeck; die Richtung bestimmten Jüngere wie der Generalsekretär Max Kreutzberger, der freilich schon 1935 nach Palästina auswanderte, Salomon Adler-Rudel, der 1936 aus Deutschland ausgewiesen wurde, und Friedrich Brodnitz, der 1937 in die USA emigrierte. Der Nachfolger von Brodnitz, Paul Eppstein, kam 1944 in Theresienstadt ums Leben.

Der Zentralausschuß bildete in den sechs Jahren, die ihm bis 1938/39 blieben, ein eindrucksvolles und alle Lebensbereiche umfassendes Selbsthilfewerk, finanziert von den jüdischen Gemeinden im Deutschen Reich, aber auch großzügig subventioniert von ausländischen Hilfsorganisationen wie dem American Joint Distribution Committee und der Central British Fund sowie gespeist aus den Sammlungserträgen der Jüdischen Winterhilfe

Das Arbeitsprogramm des Zentralausschusses mußte in Reaktion auf die fortschreitende ökonomische und soziale Diskriminierung der Juden in Deutschland immer wieder erweitert und neu definiert werden. So erhielt der Bereich Bildung und Erziehung nach dem Erlaß der Nürnberger Gesetze größere Bedeutung, als mit einem eigenen jüdischen Schulwerk nicht nur jüdische Gemeinschaft und jüdisches Bewußtsein, sondern gleichzeitig die Auswanderungsfähigkeit durch Hinführung zu praktischen Berufen und durch Unterricht in Hebräisch gefördert wurde. Auswanderungsvorbereitungen und die Hilfe für Auswanderungswillige spielten naturgemäß eine große Rolle, aber auch die Maßnahmen zur Berufsumschichtung, d. h. die Vermittlung von meist manuellen Kenntnissen und Fähigkeiten, mit denen sich die aus ihren Berufen in Verwaltung, Presse u. ä. Verdrängten die künftige Existenz sichern sollten, waren von großer Bedeutung. Die ganze Skala der Wohlfahrtspflege und Wirtschaftshilfe mußte, da ja die jüdischen Deutschen zunehmend aus dem öffentlichen System der sozialen Sicherung ausgegrenzt wurden, vom „Zentralausschuß für Hilfe und Aufbau“ übernommen werden, und das angesichts der rapide zunehmenden Verarmung der deutschen Juden

Darlehenskassen, Arbeitsvermittlung, Wirtschaftshilfe für besondere Berufsgruppen, Gesundheitsfürsorge, Altenpflege, Anstaltswesen, Kriegsopfer-fürsorge bildeten im Organisationsplan die wichtigsten Positionen. Die Leistungen waren bewundernswert, und sie demonstrierten Selbstbehauptungskraft und Solidarität in einer von Tag zu Tag bedrohlicher werdenden Umgebung.

Nicht weniger bewunderungswürdig waren die Anstrengungen im kulturellen und geistigen Leben, die der „Kulturbund Deutscher Juden“ ab Mitte Juli 1933 unternahm. Die Kulturorganisation, als deren Protagonist Kurt Singer (Arzt und Musiker und bis Frühjahr 1933 Intendant der Städtischen Oper Berlin), der junge Regisseur Kurt Baumann, der Musikkritiker Julius Bab und viele andere mit Hingabe wirkten, hatte auch eine soziale Funktion, nämlich die, entlassenen jüdischen Musikern, Schauspielern und anderen Künstlern Arbeit und Publikum zu bieten. Dem Selbstverständnis nach war der „Kulturbund Deutscher Juden“ (ab 1935, als sich die Juden nicht mehr deutsch nennen durften, hieß er „Reichsverband der Jüdischen Kulturbünde in Deutschland“, und von 1938 bis 1941 firmierte er unter dem Namen „Jüdischer Kulturbund in Deutschland“) eine Demonstration selbstbewußten und sich — wenigstens im Geistigen — selbst behauptenden deutschen Judentums. Bei allem programmatischen Streit, der die kurze Geschichte des Kulturbunds durchzog, war diese Organisation die wichtigste Bastion deutsch-jüdischer Assimilation

