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Über die Europäisierung Amerikas | APuZ 52/1987 | bpb.de

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APuZ 52/1987 Artikel 1 Ist Amerika konservativ? Über die Europäisierung Amerikas Aktuelle Spannungsfelder in den amerikanisch-europäischen Wirtschaftsbeziehungen US-Asienpolitik: ASEAN als Partner und Verbündeter

Über die Europäisierung Amerikas

Gero Lenhardt

/ 38 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die USA stehen in dem Ruf besonderer Fortschrittlichkeit. Auf dem Weg in die Massengesellschaft atomisierter Individuen scheinen sie uns ein paar Schritte voraus zu sein. Dieser nicht selten chauvinistisch getönten Meinung liegen folgende Fehleinschätzungen der amerikanischen Verhältnisse zugrunde: Der Fortschrittsglaube und der Individualismus der Amerikaner sind nicht Ausdruck eines kulturellen Auflösungsprozesses. Sie sind vielmehr Ausdruck einer Geschichte, an deren Beginn eine erfolgreiche bürgerliche Revolution steht und deren Ergebnisse bis heute durch eine höchst wirksame Religiosität gestützt werden. Eine Skizze des amerikanischen religiösen Lebens zeigt, daß es nach Intensität. Dogmen und Organisationsformen in Europa kaum eine Parallele hat. Die USA gelten als das kapitalistische Land par excellence. Die Amerikakritik geht von der Vorstellung aus. daß die Kommerzialisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse für die beklagenswerten Erscheinungen der Massengesellschaft verantwortlich sei. Tatsächlich ist jedoch die gesellschaftliche Entwicklung schon längst nicht mehr durch die Ausweitung des Tauschprinzips bestimmt, sondern durch den Fortschritt des Bürokratisierungsprozesses. Kapitalkonzentration und das Vordringen des Staatsinterventionismus haben bürgerliche Autonomie zerstört, die Individuen gleichgeschaltet und voneinander isoliert. Gegenüber den Kräften der Gesellschaft sind die staatlichen Bürokratien der USA aber stets viel schwächer gewesen als diejenigen Europas, und deswegen ist die Bürokratisierung der Lebensverhältnisse dort langsamer vorangekommen als hier. Die bürgerlich-individualistische Tradition und der amerikanische Protestantismus bieten einen gewissen Schutz gegen die entpersönlichenden Wirkungen des Bürokratisierungsprozesses. So scheint es. als wären wir die Vorreiter auf dem Entwicklungspfad der bürokratischen Gesellschaft. und die Amerikaner die darin rückständige Nachhut.

I. Elemente deutscher Amerikabilder

Mag sie Mag sie nicht Unentschieden oder keine Antwort Frage: „Mögen Sie eigentlich die Amerikaner, oder mögen Sie sie nicht besonders?“ (Mai 1985) Gesamtbevölkerung 52 18 30 100 (in Prozent) CDU/CSU Quelle: E. P. Müller. Antiamerikanismus in Deutschland. Köln 1986. S. 40. 64 11 25 100 SPD 46 26 28 100 FDP 64 15 21 100 DIE GRÜNEN 36 31 33 100 Das Amerikabild nach parteipolitischer Affinität

Vorstellungen, die in der Bundesrepublik Deutschland über die USA verbreitet sind, haben in den vergangenen Jahren vermehrt die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Entsprechende Debatten wurden ausgelöst von den militärpolitischen Kontroversen um den NATO-Doppelbeschluß und die Nachrüstung. Die Befürworter der Nachrüstung warfen deren Kritikern auf der linken Mitte des politischen Spektrums Antiamerikanismus vor. Letztere revanchierten sich, indem sie den Exponenten der rechten Mitte Vasallentreue gegenüber den USA und die Mißachtung sogenannter deutscher Interessen ankreideten. Das deutsch-amerikanische Verhältnis avancierte so zum Prüfstein politischer Tugenden. Inzwischen sind die Vorwürfe des Antiamerikanismus und der vaterlandslosen Vasallentreue für die propagandistische Selbst-inszenierung der Parteien unbrauchbar geworden. Die sowjetisch-amerikanischen Abrüstungsinitiativen haben die vormaligen Freunde der amerikanischen Politik enttäuscht, während die ehemaligen Opponenten des Nachrüstungsbeschlusses ihre Abrüstungsinteressen jetzt auch bei den USA gut aufgehoben fühlen könnten.

Daß Einstellungen gegenüber den USA als Ausweis politischer Tugenden verstanden werden, hat in Deutschland eine lange Geschichte. Im Mittelpunkt deutscher Amerikabilder steht dabei seit jeher der westliche Individualismus. Die Maßstäbe, an denen er gemessen wird, ergeben sich aus den jeweils vorherrschenden Einstellungen gegenüber der Demokratie und der Marktwirtschaft -Die antidemokratische Rechte hat ebenso wie die kommunistische Linke die USA stets unter einem abwertenden Blickwinkel betrachtet. Die feudalistisch-reaktionäre Rechte, das deutsch-national gesonnene Bürgertum und das Bildungsbürgertum einschließlich der meisten Intellektuellen haben der liberalen Demokratie und dem Kapitalismus stets mißtraut und folglich auch jener Gesellschaft, in der beide, so wie in kaum einer anderen, institutionalisiert sind Antiindividualistische Motive kennzeichnen auch den Kommunismus in seiner leninistischen Variante. Der Amerikanismus als Utopie eines Vereins freier Menschen ist hier stets auf Ablehnung gesto-ßen. Die USA-Kritik der neuen Linken ist ganz anders gerichtet als die des dogmatischen Kommunismus. Sie zielt nicht auf diese Utopie, sondern darauf, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Realisierung im Wege stehen. Entsprechende Analysen thematisieren deswegen auch nicht die nationalen Spezifika der amerikanischen Gesellschaft, sondern deren ökonomische Grundstruktur, die derjenigen der Bundesrepublik und anderer westlicher Staaten grundsätzlich gleicht.

Die rechte Mitte in Deutschland rühmt sich heute ihrer politischen Nähe zu den USA und befürchtet davon nicht mehr Dekadenz und nationalen Substanzverlust. Die linke Mitte hat zahlreiche Verhaltenselemente der amerikanischen Tradition in sich aufgenommen und erblickt im westlichen Individualismus nicht mehr einen Gegensatz zu sozialistischen Utopien, sondern fordert eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse gerade im Namen jener Tradition. Diese beiden politisch-kulturellen Trends, die kennzeichnend sind für die Bundesrepublik Deutschland, haben den Antiamerikanismus zu einer bloßen Randerscheinung gemacht. Daß er kein Massenphänomen mehr ist. zeigen auch Meinungsumfragen. Wie immer deren Aussagekraft zu veranschlagen ist. auf antiamerikanische Ressentiments lassen sie nicht schließen. „Mögen Sie eigentlich die Amerikaner oder mögen Sie sie nicht besonders?“ So fragte das Allensbacher Institut für Demoskopie im Jahre 1985 einen Querschnitt der Bevölkerung und erhielt folgende Antworten:

(siehe Tabelle auf derfolgenden Seite).

Nur eine kleine Minderheit äußerte. Amerikaner nicht besonders zu mögen. Am ehesten neigten noch Sympathisanten der GRÜNEN zu dieser distanzierten Einstellung. In dieser Distanz mögen sich vereinzelt auch Motive eines Antiamerikanismus äußern. Bei der Interpretation dieser Daten ist aber das Folgende zu bedenken: Die Sympathisanten der GRÜNEN bilden in ihrer Mehrheit eine Subkultur, in der die Errungenschaften der amerikanischen Massenkultur vermutlich höher geschätzt werden als in irgendeiner anderen sozialen Gruppe. Die alternative Gegenkultur ist fasziniert von amerikanischen Umgangsformen, von amerikanischer Musik, von legerer Kleidung, und sie praktiziert mit ihren sit-ins. go-ins. teach-ins Formen politischer Auseinandersetzung, die in den USA ihren Ursprung haben. Die Gleichzeitigkeit dieser kulturellen Vorlieben für Amerikanismen und einer kritischen Haltung gegenüber der amerikanischen Außenpolitik lassen es nicht zu. die politische Distanz der Grün-Alternativen gegenüber den USA einfach als Antiamerikanismus zu charakterisieren. Ironischerweise hat die schon in den fünfziger Jahren unruhige Jugend ihre Vorliebe für Amerikanismen gegen die Anwälte kultureller Restauration durchgesetzt, die sich — damals nicht anders als heute — als Freunde der USA ausgaben. Die zitierte Meinungsumfrage zeigt auch: Der Antiamerikanismus als Kehrseite der konservativen Sorge um nationale Werte hat heute auch bei CDU-Anhängern keine Basis mehr.

