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Konventionelle Abrüstung in Europa | APuZ 18/1988 | bpb.de

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APuZ 18/1988 Artikel 1 Aufgaben und Perspektiven der Sicherheitspolitik Westeuropas in den neunziger Jahren Konventionelle Abrüstung in Europa Konventionelle Stabilisierung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit Ein systematischer Vergleich verschiedener Konzepte Der europäische Pfeiler der westlichen Allianz

Konventionelle Abrüstung in Europa

Karl Lamers

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In Europa stehen sich die Streitkräfte der NATO und des Warschauer Paktes unmittelbar gegenüber. Wenn überhaupt, dann besteht hier die Gefahr eines unmittelbaren gewaltsamen Konfliktaustrages; er würde mit konventionellen Waffen beginnen. In der Wahrnehmung des Westens ist der Osten in Europa vor allem konventionell weit überlegen; seine eigentliche Bedrohung geht von dieser Überlegenheit aus. Diese Situation des Ungleichgewichts in der konventionellen Bewaffnung bestimmt im Kern die Struktur und die Zahl der atomaren Waffen des Westens in Europa. Deswegen geht es bei der konventionellen Abrüstung indirekt auch um die atomaren Waffen, Wenn konventionelle Stabilität in Europa das Kriterium für Verzichtbarkeit atomarer Waffen ist. dann müßte es von der Logik her und aus praktischen Gründen für ganz Europa und nicht nur für einen beschränkten Raum, sondern bei näherem Hinsehen weltweit gelten. Aber konventionelle Stabilität ist weder auf der Basis von Gleichheit noch auf der Basis von „struktureller Nicht-Angriffsfähigkeit“ ein Grund für den Verzicht auf atomare Abschreckung. Wohl aber würden Zahl. Struktur und Strategie der atomaren Waffen durch einen Erfolg der konventionellen Abrüstungsverhandlungen verändert werden. Ein solcher Erfolg setzt sowohl Veränderungen der sowjetischen Streitkräftestruktur als auch ihrer Strategie und ihrer generellen Politik voraus. Ob das eintritt, hängt nicht zuletzt vom Westen ab.

Die Gefahren einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Ost und West sind gering. Doch wenn es zu einer solchen käme, würde sie in Europa stattfinden und mit konventionellen Waffen beginnen. Nachdem die zahllosen Krisen im Ost-West-Verhältnis in Europa seit 1945 nicht kriegsauslösend gewirkt haben, wurde zeitweilig befürchtet, Dritte-Welt-Krisen könnten zum Anlaß eines militärischen Konflikts zwischen den Supermächten werden. Die USA und die Sowjetunion hüten sich jedoch, in eine Konfrontation in der Dritten Welt hineingezogen zu werden. Die Gefahr eines von der Dritten Welt ausgehenden Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion mitsamt der Wahrscheinlichkeit eines Übergreifens auf Europa bestand ernsthaft nur einmal während der Kuba-Krise. Seitdem kann sie als gebannt betrachtet werden. Ein direkter atomarer Schlagabtausch mit strategischen Waffen zwischen beiden Supermächten wäre keine Angriffshandlung, sondern eine bewußte Selbstmordinszenierung. Es bleibt die Tatsache, daß sich hier in Europa, und zwar nur hier, außergewöhnlich große, auf das modernste konventionell und atomar bewaffnete Streitkräfte der beiden Bündnisse und Truppen der beiden Supermächte unmittelbar gegenüberstehen und damit hier auch die Möglichkeit einer unmittelbaren Konfrontation beider Gruppierungen gegeben ist, gleich, für wie groß oder gering man diese Gefahr einschätzt.

Diese Ausgangslage ist für die konventionellen Abrüstungsverhandlungen aus zwei Gründen von größtem Belang. Zum einen wird die konkrete psychologisch-politische Bedeutung der Lage in Europa schlagartig durch die Vorstellung ihres Gegenteils erleuchtet: keine extrem hohe, sondern eine im Vergleich zu heute sehr viel niedrigere Streitkräfte-konzentration; nicht nur keine Absichten zum Angriff, sondern auf beiden Seiten auch keine Fähigkeit hierzu. Offenkundig würde eine solche Lage das Ost-West-Verhältnis in seiner Gesamtheit grundlegend verändern.

Zum anderen findet das Nebeneinander von außergewöhnlich hohen und zerstörerischen Kriegsmitteln einerseits und der Abwesenheit von Krieg in Europa seit mehr als vierzig Jahren andererseits unterschiedliche Erklärungen und Schlußfolgerungen, welche die Akzeptanz westlicher Verteidigungsanstrengungen betreffen. Die einfachste Sichtweise ist die, welche etwa folgendermaßen argumentiert: Es mag sein, daß dieser große militärische Aufwand einmal notwendig war, um den Ausbruch eines Krieges zu verhindern. Aber nachdem er seit mehr als vierzig Jahren seinen Zweck erfüllt hat, und selbst die Führer der beiden Weltmächte die richtige Feststellung treffen, daß Kriege nicht mehr führbar und gewinnbar sind, und niemand mehr der jeweils anderen Seite eine Kriegsabsicht unterstellt — weshalb dann nicht ganz oder zumindest zum größten Teil auf dieses Potential verzichten und die dadurch eingesparten Ressourcen anderweitig sinnvoller verwenden? Ein anderes Erklärungsmuster neigt dazu, dem militärischen Potential in Europa (und darüber hinaus) die wohltätige Wirkung der Kriegsverhinderung abzusprechen. Im Gegenteil weisen seine Anhänger darauf hin, daß das unmäßige Anwachsen des militärischen Instrumentariums auch die Bedrohungsvorstellungen hat anwachsen lassen. In dieser Sichtweise haben sich die Bedrohungsvorstellungen gewissermaßen von einem hinter den Bedrohungspotentialen stehenden Bedrohungswillen abgelöst und beziehen sich verselbständigt auf die Existenz der Potentiale als solche, auch — und manchmal sogar besonders wie bei den GRÜNEN und der Friedensbewegung — auf die der eigenen Seite. Das gilt vor allem für die nuklearen Waffen.