Die Eröffnung des Kulturbund-Theaters in Berlin am 1. Oktober 1933 mit Lessings „Nathan der Weise“ sollte Zeichen setzen, der Opernbetrieb hatte wenig später mit Mozarts Hochzeit des Figaro Premiere. Mehr und mehr bekamen die vielfältigen Aktivitäten des Kulturbunds auf der Bühne und im Konzertsaal, in der Erwachsenenbildung, bei Kunstausstellungen und Rezitationen die Funktionen des Trostes, der Ablenkung im immer schwieriger werdenden jüdischen Alltag. Der Kulturbund war eine Mitgliederorganisation, und die Zugehörigkeit zu ihm bedeutete für viele deutsche Juden die einzige Möglichkeit an irgendeiner Form kulturellen Gemeinschaftslebens teilzunehmen, nachdem ihnen Mitwirkung und Teilhabe am deutschen Kulturbetrieb verwehrt wurde. Die Möglichkeit bot sich freilich vor allem in Berlin und den großen Städten des Deutschen Reiches. Und es war ein kulturelles Ghetto, in dem die Juden Entspannung und Trost suchten

Das schwierigste Problem der Selbstdarstellung des deutschen Judentums bildete der dringend unter dem Druck der Verhältnisse eilig und im letzten Moment vollzogene Bau eines gemeinsamen Daches über den politisch, soziologisch und religiös so verschiedenen Organisationen, Richtungen und Gruppierungen. Dem Zusammenschluß im Dach-verband, der es der deutschen Judenheit ermöglicht hätte, schon vor Hitlers Machtantritt mit einerStimme zu sprechen, hatten vielfältige Hindernisse entgegengestanden — nicht nur die religiösen Gegensätze zwischen der Orthodoxie, den liberalen und den konservativen Gemeinden, sondern auch das föderalistische Bewußtsein der süddeutschen Landesverbände, das mit den Organisationsvorstellungen des „Preußischen Landesverbands jüdischer Gemeinden“ kollidierte. Auch die unterschiedlichen und stets vehement gegeneinander artikulierten Interessen der großen Verbände, nämlich des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, des mitgliederstarken Reichsbunds jüdischer Frontkämpfer und kleinerer Gruppierungen und Sekten, hatten einen Zusammenschluß verhindert. Die 1928 gegründete Arbeitsgemeinschaft der jüdischen Landesverbände des Deutschen Reiches und die 1932 daraus hervorgegangene Reichs-vertretung waren kaum lebensfähig und nicht in der Lage, die Interessen der deutschen Juden insgesamt zu artikulieren, geschweige denn sie zu vertreten. Leo Baeck war am 25. Juni 1933 demonstrativ als Präsident der Reichsvertretung jüdischer Landes-verbände zurückgetreten, um den Weg zu einer Neugründung freizumachen. Daran arbeiteten seit April 1933 fünf prominente Juden, nämlich der Bankier Carl Melchior und Rabbiner Leo Baeck als Neutrale, Dr. Löwenstein vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. Dr. Blumenfeld als Vertreter der Zionistischen Vereinigung und Dr. Julius Brodnitz im Namen des Centralvereins.

In Essen wurde der Vorsitzende der Synagogengemeinde.der Bankier Georg Hirschland, tätig, um zwischen den divergierenden Auffassungen der süddeutschen Landesverbände, der übermächtigen Berliner Gemeinde, der Rabbinerverbände, der Jugendorganisationen zu vermitteln. Die Sondierungen. Gespräche. Verhandlungen zogen sich bis in den Herbst hinein, es wurde um Führungspositionen gestritten und um Personen. Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten beanspruchte die Leitung der Dachorganisation, weil die Ausnahmeregelungen für jüdische Weltkriegsteilnehmer im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (vom 7. April 1933, mit dem die Juden aus dem Staatsdienst vertrieben wurden) die Illusion nährten, dieser Personenkreis werde von den Nationalsozialisten grundsätzlich und dauernd bessergestellt werden und sei daher zur Repräsentation deutschen Judentums besonders geeignet. Die Zionisten fühlten sich aus anderen Gründen unterrepräsentiert, und kritisiert wurden in verschiedenen Lagern auch die beiden Kandidaten, die gemeinsam die Spitze der künftigen jüdischen Vertretung bilden sollten: Leo Baeck als Präsident und der Stuttgarter Rechtsanwalt Dr. Otto Hirsch als geschäftsführender Vorsitzender. Hirsch war Präsident des Oberrats der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs und gehörte dem Centralverein an. Er ist 1941 im KZ Mauthausen umgekommen. Gegen das Führungsduo Baeck und Hirsch wehrten sich die Berliner Gemeinde, aber auch die Zionisten.

Im September 1933 war die Einigung erzielt — nur die Orthodoxen des Halberstadter Verbands hielten bis 1937 weiterhin Distanz —, und Präsident Baeck veröffentlichte das Programm der „Reichsvertretung der deutschen Juden“. Im wesentlichen sah er drei Aufgaben, nämlich Erziehung im Geiste des Judentums in Schule und Beruf, Sicherung der wirtschaftlichen Existenz und Förderung der Auswanderung aus Deutschland

Bis 1943 hat die Reichsvertretung der deutschen Juden (ab 1935 unter der geänderten Bezeichnung „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“) die Belange der deutschen Juden vertreten, nach dem Novemberpogrom 1938 nicht mehr als frei gewählte Körperschaft, sondern als vom nationalsozialistischen Herrschaftsapparat verordnete und eingesetzte „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“. Aber auch in dem von der Sicherheitspolizei ernannten Vorstand blieben (mit Leo Baeck als Vorsitzendem) vier Männer der Einigungsstunde von 1933. Durch Auswanderung und Verhaftung dezimiert, durch immer neue Schikanen der Gestapo diskriminiert, arbeitete die Reichsvereinigung bis zum 10. Juni 1943. An diesem Tag wurde sie von der Gestapo geschlossen, und die letzten Mitarbeiter wurden zusammen mit Leo Baeck nach Theresienstadt deportiert. Die schlimmste Diskriminierung hatte darin bestanden, daß die Repräsentanz des deutschen Judentums schließlich ab 1939 auch dazu mißbraucht wurde, für die nationalsozialistischen Judenverfolgung erzwungene administrative Hilfsdienste zu leisten

Daraus läßt sich kein Vorwurf konstruieren. Wesentlich war, daß sich 1933 zum erstenmal in der Geschichte des deutschen Judentums Vertreter der verschiedenen Richtungen zusammengefunden hatten. um die Interessen der existentiell bedrohten Gemeinschaft gemeinsam zu vertreten und die spät gefundene Einheit zu demonstrieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zum Antisemitismus, zur Vorgeschichte der nationalsozialistischen Judenpolitik und ihren Wirkungen zusammenfassend am besten: Hermann Graml. Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich. München 1988; siehe auch Herbert A. Strauss/Norbert Kampe (Hrsg.). Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust. Bonn 1985; Hermann Greive. Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland. Darmstadt Wolfgang Juden 1983; Benz (Hrsg.). Die in Deutschland 1933— 1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. München 1988 (Auf diese im Auftrag des Instituts für Zeit-geschichte veröffentlichte Darstellung der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Existenz der jüdischen Minderheit stützt sich dieser Aufsatz in vielen Einzelheiten.); Arnold Paucker/Sylvia Gilchrist/Barbara Suchy (Hrsg.). Die Juden im nationalsozialistischen Deutschland. Tübingen 1986.

  2. Jüdische Rundschau vom 31. Januar 1933 (Regierung Hitler),

  3. Ebd.

  4. C. V. -Zeitung vom 2. Februar 1933 (Ludwig Holländer, Die neue Regierung).

  5. C. V. -Zeitung vom 2. Februar 1933.

  6. Zit. nach Klaus J. Herrmann. Das Dritte Reich und die deutsch-jüdischen Organisationen 1933— 1934. Köln 1969. S. 55 f.

  7. Werner Jochmann (Hrsg.). Nationalsozialismus und Revolution. Ursprung und Geschichte der NSDAP in Hamburg 1922— 1933. Dokumente. Frankfurt a. M. 1963, S. 423.

  8. Der Israelit vom 2. Februar 1933 (Die neue Lage).

  9. Zit. nach Anschläge — 220 politische Plakate als Dokumente der deutschen Geschichte 1900— 1980, ausgewählt und kommentiert von Friedrich Arnold, Ebenhausen b. München 1985, S. 111.

  10. Völkischer Beobachter vom 23. August 1933 (Zum zionistischen Weltkongreß).

  11. K. J. Herrmann (Anm. 6), S. 25.

  12. Der Schild vom 15. August 1933 („Unsere Pflicht — unser Recht“); Herman O. Pineas, Erinnerungen an den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, Leo Baeck Institute New York, Pineas Collection; vgl. Ulrich Dunker, Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1919— 1938, Düsseldorf

  13. Margot Bloch-Wresinski, Streiflichter aus dem einfachen Leben einer deutsch-jüdischen Einwanderin, Manuskript im Leo Baeck Institute, New York; vgl. Werner T. Angress. Generation zwischen Furcht und Hoffnung. Jüdische Jugend im Dritten Reich, Hamburg 1985.

  14. Georg Kiever. Erinnerungen 1921 — 1983. Manuskript im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München. F 231.

  15. Bayerische Israelitische Gemeindezeitung vom 15. Februar 1933 (Zwischen 30. Januar und 5. März. Versuch einer Klärung der jüdischen Situation).

  16. Ebd.

  17. Israelitisches Familienblatt vom 16. März 1933 (Fabius Schach. Vergangenheit redet zur Gegenwart).

  18. Zit. nach Hans Lamm (Hrsg.). Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. München 1982. S. 431.

  19. Zit. nach Ulrich Dunker. Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1919— 1938. Geschichte eines jüdischen Abwehrvereins. Düsseldorf 1977. S. 193.

  20. C. V. -Zeitung vom 30. März 1933.

  21. Zit. nach Jüdische Rundschau vom 28. März 1933.

  22. Jüdische Rundschau vom 31. März 1933 (Versuch einer Klärung).

  23. Aufruf vom 30. März 1933. in: Frankfurter Israelitisches Gemeindeblatt, zit. nach Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1933— 1945. Frankfurt 1963. S. 17.

  24. Zit. nach K. J. Herrmann (Anm. 6). S. 60f.

  25. Zit. nach Kurt Jakob Ball-Kaduri. Das Leben der Juden in Deutschland im Jahre 1933. Ein Zeitbericht. Frankfurt 1963, S. 90f.; andere Beispiele jüdischer Selbstbehauptung und jüdisches Widerstands in: Wolfgang Dreßen (Hrsg.). Jüdisches Leben. Berlin 1985. S. 66; Konrad Kwiet/Helmut Eschwege. Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde 1933— 1945. Hamburg 1984. S. 217 ff.; siehe auch Arnold Paucker. Jewish Self-Defence. in: ders. (Anm. 1). S. 55ff.

  26. Jüdische Rundschau vom 13. April 1933 (Jüdische Zwischenbilanz); vgl. Robert Weltsch. Die deutsche Judenfrage. Ein kritischer Rückblick. Königstein/Ts. 1981. S. 73 f.

  27. Werkleute-Bund deutsch-jüdischer Jugend, Rundbrief vom 21. April 1933. Kibbuz-rchiv Hasorea, Israel.

  28. Vgl. Jehuda Reinharz, Hashomer Hazair in Nazi Germany, in: A. Paucker (Anm. 1), S. 317ff., und den ungedruckten Diskussionsbeitrag von Abraham Schiff. Der Haschomer Hazair unter der NS-Herrschaft, Kibbuz-Archiv Daliah, Israel.

  29. Der Israelit vom 23. März 1933 (Nechunia, Die Losung der Stunde).

  30. Der Israelit vom 7. April 1933 (Ein offenes Wort im Namen der Religion).

  31. An unsere jüdischen Brüder und Schwestern, Aufruf in: Der Israelit vom 7. April 1933.

  32. Rabbi H. J. Zimmels. The Echo of the Nazi Holocaust in Rabbinic Literature. London 1977, S. 7f. — Hier u. a. auch eine Schilderung der Probleme, die für die orthodoxen Juden durch das Verbot der rituellen Schlachtung (Shehitah) entstanden.

  33. Jüdische Rundschau vom 4. April 1933.

  34. C. V. -Zeitung vom 6. April 1933.

  35. Vgl. Kurt Jakob Ball-Kaduri. Vor der Katastrophe. Juden in Deutschland 1934— 1939. Tel Aviv 1967; Günter Bernd Ginzel. Jüdischer Alltag in Deutschland 1933— 1945. Düsseldorf 1984. Immer noch wichtig sind auch die zeitgenössischen Publikationen im Ausland: Die Lage der Juden in Deutschland 1933. Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. hrsg. vom Comite des Delegations Juives. Paris 1934 (Reprint Frankfurt 1983). und Der gelbe Fleck. Die Ausrottung von 500 000 deutschen Juden (Vorwort Lion Feuchtwanger). Paris 1936.

  36. Bundesarchiv Koblenz. R 43 11/602.

  37. Jüdische Rundschau vom 16. Mai 1933 (Ja-Sagen zum Judentum!). Die Artikelfolge erschien unter dem Titel „JaSagen zum Judentum!“ auch als Buch.

  38. Jüdische Rundschau vom 30. Mai 1933 (Mach unsere Rücken wieder gerade).

  39. C. V. -Zeitung vom 5. Oktober 1934 (Die Wendung nach innen).

  40. Der Brief war als Einleitung zur damals nicht zustande gekommenen Festschrift zu Leo Baecks 60. Geburtstag gedacht. Abgedruckt in: Bulletin Leo Baeck Institute, 18 (1979) 55. S. HL; vgl. Werner E. Mosse/Arnold Paucker (Hrsg.), Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, Tübingen 19662; siehe auch Robert Weltsch (Hrsg.), Deutsches Judentum. Aufstieg und Krise. Gestalten, Ideen, Werke, Stuttgart 1963.

  41. Vgl. Clemens Vollnhals, Jüdische Selbsthilfe bis 1938, in: W. Benz (Anm. 1), S. 314— 412; siehe auch Salomon Adler-Rudel, Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933— 1939 im Spiegel der Berichte der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Tübingen 1974.

  42. Vgl. Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung". Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933— 1943, Frankfurt 1988; Helmut Genschei. Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Berlin 1966.

  43. Herbert Freeden, Jüdisches Theater in Nazideutschland, Tübingen 1964; Kurt Düwel!, Der Jüdische Kulturverband Rhein-Ruhr 1933— 1938. Selbstbesinnung und Selbstbehauptung einer Geistesgemeinschaft, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u. a. (Hrsg.). Köln und das rheinische Judentum, Köln 1984; Volker Dahm, Kulturelles und geistiges Leben, in: W. Benz (Anm. 1), S. 75-267.

  44. Insgesamt waren 1936/37 etwa 50 000 Mitglieder in den Kulturbünden in rund 100 Orten organisiert. Der Berliner Kulturbund hatte 1934 etwa 20 000, 1937 etwa 18 200 Mitglieder.

  45. Vgl. Günter Plum. Deutsche Juden oder Juden in Deutschland?, in: W. Benz (Anm. 1). S. 35— 74.

  46. Vgl. Hans Erich Fabian. Die letzte Etappe, in: Festschrift zum 80. Geburtstag von Leo Baeck am 23. Mai 1953. London 1953. S. 93 f.

Weitere Inhalte

Wolfgang Benz, Dr. phil., geb. 1941; Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Die Bundesrepublik Deutschland. Politik, Gesellschaft, Kultur, 3 Bde., 1983; Die Gründung der Bundesrepublik, 1984; Potsdam 1945, 1986; (Hrsg.) Die Juden in Deutschland 1933— 1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, 1988.