Zuverlässiger als Meinungsumfragen indiziert die kulturelle Alltagspraxis das Verhältnis des breiteren Publikums zur amerikanischen Massenkultur. Hier versucht man. es sich wohlsein zu lassen bei amerikanischen Fernsehserien. Musik. Freizeit-mode. Hamburgern. Coca-Cola und anderen Errungenschaften. die für die amerikanische Lebens-art stehen. Daß sich so viele Menschen in Deutschland — wie übrigens auch in zahlreichen anderen Ländern — von diesem Lebensstil angezogen fühlen. hat vielfältige Ursachen. Eine davon wird deutlich. wenn man fragt, welche Umgangsformen durch die amerikanische Massenkultur abgelöst werden. Vergleicht man den Aufenthalt in einer Verkaufsstelle für Hamburger und in einem Restaurant älteren Typs, dann gewinnt man eine Idee davon. Beim Verzehr von Hamburgern sind keinerlei Normen einer ständischen Lebensführung zu beachten. Die Frage, wie man sich benimmt, und damit die Sorge, daß der öffentliche Auftritt mißlingen könnte, brauchen deswegen hier niemanden zu beunruhigen. Hier spürt jedermann, daß er ausschließlich nach Maßgabe seiner Kaufkraft bedient wird, und daß Preis und Gegenleistung, die Aufmerksamkeit der Bedienung eingeschlossen, ausschließlich dem Tauschprinzip folgen. Die Verhältnisse sind zwar hoch standardisiert, aber egalitär. Niemand wird ständisch diskriminiert, und jedermann wird wegen seiner Kaufkraft ernst genommen. Das vom Profitinteresse motivierte Bemühen, es dem Kunden recht zu machen, gleichviel welcher sozialen Kategorie er zugehörig ist. wird offenkundig als attraktiv empfunden. Das zeigt sich nicht zuletzt an der besonderen Vorliebe, mit der Kinder sich hier bedienen lassen. Sie, die andernorts in Deutschland noch immer nicht recht ernst genommen werden, spüren sehr gut, daß sie in den Hamburger-Ketten zählen und den Erwachsenen gleichgestellt sind.

Der Schnellimbiß taugt als Beispiel, um noch eine andere Seite des wirtschaftlichen Fortschritts der USA hervorzuheben. Das ökonomische Tausch-prinzip hat mit den Normen ständischer Lebensführung und Abhängigkeiten gebrochen. Aber dadurch ist der Weg nicht nur frei geworden für individuelle Selbständigkeit, sondern auch für die Ausbildung privatwirtschaftlicher und staatlicher Groß-organisationen. Sie nehmen immer mehr Lebensbereiche in ihren bürokratischen Griff. Die Hamburger-Ketten stehen an der Spitze dieses Fortschritts: Die Herstellung der Hamburger folgt zentralisierter Kontrolle, das Produkt ist standardisiert, ebenso wie die Art des Verzehrs und das Bedürfnis, das es erzeugt. Die Fremdbestimmung von Arbeit und Konsum, die hier so sinnfällig werden, ist weltweit, auch wenn sie im öffentlichen Bewußtsein allein für die amerikanische Lebensart steht.

So scheinen uns die Amerikaner aufdem Weg in die kommerzialisierte Massengesellschaft atomisierter Individuen ein paar Schritte voraus zu sein: Mehr als andernorts, so glauben wir. sind hier soziale Bindungen und Solidarität individualistischer Entwurzelung zum Opfer gefallen. Der Sinn für höhere Werte, so scheint es. ist hier besonders radikal der engherzigen Kalkulation von Vor-und Nachteilen geopfert, die Kultivierung der Sinne hat ihre Grundlagen verloren im flachen Massenkonsum. Amerikaner gelten uns als technizistische Draufgänger und hemmungslose Konsumfetischisten, die. weil sie den Sinn für Tradition verloren haben, bedenkenlos auf alles Neue setzten, wenn es nur effizienter und profitreicher ist als das Alte oder den oberflächlichsten Genüssen dient. Die amerikanischen Verhältnisse gelten in all diesen Hinsichten als die fortgeschrittensten.

Das Bild des amerikanischen Vorreiters auf dem Weg bürgerlicher Selbstzerstörung kann sich darauf berufen, daß sich das privatwirtschaftlich organisierte Wirtschaftssystem in den USA früher durchsetzen konnte als in Deutschland und dabei auf viel weniger Widerstände stieß. Mit den vorbürgerlichen Herrschaftsverhältnissen hatten die ersten Siedler innerlich und äußerlich radikal gebrochen. Sie waren von der Utopie einer bürgerlichen Gesellschaft beseelt, in der jeder sein Glück machen könne. Mißtrauen gegenüber staatlicher Macht und Vertrauen in die Kräfte des Individuums wurden zur politischen Tugend, und der freie Markt schien beiden bestens zu entsprechen

Das in Deutschland so verbreitete kulturkritische Bild der USA enthält nicht nur plausible Elemente, sondern auch solche, die der Realität gänzlich unangemessen sind. Denn die Entwicklung der westlichen Gesellschaften folgt einem anderen Pfad als dem. auf dem wir die Vereinigten Staaten als Vor-reiter zu erkennen glauben. Die beklagten Phänomene westlicher Kulturdestruktion sind an erster Stelle nämlich nicht bedingt durch die Ausweitung des Tauschprinzips als gesellschaftlicher Organisationsform. sondern durch die Bürokratisierung der Lebensverhältnisse.

Das marktwirtschaftliche System freier Verträge zwingt die Tauschpartner zur wechselseitigen Anerkennung ihrer Bedürfnisse und Interessen und wurde deswegen, zusammen mit der demokratischen Öffentlichkeit und der bürgerlichen Familie zur Grundlage individueller Autonomie. An den Tauschverhältnissen hat man zu Recht kritisiert, daß sie die Individuen in ein Verhältnis bringen, in dem sie sich wechselseitig zur Ware werden, sich also wie Sachen behandeln. Die Versachlichung der sozialen Beziehungen, die mit dem Tauschprinzip institutionalisiert ist. wird aber übertroffen von derjenigen. die die Bürokratien erzwingen In der Kultur des Tauschens und des Gewinnes ist es legitim. daß die Beteiligten ihre Interessen anmelden, auch wenn diese Interessen entfremdete sind. In der bürokratischen Kultur des Fachmenschentums ist aber nicht einmal dies mehr erlaubt. Der Fachmann muß sich rein sachlich verhalten, eigene Interessen zurückstellen und sich in selbstvergessener.fragloser, mechanischer Disziplin in den Dienst einer Sache stellen. Die Entwicklung der westlichen Gesellschaften zeichnet sich dadurch aus. daß private. vor allem aber staatliche Großbürokratien auf Kosten marktförmiger Tauschbeziehungen an Bedeutung gewinnen. Hierin und nicht, wie häufig unterstellt, in der Kommerzialisierung der sozialen Verhältnisse besteht der gesellschaftliche Fortschritt.

Die Ausweitung der Bürokratien hat nicht nur ständische Restriktionen zerstört, sondern auch bürgerliche Selbständigkeit, wo sie einmal entstanden war. An ihrer Stelle sind andere soziale Existenz-formen getreten, die des abhängig Beschäftigten, des Kunden, des Klienten und Mitglieds großer Bürokratien. Sie lassen dem einzelnen wenig Einflußmöglichkeit und deswegen auch wenig Veranlassung für die Kultivierung weiterreichender Engagements. Von dem bürgerlich revolutionären Gedanken individueller Autonomie ist kaum mehr geblieben als der Rückzug der Individuen auf die allerunmittelbarsten Eigeninteressen. Die Hoffnung auf Emanzipation ist zusammengeschrumpft auf den Glauben an technischen Fortschritt und wachsenden Konsum.

In der bürokratischen Versachlichung der sozialen Beziehungen stimmt das Wirtschaftssystem der USA mit dem der Bundesrepublik Deutschland überein. Aber worin sich beide Kulturen unterscheiden. ist nicht amerikanische Traditionslosigkeit und kulturelle Stabilität auf Seiten der bundesdeutschen Gesellschaft. Was uns am spezifisch amerikanischen Verhalten als Ausdruck massengesellschaftlicher Traditionslosigkeit erscheint, ist in Wahrheit gerade traditionsbestimmt. Und diese individualistische Tradition bietet einen gewissen Schutz gegen die entpersönlichenden Wirkungen der bürokratischen Gesellschaft. Diese Tradition ist aber in den USA mit ihren radikal demokratischen Ursprüngen bedeutungsvoller gewesen als in Europa. Gegenüber den Kräften der Gesellschaft sind die staatlichen Bürokratien der USA stets viel schwächer gewesen als diejenigen Europas, und deswegen ist die Verstaatlichung der Lebensverhältnisse dort viel langsamer vorangekommen. So scheint es. als wären wir die Vorreiter auf dem Entwicklungspfad der bürokratischen Gesellschaft und die Amerikaner die darin rückständige Nachhut.

Die Stabilität amerikanischer Traditionen entgeht dem deutschen Auge leicht. Denn wir legen dem an Amerikanern beobachteten Verhalten einen Sinn bei. wie er uns aus unseren eigenen Erfahrungen vertraut ist. Diesen Sinn gewinnen wir aus den in Deutschland geltenden kulturellen Bedeutungen und Normen. Die unterscheiden sich aber gerade von dem. was den spezifischen Charakter der amerikanischen Kultur ausmacht. Die folgenden Be-B richte machen dies deutlich. Sie zeigen zum einen, wie sehr sich die Verhältnisse in den USA und in der Bundesrepublik Deutschland gleichen. Sie verdeutlichen zugleich spezifische Differenzen, die sich aus unterschiedlichen Traditionen ergeben. Sie werfen ein Licht auf die Tradition eines radikalen Individualismus und auf politische Utopien, die selbst die Forderungen grüner Fundamentalisten als „ausgewogen“ und einfallslos erscheinen lassen. Sie zeigen auch, wie die bürokratische Staatsmacht ihnen ein Ende setzt. Man kann das in allen Bereichen des amerikanischen Alltags erkennen. Hier soll allein vom religiösen Leben und von Schulen die Rede sein.