Gegenüber beiden Betrachtungsweisen bleibt festzuhalten, daß die Kombination konventioneller und nuklearer Waffen und die darauf fußende Abschreckungsstrategie conditio sine qua non für den Zustand des Nicht-Krieges in Europa seit 1945 war und ist. Natürlich gab und gibt es auch andere Faktoren. die zu diesem relativen Frieden beigetragen haben. Dazu gehören sicherlich die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und bessere Einsicht. Aber auf alle Elemente wirkt seit Hiroshima und Nagasaki der atomare Schrecken ein. Allerdings läßt sich nicht übersehen, daß sowohl das übermäßige Anwachsen der militärischen Potentiale als auch die Quantität und Qualität der Waffen die wechselseitigen Bedrohungsvorstellungen haben größer werden und die Rüstungsspirale sich immer weiter drehen lassen. Das hat weder zu mehr Stabilität beigetragen noch die Einsicht der Bevölkerung im Westen in die Notwendigkeit militärischer Anstrengungen gefördert. Aus beiden Gründen muß versucht werden, künftig Sicherheit wesentlich stärker durch politische Anstrengungen einschließlich Abrüstung und Rüstungskontrolle herzustellen. Die sicherheitspolitische Welt in Europa und im Ost-West-Verhältnis insgesamt ist zwar keineswegs so besorgniserregend, wie manche Stimmen in der Bundesrepublik glauben oder glauben machen möchten. Aber sie ist auch keineswegs die beste aller vorstellbaren Welten. Außerdem stehen die ständig steigenden Rüstungsausgaben in keinem Verhältnis zu den innen-und außenpolitischen Aufgaben vor allem in der Dritten Welt.

Bei konventioneller Abrüstung geht es auch um atomare Waffen

Atomare Waffen sind nicht zur Anwendung, sondern zur Abschreckung gedacht. Sie sollen den Ausbruch eines mit konventionellen Mitteln geführten Krieges verhindern. Die Situation des konventionellen Ungleichgewichtes zu Gunsten des Ostens bestimmt Zahl und Struktur der atomaren Bewaffnung der NATO; nach Meinung mancher aber nicht nur das „Wie“, sondern auch das „Ob“. So ist es angesichts der leidenschaftlichen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland über den Sinn und die ethische Vertretbarkeit der atomaren Abschreckung nicht verwunderlich, daß hier -schon bevor überhaupt ein Mandat für eine Konferenz über konventionelle Rüstungskontrolle (KRK) erreicht worden ist — eine Auseinandersetzung über mögliche und wünschenswerte Folgen eines erfolgreichen Verlaufs dieser Verhandlungen für die atomare Bewaffnung und Strategie begonnen hat.

Gemeint ist vor allem die Frage, was mit den nuklearen Systemen von einer Reichweite bis 500 km (Artillerie, Flugkörper. Flugzeuge) geschehen soll, falls es bei der KRK gelänge, konventionelle Stabilität auf der Basis eines Gleichgewichtes herzustellen. Dieses Problem ist auch der Hintergrund für den Dissens zwischen der Bundesrepublik und ihren westlichen Alliierten. Es geht darum, ob, wann und wie in Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion parallel zu denen in der KRK diese Waffen einbezogen werden sollen oder nicht. Dieser Punkt wird später näher zu erörtern sein. Die hier zur Verhandlung stehenden Kurzstreckensysteme haben im Rahmen der westlichen Nuklear-strategie die Funktion, östliche Streitkräftekonzentration solcher Art durch Abschreckung zu verhindern, aus denen heraus ein (konventioneller) Angriff gestartet werden kann, oder, wenn diese Aufgabe verfehlt worden sein sollte, durch ihren selektiven Einsatz den Angriff zum Stehen und den ausgebrochenen Konflikt wieder unter Kontrolle zu bringen. Solche Truppenzusammenballungen, und damit die Fähigkeit zum Angriff durch eine Reihe abrüstungs-und rüstungskontrollpolitischer Maßnahmen unmöglich zu machen, ist aber auch das Ziel des westlichen Konzeptes für die Wiener Verhandlungen. Sollte es erfolgreich sein und konventionelle Stabilität tatsächlich verwirklicht werden, dann — so schlußfolgern vor allem, aber nicht nur, SPD-Sicherheitspolitiker — könnte auf die weitere Stationierung solcher Nuklearsysteme in der Bundesrepublik verzichtet werden, sei doch ihr Zweck anderweitig erfüllt.

Regional beschränkte Atomwaffenfreiheit ist unsinnig

Diese Logik hat weiterreichendere Konsequenzen, als ihre Anhänger wahrnehmen oder offen bekennen wollen. Wenn das Kriterium für den Verzicht auf nukleare Kurzstreckensysteme konventionelle Stabilität in Europa ist. dann gilt dies nicht nur für die Bundesrepublik, sondern selbstverständlich für ganz Europa und natürlich für alle Reichweiten nuklearer Trägerwaffen. Wenn die östlichen Streitkräfte zum Angriff nicht mehr fähig wären, weshalb müßten sie dann davon abgeschreckt werden? Mit anderen Worten: Nicht nur auf die amerikanischen Nuklearwaffen in der Bundesrepublik und in Europa, sondern selbstverständlich auch auf die französischen und britischen müßte verzichtet werden, weil natürlich nur ein beidseitiger, also auch sowjetischer Verzicht Sinn machte und die Sowjetunion hierzu ohne Entsprechung durch Frankreich und Großbritannien nicht bereit wäre. Die Denuklearisierung ganz Europas ist die Konsequenz der Auffassung, daß die Notwendigkeit oder die Verzichtbarkeit nuklearer Waffen in der Bundesrepublik vom Bestehen oder Nicht-Bestehen konventioneller Stabilität abhängig sei. Ja, bei näherem Hinsehen können die Befürworter dieser Ansicht nicht stehenbleiben, sondern müssen auch das gesamte Ost-West-Verhältnis miteinbeziehen. Denn es gibt nur in Europa ein konventionelles Ungleichgewicht zugunsten der Sowjetunion. Logischerweise würde mit seinem Verschwinden die Notwendigkeit atomarer Abschreckung überhaupt entfallen. Zudem wäre eine Beschränkung auf Europa praktisch nicht handhabbar, denn atomare Waffen der Sowjetunion. die zwar in ihrem asiatischen Teil stationiert wären, aber eine Reichweite hätten, die es ermöglicht, die USA zu erreichen, würden selbstverständlich auch ganz Westeuropa bedrohen.

