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Weltmacht USA: Einige Betrachtungen nach vier Jahren Reaganscher Politik | APuZ 43/1984 | bpb.de

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APuZ 43/1984 Artikel 1 Auswahl und Nominierung der amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Präsidentschaft und Kongreß in der Ära Reagan Die Reagan-Bilanz: Neue Armut und neuer Reichtum Weltmacht USA: Einige Betrachtungen nach vier Jahren Reaganscher Politik Einige Aspekte und Aktionsfelder der Außenpolitik der Reagan-Administration

Weltmacht USA: Einige Betrachtungen nach vier Jahren Reaganscher Politik

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Zusammenfassung

Es erscheint paradox, daß die Führungsrolle Reagans in den USA unangefochten ist, obwohl der Präsident auf dem bevorzugten Gebiet präsidentiellen Handelns, der praktischen Außenpolitik, eher eine bescheidene Bilanz aufweist Ähnlich paradox ist, daß Weltmachtrolle und Selbstvertrauen Amerikas trotz dieser Außenpolitik deutlich gekräftigt sind. Die Erklärung wird darin gefunden, daß es Reagan — sogar unter zeitweiliger Vernachlässigung der Diplomatie — vor allem darum ging, die inneren Grundlagen der amerikanischen Weltmacht zu erneuern. Der wirtschaftliche Aufschwung ist dafür das wichtigste Ingredienz. In dieser Politik wählte Reagan die umgekehrte Vorgehensweise wie Nixon, der die Erneuerung im Innern durch internationale Neuordnung suchte. Es ist absehbar, daß diese Stärkung der inneren Grundlagen amerikanischer Außenpolitik sich in einer zweiten Amtszeit auch in der Diplomatie zeigen dürfte, vor allem im Versuch eines breiten Dialoges mit der Sowjetunion. Dies würde ein Zusammenspiel mit Westeuropa erfordern, das aber nur gelingen könnte, wenn in Westeuropa die Natur des Wandels in den USA besser als in den vergangenen Jahren verstanden würde.

I.

Nach vier Jahren Reaganscher Politik erscheint die Weltmacht USA neu gestärkt. Aber dieser Wandel zeigt einige paradoxe Züge:

— Der Besuch Gromykos im Weißen Haus mitten im Wahlkampf Reagans bezeugte eben dies: In der Erwartung einer zweiten Amtszeit Reagans hielt es auch eine selber wenig handlungsfähige sowjetische Führung für geboten, den Dialog mit den Vereinigten Staaten wieder aufzunehmen. Aber die Umstände dieses Besuchs lassen auch vermuten, daß der tatsächliche außenpolitische Spielraum der wiedererstarkten Weltmacht USA klein ist.

— In den Vereinigten Staaten ist ein neues Vertrauen auf die eigene Fähigkeit in der Welt gewachsen; aber es schadet Präsident Reagan offenbar kaum, daß die Bilanz seiner praktischen Außenpolitik nach vier Jahren eher bescheiden ist, während gerade die Außenpolitik traditionell als Feld für präsidentielles Handeln bevorzugt wurde, da es auch bei nur symbolischem Handeln große Sichtbarkeit ermöglicht.

— Obwohl die Außenpolitik Präsident Reagans bei insgesamt pragmatischer Verfahrensweise deutlich ideologische Züge trägt, die sie von der Politik vor allem demokratischer Vorgänger klar abgrenzt, hat sich der demokratische Präsidentschaftskandidat Mondale nach seiner Nominierung den wesentlichen außenpolitischen Positionen der Reagan-Administration soweit angenähert, daß ihn nur noch Nuancen davon trennen, ohne daß dies, außer auf dem liberalen Flügel der Demokratischen Partei, als ungewöhnlich erscheint oder gar irgendeine Verlegenheit hervorruft.