II. Die frommen Revolutionäre

Vergleicht man die bundesdeutsche mit der amerikanischen Gesellschaft, dann sind die Gleichartigkeiten der beiden unübersehbar. Faßt man die Differenzen zwischen beiden ins Auge, dann ist an hervorragender Stelle der amerikanische Traditionalismus zu nennen. Das wird greifbar im religiösen Leben der Amerikaner. Es unterscheidet sich von dem deutschen durch Intensität, organisatorische Formen und die Inhalte der religiösen Überzeugungen.

Das religiöse Leben in den USA ist von einer Intensität. die in der Bundesrepublik Deutschland nicht ihresgleichen hat. Ein Zerrbild davon ist bei uns durch die Berichte über den protestantischen Fundamentalismus entstanden. Derartige fundamentalistische Wiedererweckungsbewegungen hat es in den USA immer wieder gegeben; sie sind die Reaktion des ländlichen und kleinbürgerlichen Amerika aufdie Liberalisierungstendenzen der verstädterten Mehrheit. Die politische Bedeutung der lautstarken Fundamentalisten wird aber weithin überzeichnet. Seit dem Höhepunkt der konservativen Welle 1981 sind sie in Schwierigkeiten geraten, teils, weil die Beiträge nicht mehr so großzügig fließen, teils, weil ihre Einpeitscher sich moralisch diskreditiert haben, und teils, weil die Konflikte zwischen religiösen und weltlichen Konservativen das Fassungsvermögen der Republikanischen Partei zu sprengen drohen.

Weniger fernsehwirksam, aber insgesamt doch um so wichtiger, sind die lokalen religiösen Gemeinden. Amerikaner sind im allgemeinen Mitglied einer örtlichen Religionsgemeinschaft, die mit freiwilligen Beiträgen unterhalten wird. Diese örtlichen Gemeinden schließen sich einer Vielzahl religiöser Vereinigungen an. Im Jahre 1984 gab es mehr als 338 000 solcher Organisationen.

Ein Licht auf das religiöse Engagement der Amerikaner werfen auch internationale Vergleiche. Umfragen zufolge besuchen fast die Hälfte der Amerikaner. aber nur weniger als 10 Prozent der Bundesdeutschen sonntags regelmäßig einen Gottesdienst. Eine Gallup-Umfrage ergab, daß 41 Prozent der Amerikaner mit Coliegeabschluß „in der vergangenen Woche einen Gottesdienst besucht“ hatten; der entsprechende Anteil der Befragten ohne Highschoolabschluß betrug 38 Prozent, die Anteile der übrigen Bildungsgruppen lag dazwischen. 81 Prozent der Collegeabsolventen glauben. Gott sei ein himmlischer Vater, zu dem man mit Gebeten vordringen könne, von den Befragten ohne Highschoolabschluß waren sogar 93 Prozent dieser Meinung. 22 Prozent der Collegeabsolventen berichteten von persönlichen Wiedererweckungserlebnissen. unter denen ohne Highschoolabschluß waren es sogar 40 Prozent. Interessant ist. daß religiöses Engagement besonders stark entwickelt ist unter Protestanten und nicht, wie bei uns. unter den Katholiken

Kennzeichnend für die Organisation des religiösen Lebens in den USA sind, anders als in Deutschland, nicht staatlich privilegierte und hoch bürokratisierte kirchliche Organisationen mit politischen Machtansprüchen. Die Amerikaner kennen zwar auch Kirchenanstalten — die katholische Kirche versammelt heute in den USA die größte einzelne Glaubensgemeinschaft; sie ist aber die Kirche der gesellschaftlich nicht so erfolgreichen Minderheiten.der irischen, italienischen, polnischen und lateinamerikanischen Einwanderer. Bestimmend für den religiösen Geist ist die Koexistenz von 250 teilweise sehr kleinen Sekten. Sie fühlen sich gewissermaßen alle als Außenseiter. Sie sind zumeist protestantisch. Obwohl sie nicht einmal die Mehrheit der gläubigen Christen versammeln, strahlt ihr Geist auf die Gesellschaft als Ganzes aus. Den Sekten fehlt die Privilegierung durch den Staat, die für unsere Kirchenanstalten typisch ist, und sie treten dem einzelnen nicht als mächtige Bürokratien entgegen, die unabhängig von den persönlichen Wünschen oder Überzeugungen der Mitglieder über Glaubensfragen befinden. Das Gemeindeleben der Sekten steht und fällt vielmehr mit dem individuellen Engagement der Gläubigen. Vor den Gemeindemitgliedern, und nicht vor bürokratischen Amtsinhabern. will sich der einzelne Gläubige in seinem Lebenswandel bewähren. Auch in den USA sind Sekten im strengen Sinne zur Ausnahme geworden. Daß Individuen ihren Lebenswandel völlig religiösen Normen unterwerfen und in der Welt, aber* nicht für die Welt leben wie Mennoniten, Amish und einige andere, ist eine Ausnahme. Wichtig ist aber, daß kirchliche Bürokratien in den USA eine sehr schwache, die Individuen im Gemeindeleben dagegen eine sehr starke organisatorische Stellung einnehmen. In der Bundesrepublik Deutschland ist es dagegen gerade umgekehrt.

Entscheidend sind die Differenzen zwischen den religiösen Dogmen der kirchlichen Anstalten und denjenigen, denen die vom Sektenprotestantismus inspirierten Gemeinden anhängen. In den Augen der amerikanischen Protestanten ist das Verhältnis zwischen Gott und Individuum ein ganz persönliches. Der Gedanke kirchlicher Anstaltsgnade ist ihnen fremd. Gott offenbart sich nicht durch amtliche Sachwalter, sondern ganz unmittelbar im Gewissen des einzelnen. Und der einzelne ist ausschließlich seinem wohlerforschten Gewissen verpflichtet. Auf den Inhalt der Gebote, die das individuelle Gewissen anmeldet, kommt es in den radikaleren Sekten, etwa bei den Quäkern, unmittelbar nicht an. Gott offenbart sich den einzelnen Individuen in verschiedener Weise — und deswegen erscheint es ihnen nur als natürlich und legitim, wenn Gemeindemitglieder auch gegensätzliche Normen vertreten. Das individuelle Gewissen erfährt dadurch eine ungeheure Aufwertung und wird zur Instanz höchster Autorität. Die göttliche Ordnung wird zur Privatsache des individuellen Gewissens und nicht der anstaltskirchlichen Obrigkeit.

Dieser basisdemokratische Zug des religiösen Lebens in Gemeindeorganisation und Dogma gewinnt im gesellschaftlichen Alltag an Gewicht, weil die amerikanischen Protestanten vor allem „brauchbare (useful) Christen“ sein wollen. Sie fühlen sich aufgerufen, tatkräftig an der Errichtung des Gottes-reiches auf Erden mitzuwirken. Diese instrumentalistische Orientierung sticht scharf ab von der subjektivistischen des Luthertums, das dem Gläubigen die Wendung der religiösen Aufmerksamkeit nach innen empfiehlt. Hier geht es stärker um Anstrengungen zur Rettung der Seele als um brauchbare Beiträge zur Errichtung des Gottesreiches. In der calvinistischen Tradition können nach innen gerichtete Aktivitäten zur Rettung der Seele kaum entstehen. Denn hier gilt das Prädestinationsdogma, demzufolge Gott in unumstößlichem Ratschluß über die Verteilung seiner Gnade entschieden hat, ohne daß die einzelnen darauf irgendeinen Einfluß hätten. Das zweite Ziel der christlichen Tradition, die Implementierung christlicher Werte in der Welt, erfährt dadurch einen entscheidenden Bedeutungszuwachs. Immerhin hat der amerikanische Protestantismus in Abweichung vom Calivinismus den Gläubigen doch noch einen Weg nachgewiesen, wie der individuelle Gnadenstand beeinflußt werden könne: nicht durch gute Werke wie im Katholizismus. sondern — dem Luthertum ähnlich — durch festen Glauben. Wer fest glaubt, wird der Gnade teilhaftig, und wer der Gnade teilhaftig ist. ist befähigt, wirkungsvoll am Gottesreich mitzuarbeiten Ein auf die Welt gerichtetes instrumentelles Engagement wird so zum Medium religiöser Bewährung. Die Attraktivität, die technische Superlative und Utopien in den USA finden, hat hier ihre religiösen Wurzeln.

Daß mit dem Anbruch des Gottesreiches auf Erden unmittelbar gerechnet werden könne, wenn sich nur alle Menschen gehörig dafür anstrengten, ist eine Vorstellung, die die amerikanischen Protestanten immer wieder erfüllt. Die derzeit bloß im Fernsehen aktiven Fundamentalisten oder Reagans Visionen vom letzten Kampf zwischen dem Reich des Guten und dem des Bösen sind Beispiele für diese Endzeitvorstellungen. Sucht man nach einer Parallele in Europa, dann liegt es nahe, die revolutionären Hoffnungen des radikalen Sozialismus — etwa dem von Rosa Luxemburg — mit den christlichen Endzeitvorstellungen der Amerikaner zu vergleichen. Die Bürokratien der Sozialdemokratie, der Kommunisten-Leninisten.der Gewerkschaften und vor allem die des Staatssozialismus haben diesen Geist fast erlöschen lassen. Im Hinblick auf das individuelle Engagement gleichen sie also unseren Kirchenanstalten.