Man mag dennoch in einer atomwaffenfreien Zone, die nur auf die Bundesrepublik, die DDR und die CSSR oder auf Teile dieser Staaten beschränkt ist, den Vorteil erblicken, das Risiko der Verwicklung in einen atomaren Schlagabtausch für diesen Bereich vermindert und auf die atomwaffenbesitzenden Staaten verlagert zu sehen. Für manche Anhänger dieser Idee ist diese einseitige Risikoverteilung eine Kompensation für das Nichtverfügungsrecht der Bundesrepublik Deutschland über Atomwaffen. Sie setzten konsequenterweise nicht nur die Entfernung aller Atomwaffen, sondern auch die aller alliierten Truppen voraus, deren Länder über atomare Waffen verfügen oder unter dem Schirm atomarer Abschreckung solcher Staaten stehen. Das heißt: Alle alliierten Truppen müßten die Bundesrepublik verlassen, denn daß sie ohne atomare Waffen hier blieben, ist nicht nur schwer vorstellbar, weil der Verzicht auf atomare Waffen den Ansichten der Alliierten diametral widerspricht, sondern auch in der Konzeption atomwaffenfreier Zonen nicht sinnvoll, weil bei der Verwicklung atomwaffenbesitzender Staaten in einen Konflikt ihre Truppen, ob mit oder ohne Atomwaffen stationiert, das Opfer eines sowjetischen atomaren Schlages zu werden drohen. Selbst dann aber wäre die Vorstellung, ein atomarer Schlagabtausch könnte über die Köpfe der Deutschen hinweg stattfinden, kaum nachvollziehbar. Kurzum, das ist eine Traum-idee. und zudem eine mit gefährlichen politischen Implikationen. Der politische Neutralismus ist die zwangsläufige Folge des atomaren Eskapismus.

Die Gründe im einzelnen aufzuführen, derentwegen die Hoffnungen auf mehr Sicherheit in einer atomwaffenfreien Zone illusionär sind, ist hier nicht der Platz. Das Wunschbild einer nuklearfreien Bundesrepublik und DDR ist das abrüstungspolitische Spiegelbild zur Angstvorstellung eines singularisierten Schlachtfeldes Deutschland. Demgegenüber ist festzuhalten, daß die atomare Abrüstungslogik entweder nur weltweit Sinn macht oder gar nicht, ebenso, wie die atomare Abschreckung entweder zwischen den Gegnern insgesamt funktioniert oder im ganzen versagt. Die Verfechter von Singularisierungsthesen und atomwaffenfreien Zonen machen im übrigen den Fehler, sich fortwährend in ihrer Argumentation auf die Ebene der Anwendung dieser Waffen zu begeben. Sie scheinen dabei zu vergessen, daß Atomwaffen nicht zur Führung eines Krieges, sondern zur Verhinderung eines solchen gedacht sind. Natürlich muß eine Strategie, die sich dieser Waffen bedient, paradoxerweise auch Anwendungselemente enthalten, um glaubhaft zu sein, und das widerstrebt dem Wunsch der Menschen nach widerspruchsfreiem Denken und Tun, vor allem in einer solchen existentiellen Frage. Aber dieses paradoxe System war und ist bis heute erfolgreich.

Die atomaren Kurzstreckensysteme gehören in den Abrüstungsprozeß

Bundeskanzler Kohl hat am 4. Juni 1987 in seiner Regierungserklärung festgestellt, daß „. . . (die) Rolle (der Atomwaffen) auf das quantitativ und qualitativ erforderliche absolute Mindestmaß beschränkt werden“ solle. Dieses Mindestmaß aber läßt sich nur im Rahmen von konventioneller Abrüstung und Rüstungskontrolle festlegen.

Dazu müssen auch die hier in Rede stehenden atomaren Systeme unter 500 km Reichweite in den Zusammenhang der „Herstellung eines stabilen und sicheren Niveaus konventioneller Streitkräfte in ganz Europa“ (Ministerratstagung der NATO vom 12. Juni 1987) gestellt werden. Wenn es jedoch zwischen der Bundesrepublik und ihren westlichen Alliierten Meinungsverschiedenheiten über die Frage gibt, ob. wann und wie diese Waffen in den Abrüstungsprozeß einbezogen werden sollen, dann hat dies als eine Ursache im Hintergrund die erwähnte Diskussion in der Bundesrepublik mit ihren bedachten oder unbedachten Konsequenzen und dem damit zusammenhängenden Streit über eine Modernisierung dieser Systeme.