— Die Vereinigten Staaten werden nicht mehr — Trauma etlicher Jahre — „herumgestoßen". Selbst der Rückzug des amerikanischen Kontingents der internationalen Friedenstruppe im Libanon konnte ohne neue selbstquälende Folgen vollzogen werden — begleitet von der Demonstration amerikanischer Macht in Grenada mit ihren disziplinierenden Wirkungen auf den gesamten Raum Mittelamerikas. Aber obgleich die Weltmacht USA im Jahre 1984 selbstbewußter und stärker erscheint als im Jahre 1972, also dem Höhepunkt der Außenpolitik Nixons und Kissingers, fehlt ihr offenkundig das Flair Großer Diplomatie, wie es die schwierigen außenpolitischen Manöver Anfang der siebziger Jahre gekennzeichnet hat. Man mag, in den Worten Daniel Boorstins, von „obstinatem Provinzialismus“ sprechen — ein Eindruck, der sich nur zu leicht angesichts der gerade in der Bundesrepublik vorherrschenden Folklorismen in der Beschreibung Präsident Reagans und seiner Politik verstärkt.

— Unter Präsident Reagan hat sich Amerika — frei von der Romantik des McGovernschen Traums einer „Rückkehr zu sich selbst“, aber durchaus mit dem Pathos, das man seit dem Vietnam-Krieg verloren glaubte — auf sich selbst besonnen. Die Begeisterung von Los Angeles ist ein freundlicher Ausdruck dieser Grundstimmung. Aber obwohl ein demoralisiertes Amerika vor allem auf Westeuropa und namentlich auf die Bundesrepublik lähmende Wirkung hat und haben muß, ist es gerade dieses neue amerikanische Selbstbewußtsein, das in Westeuropa schwer zu begreifen und hinzunehmen ist und sogar zur Wurzel eines neuen, durchaus nicht auf die Linke beschränkten antiamerikanischen Impulses wird.

— Die Vereinigten Staaten werden nicht mehr herumgestoßen, aber es scheint, daß sie in der Welt um so weniger geliebt werden, je mehr ein neuer und durchaus nicht maßloser Patriotismus in der amerikanischen Bevölkerung Platz greift. Dies ist um so erstaunlicher, als mit der amerikanischen Wandlung in Westeuropa ein Zug zum Konservativismus einherging, der in einer ganzen Reihe von Ländern wieder konservative Parteien an die Macht brachte. Aber nichts charakterisiert das derzeitige Verhältnis zwischen den USA und Westeuropa mehr als die Tatsache, daß trotz dieses neuen Konservativismus vor allem in den protestantischen Ländern Westeuropas ein Bedürfnis nach Distanz zu den Vereinigten Staaten vorherrscht, das zunehmend begriffliche Anstrengung erfordert, um zwischen den beiden Weltmächten einen kategorialen Unterschied deutlich bleiben zu lassen, während die USA trotz aller Vorbehalte in manchen Bereichen der Außenpolitik am ehesten im sozialistischen Präsidenten des souveränitätsbewußteren Frankreich — des „ältesten Verbündeten" (Reagan) — Kongenialität finden.

Dieser Wahrnehmung der neu erstarkten Weltmacht entsprach ein starker amerikanischer Hang zum Unilateralismus, zu einem einseitigen Vorgehen, das sich nicht auf Verbündete verläßt, deren Handlungsfähigkeit oder -unwilligkeit während etlicher Jahre als zunehmend unerträglich empfunden worden war. Er fand auch gelegentlichen und sogar kräftigen Ausdruck in der praktischen Außenpolitik, etwa in der zurechtweisenden Haltung gegenüber westeuropäischen Sondierungen in Mittelamerika oder in der „Bestrafung“ einiger westeuropäischer Staaten wie Frankreich und der Bundesrepublik durch die Verhängung von Sanktionen in Verbindung mit dem Gas-Röhren-Geschäft. Dennoch war dies eher eine Disposition der neuen politischen Klasse, die nur sporadisch auf die praktische Außenpolitik durchschlug. Aber daß dies so war, war eine Sache der Klugheit. Überzeugung hätte oftmals eine andere Haltung gegenüber Verbündeten hervorgebracht.

II.