So hat die Emanzipation der Individuen im amerikanischen Protestantismus eine bis heute noch wirksame Stütze gefunden, während sie in Deutschland den Katholizismus und das Luthertum eher zum erbitterten Gegner hatte. Die Spuren der Religiosität findet man im amerikanischen Alltag allerorten. und zwar nicht in der Form von Machtansprüchen. die Kirchenanstalten erheben, sondern in individuellem Engagement und in verbreiteter Skepsis gegenüber den Ansprüchen politischer und ideologischer Großbürokratien.

III. Die Verstaatlichung des Bildungssystems

Anders als die deutschen Konservativen zeichnen sich die amerikanischen Konservativen durch einen basisdemokratischen Zug aus; und der rückt die deutschen Grün-Alternativen, die soviel amerika-kritische Vorbehalte anmelden, in die Nähe der demokratischen Tradition der USA.

Gewiß, die amerikanischen Konservativen verknüpfen mit dem freien Markt viel größere Hoffnungen als dieser tatsächlich erfüllen kann. Die Freiheit, die dieses Wirtschaftssystem eröffnet, ist nur eine formale, so die Kritik, während der Markt materielle Zwänge begründet, die in der Abhängigkeit der Arbeitenden vom Einkommen, in ökonomischen Krisen und Arbeitslosigkeit und in Zerstörungen der Umwelt greifbar werden. Was der freie Markt den Individuen schuldig bleibt, soll ihnen der Staat verschaffen. Das ist das Credo der Linken. Aber der Staatsinterventionismus ist gleichbedeutend mit der Bürokratisierung von immer mehr Lebensverhältnissen. Für ein gewisses Maß an materieller Sicherheit handelt man sich individuelle Ohnmacht gegenüber staatlichen Großbürokratien ein. Die westlichen Gesellschaften haben bis heute keinen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden. Es scheint, als bilde die Verstaatlichung der Lebensverhältnisse den Fluchtpunkt einer gesellschaftlichen Entwicklung, der sich alle zu fügen haben. Konfrontiert mit den Alternativen marktwirtschaftlicher oder staatsbürokratischer Abhängigkeit, akzeptieren Amerikaner weniger leicht und nicht so selbstverständlich die Verstaatlichung ihrer Lebensverhältnisse wie Sozialdemokraten und Konservative in Deutschland.

Mit dem Vorrücken der Bürokratien des sozialen Interventionsstaats aber gleichen sich die amerikanischen Lebensverhältnisse den europäischen an. Der Unterschied zwischen Westeuropa und den USA.der vor allem darin bestand, daß bürgerliche Freiheit in den USA viel radikaler verwirklicht war als in Europa, ist im Schwinden begriffen. An der bildungspolitischen Entwicklung wird das deutlich.

Schulen in den USA sind von Bürgern begründet worden und wurden von ihnen als Mittel gegen die Staatsmacht verstanden. Die Spuren der feudalen und deswegen korrupten Verhältnisse Europas sollten abgeschüttelt werden. Die Bürgerschulen sollten die Fesseln des Traditionalismus, der Unfreiheit und der Sünde sprengen. In den Herzen und Köpfen der Individuen — und nicht in der Staatsmacht — sollte die neue Gesellschaft ihre Einheit finden. Und wenn die Erziehung der jungen Generation vollendet sei. dann werde Jesus Christus herabsteigen und sein ewiges Reich beginnen. Den Beginn des Gottesreiches erwarteten die Anhänger dieser millenarischen Bewegungen in Zeiträumen. die nicht länger waren als jene, die Marx in Europa für das Eintreten der sozialistischen Revolution veranschlagt hatte.

So sind die Ursprünge des Erziehungssystems, streng genommen, nicht kapitalistisch, sondern bürgerlich revolutionär. Sie folgten nicht der Urbanisierung und Industrialisierung, sondern gingen ihr voraus. Das zeigt sich daran, daß die Entwicklung der Schulen in den ländlichen Gebieten des Nordens und Westens schneller vorankam als in den Städten. Dabei expandierten die Schulen um so erfolgreicher, je größer der Anteil evangelischer Protestanten und je geringer derjenige der Katholiken an der regionalen Bevölkerung war. Die ökonomischen Grundlagen, auf denen das Bildungssystem seine Entwicklung begann, sind privates Kleineigentum, agrarische Produktion nicht für den Eigenbedarf, sondern für den Markt und ein Wirtschaftsverhalten. das nicht bäuerlich-traditionalistisch orientiert ist. sondern planmäßig Kriterien technischer und ökonomischer Effizienz folgt. Dem entsprechen die protestantischen Tugenden der Nüchternheit, der Mäßigung und Ordnung, des sparsamen Umgangs mit Zeit und Geld, der religiös begründete Anspruch auf individuelle Autonomie und die unanfechtbare Autorität des eigenen wohl-erforschten Gewissens.

Die bildungspolitischen Träger dieser Vorstellungen einer individualistischen politischen Kultur mit rationalen und universalistischen Prämissen waren Akteure ohne staatliche Ämter, aber mit persönlichem Engagement. Es waren Vereinigungen und Bewegungen mit antibürokratischen und antistaatlichen Gefühlen. In ihren Augen war die zu verwirklichende Nation eine Geisteshaltung und nicht eine staatsbürokratische Macht. Es erschien ihnen nur allzu natürlich, daß religiöse Führer. Missionare. Bürger und Politiker sich zu einer Bewegung zusammenschlossen, um gemeinsam Schulen zu gründen. Was sie zusammenhielt, war nicht die Macht und die Autorität des Staates, sondern ihr gemeinsames Bewußtsein von Gottes Geboten und der Anspruch auf eine rationale menschliche Ordnung. Und es ging ihnen nicht um partikularistische Statusinteressen für ihre Kinder, sondern um nichts weniger als die Errichtung des Gottesreiches als Gesellschaft für alle Kinder. Darin sahen sie ihre eigenen Interessen aufgehoben. Dieser Geist hatte in der an Europa orientierten Plantagenwirtschaft des Südens kein Pendant, und deswegen hat es dort auch keine Schulbewegung gegeben Seit der revolutionären Frühzeit Amerikas sind dieser charismatischen Schulbewegung bürokratische Zügel angelegt worden. So wie in anderen Lebensbereichen auch, ist bürgerliche Selbstorganisation staatlicher Bürokratie gewichen. Die Verdrängung von Charisma durch Bürokratie (Weber) im Bildungssystem läßt sich mit folgenden Indikatoren verdeutlichen:

— Die Zahl der Schulen im ganzen Land hat abgenommen, während ihre durchschnittliche Größe dramatisch zugenommen hat.

— Aus Nachbarschaftsschulen sind große Schuleinheiten geworden, was die Professionalisierung der Verwaltung notwendig gemacht hat. Während im Jahr 1940 noch mehr als drei Viertel der Schulen ohne einen Rektor als Verwaltungsspitze ausgekommen sind, gibt es heute mehr Rektoren als Schulen.

— Auch die Zahl der Schuldistrikte ist geschrumpft, jener Organisationseinheiten also, die so wichtige Aspekte des Schullebens in Händen halten wie die Auswahl der Lehrer und ihre Anstellungsbedingungen sowie die materielle Ausstattung der Schulen. Im genannten Zeitraum ist ihre durchschnittliche Zahl pro Staat von 2 400 auf 300 zurückgegangen. — Mit der Vergrößerung der Schuldistrikte hat auch der Bedarf an bürokratischem Fachpersonal zugenommen. Die Bürokratisierung der Distriktsverwaltung ist aber gleichbedeutend mit der Auflösung der klassischen Formen amerikanischer Schulkontrolle, die von Eltern als Laien wahrgenommen wurde. In den „Boards of Education“ wirkten 1940 pro Staat im Durchschnitt 7 000 mit; ihre Zahl beträgt heute weniger als 2 000.

— Im Gegenzug ist das bürokratische Fachpersonal zur Verwaltung der Schulen auf der Ebene der einzelnen Staaten dramatisch gewachsen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die staatlichen Bildungsbürokratien noch kleiner als das Management einer High School.

— Die organisatorischen Differenzen zwischen den Schuldistrikten des ganzen Landes sind immer unbedeutender geworden. Es zeichnet sich in dieser Entwicklung ein bürokratisches Standardmodell der amerikanischen Schule, des Schuldistrikts und der staatlichen Schulbehörden ab.

— Die Bürokratisierung der Schulen geht einher mit der „Monetarisierung“ der Schulverwaltung. Die Mitarbeit der Eltern war unentgeltlich, bürokratisches Fachpersonal muß entlohnt werden. Diese Monetarisierung ist aber gleichbedeutend mit einer Machtverschiebung zugunsten derer, die Steuern erheben können.