Dabei ist die deutsche Forderung nach einer Einbeziehung dieser Waffenkategoriein welcher Form auch immer — aus zwei Gründen logisch und zwingend. Erstens sind diese Waffen (Artillerie, Flugzeuge, Raketen) alle zweifach verwendungsfähig, das heißt auch mit konventioneller Munition bestückbar. Wie soll man das Ziel der Wiener Verhandlungen eines konventionellen Gleichgewichts erreichen, wenn man eine ganze Waffenkategorie, die Kurzstreckenraketen, bei denen der Osten sein Übergewicht von 1 365: 88 und dazu am liebsten auch noch die Flugzeuge aus dem Verhandlungs-B prozeß heraushalten will, gleichzeitig aber „im Zusammenhang mit der Herstellung eines konventionellen Gleichgewichts . . .deutliche und überprüfbare Reduzierungen amerikanischer und sowjetischer bodengestützter nuklearer Flugkörpersysteme kürzerer Reichweite, die zu gleichen Obergrenzen führen“, fordert, wie es in dem erwähnten Ministerrats-Kommuniquö von Reykjavik heißt? Diese Position ist um so unlogischer, als gleichzeitig im Westen Einigkeit über die Notwendigkeit der Einbeziehung der ebenfalls zweifach verwendbaren Artillerie in die Verhandlungen besteht. Der zweite Grund ist der oben erwähnte Zweck dieser Systeme im Rahmen der Strategie der „flexible response". Er ist derselbe wie der, der den abrüstungs-und rüstungskontrollpolitischen Zielsetzungen der NATO in den konventionellen Abrüstungsverhandlungen zu Grunde liegt.

Eine Modernisierungsentscheidung gehört in den Gesamtzusammenhang von Verteidigung und Abrüstung

Den westlichen Gegnern einer Einbeziehung dieser Waffen in den Abrüstungsprozeß muß man zugestehen, daß die Verhandlungsposition des Westens bei den Kurzstreckenraketen angesichts des gewaltigen östlichen Übergewichts schlecht ist. So erscheint das Risiko nicht gering, der Westen könne angesichts der öffentlichen Meinung vor allem in der Bundesrepublik einen sowjetischen Vorschlag zur völligen Abschaffung dieser Systeme, also einer so-genannten dritten Null-Lösung, nur schwer widerstehen. Dem kann man zwar entgegenhalten, daß die Sowjetunion eine dritte Null-Lösung nie vorgeschlagen hat. Die Sowjetunion erweckt allerdings den Eindruck, als wolle sie dies, offensichtlich, um damit eine vor Mitte der neunziger Jahre anstehende Entscheidung des Westens zur Modernisierung der dann veralteten LANCE zu verhindern und so eine einseitige Null-Lösung auf westlicher Seite zu erreichen. So bleiben angesichts des Streites in der Bundesrepublik über die Frage der Modernisierung die alliierten Befürchtungen bestehen. Die bloße Aufforderung an die Sowjetunion, ohne Verhandlungen ihre Systeme zu reduzieren, erscheint nicht als eine aussichtsreiche Strategie. Aber dieser Hinweis wird die Alliierten nicht zu sehr beeindrucken, weil ihnen die Fortdauer der jetzigen Lage allemal weniger schlecht erscheint als eine dritte Null-Lösung.

Die Befürchtungen der Alliierten werden wahrscheinlich erst nach einem Modemisierungsentscheid schwinden. Ohne diesen gäbe es in der Tat eine einseitige Null-Lösung für Raketen im Westen, und die Struktur der verbleibenden atomaren Waffen (Bomben und Artillerie) wäre alles andere als sinnvoll. So drängt sich Einsicht auf, daß Modemisierungsentscheidung und westliche Einigung über die Behandlung dieser Systeme im Abrüstungsprozeß einander bedingen. Diese Entscheidung muß allerdings unbedingt eingebunden sein in ein Gesamtkonzept zur Neustrukturierung der nuklearen Abschreckungspotentiale nach dem INF-Abkommen und in den Zusammenhang des erstrebten abrüstungspolitischen Ergebnisses der Wiener Verhandlungen gestellt werden. Die sowjetische Forderung nach Einbeziehung dieser Systeme ohne ihre nukleare Komponente als Verhandlungsgegenstand in das Mandat für konventionelle Abrüstungsverhandlungen zwischen Atlantik und Ural ist zwar im Augenblick noch eine der wenigen strittigen Fragen der Wiener Verhandlungen, aber ein Kompromiß wird allgemein als wahrscheinlich angesehen. Doch wird man es der Sowjetunion nicht verwehren können, das Thema zu einem ihr geeignet erscheinenden Zeitpunkt bei den möglicherweise noch in diesem Jahr beginnenden Hauptverhandlungen zur Sprache zu bringen. Deswegen darf die westliche Einigung in dieser Frage nicht zu lange auf sich warten lassen.

Das Ergebnis der bisherigen Überlegungen ist:

— Es geht bei den Verhandlungen über konventionelle Abrüstung nicht nur um konventionelle, sondern zugleich um atomare Waffen.

— Die Logik ebenso wie praktische Überlegungen verbieten es, das Kriterium „konventionelle Stabilität“ für die Notwendigkeit oder die Verzichtbarkeit atomarer Waffen auf einen bestimmten Raum zu beschränken.

— Die Frage nach der Einbeziehung der nuklearen Systeme bis 500 km Reichweite in den Abrüstungsprozeß wird konkret und definitiv erst in einem Gesamtkonzept beantwortet werden, das auch eine Entscheidung über die Modernisierung dieser Systeme enthält.

Die Auswirkungen von konventionellem Gleichgewicht und „struktureller Nicht-Angriffsfähigkeit“

Die Frage ist noch nicht beantwortet, welche Auswirkungen ein erfolgreicher Abschluß der konventionellen Abrüstungsverhandlungen auf Substanz, Struktur und Strategie der nuklearen Waffen haben könnte, ob man ganz oder teilweise auf sie verzichten und/oder ihre Funktion verändern könnte. Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, zu fragen, wie das wünschenswerte Ergebnis dieser Verhandlungen theoretisch aussehen könnte.