Die Handlungsmöglichkeiten des amerikanischen Präsidenten sind durchaus eng begrenzt. Zu seinen wichtigsten Wirkungschancen gehört es, die Grundstimmung im Lande zu verändern. Sie ist weniger in den Möglichkeiten begründet, welche die Institution vor-zeichnet, als in der Persönlichkeit des Präsidenten. Die moderne Medienwirklichkeit verstärkt dies, so wie sie andererseits die Beschränkungen der praktischen Handlungsfähigkeit des Präsidenten verstärkt Präsident Reagan ist ohne Zweifel ein solcher Wandel der amerikanischen Grundstimmung gelungen. Es gibt einen neuen Optimismus, eine kaum noch gekannte Aufbruchstimmung im Lande, die sich weniger, wie ursprünglich befürchtet, in eng konservativen Wertorientierungen als in wachsendem Vertrauen auf die Zukunft ausdrückt. Der wirtschaftliche Wiederaufschwung der USA ist sichtbarster Ausdruck dieser neuen Dynamik in der amerikanischen Gesellschaft. Wie sehr dies mit der Persönlichkeit Reagans verknüpft ist, zeigte'die erste Fernsehdebatte zwischen Reagan und Mondale am 7. Oktober 1984, als Mondale dem Präsidenten eben dies ausdrücklich als Verdienst seiner Amtszeit anrechnete. In einer zweiten Amtszeit Carters hätte es z. B. möglicherweise — seine eigene Programmatik sah dies jedenfalls vor — ähnliche Anstrengungen zur Wiederherstellung militärischer Stärke gegeben wie unter Reagan, und dennoch würde dies kaum die demoralisierte Grundstimmung verändert haben, die nicht minder die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten einer Weltmacht bestimmt als die verfügbaren Machtmittel.

Es gibt also einen neuen Optimismus in den Vereinigten Staaten. Aber erst in einer zweiten Amtsperiode Reagans dürfte sich zeigen, ob daraus eine neue oder wiederentdeckte Finalität der amerikanischen Gesellschaft entsteht, die dann auch unabsehbare Wirkung in der Welt haben würde. Schon eine Abwahl Reagans könnte dies verändern. Im Falle seiner Wiederwahl würde die wirtschaftliche Entwicklung der kommenden Jahre darüber entscheiden, ob sein Verdienst säkular oder kurzlebig war und ist. Vor der Rede zur Annahme seiner erneuten Kandidatur in Dallas gab es in den amerikanischen Medien beinahe ein Unisono hoher Erwartungen, die auf eine noch unsichere Hoffnung darauf hinwiesen, daß der Präsident die neue Stimmung im Lande durch eine politische Programmatik ergänzt, in der sich Zukunftsglaube mit Machbarkeit verbindet Aber die Rede hinterließ dann ein Gefühl, daß das Versprechen der Zukunft sich mehr auf den alten amerikanischen Traum und das Erreichte der letzten vier Jahre stützt als auf eine Erkenntnis des Notwendigen, das als gemeinsame Aufgabe mitgetragen werden kann.

Die Stimmung im Lande ist das Verdienst Reagans; sie in den nächsten Jahren durch Programmatik und Dynamik zu stabilisieren, würde von vielem abhängen, das seiner Kontrolle entzogen ist. Daß es ein wirkliches Substrat für den neuen Optimismus gibt, mag sich am sinnfälligsten darin ausdrücken, daß die Zustimmung zu Reagan in der amerikanischen Gesellschaft in den beiden jüngsten Altersklassen am größten ist, aber darin liegt eben auch ein Maß für die mögliche Intensität künftiger Enttäuschung. Nur, keine Politik Reagans hätte diese Möglichkeit ausschließen können, und die Eigenarten seiner politischen Handlungsweise, die den Umschwung im Lande hervorgebracht haben — die Verbindung von persönlicher Ausstrahlung, präsidialem und in diesem Sinne überparteilichem Auftreten, Konzentration auf vorrangige Aufgaben, Durchsetzungsvermögen sowohl gegenüber Gegnern (wie der Fluglotsen-streik 1981 mit nachhaltiger Wirkung demonstrierte) wie verfassungsmäßigen Partnern, also dem Kongreß — würden auch im Falle einer zweiten Amtszeit Reagans den Gang der amerikanischen Politik mitbestimmen.

In der Sicht Reagans und seiner Administration ist es diese Stärkung im Innern — neuer Zukunftsglaube und Wirtschaftskraft —, die auch die Weltmachtstellung der Vereinigten Staaten kräftigt. In diesem Sinne gab es einen klaren Vorrang der Innen-vor der Außenpolitik — auch in bezug auf die globale Rolle der USA Das Wirtschaftswachstum ist, wie es Reagan in seiner Georgetown-Rede formuliert hat, die „Grundlage, auf der unsere Stärke ruht und die den Menschen in die Lage versetzt, seine in ihm schlummernden Möglichkeiten zu entfalten. Ohne Wirtschaftswachstum können sich in der Innen-wie in der Außenpolitik Stärke und Kreativität weder entwickeln noch entfalten."

Diese Rückbesinnung auf die innere Stärke und deren tatsächliche Wiederherstellung auch als Grundlage für die globale Rolle der Vereinigten Staaten liegen ganz in der klassischen Tradition amerikanischer Politik, wie sie bis zur Einbindung in ein System internationaler Verpflichtungen nach 1945 gegolten hat. Das Besondere ist, daß sie sich ohne romantischen oder kalkulierten Rückzug aus diesem System von Verpflichtungen, also ohne einen neuen Isolationismus, vollzogen haben. Das außenpolitische Wirken der Welt-macht USA wurde so weniger in den Formen herkömmlicher Diplomatie gesehen, die eher als begleitende Routine verstanden wurde, sondern in der erneuerten Modellwirkung demokratischer Institutionen: „Amerikaner haben sich immer die Ausbreitung demokratischer Institutionen gewünscht, und dieses Ziel rückt näher. In unserer eigenen Hemisphäre sind 27 Länder Lateinamerikas und der Karibik entweder demokratisch oder auf dem Wege zur Demokratie. Dort leben 90 Prozent der Bevölkerung der Region — gegenüber 50 Prozent noch vor einem Jahrzehnt."

III.

Der Vergleich mit der europäischen Phase amerikanischer Außenpolitik, nämlich jener der ersten Amtszeit Richard Nixons, läßt die Eigenarten der derzeitigen Politik besonders hervortreten: Nixon übernahm die Verantwortung, als die Vereinigten Staaten durch ihre Verstrickung in Vietnam außenpolitisch völlig gelähmt waren und im Innern einen in 100 Jahren ungekannten Zerfall staatlicher Autorität erlebten. Auch Nixons Ziel war die Wiederherstellung eines starken und handlungsfähigen Amerikas, aber seine Vorstellung von der Revitalisierbarkeit der USA im Innern war eng begrenzt: Nixon sah in der staatlichen Autorität nur das Regulativ für eine ihren eigenen Kräften überlassene Gesellschaft, deren Dynamik er seinem Einfluß weitgehend entzogen glaubte.

In der Tat hätte es kaum ein anderer Präsident der letzten Jahrzehnte weniger vermocht, die Vereinigten Staaten zu einer Rückbesinnung auf ihre inneren Kräfte hinzu-lenken als Richard Nixon. Aber in der Situation war eben auch eine historische Herausforderung angelegt, die seinem Naturell und seiner besonderen Begabung in einzigartiger Weise entgegenkam. Eine Rückwendung auf sich selbst hätte in jener Phase in einen auch für die amerikanische Republik verhängnisvollen Isolationismus geführt, und zwar in einer Zeit, in der zunehmend offensichtlich geworden war, daß die USA wie es Kissinger formuliert hat, „eine Welt im Stich lassen (würden), die viel komplexer, gefährlicher und abhängiger von der führenden Rolle Amerikas war als die Welt der dreißiger Jahre. Deshalb betrachtete die Nixon-Regierung es als ihre Aufgabe, das Fundament für eine langfristige amerikanische Außenpolitik zu legen". In einer Neuordnung des internationalen Systems, die den Vereinigten Staaten verantwortungsgemäße Handlungsfähigkeit zurückgeben würde, wurde der Weg zu einer Erneuerung auch im Innern gesehen. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß diese Grundlegung einer neuen amerikanischen Außenpolitik gelang und ihre Fortführung dann dennoch gerade an innenpolitischen Umständen scheiterte, die das Land noch stärkeren inneren Erschütterungen aussetzten als der VietnamKrieg, während nachfolgende Administrationen zwar noch vom außenpolitischen Kapital der Nixon-Kissinger-Politik zehrten, aber wie schon Nixon selbst seit dem Sommer 1973 die Außenpolitik im wesentlichen als Mittel innenpolitischer Machterhaltung benutzten, was schließlich die außenpolitische Praxis nicht nur zunehmend auf wenige Bereiche wie die Rüstungskontrollpolitik schrumpfen ließ, sondern sie in diesen Bereichen fast völlig unter die Imperative der Innenpolitik stellte.

Auch Reagan übernahm sein Amt in einer Zeit, in der die USA außenpolitisch zunehmend handlungsunfähig wurden und im Innern durch die schwindende Weltmachtrolle ebenso wie die Schwächung der Wirtschaft demoralisiert waren. Eine Kontinuität der Außenpolitik verbot sich von selbst, da die Endphase der Carter-Administration demonstriert hatte, in welche Verstrickung eine Außenpolitik führt, die bei schwindenden Handlungsoptionen ganz in den Dienst innenpolitischer Machterhaltung gestellt wird. Das Scheitern von SALT II und die Abwahl Carters waren gleichermaßen Ausdruck dieser in einem Teufelskreis befangenen Politik. Die internationale Situation mit zunehmend handlungsunfähigen Verbündeten in Westeuropa und einer Sowjetunion, deren Führungskrise darin zum Ausdruck kommt, daß Reagan es in seiner ersten Amtsperiode mit drei Generalsekretären der KPdSU zu tun hatte, bot kaum die Möglichkeit zur Rekonstruktion wie in den ersten Nixon-Jahren. Die Reagan-Administration hätte ihrer eigenen Disposition nach eine solche Gelegenheit zudem wohl kaum wahrgenommen. Reagan ging den genau umgekehrten Weg wie Nixon, die Stellung der Vereinigten Staaten durch eine Revitalisierung der amerikanischen Gesellschaft zu stärken.

Waren voraufgegangene Administrationen vor allem durch den Dualismus von State Department und Weißem Haus in der Formulierung und Ausübung der Außenpolitik bestimmt, so mußte Alexander Haig im Rückblick konstatieren — und viele Beobachter stimmen darin mit ihm überein —, daß das Interesse des Weißen Hauses an der eigentlichen Außenpolitik gering war Zwar hatte es unter Haig frühe Anstrengungen gegeben, um, wenngleich mit weniger Subtilität als in den Kissinger-Jahren, eine zusammenhängende Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion zu konzipieren, aber der Versuch miß. lang. Es fehlten die inneren, vor allem personellen, Voraussetzungen. Das Weiße Haus hätte am liebsten die äußeren Wirkungen der inneren Wiedererstarkung abgewartet. Zugleich gab es eine begleitende politische Rhetorik, die von manchen politischen Ratgebern Reagans für notwendig gehalten wurde, um Kongreß und öffentliche Meinung zu mobilisieren, von anderen aber eher benutzt wurde, um gerade angesichts einer sehr pragmatischen Diplomatie den rechten Flügel der Republikaner zu beruhigen (genau wie es in der letzten Phase der Regierung Helmut Schmidts gegenüber dem linken Flügel der SPD geschehen ist).

Unter diesen Umständen —, also ohne Gesamtkonzept, ohne aktive Rolle des Weißen Hauses, jedoch mit einer bisweilen schrillen, wenngleich ganz auf innenpolitische Zwecke gerichteten Rhetorik — mußte das Geschäft der Diplomatie fortgeführt werden. Diese Aufgabe wurde weiter erschwert dadurch, daß einerseits die bevorzugten Instrumente der Diplomatie der siebziger Jahre weitgehend diskreditiert waren, andererseits die praktischen außenpolitischen Herausforderungen den Rekurs auf eben diese Instrumente unvermeidlich machten, bevor im Zuge einer erfolgreichen inneren Erstarkung der USA doch ein zusammenhängendes außenpolitisches Konzept entstehen konnte und eine zweckmäßige Weiterentwicklung von Instrumenten wie der Rüstungskontrolle erfolgt war.

Der sogenannte Doppelbeschluß illustriert die resultierenden Schwierigkeiten amerikanischer Diplomatie in dieser Phase klassisch. Die Administration war im Gegensatz zur Carter-Administration der Endphase unter militärischen Gesichtspunkten eher gegen eine Landstationierung von Mittelstrecken-waffen in Westeuropa. Zugleich begegnete sie dem Rüstungskontrollelement des Doppel-beschlusses mit großer Skepsis, da sie eher eine grundsätzliche Neuorientierung der Rü-stungskontrollpolitik anstrebte, zudem aber die innenpolitischen Belastungen vorprogrammiert sah, wie sie dann auch tatsächlich eintraten.

In dieser Lage war es vor allem Haig, der westeuropäischen Forderungen nach Verhandlungen weit entgegenzukommen bereit war und der die USA auf beide Teile des Doppelbeschlusses festlegte. Das Resultat fiel indessen genauso aus, wie es die Skeptiker vorhergesagt hatten: Die INF-Verhandlungen mit der Sowjetunion führten zu nichts und konnten a priori zu nichts führen, da die politische Zielsetzung der Sowjetunion — vertraglicher Verzicht auf die Stationierungsmöglichkeit für amerikanische INF in Westeuropa unter Beibehaltung sowjetischer Mittelstreckenwaffen gegen Westeuropa — jeden Kompromiß ausschloß.

Die öffentliche Meinung, soweit sie gegen eine Stationierung mobilisiert worden war, blieb von der Tatsache der Verhandlungen unbeeindruckt, wollte einen einseitigen Verzicht auf westliche Stationierung und entzog damit zugleich der Rüstungskontrollpolitik jede Grundlage, lastete deren Scheitern indessen gleichwohl den USA an. Die tatsächliche Stationierung der INF schließlich, also der Waffen, auf welche die Reagan-Administration von sich aus eher verzichtet hätte, wurde vor allem in Teilen der öffentlichen und vor allem veröffentlichten Meinung in der Bundesrepublik als zielstrebige Implementierung einer angeblich neuen amerikanischen Nuklearstrategie dargestellt, während in der Administration tatsächlich der Vorrang eher bei konventionellen Ersatzmöglichkeiten für nukleare Waffen in einem europäischen Konflikt liegt

IV.

Obwohl diese praktischen Schwierigkeiten amerikanischer Außenpolitik in den letzten Jahren vor allem in Westeuropa zeitweilig von vehementen Protesten und Antiamerikanismen begleitet waren, hat dies weder die Stellung des Präsidenten noch die Wiedererstarkung Amerikas irgendwie beeinträchtigt. Nichts zeigt deutlicher, daß Westeuropa und vor allem Länder wie die Bundesrepublik hier bisweilen im Begriff sind, sich gegenüber den Vereinigten Staaten zu marginalisieren. Die Tatsache einer amerikanischen „Friedensbewegung“ — übrigens von ähnlich geringer Konsistenz wie in der Bundesrepublik — mag in Westeuropa zeitweilig dazu beigetragen haben, die Entwicklung in der amerikanischen Öffentlichkeit völlig zu verschätzen. In Teilen der veröffentlichten Meinung in der Bundesrepublik und manchen anderen westeuropäischen Staaten wird man jedenfalls umdenken müssen angesichts der Tatsache, daß Präsident Reagan trotz der vor allem auf ihn gerichteten anti-nuklearen Bewegung in Umfragen auch in der Frage der Friedensbewahrung größeres Vertrauen genießt als sein demokratischer Herausforderer. Dieses dürfte vor allem dann besonders die westeuropäische Linke vor die Notwendigkeit des Umdenkens stellen, wenn Präsident Reagan im Falle einer zweiten Amtszeit, wie es die meisten amerikanischen Beobachter vermuten, auf der Grundlage eines wiedererstarkten Amerikas einen breiten Dialog mit der Sowjetunion versuchen wird.

Die Wiedererstarkung Amerikas, die sich weit mehr auf wirtschaftlicher als etwa auf militärischer Ebene vollzogen hat, war dadurch charakterisiert, daß die Außenpolitik nicht im Dienste innenpolitischer Machterhaltung betrieben wurde und außer bei Ausnahmen — und dort mit Schaden — auch keine besondere Rücksicht auf Verbündete geübt wurde, deren Zustimmung — dies Gefühl ist über alle Parteigrenzen in den USA verbreitet — ohnehin nicht zu erwarten wäre, was immer die Vereinigten Staaten auch tun: Wahrnehmung der Führungsrolle oder Zurückhaltung. Aber für den weiteren Gang und gerade im Falle einer aktiveren Diplomatie während einer zweiten Amtszeit Reagans würde das Zusammenwirken der Hauptpartner im westlichen Bündnis wieder notwendig. Das weiß man auch in Washington.

Wie groß der tatsächliche Spielraum für ein Zusammenspiel der USA und Westeuropas dann ist, wird vor allem davon abhängen, ob man in Westeuropa die Realität amerikanischer Politik besser zu verstehen und einzuordnen vermag als während der ersten Amtszeit Reagans. Die Abhängigkeit Westeuropas von den USA nimmt zu, nicht ab. Aber die Bereitschaft der USA westeuropäische Interessen ohne ausreichende westeuropäische Unterstützung wahrzunehmen, nimmt ab, nicht zu. D. h. es wird an Westeuropa und namentlich an Staaten wie der Bundesrepublik und Frankreich liegen, für gemeinsame Probleme des Bündnisses Lösungsmöglichkeiten und Verfahren zu entwickeln, durch die den Vereinigten Staaten konstruktive Rollen in Europa und anderen kritischen Regionen neu zuwachsen. Nur so entgeht Westeuropa der fatalen Wahl zwischen amerikanischem Unilateralismus und einem Disengagement der USA.

Die bisherigen Reaktionen in Westeuropa lassen daran zweifeln, daß es zu einer solchen Haltung fähig ist. In den ersten Jahren der Amtszeit Reagans waren Kritik und Unverständnis nirgendwo so stark wie in der Bundesrepublik und einigen weiteren westeuropäischen Ländern, obwohl sich dies gerade an Fragen entzündete, in denen die USA etwas widerstrebend westeuropäischen Forderungen nachgegeben hatte. Was man vor allem gefährdet sah, war Kontinuität im Umgang mit der Sowjetunion, obwohl es diese Kontinuität Anfang der achtziger Jahre schon nicht mehr gab und Optionen für eine solche Politik kaum noch existierten.

Heute scheint in Westeuropa wiederum der Wunsch nach Kontinuität vorzuherrschen, die man nun überwiegend in einer zweiten Amtszeit eher gesichert sieht als mit einem Präsidenten Mondale. Dies weist zunächst auf die schwierige Strukturbedingung des westlichen Bündnisses hin, daß es von den USA geführt wird, daß aber gerade die amerikanische Politik gegenüber der Sowjetunion durch charakteristische Schwankungen bestimmt ist. Aber es mag auch die Erwartung darin zum Ausdruck kommen, daß ein breiter Dialog mit der Sowjetunion eine Rückkehr zu der Entspannungspolitik der siebziger Jahre und vor allem der Rüstungskontrollpolitik jener Jahre bedeuten würde. Dies wäre so kurzsichtig und abwegig wie die verbreitete Verwechslung der inneren Wiedererstarkung mit einem Streben nach militärischer Überlegenheit. Ein wiedererstarktes Amerika, wenn es denn dabei bleiben sollte, erweitert die Handlungsmöglichkeiten westlicher Diplomatie gegenüber der Sowjetunion, und eben dies war Reagans Ziel. Aber ein solcher Partner ist für Westeuropa auch nicht einfach in eine gemeinsame Formelpolitik einzubinden, wie dies in Bonn und anderswo etwa zu Zeiten Haigs für möglich gehalten wurde — mit charakteristischen Folgen für Haig. Er wird eine selbstbewußtere Politik Westeuropas erfordern, die sich aber eben nicht in Abgrenzung von den USA, sondern in einer eigenen Vision von Gemeinsamkeit mit den USA und in, wo nötig, neuen Formen der verantwortlichen Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten ausdrücken müßte.

Nur dann würde eine innere Wiedererstarkung der USA, die in Westeuropa so viel Unverständnis gefunden hat, sich auf eben dieses Westeuropa ausdehnen können, das trotz aller Träumereien von einer möglichen Mittelstellung zwischen den Supermächten auf Gedeih und Verderb mit den Vereinigten Staaten verbunden bleibt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Rede vor dem Zentrum für Strategische und Internationale Studien der Georgetown-Universität am 6. April 1984, abgedruckt in: Amerika Dienst, 11. April 1984, S. 2f.

  2. Ebd., S. 17. ,

  3. Henry S. Kissinger, Memoiren 1968— 1973, München 1979, S. 76.

  4. Alexander M. Haig Jr, Caveat. Realism, Reagan, and Foreign Policy, New York 1984, S. 357.

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