— Auf eine Enteignung der Basis von der Kontrolle über die Schulen deuten auch Veränderungen der Finanzierungsströme hin. Lokale Steuern liefern heute im Durchschnitt nur noch 43 Prozent der Bildungsbudgets, entsprechend gewachsen sind die Anteile der staatlichen und Bundessteuern

Diese Stichworte mögen genügen, um das Vorrükken der Bürokratie im Schulwesen zu illustrieren. Die amerikanischen Schulen nähern sich damit einem Modell, das in Europa seit je praktiziert wurde Schulen werden auch hier zu Anstalten in der Hand des Staates. Vor allem soziale Randgruppen setzen ihre Hoffnungen auf den Staat. Sie verschaffen ihren Erwartungen Nachdruck, indem sie die gesellschaftlichen Spielregeln außer Kraft zu setzen drohen, deren Funktionsweise sie so schwer belastet. So waren es nicht zuletzt die Diskriminierung der Schwarzen und das dagegen gerichtete civil rights movement, das den Staat auf bildungspolitischem Terrain vordringen ließen. Die entsprechenden Konflikte dauern bis heute an. Gekämpft wird nicht mehr auf der Straße, sondern in den Formen der schulischen Demokratie und der Gerichtsbarkeit.

IV. Rassenintegration

Mit den Kirchengemeinden bilden die Schulen die Grundlagen nachbarschaftlicher Selbstorganisation. Daß sie nicht als Staatsanstalten entstanden sind, sondern als Einrichtungen in der Hand der Bürger, merkt man bis heute. Schüler. Eltern und Kinder erblicken in den Schulen an erster Stelle nicht staatliche Einrichtungen, auch wenn diese inzwischen dazu geworden sind. Im öffentlichen Be-wußtsein lebt ein anderes Bild von der Schule fort. Es enthält noch die bürgerlich-revolutionären Sentiments. die der Gründung des amerikanischen Schulwesens zugrunde lagen. Sie werden greifbar bis heute in der größeren Bürgernähe der Schulen.

Die Türen stehen jedermann offen, und wenn bekannt wird, daß eine Mutter oder ein Vater über freie Zeit verfügen, werden sie alsbald eingeladen, zum Unterricht beizutragen. Um den Austausch zwischen Schule und Eltern zu verdichten, werden Informationsschriften und Fragebögen in riesigen Mengen periodisch verteilt. Unabhängig vQneinanB der werden Kinder und Eltern gebeten, ihrer Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit der Schule in mehrseitigen, detaillierten Fragebögen Ausdruck zu verleihen. Diese Leistungsbeurteilung durch die Eltern wird als ein organisationstechnisches Hilfsmittel verstanden, um alle im Gespräch zu halten und die produktiven Möglichkeiten des demokratischen Diskurses zu nutzen. Kritik gilt als Anregung und wird auch so vorgetragen. Die Kommunikation zwischen Schule und Eltern vollzieht sich dort vielleicht nicht in vielfältigeren Formen, aber sie ist doch viel intensiver als in Deutschland. Die Kette von Einladungen zu Hilfeleistungen im Unterricht, zu Picknicks, zu Wanderungen, zu Geldmittelbeschaffungsaktionen und zu ausgiebigen festlichen Ritualen bei der Einschulung und Entlassung von Schülern reißt selten ab. Und die einmal geschlossenen Bekanntschaften finden sehr leicht ihre Fortsetzung unabhängig von der Schule und erstrecken sich dann alsbald über die Kinder hinaus auf ganze Familien.

Die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ zwischen Schule und Elternhaus gilt auch im deutschen Schulbetrieb als wichtiges Anliegen. Es manifestiert sich im Alltag aber vor allem darin, daß den Eltern kaum etwas anderes übrig bleibt, als der Schule zu vertrauen, während die Schulen mit Hausmeistern und ritualistisch beschworenen Versicherungsproblemen dafür sorgen, daß die Eltern nicht allzu viel Einblick in das Schulgeschehen nehmen. Bürgemähe ist gleichbedeutend auch mit Problemen schichtenspezifischer und ethnischer Segregation. Segregation stützt sich hier stärker auf gesellschaftliche. in Deutschland stärker auf staatliche Strukturen Der schulbürokratische Zentralismus hat in der Bundesrepublik Deutschland bis vor kurzem mit dem dreigliedrigen Schulsystem auf formalem Wege dafür gesorgt, daß sich die Kinder der verschiedenen sozialen Schichten nicht zu nahe kamen. Innerhalb der einzelnen Schulkategorien waren die materiellen Verhältnisse aber seit je einigermaßen ähnlich. Die immer noch größere Bürger-nähe der Schulen in den USA begründet dagegen Segregationstendenzen innerhalb formal gleicher Schulkategorien. Das formal einheitliche Schulsystem zeichnet sich tatsächlich durch wesentliche materiale Differenzen aus.

Die schichtenspezifische und ethnische Segregation in den Schulen geht einher mit Segregationstendenzen auf dem Wohnungsmarkt und die wiederum mit der sozialen Ungleichheit in der Arbeitswelt. Eine wichtige Ursache der Segregation auf dem Wohnungsmarkt und in den Schulen bildet das System der Grundsteuern. Diese nehmen einen Teil der individuellen Einkommen in Anspruch, der zu groß ist. als daß man ihn ignorieren könnte. Wieviel jeweils gezahlt werden muß. hängt von der Größe der Grundstücke und der Wohngegend ab. Die Unterschiede sind beträchtlich und sorgen zuverlässig dafür, daß die verschiedenen Einkommensgruppen unter sich bleiben. Ein anderes Mittel der Ausgrenzung haben die Gemeinden dagegen inzwischen verloren. Sie hatten früher das Recht, jemandem den Zuzug in eine bestimmte Nachbarschaft mit der Begründung zu verwehren, er sei nicht „ehrenhaft“. Aber das System der Grundsteuern trennt die sozialen Schichten immer noch. Die Segregation auf dem Wohnungsmarkt sorgt für schichtenspezifische Homogenität der Schülerschaft in den jeweiligen Schulen. Wer an der Bildung seiner Kinder interessiert ist, kann nicht umhin, bei der Wahl seines Wohnorts die Qualität der vorhandenen Schulen in Rechnung zu stellen. Diese weisen beachtliche Qualitätsunterschiede auf, und es wäre unverantwortlich. sie zu ignorieren. Bedingt werden diese Unterschiede durch die geschilderten Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt. So gibt es zwischen Schule und Wohnungsmarkt einen Teufelskreis.dem niemand entgeht und der für die Segregation der Kinder und Erwachsenenbevölkerung sorgt. Was die Bildungsfinanzierung angeht, so hängen in Kalifornien die Schulen nicht mehr vom lokalen Steueraufkommen ab. aber in den reichen Bezirken verfügt man nicht selten über Grundbesitz und andere Einkünfte, die es einem erlauben, die staatlichen Schulmittel aufzustocken.

Gemessen an deutschen Verhältnissen ist die Trennung der verschiedenen sozialen Schichten zum Beispiel in Palo Alto äußerst radikal. Palo Alto und East Palo Alto grenzen dicht aneinander, aber sie sind durch mehr als nur eine Autobahn getrennt. In mexikanischem Kolonialstil, in kalifornischem Rancho-Stil oder in viktorianischem Stil sind die idyllischen Häuser auf der westlichen Seite einer Autobahn errichtet. Sie liegen in schattigen Gärten ohne Zäune, und ihre Fronten und Haustüren sind einladend. Der Gedanke an Schutz und Trutz ist dieser Architektur fremd. Wer hier lebt, ist gut situiert. Jenseits der Autobahn, in East Palo Alto, ist das Ghetto der Schwarzen und der mexikanischen und asiatischen Einwanderer. Die Straßen sind schlecht, die Häuschen sind ärmlich, die Gärten wenig gepflegt. Hier gibt es Zäune, und bei zahlreichen der auf der Straße abgestellten Wagen ist nicht klar, ob sie noch fahrtüchtig sind. . Whiskeyschlucht'. so heißt im Volksmund die erste Straße hinter der Autobahn, in die man gerät. Im Schnellimbiß wird das Inkasso wie an einem Bankschalter erledigt: hinter kugelsicherem Glas. Aus Sicherheitsgründen gibt es einen Automaten, der 10-oder 20-Dollar-Scheine als Wechselgeld nur in Abständen von zwei Minuten zugänglich macht. Nach Einbruch der Dunkelheit soll man dieses Viertel auf jeden Fall meiden. Von Straßenraub und Vergewaltigungen ist die Rede. Es ist offenkundig, daß hier die Arbeitslosenraten hoch und die Familieneinkommen klein sind.

Der sozialen Segregation auf dem Arbeits-und Wohnungsmarkt folgt die in den Schulen. Dieses System der Segregation hält sich unabhängig von etwaigen rassistischen Neigungen des Publikums. Auf Elternversammlungen zum Thema Desegration. zu denen derjeweils zuständige Board of Education in Ost-und West-Palo Alto eingeladen hatte, ist nicht ein einziger Redner gegen Desegregation aufgetreten. Die Versammlungen waren notwendig geworden, nachdem ein Bundesgericht gedroht hatte, einen seit zehn Jahren andauernden Streit um die Rassenintegration zu schlichten, das heißt die Entscheidung dem Board of Education aus der Hand zu nehmen. Der Ablauf der Versammlung läßt erkennen, daß hier jedermann mit den Routinen bildungspolitischer Basisdemokratie vertraut ist.