Als Ziel der konventionellen Abrüstungsverhandlungen haben die NATO-Regierungschefs auf ihrer Tagung in Brüssel am 2. /3. März 1988 die „Herstellung eines sicheren und stabilen Gleichgewichts konventioneller Streitkräfte auf niedrigem Niveau“ bezeichnet. Dies soll vor allem durch die „Beseitigung von Ungleichgewichten, die sich nachteilig auf Sicherheit und Stabilität auswirken“ und durch die „Beseitigung der Fähigkeit zum Überraschungsangriff und zur raumgreifenden Offensive“ erreicht werden. Weiter heißt es: „Das konventionelle Un-gleichgewicht zu Gunsten des Warschauer Paktes ist nicht der einzige Grund für die Präsenz nuklearer Waffen in Europa.“

Das bedeutet: Auch wenn das von ihnen proklamierte Ziel bei den Verhandlungen in Wien erreicht sein sollte, halten die NATO-Regierungschefs nukleare Waffen nach wie vor für erforderlich. Sie können sich in dieser Überzeugung auf die geschichtliche Erfahrung berufen, daß ein Gleichgewicht der (konventionellen) Kräfte in den ungezählten Fällen, in denen Staaten Krieg gegeneinander geführt haben, entweder nie oder niemals über einen ausreichend langen Zeitraum existiert hat oder jedenfalls als solches von den Beteiligten nicht wahrgenommen wurde. Ja, es läßt sich nachweisen, daß in vielen Fällen sogar der an sich Unterlegene in der Annahme einer ihn augenblicklich begünstigenden Situation einen Krieg vom Zaun gebrochen hat in der Hoffnung, diesen durch überraschende und schnelle Schläge siegreich zu beenden, bevor der Gegner seine Kräfte gesammelt hat. Das ist ebenso die Grundstruktur der Überlegungen Hitlers wie in jüngster Zeit die des Irak beim Ausbruch des Golf-krieges gewesen.

Konventionelles Gleichgewicht, Stabilität, jede Art von militärischer Konstellation sind Phänomene, bei denen es entscheidend auf die Wahrnehmung durch den Gegner ankommt. Als subjektive Wahrnehmung, die nicht allein durch objektive Gegebenheiten bestimmt ist, sondern ebenso durch die Art der Wahrnehmung, durch Wahrnehmungsfehler sowie durch den Willen, die immer interpretierte. gedeutete Wirklichkeit ist, ist diese labil, Veränderungen und Irrtümern ausgesetzt. Das gleiche gilt natürlich für die objektive Seite, selbst wenn das Gleichgewicht das Ergebnis abrüstungspolitischer Vereinbarungen ist und kontrolliert wird.

Wie überall, so gibt es auch gerade in der Waffen-entwicklung keinen Stillstand. Schon im innerstaatlichen und zivilen Bereich der Technologie ist es bisher nicht gelungen, unerwünschte Entwicklungen zu kontrollieren. Zwischenstaatliche Rüstungskontrolle steht vor einer noch sehr viel schwierigeren Aufgabe. Stabil heißt nicht statisch, jedes Gleichgewicht zwischen Gesellschaften ist labil, es wird durch Bewegung aufrechterhalten. Eine Veränderung kann sich übrigens auch dadurch ergeben, daß eine Seite das vereinbarte Niveau des konventionellen Gleichgewichts nicht mehr aufrechterhalten kann oder will, oder eine Seite glaubt, das Gleichgewicht habe sich zu Gunsten des Gegners etwa dadurch verändert, daß er Bundesgenossen hinzugewonnen hat. Die denkbaren Fälle ließen sich beliebig fortsetzen.

Die NATO-Regierungschefs haben also die historische Erfahrung wie die Erkenntnisse logischen Durchdenkens auf ihrer Seite, wenn sie konventionelles Gleichgewicht nicht als ausreichenden Grund für einen Verzicht auf atomare Abschreckung ansehen. Aus dieser Erkenntnis heraus hat vor allem die SPD die Idee der „strukturellen Nicht-Angriffsfähigkeit“ entwickelt und hierzu einen Beschluß auf ihrem Nürnberger Parteitag vom 25. -29. August 1986 gefaßt. Die Einführung dieses Begriffes kann als der Versuch verstanden werden, der konventionellen Stabilität ein objektives Korsett zu verpassen, die schwankende Unsicherheit der subjektiven Wahrnehmung durch eine Sicherheit zu beenden, die ebenso zwingend ist wie die Wahrnehmung von der Wirkung atomarer Waffen. die dann überflüssig würden. Daher ist es das „Ziel der SPD ... die schrittweise Schaffung eines von Atomwaffen freien Europas“ (zit. nach: Unser Weg zu Abrüstung und Frieden. Beschluß zur Friedens-und Sicherheitspolitik der SPD, Parteitag in Nürnberg). Voraussetzung dafür ist, wie es an anderer Stelle des Parteitagsbeschlusses heißt, daß „Struktur und Bewaffnung der NATO-Streitkräfte . .. unverwechselbar der Verteidigung dienen“.

Es braucht an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen zu werden, wieso die NATO-Streitkräfte dieser Forderung insofern bereits entsprechen, als sie lediglich die Fähigkeit zum taktischen Gegenangriff besitzen, nicht aber zur raumgreifenden Offen-B sive wie die des Warschauer Paktes und daß zwischen beiden Arten von Angriff ein prinzipieller Unterschied besteht. Auch die Bereitschaft des SPD-Parteitages, der NATO diese Fähigkeit nötigenfalls durch einseitige Maßnahmen zu nehmen und weitere, im einzelnen beschriebene Umrüstungenvorzunehmen, um „strukturelle Nicht-Angriffs-fähigkeit" zu erzielen, ohne dies abhängig zu machen von gleichzeitigen Schritten des Warschauer Paktes, nur von der Hoffnung beflügelt, dieser werde dem guten Beispiel folgen, soll an dieser Stelle nicht näher kommentiert werden, so problematisch — vorsichtig formuliert — sie auch ist. Der Nürnberger Parteitagsbeschluß hat auch Kritiker in den eigenen Reihen der SPD gefunden wie z. B. Karsten Voigt (Europa-Archiv, 14/87). Es genügt, auf das geschichtliche Beispiel der Maginot-Linie hinzuweisen, um die Unsinnigkeit einer solchen asymmetrischen Konstellation von reiner Verteidigungsstrategie und -Struktur einerseits und hoch-mobiler Offensivität andererseits aufzuzeigen. Aber wäre es denn vorstellbar und wünschenswert, daß beide Seiten eine moderne Maginot-Linie errichteten? Eben das bedeutete „strukturelle Nicht-Angriffsfähigkeit“ in letzter Konsequenz, und es ist ein probates Mittel zur Prüfung der Tragfähigkeit eines Gedankens, ihn bis zur letzten Konsequenz zu Ende zu denken.

„Strukturelle Nicht-Angriffsfähigkeit“ bedeutet, die Mobilität der Streitkräfte so zu beschneiden, daß sie ausschließlich auf dem eigenen Territorium einsatzfähig sind. Das hat die Gefechtsführung genau dort zur Folge. Auch muß die Einwirkung auf das Territorium des Gegners durch weiterreichende Waffen auf seine vorderste Linie beschränkt werden. In diese Richtung zielen die Vorschläge der Verfechter „struktureller Nicht-Angriffsfähigkeit“.

Um Chancen und Grenzen dieser Idee zu werten, muß man sich bewußt machen, daß die heutige Bewaffnung entsprechend der allgemein technologischen Entwicklung geradezu eine gegenteilige Struktur und Tendenz aufweist: Mobilität, Schnelligkeit und Reichweite nehmen ständig zu. Zudem ist fast jede neuere Waffenentwicklung sowohl zur Verteidigung als auch zum Angriff brauchbar. Ihre tatsächliche Verwendung hängt im wesentlichen von der Strategie ab, in deren Rahmen sie eingesetzt ist. Das hat gerade die Diskussion um SDI gezeigt. Die strategische Verteidigungsinitiative des amerikanischen Präsidenten hat von der grundsätzlichen Idee her eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit dem Gedanken „struktureller Nicht-Angriffsfähigkeit“, obwohl die Verfechter der letzteren alle entschiedene Gegner von SDI sind. In beiden Fällen geht es darum, durch militärtechnische Maßnahmen die Kriegsführungsmöglichkeit zu bannen und die atomare Abschreckung zu überwinden. Natürlich gibt es Unterschiede; aber gemeinsam ist beiden die Überzeugung, durch konventionelle bzw. technologisch neuartige Waffen die atomaren Waffen obsolet machen zu können: in dem einen Fall, indem beide Seiten nicht angreifen können, in dem anderen dadurch, daß sie nicht angegriffen werden können. In je eigener Verkleidung ist es derselbe Traum mit der von ihm ausgehenden suggestiven Kraft.

Der letzte Realitätsgehalt der „strukturellen Nicht-Angriffsfähigkeit“ wird durch die Vorstellung erhellt, welche Überlegungen sich zwangsläufig einstellten, wenn das Ziel absoluter Nicht-Angriffsfähigkeit auf beiden Seiten entgegen aller Wahrscheinlichkeit als tatsächlich gegeben imaginiert würde, das heißt, wenn beide Seiten von der Möglichkeit überzeugt wären und sie auch verwirklichen wollten. Es würde sich dann die Frage aufdrängen, wozu man denn überhaupt noch kostspielige Streitkräfte unterhalten solle: Wer weder angreifen will noch angegriffen werden kann, der kann nicht nur auf atomare Waffen zur Abschreckung eines Angriffes verzichten, sondern die Waffen überhaupt aus der Hand legen.

Der Frieden muß auf politischem Willen und militärischen Strukturen beruhen

Diese natürlich überspitzte Schlußfolgerung aus der Idee „struktureller Nicht-Angriffsfähigkeit“ soll lediglich deutlich machen, daß utopische Erwartungen an abrüstungspolitische Konzepte nicht gestellt werden dürfen. Umrüstungen können immer nur in begrenztem Maße Angriffsfähigkeit mindern und ausschließliche Verteidigungsfähigkeit bewirken. Der Frieden läßt sich nicht durch Technik erzwingen. Der politische Wille, Waffen, die so gut zum Angriff wie zur Verteidigung dienen können, nur zur Verteidigung zu nutzen, muß hinzukommen. Das heißt: Die Streitkräfte müssen im Rahmen einer Strategie eingesetzt sein, die der Verteidigung dient.

Natürlich ist es nicht damit getan, auf die eigene friedliebende Natur und friedlichen Absichten hinzuweisen und zu behaupten, daraus ergebe sich auch der reine Verteidigungscharakter der eigenen Militärdoktrin und -Strategie, wie das der War-schauer Pakt in seiner Berliner Erklärung vom 29. Mai 1987 getan hat. Diese Behauptung steht sowohl im Widerspruch zur militärischen „hardwäre“ des Warschauer Paktes als auch zu anderen Aussagen desselben Dokumentes. Darauf wird noch kurz einzugehen sein. Deshalb zielt auch das Konzept der Bundesregierung zur konventionellen Abrüstung auf die Strukturelemente der War-schauer-Pakt-Streitkräfte. Eine Verständigung über friedliche Absichten ist wohlfeil, so lange diese sich nicht niederschlagen im militärischen Vermögen. Wer bereit ist, seine militärischen Fähigkeiten im wesentlichen auf Verteidigung umzustellen, wird auch bereit sein, seine Strategie umzustellen.

Wesentliche Elemente des deutschen Konzeptes sind daher das Prinzip gleicher Höchststärken, was in allen entscheidenden Waffenkategorien eine stark asymmetrische Abrüstung des Ostens zur Folge haben müßte, eine regionale Untergliederung des Gesamtraumes zwischen Atlantik und Ural, um den zum Teil stark unterschiedlichen regionalen Besonderheiten Rechnung zu tragen, eine Konzentration auf die den Kem von Invasionsfähigkeit ausmachenden Gerätekategorien und eine Kombination von Reduzierung, Re-Dislozierung und Präsenzverminderung, um vor allem die im Vergleich zur NATO sehr viel schnellere Aufwuchsgeschwindigkeit der Warschauer-Pakt-Streitkräfte im Krisenfall zu vermindern. Daneben sind begleitende Maßnahmen vorgesehen, die eine Umgehung erschweren und die umfassende und genaue Verifikation der genannten Schritte überwachen und garantieren sollen.

