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1968 — Die Antwort der CDU: Programmpartei | APuZ 20/1988 | bpb.de

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APuZ 20/1988 Artikel 1 1968: Ein Laboratorium der nachindustriellen Gesellschaft? Zur Tradition der antiautoritären Revolte seit den sechziger Jahren Der Mythos der „kritischen Generation“ Ein Rückblick 1968 — Die Antwort der CDU: Programmpartei Rebellion ist gerechtfertigt

1968 — Die Antwort der CDU: Programmpartei

Ulf Fink

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Zusammenfassung

Die Studentenbewegung hat die Gesellschaft umfassend und nachhaltig politisiert. Wichtigstes Ergebnis dieser Politisierung ist das Entstehen einer Alternativkultur, die über das akademische Milieu inzwischen hinausreicht. Sie bildet die Basis für die neuen sozialen Bewegungen seit Beginn der siebziger Jahre. Anti-Kernkraft-, Friedens-und Frauenbewegung, aber auch die Selbsthilfebewegung, die vor allem in den achtziger Jahren aufgekommen ist, sind ohne die Studentenbewegung nicht denkbar. Trotz ähnlicher Aktionsformen und personeller Überschneidungen stehen sie zu ihr jedoch nicht in Kontinuität, sondern stellen eine Reaktion auch auf ihr Scheitern dar und unterscheiden sich von ihr in wesentlichen Punkten. Auf einen ideologischen Anspruch wird ebenso verzichtet wie auf eine materialistische Gesellschaftsanalyse. Im Vordergrund steht das Engagement hinsichtlich eines bestimmten Themas oder der Veränderung des eigenen überschaubaren Lebensbereiches. Die Bewegungen, als deren parlamentarische Vertretung sich die Grünen begreifen, verlieren mit deren parlamentarischer Etablierung an Zuspruch und innerer Dynamik. Einerseits binden die Grünen personell einen Teil des Potentials, andererseits wird der außerparlamentarische Einsatz für bestimmte Themen entbehrlich, wenn die Parteien für eine effektive parlamentarische Behandlung sorgen. Die CDU hat die Oppositionszeit der siebziger Jahre als Herausforderung angenommen und zu einer intensiven Grundsatzdebatte genutzt. Es wurden hier Parallelen zu dem Politikverständnis der neuen sozialen Bewegungen deutlich — sowohl in dem nichtmaterialistischen Politikansatz wie in der Analyse verschiedener Krisensymptome des modernen Staates. In Berlin, der heimlichen Hauptstadt sowohl der Studenten-wie der Selbsthilfebewegung, erkennt der CDU-geführte Senat das Engagement und die Arbeit der Selbsthilfegruppen an und fördert diese auf vielfältige Weise. Eine CDU, die ihre Grundsätze ernst nimmt, und eine Alternativbewegung, die konkrete Selbsthilfe über Ideologie stellt, können in einer konstruktiven Zusammenarbeit wesentliche Fortschritte in der Sozialpolitik bewirken.

I. Abgeschlossen, aber nicht folgenlos — 20 Jahre Studentenbewegung

Die Studentenbewegung scheint die Gesellschaft noch heute zu entzweien. Auf den Veteranenkongressen des SDS herrscht der Eindruck vor, die Geschichte der APO sei trotz einiger Teilerfolge eine Geschichte der Niederlagen. Eine Linke, die diesen Namen verdiene, gebe es in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Auf der anderen Seite des gesellschaftlichen Spektrums ist vom „späten Sieg des SDS“ die Rede. Jürgen Busche schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das Bürgertum in der Bundesrepublik habe sich — im Gegensatz zu dem anderer westeuropäischer Staaten — von dem Ansturm linkssozialistischer Programmatik und antiautoritärer Ideen nie erholt. Der Marsch durch die Institutionen sei halb zurückgelegt.

Sicher, mißt man die heutige politische Realität an den Zielvorstellungen und Utopien des SDS in den sechziger Jahren, so bleibt nur das Urteil des Scheiterns. Andererseits sind die von der Studentenbewegung bewirkten Veränderungen — andere als die vom SDS geplanten — so tiefgreifend, daß sie die politischen Entwicklungen in der Bundesrepublik bis heute prägen.

Die Gesellschaft wurde in Frage gestellt.. .

Die Studentenbewegung war kein deutsches Phänomen. Auch in den anderen westlichen Industriestaaten begehrten die Studenten gegen Lebensart und Wertvorstellungen der älteren Generation auf. Die Kritik an überkommenen Strukturen im Bildungsbereich oder dem amerikanischen Engagement in Vietnam war länderübergreifend. In der Bundesrepublik traf die Außerparlamentarische Opposition aber auf politische Umstände, die ihre Ausbreitung besonders begünstigten. In Bonn regierte die Große Koalition, und die Wirkungslosigkeit der innerparlamentarischen Opposition erschien vielen bedenklich, zumal sich die Koalition als wichtiges Gesetzgebungsvorhaben die Notstandsgesetzgebung vorgenommen hatte, die weit über die Studenten hinaus auf Kritik stieß. Es gab hier übrigens die einzige Gemeinsamkeit der APO mit den Gewerkschaften. Empfindlich traf die Nachkriegsgesellschaft auch, daß die kritische Jugend von der Elterngeneration eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, seinen Entstehungsbedingungen und Strukturen, mit Mitläufer-und Mitwissertum einforderte.

Die Bundesrepublik erlebte ihre erste Totalopposition. Kultur, Kleidung, Kindererziehung, Sexualität, Partnerschaft — alle diese bis dahin als privat geltenden Bereiche wurden politisiert und zum Gegenstand der Konfrontation mit der älteren Generation gemacht. Die Studenten suchten die Provokation; man entdeckte das Instrument der „begrenzten Regelverletzung“, wählte Aktionsformen, die schockieren sollten: sit-ins, smoke-ins, love-ins. Die Studentenbewegung fühlte sich moralisch und intellektuell einer Gesellschaft überlegen, die sie als von Meinungsbildungsmonopolen entmündigt und nur mit der Schaffung und Sicherung des eigenen Wohlstands beschäftigt ansah. Für sie als intellektuelle Avantgarde lag nahe, der Wirtschaftswunder-Gesellschaft auch die politische Theorie entgegenzusetzen. die als das geschlossene Gegenmodell verstanden wurde und gerade im geteilten Deutschland als die Provokation wirken mußte, als die sie gedacht war: Der Marxismus wurde in der Bundesrepublik gesellschaftsfähig. Kaum eine Vorlesung, kaum ein Seminar ohne die Beschäftigung vor allem mit dem Marx’schen Frühwerk und anderen linkssozialistischen Schriftstellern. Die kritische Theorie der Frankfurter Schule diente als Einstieg. ... und blieb die Antwort schuldig Die Gesellschaft war auf die umfassende und totale Infragestellung nicht vorbereitet und sie war ihr nicht gewachsen. Die Repräsentanten des Staates und der Gesellschaft reagierten überwiegend hilflos. Der „konkreten Utopie“ einer veränderten Gesellschaft hatten sie zu wenig demokratisches Selbstbewußtsein entgegenzusetzen. Angesichts roter Fahnen, marxistischer Thesen und spontihafter Aktionsformen jenseits der Grenze des bislang Gewohnten fand eine differenzierte Auseinandersetzung kaum statt. Wo sie stattfand, entwickelte sich die Protestbewegung nicht annähernd so radikal. Wo ein Lehrerkollegium auf Kritik der Schüler an Strukturen und Verhaltensregeln an einer Schule nicht schroff ablehnend reagierte und das Gespräch scheute, sondern das Gespräch suchte und die eigenen Standpunkte argumentativ vertrat, hatten radikale Schülergruppen auffallend wenig Erfolg. Das blieb jedoch die Ausnahme. Nur wenige Professoren und Politiker verstanden es, eine Diskussion über die angemessene Einordnung und Würdigung des Marx’schen Werkes zu führen. Karl Marx warja durchaus nicht der fortschrittlichste Staatstheoretiker. als der er damals angesehen wurde. Die Repräsentanten der parlamentarischen Demokratie wichen der Auseinandersetzung aus. Sie erließen der Studentenbewegung damit auch die argumentative Beschäftigung mit ihren eigenen Widersprüchen und Gegensätzen.

Eine Bewegung der Widersprüche Einig war sich die Studentenbewegung nur in der emanzipatorischen Zielrichtung und der Ablehnung der bestehenden Gesellschaftsstrukturen. Was man positiv an deren Stelle setzen wollte, blieb umstritten. Wollte man gesellschaftliche Teilbereiche wie Schule und Universität so weit wie möglich reformieren, oder verzichtete man auf jede Reformbereitschaft. weil Reformen nur das System stabilisieren und eine Universität keine „Sozialistische Insel“ sein könne?

Und entsprach die radikale Ablehnung der modernen Industriegesellschaft, die man ja nicht als notwendige Vorstufe späterer Wirtschaftsformen weiterentwickeln. sondern abschaffen wollte, tatsächlich marxistischen Vorstellungen? Hätte ein orthodoxer Marxist 1967 die Parole vertreten: „Macht aus Stalinisten gute Sozialisten“ — wie dies die DDR-Flüchtlinge Dutschke und Rabehl getan haben? Unmarxistisch war auch die Organisationsfeindlichkeit des SDS.der bis zu seiner Auflösung 1970 die Studentenbewegung anführte und durchaus keine straff gegliederte Kaderschmiede war. Cohn-Bendit hat die Notwendigkeit einer revolutionären Partei, die die Führung zu übernehmen habe, immer bestritten. Adorno, einer der Väter der kritischen Theorie, konnte in dem von ihm so bezeichneten „Aktionismus der Studentenbewegung“ keine Verbindung zu seinen Vorstellungen entdecken.

Die aktionistische und stark emotionale Ablehnung der Gesellschaft überdeckte auch andere tiefgreifende Meinungsunterschiede und Widersprüche. Die pauschale und undifferenzierte Ablehnung der Anliegen der Studenten ließ eine Diskussion jedoch kaum zu und erließ der Studentenbewegung auch eine angemessene Auseinandersetzung mit der Gewaltfrage. „Über Gewalt redet man nicht, man wendet sie an.“ Auch das war eine Parole der Studentenbewegung. und Gudrun Ensslin erklärte bereits 1967, nach dem Tode von Benno Ohnesorg, mit der „Auschwitz-Generation“ gebe es kein Reden mehr. Die Kaufhausbrandstiftungen in Frankfurt folgten. Man konstruierte Unterschiede zwischen Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen; erklärte, die eigentliche Gewalt gehe vom Staate aus und überzogene Polizeieinsätze müßten zwangsläufig zur Gegengewalt führen.

Teile der Linken erkennen es heute an, daß die Gewaltfrage bislang nicht befriedigend analysiert und beantwortet worden ist. Die Verdrängung dieser Frage hat bis heute Tradition.

Die „antiautoritäre Bewegung“ — Suche nach Autorität?

Eine Beurteilung lediglich auf die marxistische Rhetorik oder die ungeklärte Gewaltfrage zu beschränken. würde der Studentenbewegung jedoch nicht gerecht werden. Richard Löwenthal sieht sie vielmehr als „romantischen Rückfall“, als Revolte gegen die pluralistische, moderne, unerklärliche Welt, aus der fundamentalen Unsicherheit heraus, die die tiefgreifenden Veränderungen der Gesellschaftsstrukturen und Lebensgewohnheiten verursacht hatten. Die Studentenbewegung sei weniger eine antiautoritäre Bewegung als vielmehr ein Ausdruck der Erbitterung über das Fehlen von begründeter Autorität. Arnulf Baring erkennt „ein tiefes Mißtrauen gegen alles rechnende Denken, gegen die Rationalität der Dingwelt mit ihren anonymen Mechanismen von Wirtschaft und Technologie die erklärte Abscheu vor einer total verwalteten. einer technokratisch verkommenen Welt“.

Das erklärt, warum die Studentenbewegung in Deutschland ein länger andauerndes und tiefer wirkendes Phänomen gewesen ist als in anderen Staaten. In der Bundesrepublik hatte sich eine selbstbewußte demokratische Kultur nicht etablieren können. Zahlreiche Einrichtungen, die in anderen Ländern bei Sinnstiftung und -Vermittlung fürjunge Menschen aus einem gefestigten Selbstbewußtsein mitwirken konnten — z. B. das Schul-und Hochschulsystem —. galten in Deutschland schon deshalb als diskreditiert, weil sie die Zeit des National-Sozialismus relativ unbeschadet überstanden hatten. Die „verunsicherte Gesellschaft“ bot weder das Selbstbewußtsein noch die Überzeugungskraft, sich der Kritik, wo sie angebracht war, zu stellen.

Die Nachkriegsgeneration hatte das Wirtschaftswunder geschaffen und die Städte wieder aufgebaut. Eine politische Kultur, die auch abweichenden Lebensvorstellungen Raum bot, ließ sich hier

II. Die neuen sozialen Bewegungen als Erben der Studentenbewegung

Das „reinigende Gewitter Studentenbewegung“ (Kurt Sontheimer) endete mit dem Regierungsantritt der SPD/FDP-Koalition.der SDS löste sich 1970 auf. Spätestens der Zerfall der Außerparlamentarischen Opposition machte deutlich, wie vielfältig ihr Spektrum gewesen war. So zahlreich und unterschiedlich die Strömungen gewesen waren, so unterschiedlich waren auch die Reaktionen nach dem Auseinanderfallen der Studentenbewegung. Große Teile des zu Reformen bereiten Spektrums wurden in die Koalitionsparteien und damit in das traditionelle politische System eingebunden. Sie glaubten der Brandtschen Ankündigung, die Demokratie habe jetzt erst richtig begonnen und erfülle sich im demokratischen Sozialismus. Horst Mahler rief dazu auf, der SPD beizutreten.

Andere schlossen sich den zahlreich entstehenden, straff gegliederten und dogmatisch ausgerichteten kommunistischen Gruppen wie der KPD oder dem KB an. Aus Enttäuschung über den ausgebliebenen „revolutionären Sprung“ der bundesdeutschen Gesellschaft richteten sich ihre Hoffnungen und Erwartungen auf Vorbilder in kommunistischen Ländern und Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Studenten, die gerade noch gegen Autorität und Autoritäten Sturm gelaufen waren, zeigten sich schnell bereit, sich hierarchischen, ultra-autoritären Strukturen in den K-Gruppen unterzuordnen. Richard Löwenthal hat recht, wenn er von der Suche nach Autorität spricht, die die Studentenbewegung auszeichnete. Es ist kein Zufall, daß auch religiöse Sekten und spiritistische Gruppen zu Beginn der siebziger Jahre aufblühten.

Besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit fanden in der Folgezeit diejenigen, die eine Veränderung des „Bewußtseinsstandes der Massen“ durch terroristische Anschläge herbeibomben wollten. Auch sie hatten ihre Politisierung fast durchweg in der Zeit der Studentenbewegung erfahren. durch nicht ersetzen. Die Gesellschaft, die bislang zu wenig demokratisches Selbstbewußtsein entwikkelt hatte, war nicht in der Lage, auf den Bewußtseinswandel der studentischen Jugend angemessen zu reagieren. Es fiel der Studentenbewegung nicht schwer, auch dieses mangelnde Selbstbewußtsein als Bestätigung ihrer These von der „Krise des Kapitalismus“ zu deuten.

Da öffentlichkeitswirksame Aktionen ausblieben, fand zunächst nur wenig Beachtung, was sich als folgenschwerstes Ergebnis der von der Studenten-bewegung erreichten Veränderungen herausstellen sollte: Vor allem an den Hochschulorten hatte sich eine Szene etabliert, die sich in ihren gesamten Lebensumständen als Gegenkultur zur bürgerlichen Gesellschaft verstand. Zwar hatte das parlamentarisch-demokratische System sich als haltbarer erwiesen, als dies manche erwartet hatten. Auch waren in zahlreichen gesellschaftlichen Teilbereichen — vor allem im Bildungswesen — die notwendigen Reformen eingeleitet worden. Das hatte die in weiten Teilen der akademischen Jugend verbreitete Skepsis gegenüber dem parlamentarischen System jedoch keineswegs beseitigt. Die Vorbehalte gegen die repräsentative Demokratie und die technokratische Industriegesellschaft hatten den Zerfall der Studentenbewegung überlebt.

Die Gestaltung des eigenen überschaubaren Lebensbereiches hatte jedoch zunächst Vorrang vor der Propagierung gesellschaftlicher Veränderungen. Der Konflikt zwischen den Generationen ruhte, die Sprach-und Kontaktlosigkeit dauerte fort. Die neue Altemativ-Kultur war nicht unpolitisch. Ihre Politisierung äußerte sich zunächst jedoch nicht in politischem oder gar parteipolitischem Engagement. Sie bildete aber den Nährboden für Bürgerinitiativen, Dritte-Welt-Projekte, Stadtteil-gruppen.

Die Hoffnungen, die viele Studenten auf die sozialliberale Koalition gesetzt hatten, verflogen rasch. Die gesamtgesellschaftlichen Reformen enttäuschten. Die Ankündigung Willy Brandts, die Demokratie werde erst im Sozialismus vollendet, entpuppte sich als die Anmaßung, die sie war. Als der Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten der Bundesländer 1972 — eingedenk des von Dutschke angekündigten Marsches durch die Institutionen — den Extremistenbeschluß verabschiedeten, beschleunigte sich der Prozeß der Abwendung von der SPD. Die großen Gesamtutopien — ob sozialdemokratisch oder marxistisch — hatten an Überzeugungskraft endgültig verloren, die Reformeuphorie war verblaßt.

Zu der inneren Unsicherheit kamen äußere Faktoren wie der Ölpreisschock 1973 oder der Bau von Atomanlagen. Es verbreitete sich gerade bei sensibleren Menschen das Bewußtsein, am Ende einer Epoche zu stehen und nicht zu wissen, welche einschneidenden Änderungen und neuen Zukunftsprobleme zu erwarten seien. Kennzeichnend für die Entstehung und Ausbreitung von Anti-Kernkraft-, Ökologie-und später auch der Friedensbewegung ist diese Angst vor atomaren und ökologischen Katastrophen. Angst vor den Folgen industriellen Wachstums überhaupt, vor der Verschärfung der Nord-Süd-Problematik, vor Waffensystemen, elektronischen Kontrollmöglichkeiten des Staates usw. Die neuen sozialen Bewegungen, unter denen all diese Bewegungen und auch die Frauenbewegung zusammengefaßt werden, stellten eine Fundamentalopposition dar. Ob sich nun eine lokale Bürgerinitiative gegen den Bau einer Straße wandte oder Zehntausende aus dem ganzen Bundesgebiet gegen eine Kernkraftanlage demonstrierten — der Protest ging über die Verhinderung eines konkreten Projektes hinaus. Viele Menschen bezweifelten die Problemlösungskompetenz des modernen Industriestaates überhaupt, richteten sich gegen die Strukturen seiner Entscheidungsfindung.

Kontinuitäten und Unterschiede Dieser Charakter als Fundamentalopposition ist ein übereinstimmendes Merkmal zwischen den neuen sozialen Bewegungen und der Studentenbewegung. Auch diese hatte überwiegend nicht nur Reformen in gesellschaftlichen Teilbereichen gefordert, sondern die Gesellschaft insgesamt, ihre Strukturen und Entscheidungsmechanismen ändern wollen. Die zahlreichen personellen Übereinstimmungen sowie ähnliche Aktionsformen lassen einige zu dem Schluß kommen, daß die neuen sozialen Bewegungen zwar andere thematische Schwerpunkte setzen, im übrigen aber die Unterschiede so gering seien, daß die Studentenbewegung den neuen sozialen Bewegungen zugerechnet werden könne.

Wer so argumentiert, verkennt, daß die neuen sozialen Bewegungen nicht nur Reaktion darauf sind, daß bestimmte Themen — u. a. Umweltschutz — in der Programmatik und Alltagsarbeit der Parteien zu kurz kamen, sondern auch und nicht zuletzt eine Reaktion aufdie Erfahrungen mit der Studentenbewegung darstellen. Die inhaltlichen Unterschiede sind so gravierend, daß Ähnlichkeiten hinsichtlich der Aktionsformen und personelle Überschneidungen demgegenüber nicht ins Gewicht fallen. Daß viele aktive Mitglieder von Ökologie-. Anti-Kemkraft-, auch der Frauenbewegung sich auf Seiten der APO engagiert haben, ist unübersehbar. Aber abgesehen davon, daß dies auch für die Mitglieder anderer politischer Parteien zutrifft, haben sich viele ehemalige Anhänger der Studentenbewegung. eben weil sie von den großen utopischen Gesellschaftsmodellen enttäuscht waren, jetzt auf konkrete Themen bezogen und in überschaubaren Gruppen betätigt.

Die neuen sozialen Bewegungen stellen — im Gegensatz zur Studentenbewegung — die rationale Tradition der Aufklärung ebenso in Frage wie die primäre Zuordnung der Probleme zum kapitalistischen Wirtschaftssystem oder einer Klassengesellschaft. Umweltprobleme gibt es in West-wie in Osteuropa. In den neuen Bewegungen erfolgte auch keine materialistische Gesellschaftsanalyse, sondern im Vordergrund steht nach wie vor die eigene Betroffenheit. Das Geschlecht, die Gegend, in der man wohnt, wurden als Bezugspunkte des Engagements entdeckt, nicht eine Klassenzugehörigkeit. Hinzu kamen äußere Faktoren: das Niederwerfen des Prager Frühlings durch die Sowjetunion. Nachrichten über die Massenmorde durch Pol Pot in Kambodscha oder die Greueltaten der chinesischen Kulturrevolution — all das hatte die Illusionen über die Verwirklichung marxistischer Ideen gründlich beseitigt.

Die neuen sozialen Bewegungen sehen ihre Aufgabe nicht mehr darin, die Welt zu verändern, sondern sie zu erhalten (Amery). Trotz aller linkssozialistischer Rhetorik bestehen bereits erhebliche Zweifel daran, ob die Studentenbewegung im Kem tatsächlich eine marxistische Bewegung war. Die neuen Bewegungen sind es sicher nicht. Ihre Theorieunlust bis hin zum Irrationalismus mußte Marxisten suspekt sein. Wo diese überhaupt theoretische Ansätze entdecken konnten, schienen diese sozial-romantisch und konservativ. Der angebliche Verzicht auf hinreichende Gesellschaftsanalyse und die Betonung subjektiver Kriterien galten ihnen als reaktionär.

Ohne die Studentenbewegung, die durch sie bewirkte Politisierung der Gesellschaft und das Ent-B stehen einer Alternativkultur sind die neuen sozialen Bewegungen nicht denkbar. Trotzdem stellen sie keine inhaltliche Weiterentwicklung dar, sondern sind Reaktion auf die Probleme und Zwänge der Industriegesellschaft ebenso wie auf Widersprüche und den Zerfall der Studentenbewegung.

Seit Mitte der siebziger Jahre zeigten die Aktionen der verschiedenen Bewegungen immer weniger Perspektiven auf, dafür wurden sie zunehmend für die Veranstalter selbst problematisch. Die Anti-Kernkraft-Demonstrationen in Grohnde und Brokdorfwurden von Militanten in bürgerkriegsähnliche Ausschreitungen umfunktioniert. Teile der Anti-Kernkraft-Bewegung erhofften sich daher von einer parlamentarischen Vertretung ein Zurückdrängen radikaler Gruppen vor allem aus dem kommunistischen Spektrum, die zunehmend Einfluß auf die Aktionen gegen die Kernkraft nahmen. Andere wollten parlamentarische mit außerparlamentarischen Aktionen verbinden. Wieder andere versprachen sich von der Vertretung in den Parlamenten eine wirkungsvolle Unterstützung der außerparlamentarischen Aktivitäten. Ein großer Teil lehnte aber eine Parlamentarisierung des Protestes auch aus grundsätzlicher Institutionenkritik heraus ab. Bereits an die Überlegungen, eine Partei zu gründen. die die Interessen der neuen sozialen Bewegungen parlamentarisch wahmehmen sollte, knüpften sich damit unterschiedliche, ja gegensätzliche Erwartungen, aber auch Befürchtungen. Die Pläne zur Parteigründung kamen daher weniger aus den Bürgerinitiativen als von Personen, die bislang in anderen Parteien gearbeitet hatten.

Die GRÜNEN als „Bewegungspartei“?

Diese unterschiedlichen Positionen machen deutlich. daß die GRÜNEN selbst in ihrer Ursprungs-phase nicht die ausschließliche parlamentarische Vertretung der neuen sozialen Bewegungen darstellten. Trotz der zahlreichen personellen Verknüpfungen zwischen diesen und den GRÜNEN war ein Alleinvertretungsanspruch zu keiner Zeit begründet. Es geht den GRÜNEN hier nicht besser als allen anderen Parteien auch, die ihren Ursprung ja ebenfalls auf soziale Bewegungen zurückführen können und trotzdem kein Monopol auf deren Vertretung besitzen. Weder haben die Sozialdemokraten einen Alleinvertretungsanspruch hinsichtlich Arbeitnehmer-oder Gewerkschaftsinteressen, noch kann die CDU dies bezüglich christlicher Laienbewegungen behaupten. Für die GRÜNEN und die neuen sozialen Bewegungen gilt das genauso. wenngleich viele ihrer Mitglieder sie zunächst als gleichsam natürliche Ansprechpartner betrachteten.

Die Diskussion über das Verständnis der parlamentarischen Arbeit prägt die Richtungsauseinandersetzungen innerhalb der GRÜNEN bis heute. Der Parlamentarisierungsprozeß der GRÜNEN wird aber auch die Konflikte zu den außerparlamentarischen Bewegungen verstärken. Dies ist die notwendige Folge der politischen Etablierung. Um politik-fähig zu sein, muß nämlich jede Partei oder Fraktion — und die GRÜNEN verfahren hier nicht anders — sich vorbehalten, sowohl Schwerpunkte in der Arbeit anders zu setzen, als dies die außerparlamentarische Basis erwartet, wie auch eventuell Interessengegensätze auszugleichen. Während der kurzen Zeit der Regierungsmitverantwortung in Hessen haben die GRÜNEN viele der Initiativen und Projektgruppen, die auf sie gesetzt hatten, in ihren Erwartungen enttäuschen müssen. In etlichen Fällen haben sich sogar außerparlamentarische lokale Bewegungen gegen die Regierungspolitik der GRÜNEN in Hessen gebildet, auch auf dem Gebiet des Umweltschutzes. Dazu kommt, daß bestimmte Themen, sofern sie nicht ohnehin Allgemeingut sind, spätestens dann auch von anderen Parteien aufgegriffen werden, wenn sie sich als wählerwirksam herausgestellt haben. Die Erfahrung, daß diese politischen Gesetzmäßigkeiten die GRÜNEN genauso betreffen wie die anderen Parteien, ist eine Ursache dafür, daß bei vielen GRÜNEN die Ablösung aus der Regierungsverantwortung durchaus befreiend wirkte.

Ein Monopol auf ökologisch verantwortungsvolle Politik haben die GRÜNEN heute weniger denn je. Leisten sie sich dann noch den Luxus, mit Leidenschaft darüber zu streiten, ob sie überhaupt politische Macht, d. h. Regierungsverantwortung anstreben wollen, um so die von ihnen vertretenen Interessen auch in parlamentarische Entscheidungen umzusetzen, dann werden sie auch bei Themen, bei denen ihnen über die Zahl ihrer Wähler hinaus Kompetenz zugesprochen wird, diese verlieren.

Schon heute wird den GRÜNEN vorgeworfen, daß seit ihrer parlamentarischen Etablierung die sozialen Bewegungen, aus denen sie überwiegend hervorgegangen sind, an Dynamik verloren haben und geschwächt sind. Dieses Ergebnis ist zwar zutreffend, kann aber den GRÜNEN nicht angelastet werden. Mit der parlamentarischen Vertretung eines Themas, erst recht wenn es Allgemeingut bei den Parteien und der Regierung ist, entfällt nämlich die Notwendigkeit für den interessierten Bürger, sich im außerparlamentarischen Raum hierfür zu engagieren. Es ergibt sich zwangsläufig die Konfliktsituation, daß die GRÜNEN, wenn sie parlamentarisch erfolgreich sind, ihren Charakter als „Bewegungspartei“ verlieren, und wenn sie es nicht sind, Gefahr laufen, Anhänger an die Parteien, die sich mit den Problemen ebenfalls glaubwürdig auseinandersetzen, zu verlieren.

Die GRÜNEN gefallen sich in der Rolle, ihr „Standbein“ in außerparlamentarischen sozialen Bewegungen zu haben und mit ihrem „Spielbein“ im Parlament zu stehen. Sind sie aber tatsächlich die parlamentarische Vertretung von Menschen, die sich in Ökologie-und anderen sozialen Gruppen engagieren?

Seit ihrer Gründung sind die GRÜNEN bevorzugtes Ziel der Machtübernahme durch Anhänger der kommunistischen Splittergruppen, die seit Anfang der siebzigerJahre als ein Ausläufer der Studenten-bewegung ein von der Öffentlichkeit kaum beachtetes Dasein fristeten. Auch viele GRÜNE selbst meinen, daß ohne die disziplinierte, kontinuierliche Aufbauarbeit durch die K-Gruppen eine Partei-gründung nicht möglich gewesen wäre. Es bedarf nicht umfangreicher Zusammenstellungen darüber, welche führenden Mitglieder der GRÜNEN Angehörige kommunistischer Gruppen waren oder sind. Denn diese machen daraus kein Geheimnis. Der KB rief seine Mitglieder dazu auf, „einzeln, aber möglichst geschlossen“ den GRÜNEN beizutreten. Thomas Ebermann vertritt weiterhin das „Prinzip der besonderen Organisation der Marxisten“ und möchte das „pseudo-ökologische Sektierertum“ überwinden. In einem von ihm und Rainer Trampert herausgegebenen Buch wurden noch 1984 Anti-Kemkraft-. Friedens-, Frauen-und Umwelt-bewegung als die „einzig relevanten Träger des proletarischen Klassenkampfes“ bezeichnet. Als genau das dürften sich diese wohl nicht verstehen. Deutlicher aber kann man die jedenfalls beabsichtigte Vereinnahmung der neuen sozialen Bewegungen durch das K-Spektrum der GRÜNEN kaum kennzeichnen. Sie ist vor allem in Norddeutschland schon weit fortgeschritten. Das ehemals so breite politische Spektrum der GRÜNEN verkommt zu einem zunehmend öko-sozialistischen Rinnsal. Inwieweit hier tatsächlich noch ökologische Interessen vertreten werden, beschreibt Bettina Krems-Hemesath, ehemaliges Vorstandsmitglied der GRÜNEN NRW, in ihrem Austrittsschreiben:

. . für mich völlig unvertretbar ist es, ganz hinten im Wahlprogramm unter . Ökologie, Wirtschaft und Soziales'nur platte und wirklich völlig unaufgeklärte Gesellschaftsanalysen zu finden, die mit Ökologie nichts zu tun haben. Die Ökologie wird nämlich bei GRÜNENs aus den ökonomischen Strukturen und beides aus den gleichen Gesetzmäßigkeiten hergeleitet. Die Eigenproblematik der Umweltpolitik wird schlicht geleugnet. Sie führt ein jämmerliches Wurmfortsatzleben in diesem Mach-werk. Das kommt davon, wenn sich die frühvergreisten KB-Fritzen und die Leute aus dem sozialistischen Büro, die von Imperialismus-These und zentralistischer Weitsicht nicht lassen können, unter die Ökos mischen und Programme mitschreiben.“ (Der Spiegel, [1986] 41. S. 104 f.)

Bei den GRÜNEN ist die klare inhaltliche Abgrenzung zu marxistisch-leninistischen Splittergruppen, die nicht Moskau-orientiert sind, nicht populär. Offensichtlich ist die Abgrenzung zur DKP bereits schwierig genug. Jede Bestimmung der eigenen Position ist aber notwendigerweise eine Ausgrenzung der hiermit nicht zu vereinbarenden Standpunkte. Strategiekongresse und Selbstverständnisdiskussionen werden die notwendige Ausgrenzung marxistischer Positionen nicht ersetzen können.

III. Die CDU seit 1968 — eine Partei besinnt sich auf ihre Grundsätze

„Was ist von der Studentenbewegung geblieben?“ — „Frau Süssmuth“, so antwortete Jürgen Habermas in einem im März 1988 erschienenen Artikel. Er sieht sie als Beispiel dafür an, daß der Marsch durch die Institution auch vor der CDU nicht halt-gemacht habe. Nun ist Frau Süssmuth keine Vertreterin der 68er. Aber Habermas hat insofern recht, als Politik und Ansehen von Rita Süssmuth deutlich machen, wie wenig die CDU von 1988 mit der von 1968 vergleichbar ist. Diese Erkenntnis hat auch die ehemaligen Aktivisten des SDS erreicht. Als eine Frau auf einem Veteranen-Kongreß des SDS die Frage stellte, was man denn dem Erfolg von Frau Süssmuth entgegensetzen wolle, erntete sie betretenes Schweigen. Die Politik Rita Süssmuths ist aber keine Marschetappe, sondern das Ergebnis einer Entwicklung innerhalb der CDU. 1968 galt die CDU als parteipolitischer Inbegriff dessen, was die Studentenbewegung ablehnte. „CDU“ -oder „Adenauer-Staat“ waren gängige Kennzeichnungen der Bundesrepublik in den sechziger Jahren. Die anderen Parteien hatten einen besseren Stand. Die FDP genoß als Oppositionspartei aus der Zeit der Großen Koalition noch einen Sympathievorschuß, und auch die SPD stellte sich als Partei gesellschaftlicher Reformen dar. Beide Parteien galten als theoriefreundlicher und programmorientierter. Die CDU als Regierungspartei seit Gründung der Bundesrepublik hingegen wurde mit allen negativen Erscheinungen der Nachkriegs-gesellschaft assoziiert. In einem politisierten und stärker ideologisierten Klima verübelte man ihr die Neigung, Persönlichkeiten statt programmatischer Entwürfe in den Vordergrund zu stellen ebenso wie ein übergroßer Hang zum Pragmatismus kritisiert wurde.

Tatsächlich war Ende der sechziger Jahre von der programmatischen Kraft, mit der die CDU im ersten Jahrzehnt ihrer Regierungstätigkeit innenpolitisch große Reformvorhaben verwirklicht und außenpolitisch entscheidende Weichenstellungen durchgesetzt hatte, nicht mehr viel übrig geblieben. Die Bundestagswahl von 1969 markierte das Ende einer mehrjährigen Entwicklung, in der die CDU an Regierungsfähigkeit verloren hatte. Und doch fiel es der CDU zunächst schwer, sich auf die ungewohnte Oppositionsrolle einzustellen. Schlecht war auch das Wahlergebnis von 1969 nicht gewesen, das neue Regierungsbündnis sah man als Koalition der Verlierer an. Erst in den siebziger Jahren nahm die CDU die Oppositionsrolle an und begriff sie als Herausforderung.

Die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für Politik hatten sich im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklungen seit den sechziger Jahren grundlegend geändert. Staat und Parteien konnten sich nur noch bedingt auf einen ethischen Grundkonsens verlassen. Denn die Einrichtungen, die bis dahin sinnstiftend und -vermittelnd gewirkt hatten — Elternhaus, Kirche, Schule — hatten die Infragestellung der bisherigen Autoritäten durch die Studentenbewegung nicht bewältigt und besaßen eigene Identitätsprobleme. Glaubwürdige Wertmaßstäbe wurden nur unzureichend weitervermittelt. Auf ihre Frage nach dem Sinn des Lebens fanden viele Jugendliche keine sie überzeugende Antwort. Dies ist der Grund dafür, daß Angst seit den siebziger Jahren in Deutschland ein politischer Faktor werden konnte. Wo nämlich ein Sinn des Lebens nicht mehr gesehen wird, da ist das einzelne Menschenleben der einzige absolute Wert. Auch die Angst um dieses Leben wird damit absolut. Sie äußert sich in Angst vor atomaren Waffen, vor Kernkraftwerken, vor chemischen Fabriken, vor elektronischer Kontrollierbarkeit, aber auch vor dem Mitmenschen.dem Unternehmer, Politiker, Militär. Sowohl die neuen sozialen Bewegungen der siebziger Jahre als auch die GRÜNEN verstanden es, diese Angst politisch auszudrücken. Damit konnten sie zwar noch keine Vorstellung von politischer Ethik und ihrer praktischen Anwendung vermitteln, sie machten aber das Sinndefizit der Gesellschaft augenfällig.

Bis dahin hatte es nicht den Vorstellungen der CDU entsprochen, daß eine politische Partei sich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigen sollte. Gegenstand der Politik sollten die vorletzten Fragen sein, nicht die letzten, wie es Dietrich Bonhoeffer einmal formuliert hat. Es wurde aber deutlich, daß das mangelnde Wertebewußtsein von extremistischen Gruppen ausgenutzt werden konnte, die den Sinn des einzelnen Lebens in der bedingungslosen Unterwerfung unter einen gesellschaftlichen Endzustand sahen. Es äußerte sich auch in der Abqualifizierung des Staates als Formaldemokratie. die von keinem sittlichen Fundament getragen würde.

Zentraler Punkt der programmatischen Erneuerung war daher die Grundwertediskussion, die die CDU von 1971 bis zur Verabschiedung des Grundsatzprogramms 1978 in allen Parteigliederungen und unter Einbeziehung unabhängiger Wissenschaftler führte. Eine solche Diskussion war in der deutschen Parteiengeschichte bis dahin einmalig. Es wurde nicht verschwiegen, daß der moderne Industriestaat Krisensymptome und Defizite aufweist. Bereits in dem ersten Zwischenbericht der Grundsatzkommission unter Richard von Weizsäkker 1972 wurden die Kehrseiten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts wie Umweltgefährdung, die Gefahr biotechnischer Manipulationen oder globaler Überbevölkerung ebenso deutlich angesprochen wie die wachsende Vereinsamung und Isolierung vieler Menschen. Wirtschaftlicher Wohlstand und ein differenziertes System der sozialen Sicherung können überschaubare Lebensverhältnisse, Mitmenschlichkeit und Geborgenheit nicht ersetzen. Im Gegenteil: Mit der materiellen Sicherung werden Werte jenseits von Angebot und Nachfrage immer wichtiger.. Auch die strukturellen Probleme der parlamentarischen Demokratie traten deutlicher hervor: Die Notwendigkeit langfristiger politischer und wirtschaftlicher Planung läßt kurzfristige Einflußnahme als immer schwieriger erscheinen. Demokratie verspricht Teilhabe aller, muß aber auf besondere Sachkunde Einzelner hören. Die Abhängigkeit der Parteien von Experten und Interessengruppen wächst. In der Analyse vieler dieser Probleme stimmen Christdemokraten und zahlreiche Anhänger der neuen sozialen Bewegungen überein. Diese Übereinstimmung beruht darauf, daß beide einen nichtmaterialistischen Politikansatz haben. Zentrale Begriffe wie Staat. Fortschritt, Glück können nicht materialistisch definiert werden. Parallelen lassen sich auch finden in der Skepsis gegenüber einem dirigistischen Staat, in der Sorge vor den freiheitsbedrohenden Aspekten einer immer stärker ausufernden Staatstätigkeit. Emst Friedrich Schumacher. Ivan Illich. Albert Schweitzer, Erich Fromm — diese Namen sind mit den geistigen Grundlagen alternativer Politik untrennbar verbunden. Ihre Gedanken stehen christlich-demokratischer Programmatik nicht fern. „Die Rückkehr zum menschlichen Maß“ — dieser Buchtitel Schumachers könnte auch über der Sozialpolitik der CDU stehen, wie sie in den siebziger Jahren entworfen wurde und seitdem umgesetzt wird.

Die Parallelen, die über den nicht materialistischen Politikansatz hinaus bestehen, haben viele überrascht. Das nicht zuletzt deshalb, weil sich die SPD mit alternativem Politikverständnis erheblich schwerer tut. Darüber kann auch die gelegentlich geübte Annäherungsrhetorik zwecks Mehrheitsbildung nicht hinwegtäuschen. Peter Glotz stellt fest: „Es ist ganz offensichtlich, daß z. B. die alternative Kultur geradezu eine Kampfansage an das ist. was viele als Sozialdemokratismus bezeichnen.“ Ein weiteres Zitat von ihm: „Es gibt in der Arbeiterbewegung ein ganz eingewurzeltes Mißtrauen gegen kleine Netze, gegen Subsidiarität. Spontanität und ein großes Vertrauen auf große Apparate, auf Professionalisierung.“

Theoretische Überlegungen, wo sich Übereinstimmungen finden zwischen einer CDU. die sich auf ihre Programmatik besonnen hat und diese ernst nimmt, und alternativem Politikverständnis, sind sicherlich spannend. Wenngleich die GRÜNEN heute alles tun. um ihren wertkonservativen Ansatz. ohne den ihre Entstehung nicht denkbar ist, zu verleugnen und zu unterdrücken. Noch spannender aber ist es, in der Praxis zu erleben, ob und inwieweit Übereinstimmungen in den Problemanalysen gemeinsam in eine verbesserte Politik umgesetzt werden können. Dies ist ein Ziel des Berliner Senats seit 1981.

Die Selbsthilfebewegung — Chance und Herausforderung Berlin ist immer schon eine Stadt gewesen, in der gesellschaftliche Veränderungen besonders früh und besonders deutlich spürbar werden. Die Studentenbewegung hatte hier ebenso ihr Zentrum wie die neuen sozialen Bewegungen der siebzigerJahre. Vor allem seit Beginn der achtziger Jahre hat sich hier auch eine umfangreiche, höchst lebendige Selbsthilfebewegung etabliert. In ca. 1500 Selbsthilfegruppen sind heute fast 15 000 Menschen engagiert. Das Aufkommen dieser Selbsthilfebewegung fällt zeitgleich zusammen mit einem Abflauen der sozialen Bewegungen der siebziger Jahre. Das verwundert nicht, denn viele Menschen, die sich früher dort engagiert hatten, sind heute in Selbsthilfegruppen aktiv. Fast die Hälfte dieser Gruppen führte bei einer wissenschaftlichen Untersuchung von Joseph Huber ihren Ursprung auf die neuen sozialen Bewegungen, z. T. auch auf die Studentenbewegung direkt zurück. Und fast zwei Drittel der Gruppen bekennen sich zu ihren Ideen und Verhaltensweisen.

Auch wenn sich die meisten Gruppen als politische Aktionsgruppen verstehen, so besteht ein ideologischer Anspruch noch weniger als bei den sozialen Bewegungen der siebziger Jahre. Der Prozeß der Entideologisierung hat sich seit den sechziger Jahren fortgesetzt. Es geht heute um die Verbesserung des begrenzten persönlichen Lebensbereiches, um Bedürfnisse, die in der technischen, arbeitsteilig organisierten Massengesellschaft nicht hinreichend befriedigt werden. Wer Selbsthilfe praktiziert, dem geht es allemal eher um den Spatz in der Hand als um die Taube auf dem Dach, wie es Joseph Huber einmal formuliert hat.

Der Berliner Senat erkennt die Arbeit, die die Selbsthilfegruppen vor allem im Gesundheits-und Sozialbereich leisten, an. Das herkömmliche professionelle System sozialer Dienste erfährt durch sie eine unverzichtbare Ergänzung. Wir werden den professionellen Dienstleistungsbereich angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen weiter ausbauen müssen. Die steigende Zahl Pflegebedürftiger. vor allem älterer Menschen ist ja nur ein Beispiel für den wachsenden Bedarf an sozialen Dienstleistungen. Allein auf den professionellen Bereich zu setzen, wird jedoch nicht möglich sein. Vor allem aber ginge es an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Selbsthilfegruppen gelingt vielfach eher, woran staatliche Stellen scheitern. Das liegt daran, daß die Menschen in diesen Gruppen oft vergleichbare Probleme haben und die Situation kennen, in der ein Hilfsbedürftiger steckt. Es ist kein Geheimnis, daß Gruppen, die sich im Bereich der Drogenentziehung engagieren, wie z. B. Synanon, erfolgreicher sind als staatliche Therapieeinrichtungen. Selbsthilfegruppen im Bereich der AIDS-Problematik haben einen Akzeptanzvorsprung gegenüber staatlichen Stellen bei den Gruppen. die von dieser Krankheit besonders betroffen sind. Der Staat muß dies anerkennen und ihre Arbeit fördern. Das sind nur Beispiele. Der Berliner Senat wird, wo immer er das durchsetzen kann, nach Möglichkeiten suchen, um Solidargemeinschaften, kleine überschaubare Einheiten, Selbst-und Nächstenhilfe zu ermöglichen und zu fördern.

Natürlich ist die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und der Selbsthilfebewegung, die sich ja zu einem erheblichen Teil als autonom begreift, auch in Berlin nicht ohne Probleme. Wir streiten über die Verteilung der naturgemäß nicht unbegrenzt zur Verfügung stehenden finanziellen Fördermittel. Das gilt auch für den Umfang des Einsatzes professioneller Kräfte in diesem Bereich. Entscheidend ist. daß auch diese Auseinandersetzungen von beiden Seiten mit dem Willen zu einer konstruktiven Einigung geführt werden, ohne ideologische Schärfe. Wo einige Gruppen meinen, Richtlinien und Förderkriterien seien autonomiefeindlich, und Unverständnis für demokratische Entscheidungsfindungen zeigen, wird der Senat seine Position mit Selbstbewußtsein und gelassen vertreten.

Die mangelnde Gesprächs-und Kooperationsbereitschaft der Gesellschaft hat zur Zeit der Studentenbewegung viele Jugendliche der parlamentarischen Demokratie innerlich entfremdet. Die Reformeuphorie der siebziger Jahre, die nicht halten konnte, was sie versprochen hat, führte zu Enttäuschung und dem stillschweigenden Rückzug aus der Politik. In Berlin kann es gelingen, durch eine konstruktive und unideologische Zusammenarbeit viele Berührungsängste und gegenseitige Vorurteile abzubauen. Gesprächsbereitschaft und Toleranz gegenüber abweichenden Lebensformen sind unerläßliche Voraussetzungen für die Festigung unserer politischen Kultur.

Die 68er haben versucht, die Gesellschaft im Großen und Ganzen zu verändern. Wie wird sie tatsächlich verändert? Vielleicht im Kleinen und Besonderen?

Fussnoten

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Ulf Fink, geb. 1942 in Freiberg/Sachsen; Studium der Volkswirtschaft in Marburg, Hamburg und Bonn: Verschiedene Tätigkeiten im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion; 1973 bis 1977 Leiter der Planungsgruppe für Gesellschaftspolitik im rheinland-pfälzischen Ministerium für Soziales. Gesundheit und Sport; 1977 bis 1979 Hauptabteilungsleiter Politik in der Bundesgeschäftsstelle; von 1979 bis Mai 1981 Bundesgeschäftsführer der CDU; ab Juni 1981 Senator für Gesundheit, Soziales und Familie, bzw. Senator für Gesundheit und Soziales (seit 1985) in Berlin; Mitglied des Bundesvorstandes der CDU; seit 1987 Bundesvorsitzender der Sozialausschüsse der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA). Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Wie krank ist unsere Gesundheit?, Frankfurt-Berlin-Wien 1982; Keine Angst vor Alternativen, Freiburg-Basel-Wien 1983; zahlreiche Aufsätze vor allem zu sozialpolitischen Themen.