Der Rechtsanwalt des Board of Education gibt zunächst einen eindrucksvollen Bericht über die bürokratischen Schwierigkeiten, die mit der einen oder anderen Integrationsstrategie verbunden wären. So sind mehrere Landkreise an dem Integrationsprojekt zu beteiligen, und die mit weitgehenden Rechten ausgestatteten lokalen Schulbehörden und Elternvertretungen sind nicht leicht zu koordinieren. Es gibt finanzielle und rechtliche Probleme. Nachdem schriftlich gestellte Fragen präzise beantwortet wurden, kommen die Eltern zu Wort. Jeder einzelne stellt sich vor. nennt namentlich seine Frau und seine Kinder, teilt mit. wie lange die Familie schon in der Gemeinde lebt und was ihr hier gefällt, und kommt dann zur Sache. Alle sprechen sich für die Desegregation aus, das heißt für die Verteilung einer Anzahl von Ghettokindem auf die Schulen der besser gestellten sozialen Schichten in der Umgebung. Interessant ist die dafür am häufigsten genannte Begründung. Sie ist nicht paternalistisch, und sie geht auch über die Norm der Chancen-gleichheit hinaus. Mit demokratischem Pathos argumentieren sie von den Interessen ihrer eigenen Kinder aus. Der Entwicklung ihrer Kinder entspräche es am besten, wenn sie mit ihren Alterskameraden aus dem Ghetto vertraut würden, und es werde ihr Leben als Bürger erleichtern, würden sie durch Rassismus nicht belastet. Der Rassismus schädige nicht nur die Interessen der Schwarzen, sondern diejenigen aller Mitglieder der Gesellschaft. Einige der schwarzen Eltern, die in kleiner Zahl anwesend sind, geben Berichte vom alltäglichen Rassismus aus ihrer Schulzeit. Sie sind bestürzend, weil sie die subjektiv bedrohlichen Auswirkungen ganz undramatischer Ereignisse im Schulalltag erkennen lassen. Die Versammelten wissen, daß sie ihre Lebensbedingungen so unter Kontrolle haben, daß sie mit den Folgen der Desegregation schon fertig werden. Stolz und Zuversicht äußern sie sowie selbstironische Kommentare zur Basisdemokratie und glücklichen Schulsituation in Palo Alto. Man könnte argwöhnen, daß das demokratische Engagement nur vorgeschoben ist. und daß sich dahinter letztlich doch rassistische Vorurteile verbergen. Vielleicht verhält es sich in einigen Fällen auch so. Aber daß sich der Rassismus, falls vorhanden. nicht öffentlich hervorwagen darf, muß doch als Sieg liberaler Normen in der politischen Kultur interpretiert werden.

Auch im Ghetto hatte der verantwortliche Board of Education zu einer Elternversammlung eingeladen. Eine ungeteerte und unbeleuchtete Straße führt zu dem Versammlungslokal. Für seine Möblierung gelten offensichtlich die gleichen Ausstattungsnormen wie in dem reicheren Bezirk. Unter den Versammelten ist nur eine ganz kleine Zahl von Vätern. die übergroße Mehrzahl wird gebildet durch schwarze Mütter, lediglich auf dem Podium dominiert das männliche Geschlecht. Für alle scheint diese Versammlung eine Anstrengung zu bedeuten, die Gesichter sind ernst, eher verschlossen, nirgends erkennt man das gewinnende Strahlen, das zur physiognomischen Grundausstattung weißer Protestanten gehört.

Es geht polemischer und konfliktreicher zu als auf der Elternversammlung der Weißen. Die Eltern fühlen sich schlecht informiert und äußern Mißtrauen. Vor allem aber sehen sie sich in einem Dilemma. Sie wissen, daß ihre Schule schlecht ist. daß sie über viel weniger Finanzen verfügt als die Schulen auf der anderen Seite der Autobahn. Sie wissen, daß sie in der Konkurrenz um gute Lehrer unterlegen sind. Und vor allem steht jedermann vor Augen. daß die Schule keine pädagogische Insel ist. daß die sozialen Probleme der Eltern den Unterricht unerträglich belasten.

Da der vorgeschlagene Austausch von weißen und anderen Kindern freiwillig sein soll, ist klar, daß der Auszug schwarzer Kinder kaum durch den Zuzug weißer Kinder kompensiert werden wird. Man denkt nicht im entferntesten daran, den weißen Eltern daraus einen Vorwurf zu machen. Sie beklagen indessen, daß durch das „bussing“ (Transport von schwarzen Schulkindern in Schulen mit überwiegend weißen Kindern) die eigene Gemeinde geschwächt wird. Denn neben den religiösen Gemeinschaften bilden die Schulen ein wichtiges Zentrum des dichten Geflechtes nachbarschaftlicher Beziehungen. „Warum soll ich hier leben, wenn meine Kinder hier nicht zur Schule gehen und ich folglich kaum am Gemeindeleben teilnehmen kann?“, fragt eine Mutter.

V. Die „oberflächliche Freundlichkeit“ der Amerikaner

Für den Umgang mit Leuten, gleichviel ob man sie kennt oder nicht, hält die amerikanische Kultur ein großes Arsenal an Formen und Gesten bereit, die allerorten Kommunikation nahelegen. Die Enge eines Fahrstuhls schafft zwischen den Passagieren nicht das Gefühl der Peinlichkeit und erzwingt nicht Blicke zum Boden oder zur Decke. In den Warteschlangen der Supermärkte, beim Tanken, an Straßenkreuzungen oder wo immer sonst kommt man leicht ins Gespräch. Zwanglos werden Belanglosigkeiten ausgetauscht, die auch nichts anderes als belanglos sein sollen. Diese routinierte Freundlichkeit ist Standardthema in Reiseberichten aus Amerika.

Die „oberflächliche Freundlichkeit“ ist sicher anders als die in Deutschland üblichen Freundlichkeitsbezeugungen. Fragt man Amerikaner nach Kommentaren zu ihren Beobachtungen an Supermärkten. Tankstellen. Fahrstühlen usw. in Deutschland, wo man sich eher schweigend ignoriert. ungeduldig wird und leicht auch unhöflich bis aggressiv, dann erfährt man etwas über den Sinn, den Amerikaner mit ihrer Freundlichkeit verbinden. Sie finden unser Verhalten vor allem ungeschickt. in einem technischen Sinne insuffizient, weil es nichts zu dem beiträgt, was man auf jeden Fall erreichen will, nämlich „to go along“. Man will mit seinem Mitmenschen auf jeden Fall klarkommen. Die Freundlichkeit ist Mittel und wird auch so verstanden. Sie ist gewollt und konstruiert und wird nicht selten auch mit Anstrengung erzeugt. Sie ist nicht, wie bei uns. Ausdruck jener „vegetativen Gemütlichkeit“ (Max Weber), in der zwischen Zweck und Mittel nicht unterschieden wird, und in der die Grenzen zwischen den einzelnen unbemerkt zerfließen. Der Argwohn, diese gewollte Freundlichkeit sei gar nicht „echt“, sondern bloß manipulativ, ist ganz unberechtigt. Denn sie soll gar nichts anderes sein als ein Mittel, und in diesem Sinne ist sie immer „echt“. Weil das jedermann weiß, haftet ihr auch nicht die Bedeutung einer Täuschung an; der andere weiß, hier hält sich einer an vernünftige Spielregeln, deren Einhaltung garantieren soll, daß man miteinander klarkommt. Der Verdacht einer Täuschung beruht auf Unkenntnis des spezifischen kulturellen Bedeutungskontextes.

Unbefangen ist die Freundlichkeit nicht. Sie ist vielmehr Ausdruck der Norm, individuelles Verhalten in Begriffen von Zweck-Mittel-Rationalität zu orientieren. Die Grenzen der Unbefangenheit werden bereits im Schulunterricht zugunsten einer rationalen Kalkulation des persönlichen Ausdrucks zurückgedrängt. Ein Merkblatt mit „Empfehlungen zur Konversation“, das in der sechsten Klasse einer öffentlichen Grundschule verteilt wurde, kann das beispielhaft verdeutlichen. Bei diesem Leitfaden geht es nicht um Normen mit ständischem Charakter. nicht darum, was sich gehört. Es geht offenkundig auch nicht darum, wie man das, was man „wirklich“ denkt und fühlt, ausdrückt oder verschleiert. In allen Regeln dieses Leitfadens geht es um die Systematisierung der Produktion von Freundlichkeit als kultureller Selbstverständlichkeit.

Guidelines for Starting Conversations — Look at the person while you are talking. giving your full attention to him/her.

— Occasionally add comments about yourself, Sharing some of the Information about yourself that you have asked of the other. Example: My father can’t get away during vacation so we’re just going up to San Francisco for an afternoon and evening.

— Smile, but don’t laugh or giggle, even if you are nervous.

— Use a tone of voice that shows you are sincere and interested.

— Allow for silences if the person has to think, or if you want to shift what you are talking about. — Say something of appreciation when ending the conversation such as “ It’s been fun talking with you. Hope I see you again. ” Richtlinien für eine Konversation — Schau Deinen Gesprächspartner an. während Du sprichst, schenke ihm/ihr Deine volle Aufmerksamkeit. — Füge bei Gelegenheit einige Bemerkungen über Dich selbst an. biete persönliche Informationen darüber an. wonach Du den anderen gefragt hast. Beispiel: Mein Vater kann während der Ferien nicht weg, so daß wir nur für einen Nachmittag und einen Abend nach San Francisco fahren, — Lächele, aber lache oder kichere nicht, auch wenn Du nervös bist.

— Verwende eine Stimmlage, die aufzeigt, daß Du aufrichtig und interessiert bist.