Die Annahme dieser Vorschläge würde die Fähigkeit des Warschauer Paktes zur raumgreifenden Offensive und zum Überraschungsangriff in entscheidender Weise herabsetzen. Sie setzt auf östlicher Seite die Bereitschaft zur Änderung der geltenden Strategie voraus. Ein solches Ergebnis der Wiener Verhandlungen — gewiß nicht in kurzer Zeit erreichbar — hätte natürlich auch Auswirkungen auf Struktur und Zahl der atomaren Waffen und die Strategie, der sie dienen. Alles, was sich heute zu dieser Frage sagen läßt, ist notwendigerweise spekulativ. Vorstellbar ist jedoch eine drastische Reduzierung der atomaren Waffen in Europa schon, vor allem dann, wenn die strategischen atomaren Systeme der USA und der Sowjetunion zunächst — wie vorgesehen — um 50 Prozent und später vielleicht noch darüber hinaus reduziert werden. Eine solche Lage hätte natürlich auch Bedeutung für den Stellenwert der britischen und vor allem der französischen Nuklearsysteme, die an relativer Bedeutung gewännen. Sie könnten dann sehr wohl komplementär zu dem amerikanischen Nuklearschirm — eindeutiger und direkter, als das bislang der Fall ist — eine europäische Rolle übernehmen. Die kürzlich geäußerten Überlegungen des französischen Präsidenten Mitterrand zur Nuklearstrategie könnten sich in einer solchen Situation als realistisch erweisen.

Die Aussichten auf einen Erfolg der KRK

Der sowjetische Verteidigungsminister Jazov hat mehrfach, zuletzt in einem ausführlichen Prawda-Artikel vom 8. Februar 1988. behauptet, es gebe in einzelnen Bereichen bei den konventionellen Streitkräften Ungleichgewichte zwischen Ost und West. Die eine Seite habe hier, die andere dort einen Vorsprung, „aufs Ganze aber gibt es eine ungefähre Parität bei den konventionellen Waffen“. Die Sichtweise der NATO ist bekanntlich eine ganz andere. Nicht nur. daß es bei den für eine raumgreifende Offensive entscheidenden Großgeräten wie Panzer, Schützenpanzer und Artillerie eine zum Teil sogar von der Sowjetunion nicht bestrittene gewaltige Überlegenheit des Ostens gibt. Auch die gesamte Struktur, ihre Dislozierung sowie die Manöver und Ausbildung der Warschauer-Pakt-Streitkräfte lassen erkennen, daß die sowjetische Strategie offensiv und infolgedessen auf Überlegenheit angewiesen ist. Sie steigert daher notwendigerweise und bis zu einem gewissen Grade unabhängig vom Streit über Zahlen in einzelnen Bereichen und deren qualitative Gewichtung die Bedrohungsvorstellung des Westens.

Daß sich an der sowjetischen Strategie trotz gegenteiliger Behauptungen bislang nichts geändert hat, belegt eine höchst aufschlußreiche, wiederum von Jazov verfaßte Broschüre, die im Herbst vergangenen Jahres in Moskau erschien („AufWacht für den Sozialismus und den Frieden“). In ihr führt der sowjetische Verteidigungsminister aus, daß die „Nicht-Zulassung des Krieges — sowohl eines nuklearen als auch eines konventionellen —“ Aufgabe der sowjetischen Militär-Doktrin sei. Die Militär-Doktrin der Sowjetunion sei also defensiv. Da aber die Möglichkeit einer Aggression durch die NATO bestehe, müsse eine Verteidigungsbereitschaft der Streitkräfte aufrechterhalten werden, die es erlaube, dem Aggressor eine „vernichtende AbB fuhr“ zu erteilen. Es müsse mit der „Möglichkeit der Entfesselung sowohl eines nuklearen als auch eines konventionellen Krieges“ gerechnet werden. Ein Nuklearkrieg sei nicht auf einen Schauplatz zu begrenzen, sondern sei global. „Unabhängig von den Mitteln, die der Aggressor einsetzt“, müßten die Streitkräfte einen Angriff abwehren können und „zu Handlungen sowohl in einem nuklearen als auch in einem konventionellen Krieg“ bereit sein.

Jazov hält also das Postulat der Führbarkeit eines Nuklearkrieges aufrecht: „Als Hauptart der Kriegs-handlungen bei der Abwehr einer Aggression betrachtet die sowjetische Militärdoktrin die Verteidigung.“ Sie müsse zuverlässig und aktiv sein und dürfe „einen Verlust des Territoriums nicht zulassen“. „Allein mittels Verteidigung ist es jedoch nicht möglich, den Aggressor zu zerschlagen, daher müssen die Truppen-und Flottenkräfte nach der Abwehr des Angriffes fähig sein, einen entschlossenen Angriff zu führen.“ Es sei jedoch eine Verfälschung durch die westliche Propaganda, von dieser Fähigkeit her auf den Offensivcharakter der sowjetischen Doktrin zu schließen. Die technische Ausrüstung der Streitkräfte sei durch die Interessen der Verteidigung bestimmt, die „aufgezwungenen, antwortenden Charakter“ hätten. Die Ausstattung der Streitkräfte entspreche dem Prinzip der Hinlänglichkeit.

Die Botschaft Jazovs ist klar: Strategie und Struktur der sowjetischen Streitkräfte sind entsprechend der Forderung der Doktrin defensiv. Dieser Charakter ergibt sich aus der Motivation der Kampfhandlungen, nicht aus ihrer Art. Diese Behauptung steht in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu dem Kriegsziel, den Angreifer zu „zerschlagen“ oder -wie es auch in der Berliner Erklärung heißt — ihm eine „vernichtende Abfuhr“ zu erteilen. Jazov kann sich somit auf die höchste politische Autorität des Warschauer Paktes berufen. Da ein Verlust des eigenen Territoriums nicht zugelassen werden soll, kann natürlich das Ziel der Zerschlagung des Gegners nur auf dessen eigenem Gebiet stattfinden. Das Prinzip der Hinlänglichkeit, von dem ebenfalls in der Berliner Erklärung die Rede ist, hat im Lichte dieser Zielsetzung natürlich eine ganz andere Bedeutung, als wenn ausschließlich Verteidigungsoperationen erforderlich sind. Mit einem Satz: Die Forderung nach Sieg in der sowjetischen Doktrin hat notwendigerweise den Offensivcharakter der Strategie zur Folge. Das entsprechende Ziel der NATO-Doktrin ist hingegen nur, den Gegner von einem Angriff abzuschrecken oder die Integrität des Bündnisgebietes wieder herzustellen. Dementsprechend sind ihre Streitkräfte strukturiert, und nur dafür reichen sie hin. Doktrin und Strategie sind defensiv.

Bemerkenswerterweise gibt es in der Sowjetunion auch eine andere Sicht der eigenen Strategie, die aus einem Aufsatz hervorgeht, der im August 1987 unter den Namen von V. Larionov und A. Kokoshin, dem stellvertretenden Leiter des USA-und Kanada-Institutes, in der Zeitschrift MEMO erschien („Die Kursker Schlacht im Lichte der heutigen Verteidigungsdoktrin“). Larionov und Kokoshin gehen offensichtlich davon aus, daß der von der Berliner Erklärung geforderte Defensivcharakter der Strategie auf sowjetischer Seite noch nicht gegeben ist.denn sie sprechen von der „Realisierung des defensiven Charakters der Militärdoktrin“. Diese setze entsprechende Maßnahmen in all den Bereichen voraus, die auch das westliche Abrüstungskonzept anspreche und erfordere eine Verringerung der Streitkräfte „bis zur Grenze von vernünftiger Hinlänglichkeit“, was bedeutet, daß sie diese heute überschreitet. „Die bisher vorhandene Überzeugung, daß nur ein entschlossener Angriff zum Sieg führt“, wird von den Autoren zwar explizit nur für den Nuklearkrieg zurückgewiesen, aus dem Gesamtzusammenhang ihrer Ausführungen geht jedoch unzweideutig hervor, daß sie für eine Defensivstrategie in jeder Art von Krieg eintreten.

Um die Bedeutung dieser Auseinandersetzung richtig einzuordnen und um die Chancen für einen Erfolg der konventionellen Abrüstungsverhandlungen abzuschätzen, muß man sich darüber im klaren sein, was es für die Sowjetunion bedeutete, wenn sie ihre militärische Überlegenheit in Europa auf-gäbe. Diese hat für sie immer die politische Funktion gehabt, ihre geo-strategisch bedingte globale Unterlegenheit durch eine regional-strategische Überlegenheit in Europa auszugleichen. Neben der Parität bei den strategischen Waffen macht diese Position in Europa gewissermaßen die Hälfte der sowjetischen Weltmachtrolle aus, die — was man nicht übersehen darf — nur auf dem Militärischen beruht. Das Prinzip gleicher Sicherheit in Zukunft für Europa anzuerkennen und zu praktizieren, setzt also die Bereitschaft der Sowjetunion voraus, ihre Weltmachtrolle und ihre europäische Rolle bzw. das Verhältnis zwischen diesen beiden Rollen neu zu bedenken und zu gestalten. Übrigens müßte das auch im Westen entsprechende Überlegungen zur Folge haben.

Unverkennbar gibt es Gründe für die sowjetische Führung, einen solchen Prozeß einzuleiten. Es reicht auf Dauer nicht, nur eine Militärmacht zu sein, um eine moderne Weltmacht zu sein. Wirtschaftlich-technologische Potenz wird immer wichtiger. Wenn es der Sowjetunion nicht gelingt, ihre Leistungskraft auf diesem Felde zu steigern, läuft sie Gefahr, auch ihre militärische Stärke auf Dauer nicht aufrechterhalten zu können. Die gewaltigen Rüstungslasten drücken, zumal diese, gemessen am Bruttosozialprodukt, 2, 5— 3mal höher sind als die der USA. und das sowjetische Bruttosozialprodukt zudem um etwa die Hälfte geringer ist als das amerikanische. Doch auch den Westen bedrückt die finanzielle Last. Die USA sind hoch verschuldet, nicht zuletzt wegen ihrer hohen Rüstungsausgaben in den vergangenen acht Jahren. Die Bundeswehr hat Probleme mit der demographischen Entwicklung in der Bundesrepublik. Zudem wächst der Druck der öffentlichen Meinung.

So ist die Versuchung für die Sowjetunion nicht gering, ihre derzeitige Überlegenheit in Europa auf niedrigerem Niveau mit geringeren Kosten und mit anderen Mitteln, das heißt mit denen der Abrüstung, einer geschmeidigeren Diplomatie und der Beeinflussung der öffentlichen Meinung des Westens perpetuieren zu wollen.

Ob die Sowjetunion sich für diese oder die andere Option wirklich gleicher Sicherheit in Europa entscheidet, hängt nicht nur von ihr ab, sondern ebenso davon, ob der Westen eine konstruktive, schöpferische Antwort auf die Herausforderung des sowjetischen Wandels findet, ob er Festigkeit mit Bereitschaft zum Entgegenkommen zu verbinden vermag und vor allem davon, ob es den Europäern gelingt, ihre Kräfte — ihre politischen wie ihre militärischen — zu vereinen.

Fussnoten

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