— Mache Gesprächspausen, wenn der andere Zeit zum Überlegen wünscht, oder wenn Du das Gesprächsthema wechseln willst.

— Sage etwas Nettes zum Schluß der Unterhaltung wie beispielsweise: „Es war mir eine Freude, mich mit Ihnen zu unterhalten. Ich hoffe, daß wir uns wieder einmal sehen.“

Nicht nur was man zweckmäßigerweise sagen könnte, sondern auch noch die Qualität des Ausdrucks wird unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunk-B ten erörtert: wie man sein Lachen, seinen Blick, die Intonation seiner Stimme.sein Schweigen, die inneren Ängste organisieren könnte. Diese Wendung gegen alle Unbefangenheit ist uns fremd und führt zu Enttäuschungen, wenn man auf Nähe aus ist, so wie das in Deutschland als legitim gilt. Populär ist der Text im Schulliederbuch „Put on a happy face“ mit Aufforderungen, die sich wie eine Trivialversion der protestantischen Ethik liest:

Grey skies are gonna clear up put on a happy face Brush off the clouds and cheer up put on a happy face Take off the gloom of tragedy, it’s not your style you look so good that you'll be glad you decided to smile Pick out a pleasant Outlook pick up that noble chin Wipe out that “ full of doubt” look slap on a happy grin.

And spread sunshine all over the place just put on a happy face.

Die Aufforderung zum Lächeln wird hier singend eingeübt, und wer hätte nicht beobachtet, daß diese Lektion bei den meisten Amerikanern auch „sitzt“. Die Wendung „you decided to smile“ macht deutlich, daß das Lächeln nicht unwillkürlicher Ausdruck einer inneren Regung sein soll, sondern Produkt eines bewußten Willensaktes, der sich am sozialen Erfolg orientiert. Die einzige „innere“ Regung, von der die Rede ist, ist der Selbstzweifel, und dem wird der Kampf angesagt. Wir sind leicht geneigt, ein derartiges Verhalten negativ als das Ende aller Spontaneität und Autonomie des einzelnen Menschen anzusehen. Dabei wird freilich übersehen. daß wir nur dadurch freie Menschen werden können, daß wir aus uns herausgehen und uns auf andere einlassen. „Ein Mensch, der unter äußerem Zwang, ja durch sein egoistisches Interesse zur Freundlichkeit gebracht wird, gelangt am Ende eher zu einer gewissen Humanität in seinem Verhältnis zu anderen Menschen als jemand, der nur. um mit sich selbst identisch zu sein — als ob diese Identität immer wünschbar wäre —. ein bösartiges, vermuffeltes Gesicht macht“, so kommentiert Theodor W. Adorno die amerikanische Freundlichkeit und die bei uns verbreitete Kritik daran, die uns nur allzuleicht selbst oberflächlich macht und uns verhärten läßt

Danach findet sich im Liederbuch ein Text, den man jetzt auch in Deutschland gelegentlich im Radio hört. Er versichert die Kinder ihres Wertes und ihrer Zuständigkeit für die Verbesserung der Welt. Das Denken in Begriffen politischer Utopien ist wie selbstverständlich vorausgesetzt. Nachdem zahlrei-ehe Nöte dieser Welt aufgezählt werden. heißt es im Refrain:

We are the world. we are the children.

we are the ones who make a brighter day.

So let’s Start giving. there is a choice we are making. We are saving our own life It’s true we’ll make a better day Just you and me.

Wenn bei uns die Kinder mit der Welt gleichgesetzt werden, dann eher in dem Sinn: Wer die Jugend hat. hat die Zukunft. Dabei wird heute sicher an erster Stelle nicht mehr an den Bestand von Rasse und Armee gedacht, sondern eher an „Pillenknick“. „Schülerberg“ und das zukünftige Beitragsaufkommen der Rentenversicherung. Gemeinsam ist allen diesen Perspektiven aber die instrumentelle Betrachtung der Kinder. Im zitierten Lied dagegen tauchen sie als Subjekte auf. in deren Händen Entscheidungen liegen, und zwar nicht solche zur Selbstaufopferung, sondern solche im Eigeninteresse. Die Unterscheidung von Zwecken und Mitteln wird im schulischen Alltag schärfer getroffen als in Deutschland. Das zeigt sich daran, daß die Leistungen und Fähigkeiten der Schüler in technischen Begriffen definiert werden. Zur Disposition steht jeweils nicht die ganze Person und schon gar nicht deren moralische Zuverlässigkeit. Und mit Leistung verbindet sich nicht die vordemokratische Vorstellung einer Kulturqualität, die zur Mitgliedschaft in sozialen Schichten mit ständischem Charakter berechtigt. Die Unterschiede individuellen Leistungsvermögens werden vor allem quantitativ definiert, wie man es am Gebrauch der unzähligen formalisierten Tests leicht ablesen kann. Eine konkrete Leistung hat nicht einen unmittelbaren Eigenwert. sondern gilt als Indikator für individuelles Leistungsvermögen. Die Frage, ob man davon zu wenig besitzt, ob man ein Versager ist. ist der Inhalt quälender Selbstzweifel und hat auch moralische Bedeutung; aber die konkreten Anlageformen, in die man dieses Vermögen bringt, haben selbst keinen Eigenwert. Die Kritik lautet nicht „das gehört sich nicht“, sondern sehr viel konsequenter als bei uns „er schafft es nicht“.

Die quantifizierende Vorstellung von Fähigkeiten und Leistung geht einher mit einer beachtlichen Distanz zwischen Schülern und Lehrern. Die Kinder sind so vor der Überlegenheit der Schule geschützt. Die eher als Techniken verstandenen Schulrituale der Unterweisung und Leistungskontrolle sind eingebettet in jene freundlich egalitären Umgangsformen, wie sie auch zwischen Erwachsenen gelten. Innerhalb und außerhalb der Schule ist es Norm. Kinder in Formen anzusprechen, die von diesen selbst im Umgang mit Erwachsenen gebraucht werden können, ohne als unhöflich zu er-B scheinen. Die Definition dessen, was als ein Individuum anzusehen ist. schließt Erwachsene und Kinder unterschiedslos ein. Vielleicht liegt es daran, daß es zur festen Schulfolklore gehört, daß man auch im schwierigen „Backfischalter“ gerne zur Schule geht. Zum guten Ton in den entsprechenden Altersgruppen bei uns gehört wohl eher eine Abneigung gegen die Schule.

VI. Challenger: Die Verstaatlichung des „amerikanischen Traums“

Die Enteignung der Gemeinden durch den Staat im Bereich der Schulen läßt sich ablesen an einem nationalen Ereignis, das Amerika zu Beginn des Jahres 1986 erschütterte, an der Explosion der Raumfähre „Challenger“. Ihrem Start war die Bedeutung eines Bildungsereignisses zugedacht worden.

Die Repräsentanten des amerikanischen Individualismus. darunter die Reagan-Regierung, hatten den Start der Raumfähre als nationales Ereignis inszeniert. Wichtige Symbole der amerikanischen Tradition sind in Anspruch genommen worden. Sie künden von bürgerlichen Tugenden, von individueller Bewährung und utopischen Hoffnungen. Aber de facto ist die Show so totalitär gewesen, als wäre sie in Moskau inszeniert worden. So hat die NASA bei der Auswahl der Astronauten ein sehr gutes Gespür für öffentlich wirksame Symbole bewiesen, als sie eine Lehrerin in die Mannschaft aufgenommen hat. Die Lehrerin ist eine Symbolfigur des zivilisatorischen Fortschritts; sie folgt gewissermaßen dem Cowboy, der der Held der Zeit vor dem Gesellschaftsvertrag ist. Darüber hinaus waren die Vertreter anderer Minderheiten an Bord der Fähre.

Der Weltraum ist als „new frontier“ vorgestellt worden. Die damit verbundenen Phantasien gibt es nur in den USA. Angespielt hat die NASA auf die Besiedelung des Westens. Die entsprechende Legende kündet von individueller Bewährung bei der Ausdehnung christlicher Zivilisation. Das Raketen-programm ist als Teil dieses mit immer noch viel Optimismus und massenhaftem Engagement vertretenen historischen Projekts dargestellt und in der Öffentlichkeit auch so verstanden worden. Die Astronauten sind wie tugendhafte Pioniere vorgeführt worden, die gewissermaßen schon einmal mit dem elektronischen Planwagen vorausziehen. In Begriffen dieses Mythos ist auch das Scheitern der Unternehmung beschrieben worden. Die Todesopfer waren gut vorbereitet, sie haben Mut bewiesen, sie haben sich der Herausforderung gestellt, sie haben das Risiko gekannt, und für diesmal hat es nicht geklappt; aber das Zivilisierungsprojekt lassen wir uns nicht stoppen. So mögen viele der Zuschauer empfunden haben. Überindividuelle Kollektiv-altäre. auf die man die Opfer des Unglücks hätte legen können, wurden nicht errichtet.

Am Bild der Nation als einem Verein von Privatleuten hat auch der Präsident in seinen Auftritten eisern festgehalten. Wenn er in der Pose eines Kleinunternehmers bekennt, daß seine Frau, genauer wiedergegeben, daß Nancy und er vom Verlust so tüchtiger und grundanständiger Mitbürger sehr betroffen sind, dann trifft er genau das, was man hier von einem Präsidenten erwartet: einen weiteren guten Nachbarn, der seinen Job zuverlässig verrichtet.

Ungeachtet dieser Propaganda ist die amerikanische Vorstellung vom Zivilisationsprojekt unabhängiger Privatleute durch die Inszenierung des Raketenstarts tatsächlich eher strapaziert worden. Das nationale Selbstbewußtsein hat durch dieses Ereignis Einbußen erlitten, aber nicht durch den Absturz der Rakete, sondern schon durch ihren Start. Der Weltraum ist eben nicht der Westen, in dem man sich durch Bewährung im Zivilisierungsprozeß moralisch qualifizieren kann — nimmt man einmal die Legende für bare Münze. Seine Eroberung durch das Pentagon ist etwas ganz anderes als die Aneignung der Natur durch bürgerlichen Gewerbefleiß und biedere Frömmigkeit. Im Weltraum bewähren sich nicht Individuen, sondern die Sozialtechniken der bürokratischen Großorganisationen. Die Leute an Bord der Fähre waren nicht ihre Kommandanten, von deren Tüchtigkeit irgend etwas abhing. Sie hatten eher die Bedeutung von Luftfracht und Schaustücken. Daß die Großbürokratien des Staates das Bild von der „new frontier“ besetzen, ist selbst schon ein Anschlag auf die bürgerliche Kultur.

Die Lehrerin aus der Neighbourhood-School sollte der ganzen Nation vom Weltraum aus eine Unterrichtsstunde halten; das war Programmbestandteil der Show. Diese Verbindung von technischen Umständlichkeiten mit dem Gedanken der Erziehung kann die Vorstellung von der Selbsterziehung der freien Nachbarn nur unterminieren. Wer kann schon mit einem Stück Kreide und mit aufklärerischen Intentionen gegen die suggestive Wirkung der Weltraumlehrerin antreten. Dieser Gag erinnert nicht an Demokratie, sondern eher an den Geist jener, die in Ost-Berlin den Fernsehturm in den Mittelpunkt der Hauptstadt gerückt haben: Erziehung durch staatlich kontrollierte Einwegkommunikation. gleichviel ob bei Kaffee und Kuchen oder potatoe Chips.

Die jungen Leute sollten mit der amerikanischen Tradition individueller Bewährung und unternieh23 merischen Geistes vertraut gemacht werden. Tatsächlich sind sie aber einmal mehr vor den Fernsehapparat gesetzt worden, und das Fernsehen hat schulischen Segen erhalten. In geschlossenen Klassenformationen waren sie versammelt worden, um diesem Ereignis beizuwohnen, und die Medien haben berichtet, als wären sie gleichgeschaltet. Es hat in diesen Tagen wohl niemanden gegeben, der die weiße Explosionswolke vor dem blauen Himmel Floridas nicht mehrfach vorgeführt bekommen hätte. Die Bürger wurden organisiert in Millionen und alle dem gleichen staatlich bezahlten Reiz ausgesetzt. Diese Praxis der Propaganda verkehrt den gemeinten individualistischen Inhalt ins Gegenteil. Der Raketenstart, das war der Sinn dieser Praxis, geht jeden einzelnen ganz unmittelbar an. Nach dem Absturz hat sich diese Zumutung nationaler Identifikation in der Erwartung geäußert, die Kinder müßten nun von dem Unglück geschockt sein. Widerstand gegen dieses Ansinnen hat eine gewisse Energie erforderlich gemacht. Die neunjährige Sophia aus Deutschland fand, daß sie die Abgestürzten doch gar nicht kenne und daß sich deshalb bei ihr so recht auch Trauer nicht einstellen wollte. Gegen die freundliche Aufgeregtheit und Betroffenheit der nationalen Hinterbliebenen ist sie aber nicht angekommen, und so hat sie auch einen Kondolenzbrief nach Houston geschickt. Um dem unterstellten Schock zu begegnen, haben die FernsehStationen Psychologen auftreten lassen. Gestützt auf die Autorität der Wissenschaft und auf ihre staatlich sanktionierten Diplome haben sie fachmännische Hilfestellung bei der Trauerarbeit gege-. ben. Dabei waren sie gelegentlich ganz gut. So hat einer darauf hingewiesen, daß sich das verdrängte Unbewußte gern an solchen Masseninszenierungen festmacht und sich so in heftigen Ausbrüchen auslebt. Dabei hatte er bloß den Absturz der Rakete im Auge, seine Feststellung ist richtig auch für deren Start. Der Glaube an den Fortschritt hat sich alsbald wieder Bahn gebrochen, und Kinder und Bürgerinitiativen haben sich daran gemacht, Geld für den Ankauf einer neuen Fähre zu sammeln.

Das Spektakel von kleinen Kindern und großen Raketen, von weinenden Frauen in Großaufnahme und gefaßter Präsidentenstimme in Stereo hätte so auch vom Ostberliner Fernsehturm kommen können. Die Leute sind in Anspruch genommen worden für Dinge, die sie buchstäblich nichts angehen. Nichts wird sich am Leben eines Amerikaners durch diesen Unglücksfall ändern. Die Darstellung der Raketen hatte deswegen auch eher den Charakter einer Massensuggestion, die sich nicht an den Kopf wendet, sondern an das Gefühl.

Die Medien haben den Bürgern Kondolenztelegramme zur Kenntnis gebracht, die von Staatsmännern aus verschiedenen Ländern nach Washington geschickt worden waren. Von Gorbatschow bis Gadaffi waren sie vertraut mit der Vorstellung, daß das technische Unglück eine nationale Katastrophe sei. daß Absender und Adressat für Nationales die Regierungen seien und daß Staatsapparate trauern und Trauerbeweise entgegennehmen könnten. Die Medien der amerikanischen Gesellschaft, die ihrem Selbstverständnis nach auf Nüchternheit und Privatheit bedacht ist wie so leicht keine andere, äußerten keinerlei Skepsis oder Überraschung über diese Gesten. Es gibt über alle politischen Kontroversen hinweg offenkundig einen festen Konsensus über die Bewertung und Handhabung derartiger Ereignisse. Welche Regierung führte den Bürgern denn auch nicht staatliche Macht und bürgerliche Ohnmacht mit Hilfe technischer Großprojekte vor? Mit Burgen und Palästen ist kein Staat mehr zu machen. In diesem Gebrauch der Technik ist sich das politische Spitzenpersonal aller Länder einig, und darin versteht man sich auf allen Ebenen der Gesellschaft.

Autobahneröffnungen, die Inbetriebnahme von Völkerfreundschaftsprojekten oder Raketenstarts, das sind die Requisiten einer internationalen Ideologie. in der der Staat zum Fetisch wird und individuelle Autonomie ihr Opfer. Die Vergötterung überindividueller letzter Werte und politischer Mächte war dem bürgerlich-revolutionären Amerika so fremd wie vielleicht keiner anderen Kultur. Die Bürokratisierung der Lebensverhältnisse durch den Staat schwächt aber auch hier die Prinzipien bürgerlicher Autonomie. Raketenstarts, ihre Inszenierung und die bereitwillige Teilnahme des Publikums an diesem Staatsspektakel werfen ein Licht darauf, daß Amerika im Bürokratisierungsprozeß Europa ähnlicher wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. G. Schwan. Das deutsche Amerikabild seit der Weimarer Republik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 26/1986.

  2. Vgl. F. Trommler (Hrsg.). Amerika und die Deutschen. Opladen 1986.

  3. Vgl. A. M. Tocqueville. Democracy in America. New York 1945.

  4. Vgl. M. Weber. Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1972.

  5. Vgl. The Washington Post National Weekly Edition vom 10. August 1987. S. 37.

  6. Vgl. T. Parsons. The Cultural Background of American Religious Organization, in: H. Cleveland/H. P. Lasswell (Eds.). Ethics and Bigness — Scientific. Academic. Religious. Political and Military. New York 1962.

  7. Vgl. I. W. Meyer u. a.. Public Education and Nation Building in America: Enrollments and Bureaucratization in the American States. 1870— 1930. in: American Journal of Sociology. 85 (1979) 3.

  8. Vgl. D. Strang. The Centralization of American Education: District Consolidation. Stanford University. Dep. of Sociology (unveröffentl. Manuskript) 1985.

  9. Vgl. G. Lenhardt. Schule und bürokratische Rationalität. Frankfurt 1984.

  10. Vgl. D. Baker/Y. Esmer/G. Lenhardt/I. W. Meyer. Effects of Immigrant Workerson Educational Stratification. in: Sociology of Education. Vol. 58. 1985.

  11. Vgl. Th. W. Adorno. Gesammelte Werke. Bd. 10. Teil 2. Frankfurt 1977. S. 736.

Weitere Inhalte

Gero Lenhardt. Dr. habil., geb. 1941; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin; Mitherausgeber des Leviathan; 1985/86 Gastprofessor an der Stanford University in Stanford. Cal., USA. Veröffentlichungen u. a.: Schule und bürokratische Rationalität. Frankfurt/M. 1984; Der hilflose Sozialstaat: Jugendarbeitslosigkeit und Politik. Frankfurt/M. 1980; Berufliche Arbeitsteilung und Weiterbildung in der Industrieproduktion. Frankfurt/M. 1976 und diverse Beiträge über sozialpolitische, arbeitsmarkt-politische und bildungspolitische Fragen sowie der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung.