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Politik aus der Basis — Herausforderung der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie | APuZ 47/1983 | bpb.de

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APuZ 47/1983 Artikel 1 Politik aus der Basis — Herausforderung der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie Eliteforschung in der Bundesrepublik Deutschland Policy-Forschung -ein sinnvoller Schwerpunkt der Politikwissenschaft?

Politik aus der Basis — Herausforderung der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie

Bernd Guggenberger/Claus Offe

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Zusammenfassung

Das Mehrheitsprinzip ist kein voraussetzungsfreies politisches Formprinzip. Die Herausforderungen durch den wachsenden Bürgerprotest und die schwindende Akzeptanz weitreichender politischer Entscheidungen geben uns Anlaß, die Voraussetzungen, an welche die integrative Kraft und die Rechtfertigungsfähigkeit der Mehrheitsregel gebunden sind, wieder deutlicher ins Bewußtsein zu heben: Damit die Mehrheit für die Gesamtheit entscheiden kann, muß erst ein geeinter, von allen bejahter Verband existieren, welcher Mehrheitsentscheidungen auch für abweichende Minderheiten erträglich macht Nur fundamentale Gemeinsamkeiten dieser Art, deren Existenz und Erhaltungswürdigkeit von aktuellen Mehrheiten und Minderheiten gleichermaßen anerkannt werden, sichern langfristig die Möglichkeit und Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen. Übergangszeiten, Zeiten des tiefgreifenden Wert-und Orientierungswandels, die mit einem hohen Grad an Ungleichzeitigkeit in der Wahrnehmung und Deutung von Situationen einhergehen, können für die Anwendbarkeit der Mehrheitsregel als Pazifizierungsinstrument sehr enge Grenzen ziehen. Wenn eine Gesellschaft sich gleichsam in mehrere Teilkörperschaften aufspaltet, gewinnen regelmäßig zusätzliche Konfliktlösungsstrategien jenseits der Mehrheitsentscheidung an Aktualität. Das Mehrheitsprinzip ist eine notwendige, keineswegs jedoch bereits die hinreichende Bedingung für Demokratie. Nur im spannungsreichen Zusammenwirken mit einer Vielzahl anderer Bedingungen und Prinzipien begründet die Mehrheitsregel Demokratie. Die Berufung auf die empirische Mehrheit wird als Legitimitätsgrundlage brüchig und haltlos, wenn der negativ entscheidungsbetroffene Bevölkerungsteil sich in fundamentalen Interessen wie denen an überleben, Sicherheit, Freiheit, Glück, Menschenwürde, lebenswerten Umweltbedingungen usw. betroffen wähnt. Mit den „Mitteln der Normalität" lassen sich politische Konflikte nur dort bewältigen, wo in der Wahrnehmung aller Beteiligten „die Normalität“ nicht suspendiert wird. Die Funktionslogik der Mehrheitsdemokratie setzt nicht nur den Umweltschützern, den Atom-und Nachrüstuingsgegnern Grenzen, sondern zwingt auch den politischen Exponenten des forcierten sozialen und technologischen Wandels Rücksichtnahme auf und weist ihnen Schranken, die sie nur um den Preis einer Gefährdung des Prinzips mehrheitlicher Entscheidungsfindung mißachten können.

Die großen Themen der politischen Philosophie erlauben keine abschließenden Antworten. Zum Kreis solcher „auf ewig" fragwürdigen Bestände gehört auch das Grundproblem aller politischen Philosophie und aller politischen Praxis: Wie wird aus Vielheit Einheit? Welchen sozialen Ursachen, welchen politisch-institutionellen Wirkungszusammenhängen verdanken sich die spezifisch aggregativen Leistungen des politischen Gemeinwesens? Wie gelingt es, die empirische Vielheit der einzelnen mit ihren ganz unterschiedlichen Gefühlen, Meinungen, Vermögen, Interessen und Aspirationen zu einem aktionsfähigen Gesamtkörper zu „formieren"? Ganz unabhängig von der jeweiligen Staatsform und den besonderen historisch-politischen Umständen — jeder Politiker, ob Diktator, Demokrat oder Dauerrevolutionär, muß auf diese Frage eine erfolgsverbürgende „Antwort" finden, damit aus der Vielheit der spontanen Willenseinheiten ein zur Durchsetzung verbindlicher Entscheidungen fähiger Willensverband wird. Bei der Gewährleistung dieser politischen Grundfunktion der Willensvereinheitlichung wurde und werden höchst unterschiedliche Wege beschritten, die jeweils andere „Einigungsmittel" erfordern: Zwang und Terror, Gottesgnadentum und religiöse Gemeinschaft, Geschichte und Nation, ideologische Geschichtszielbenennungen und materielle Interessenübereinkunft, Expertenmeinungsmacht und Führer-charisma und — last but not least — das für die modernen demokratischen Verfassungsstaaten dominante Mittel politischer Willens-vereinheitlichung: der Mehrheitsentscheid.

Die mehrheitliche Entscheidungsfindung zielt letztlich darauf ab, die Einheit des Ganzen gegenüber dem Antagonismus der Teile zur Geltung zu bringen. Wahlen und Abstimmungen, bei denen auch die Minderheit sich schließlich dem Mehrheitswillen fügt, sind unter den Bedingungen modernen Regierens für die Gesellschaftsbildung wie für die Exi-stenz und den Fortbestand des gesellschaftlichen Verbandes gänzlich unverzichtbar. Dabei trägt der Mehrheitsentscheid beidem Rechnung: dem Freiheitsanspruch der Subjekte und dem Verbindlichkeitsanspruch des sozialen Ganzen. Er berücksichtigt den Führungs-und Konsensbedarf der Gesellschaft, ohne das gleichermaßen unvermeidliche wie sozial erwünschte Maß an Konflikt und individueller Abweichung autoritativ einzuebnen. Er befähigt die Gesellschaft zu einheitlichem Handeln, ohne den Reichtum individueller Vielfalt zu ersticken. Er ist zweifellos der Mechanismus der Entscheidungsproduktion, welcher sowohl der neuzeitlichen Entdekkung des Individuums, seiner Subjektqualitäten als sozialem und politischem Handlungsträger, als auch dem kometenhaften Aufstieg des Staats, dem dramatischen Anwachsen des kollektiven Handlungsbedarfs in modernen Gesellschaften, am deutlichsten entspricht. Er strukturiert in geradezu „genialer" Einfachheit den Meinungs-und Interessenstreit der Individuen und Gruppen, indem er ihn schließlich in ein einheitliches Beschlußresultat einmünden läßt.

Die „modernen" politischen Systeme der kapitalistischen Industriegesellschaften des Westens tragen dem Problem der politischen Versöhnung von Differenz und Einheit also vor allem dadurch Rechnung, daß sie dem Entscheidungsverfahren der Mehrheitsregel , einen zentralen Platz zuweisen. Auf der einen Seite ist „Modernität" in gewissem Sinne gleichbedeutend mit struktureller und funktionaler Differenzierung der Gesellschaft, also mit einer Pluralität von koexistierenden Interessen, funktionalen Bezügen und Wertsystemen, deren Vielfalt sich kaum dauerhaft reglementieren und nicht einmal autoritär oder totalitär gleichschalten und politisch verantworten, ordnen oder in ein hierarchisches Schema pressen ließe; jedenfalls ließe sich ein solches Schema weder legitimieren noch implementieren. Auf der anderen Seite scheint aber gerade jene Differenziertheit und Pluralität einen Einigungs-, Regelungs-, Koordinierungs-und Lenkungsbedarf nach sich zu ziehen, der weder ignoriert noch nach dem Vorbild materiell „wahrer“ Norm-Er-3

Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um Aen. V orabdruck des Einleitungskapitels zu dem and: Bernd Guggenberger/Claus Offe, Grenzen o« Mehrheitsdemokratie, Frankfurt 1984. kenntnisse abgearbeitet werden kann. Die Bewältigung dieses politischen Dilemmas der Modernität hat man sich nun davon versprochen, daß man das unverzichtbare Maß an Einheit nicht mehr über die materielle (und zeitlich unlimitierte) theoretische „Erkenntnis" des politisch Richtigen zustande zu bringen suchte, sondern vielmehr über die formelle und befristete empirische Feststellung des mehrheitlich Präferierten. Diesem Gegensatz entspricht der zwischen Parteien als „Weltanschauungsparteien''und Parteien als programmpolitisch „opportunistischen" Machterwerbsgruppen, die den Test ihrer empirischen Mehrheitsfähigkeit laufend zu bestehen haben und sich demgemäß auf dessen Bewältigung konzentrieren.

Die Einheit des politischen Gemeinwesens wird nicht mehr auf zeitlich prinzipiell unlimitierte Wahrheitsansprüche gegründet, sondern auf zeitlich limitierte und sachlich spezifizierte empirische Mehrheitsentscheidungen, die immer vorläufig und revidierbar sind und mithin die Differenz nicht auslöschen, sondern bewahren und bestätigen.

Bei aller Konsequenz und Eleganz dieser auf dem Prinzip der Mehrheitsdemokratie aufbauenden modernen Lösung des Problems der politischen Versöhnung von Differenz und Einheit bleiben zwei Fragen übrig, die als solche zwar keineswegs neu sind, heute (insbesondere) in der Bundesrepublik jedoch eine bemerkenswerte Virulenz zu entfalten scheinen. Es handelt sich erstens um die Frage, ob im Rahmen dieser verfassungspolitischen Problemlösung der Mehrheitsdemokratie (und gegebenenfalls wie) gewährleistet werden kann, daß tatsächlich nichts anderes als die numerische Mehrheit der Staatsbürger zum Konstituens der jeweils. amtierenden politischen Eliten und ihres Herrschaftsrechts wird. Denn andernfalls könnte es — wie etwa in autoritären Regimes, die in Mehrheitsentscheidungen ebenfalls oft und gern Akklamation und Scheinlegitimation suchen — dazu kommen, daß zwar nicht explizite politische Doktrinen, sehr wohl aber faktische Machtpositionen von gesellschaftlichen oder politischen Minderheiten für den Inhalt politischer Herrschaftsausübung maßgeblich werden. Diese Frage bezieht sich also auf den Grad und die Zuverlässigkeit, in dem bzw. mit der die Gleichheitsnorm verwirklicht, die Agenda der politischen Entscheidungsthemen „offen" und die Freiheit der politischen Willensbildung und Organisation verbürgt sind. Die andere Frage betrifft zweitens das Problem, ob im Rahmen der verfaßten Körperschaft des Staatsvolkes damit gerechnet werden kann, daß die Bindungskräfte einer historischen nationalen Gemeinschaft faktisch stark genug sind, um jedem Mitglied den Gehorsam gegenüber Mehrheitsenscheidungen abzunötigen, ob also ein konstitutiver Konsens unterstellt werden kann, der die Vielzahl der Bürger zu einem als existent betrachteten, erlebten und gewollten Verband eint, — und in welchen Grenzen gegebenenfalls das politische Recht der Mehrheit von diesem Konsens gedeckt ist, bzw. welche konkreten Entscheidungen ihn umgekehrt brüchig werden lassen. Hier geht es also darum, die Tatsache zu beherzigen, daß Mehrheiten nicht „von selbst’ im Recht sind, sondern nur dank einer vorpolitisch verankerten, aber nicht unzerstörbaren kollektiven Identität, aus der sie ihr Recht der Herrschaftsausübung wie aus einer Lizenz herleiten.

Beide Fragenkomplexe sind schon in der klassischen Begründung des Mehrheitsprinzips durch John Locke gegenwärtig. Er schuf in der Kombination des Vertragsgedankens mit der Annahme unveräußerlicher Grund-und Menschenrechte die systematische Basis für die ideen-und institutionenpolitische Grundlegung der Mehrheitsregel als gesamtstaatlichem Entscheidungsfindungsmuster. Erst in diesem Begründungskontext erhält die Mehrheitsregel die höheren Weihen eines „Prinzips“. Als technisches Instrument kollektiver Willensermittlung hat sie eine lange vordemokratische Tradition, die sich von den im römischen (Adels-) Senat praktizierten Abstimmungsverfahren über die Entscheidungsfindung in den mittelalterlichen Korporationen bis zur schließlichen Mehrheitswahl der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches erstreckt, welche die Goldene Bulle von 1356 endgültig sanktionierte.

Zu fast allen Zeiten haben sich auch oligarisehe Regimes auf Verfahren nach der Mehrheitsregel gestützt. Erst dort, wo es wirklich auch die substantielle Bevölkerungsmehrheit ist, die mit Hilfe der Mehrheitsregel herrscht, wird diese Regel zu einem qualitativen Kriterium der Herrschaftsausübung und ihrer Rechtfertigung. Erst im demokratischen Verfassungsstaat, der vorstaatliche Grund-und Menschenrechte anerkennt und sichert und in seinen Institutionen am Prinzip der politischen Gleichheit aller Einzelglieder ausgerichtet ist, gewinnt das Mehrheitsprinzip legitimierende Qualität, ja kann es zum Synonym für Demokratie schlechthin werden. Die demokratische Mehrheitsherrschaft war für Locke die einzige Regierungsform, welche das Spannungsverhältnis zwischen individuellem Freiheitsanspruch und kollektiver Regelungsbedürftigkeit nach beiden Seiten angemessen berücksichtigt und damit das kontradiktorische Verhältnis von Freiheit und Herrschaft im Modus der „politischen Freiheit" überwindet. Sein beredtes Plädoyer für die „Rechte der Mehrheit“ verbindet erstmals wert-und zweckrationale Argumente: Die Mehrheitsentscheidung ist, als technische Verfahrensregel, unverzichtbar zur Produktion von Entscheidungen, da Einstimmigkeit und individueller Zustimmungsvorbehalt nach dem Muster des berüchtigten „liberum veto" das Zustandekommen von Entscheidungen überhaupt blockieren würden; sie ist es jedoch nur im Rahmen einer Herrschaft der Freien und Gleichberechtigten. Im Rahmen einer anderen politischen Ordnung, für die politische Freiheit nicht essentiell wäre, würde nicht die Mehrheitsentscheidung den Zusammenhalt des Gesamtkörpers verbürgen, sondern, wie etwa noch bei Hobbes, ausschließlich die „auctoritas" und die von ihr ausgehende Furcht. Für Locke genügt es, daß die Mehrheit zustimmt, weil die Zustimmung aller praktisch nicht möglich ist; andererseits muß es aber eine Mehrheit sein, die für alle verbindlich beschließt, weil sonst die Freiheit unerträglich beschnitten würde.

Locke begründet jedoch nicht nur die Alternativlosigkeit der Mehrheitsregel in der Demokratie, sondern benennt zugleich ihre wohl wichtigste Voraussetzung: Sie kann ihre legitimitätschaffende Wirkung nur im Rahmen einer geeinten politischen „Körperschaft" entfalten. Das Einigungswerk selbst, der „original compact", ist nicht Ergebnis einer Mehrheitsentscheidung. Ein politikfähiger Körper kommt nur durch den Willen aller zustande; er besteht jedoch nur dann weiter und ist nur dann handlungsfähig, wenn'in der Folge die Mehrheit das unbezweifelte Recht hat, für die Gesamtheit verbindlich zu entscheiden. Ansonsten gliche das Eintreten in den Gesellschaftszustand Catos Besuch im Theater, der dieses bekanntlich nur betrat, um es alsbald wieder zu verlassen. Die einstimmige Vereinbarung, sich unter einer gemeinschaftlichen Regierungsgewalt zusammenzuschließen, beinhaltet für Locke automatisch auch die Zustimmung zum Recht der Mehrheit, für alle yerbindlich zu entscheiden. Eine politische Körperschaft ohne dieses anerkannte Recht der Mehrheit ist politisch inexistent. „Denn wofern die Mehrheit die übrigen nicht binden kann, können sie nicht als eine Körperschaft handeln und folgerichtig werden sie unverzüglich wieder aufgelöst werden." Der Wille zur Gesellschaftsbildung schließt, wenn er sich nicht selbst ad absurdum führen soll, die Respektierung der Mehrheitsentscheidung ein. Und umgekehrt: Damit die Mehrheit für die Gesamtheit entscheiden kann, muß erst ein geeinter, von allen bejahter Verband existieren, welcher Mehrheitsentscheidungen auch für abweichende Minderheiten erträglich macht. Die Voraussetzung für politisches Handeln ist ein tragfähiger vorpolitischer Konsens, die Teilhabe aller an einer über die formelle Rechtsgemeinschaft hinausweisenden politisch-kulturellen Identität. Nur fundamentale Gemeinsamkeiten dieser Art, deren Existenz und Erhaltungswürdigkeit von aktuellen Mehrheiten und Minderheiten gleichermaßen anerkannt werden, sichern langfristig die Möglichkeit und Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen. Übergangszeiten, Zeiten des tiefgreifenden Wert-und Orientierungswandels, die mit einem hohen Grad an Ungleichzeitigkeit in der Wahrnehmung und Deutung von Situationen einhergehen, können daher für die Anwendbarkeit der Mehrheitsregel als Pazifizierungsinstrument sehr enge Grenzen ziehen. Wenn eine Gesellschaft — von ihren maßgeblichen Motiven und Maßstäben her gesehen — sich gleichsam in mehrere Teilkörperschaften aufspaltet, gewinnen regelmäßig zusätzliche Konfliktlösungsstrategien jenseits der Mehrheitsentscheidung an Aktualität, was gegenwärtig etwa die Neokorporatismus-Diskussion in ihren Beobachtungen und Befunden über „informelles" und „extrakonstitutionelles Krisenmanagement" eindrucksvoll belegt. Im selben Maße, wie die Homogenität und die Verpflichtungsfähigkeit des Ganzen schrumpfen, verdrängen Proporzregeln und vertrags-ähnliche Vereinbarungsmuster auch das „Fallbeil" der Mehrheitsentscheidung, da für diese allein keine hinreichende Deckung durch einen präpolitischen „Kredit" und Konsens mehr unterstellt werden kann. Demokratie und Mehrheitsherrschaft sind keine deckungsgleichen Begriffe. Daher stellt auch der Begriff der „Mehrheitsdemokratie" keinen Pleonasmus dar. Das Mehrheitsprinzip ist eine notwendige, keineswegs jedoch bereits die hinreichende Bedingung für Demokratie. Nur im spannungsreichen Zusammenwirken mit einer Vielzahl anderer Bedingungen und Prinzipien (Toleranz, Mäßigung, funktionierende Öffentlichkeit, politische Lern-und Urteilsfähigkeit, Föderalismus, Gewaltenteilung, allgemeines, gleiches und freies Wahlrecht, wirksame Begrenzung der Konvertierbarkeit von gesellschaftlicher in politische Macht außerhalb von Wahlen und Abstimmungen, ein generalisierter Vertrauenskredit potentieller Minderheiten gegenüber potentiellen Mehrheiten u. a.) begründet die Mehrheitsregel Demokratie. Wir kennen aus der aktuellen Situation eine ganze Reihe beispielhafter Situationen, an denen man sich fragen kann, was denn „demokratischer" sei: das Beharren auf dem starren Prinzip der Mehrheitsentscheidung („Mehrheit ist Mehrheit") oder die Anwendung des flexibleren Prinzips des politischen Kompromisses, also der Lösung von Konflikten durch Verhandlung und vertragsähnliche Vereinbarungen zwischen den streitbeteiligten Parteien.

Unser Parteien-und Regierungssystem war und ist durchaus geeignet, Gruppenkonflikte und Verteilungskämpfe zu schlichten. Dies erfordert keinen weitreichenden Konsens, wohl aber eine annähernde Konfliktfreiheit im Grundsätzlichen. Tiefgreifende Wertkonflikte, wie sie z. B. aus Anlaß meinungspolarisierender Richtungsentscheidungen von historischer Tragweite aufbrechen oder aus der Latenz heraustreten, sind auf der Basis dieses Systems jedoch kaum auszufechten. Wird um solche Grundsatzüberzeugungen und nicht mehr nur um Interessen an Geld, Macht, Einfluß und Privilegien gerungen, so könnten die Grenzen der Integrationsfähigkeit des Mehrheitsprinzips sehr schnell erreicht sein — mit der Folge, daß bestimmte politische Entscheidungsthemen und Entscheidungen die geltenden Legitimationsgrundlagen politischen Entscheidens überstrapazieren.

Zwar kann wohl noch immer eine sich in den herkömmlichen Bahnen des Wachstums und des technischen Wandels bewegende Politik sich auf deutliche Bevölkerungsmehrheiten berufen. Was aber besagen — in der Perzeption von Minderheiten — Mehrheiten schon angesichts einer „drohenden Selbstvernichtung"? Was ist das, was apathische, ignorante . Akklamationsmehrheiten" und ihre Repräsentanten in solcher Situation tun, anderes als „Parteinahme für den Tod, die Vernichtung, ohne daß ihnen das voll bewußt (wäre)" Vermag in einer solchen Situation der Hinweis auf bestehende Mehrheitsver-hältnisse wirkliche Legitimität zu begründen, oder hat er nicht allenfalls arithmetischen und statistischen Wert für den „Vertreter eines (überholten) quantitativen Demokratieverständnisses"

Steht die staatliche Überlebensgarantie in Frage, wird sie gar durch Aktivitäten des Staates selbst in Frage gestellt, so ist, für die Betroffenen, gleichsam der Hobbes'sche Naturzustand wiederhergestellt. Die Berufung auf die empirische Mehrheit wird als Legitimitätsgrundlage brüchig und haltlos, wenn der negativ entscheidungsbetroffene Bevölkerungsteil sich in fundamentalen Interessen wie denen an überleben, Sicherheit, Freiheit, Glück, Menschenwürde, lebenswerte Umweltbedingungen usw. betroffen wähnt.

Daß das Mehrheitsprinzip kein voraussetzungsfreies politisches Formprinzip ist — die Beachtung dieses Umstandes haben wir in der politischen Philosophie wie in der politischen Praxis vernachlässigt. Es sind gegenwärtig eigentlich kaum „neue" theoretische Einsichten, welche die Erörterung des Mehrheitsprinzips auf die Tagesordnung setzen. Es sind die Herausforderungen durch den wachsenden Bürgerprotest und die schwindende Akzeptanz weitreichender politischer Entscheidungen der letzten Jahre, die uns Anlaß geben, die Voraussetzungen, an welche die integrative Kraft und die Rechtfertigungsfähigkeit der Mehrheitsregel gebunden sind, wieder deutlicher ins Bewußtsein zu heben.

Es scheint an der Zeit, alle Streitparteien mit einigen demokratietheoretischen Selbstverständlichkeiten (wieder) vertraut zu machen: daß die Verfassung nicht nur den Umwelt-schützern, den Atom-und Nachrüstungsgegnern Grenzen setzt, sondern daß die innere Funktionslogik der Mehrheitsdemokratie auch den politischen Exponenten des forcierten sozialen und technologischen Wandels Rücksichtnahme aufzwingt und Schranken weist, die sie nur um den Preis einer Gefährdung des Prinzips mehrheitlicher Entscheidungsfindung selbst, d. h.der umfassenden Anerkennung seiner Geltung, mißachten können. Auch unter den Handlungsbedingungen der Mehrheitsdemokratie gilt, daß niemand mit 51 Prozent der Stimmen „die Welt verändern" darf. Eine einmal erteilte Wählerstimmenmehrheit ist kein Freifahrschein für alle Zeiten und auch keiner, bei dem man die Route nach Belieben wählen kann. Die Er-3 mächtigung durch Wählermehrheiten ist ein sachlich und zeitlich eng umschriebenes Mandat. Für denjenigen, der politisch etwas durchsetzen will, genügt es nicht, bloß eine Mehrheit für sich und seine Ziele zu gewinnen. Um sich durchzusetzen, sich zu behaupten, sprich: um zu gewährleisten, daß die Mehrheitsentscheidung als verbindlich für alle akzeptiert wird, muß es ihm auch gelingen, die Minderheiten) „bei der Stange zu halten"; d. h. sich auf geltende Gründe und Normen berufen zu können, die ihre Folgebereitschaft motivieren können. Zwar ist es nicht nötig, auch die Minderheit von der jeweiligen Entscheidung inhaltlich zu überzeugen; aber es gilt zu verhindern, daß eine Situation entsteht, in der sich Minderheiten durch Mehrheitsentscheidungen gleichsam zwangsweise „ausgebürgert" fühlen können.

Signalisiert die aktuelle Wahrnehmungs-und Bewußtseinszäsur, daß wir am Ende einer Epoche stehen, zu der auch der demokratische Verfassungsstaat samt der Mehrheitsregel als dem Grundelement politischer Willensbildung gehört? Befinden wir uns in einer Situation des Übergangs, in der die Tugenden von gestern zu den Lastern und Belastungen der Stunde werden? Ist die Mehrheitsdemokratie in ihrer aktuellen Struktur gar nicht jenes finale Verfassungsereignis, zu der sie gerne stilisiert wird? Und wenn denn hinterfragt werden muß, was längst fragwürdig geworden ist, wenn ergänzt und weiterentwickelt werden muß, was angesichts der historisch in vieler Hinsicht unvergleichlichen Herausforderungen der vor uns liegenden Zukunft sich längst als unzulänglich erwiesen hat — in welcher Richtung müssen wir weiterdenken, unter welchen Gesichtspunkten, nach welchen Prinzipien wären die zentralen Bestandteile unserer politischen Ordnung zeit-und problemangemessen fortzuschreiben, um unter gewandelten Zeitumständen ihre Vorzüge zu erhalten? Nicht diejenigen, die so fragen, stimmen den . Abgesang auf einen Verfassungstyp" an, der sich im großen und ganzen bewährt hat; viel eher schon sind diejenigen verantwortlich zu machen, die diese notwendigen Fragen mit Denk-und Erörterungsverboten zu unterbinden versuchen. Und erst recht diejenigen, die unter oft genug fiktiver Berufung auf empirische Mehrheitsverhältnisse Entscheidungen forcieren, von denen man wissen kann, daß sie die Mehrheitsregel als politisches Legitimationsprinzip zu verschleißen drohen.

Der moderne Verfassungsstaat begann mit der Bändigung und Entwaffnung der (konfessionellen) Bürgerkriegsparteien, mit der Monopolisierung der Mittel legitimer physischer Gewaltsamkeit durch den Staat, kurz: mit der Durchsetzung der Souveränität, des innerstaatlichen Friedens. Seine weiteren Entwicklungsabschnitte lassen sich mit der Parole der Französischen Revolution umschreiben: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Der Bogen spannt sich also von der staatlichen Gewährleistung allgemeiner Überlebens-und Sicherheitsrechte („Frieden") über die Garantie persönlicher Freiheitsrechte, die unveräußerlichen Grund-und Menschenrechte („Freiheit") und die Verankerung politischer Teilhabe-und Mitwirkungsrechte („Gleichheit") bis zur anhaltend umkämpften Gewährleistung wohlfahrtsstaatlicher (Bürger-) Rechte („Brüderlichkeit"). An diesem Punkt scheint jedoch die Entwicklungsdynamik keineswegs zu Ende zu sein. Hinter und jenseits dieser vierten Stufe, der Sozialstaatsgarantie, zeichnet sich bereits eine neue Dimension von Ansprüchen und verfassungsrechtlichen Gewährleistungsforderungen ab, die zwar weder den „souveränen“ Bürgerkriegsverhinderungsstaat noch den Toleranzen-und Grundrechtestaat, weder die Volkssouveränität noch die moderne Rechts-und Sozialstaatlichkeit a limine in Frage stellen, gleichwohl jedoch die vorangegangenen Stufen und Rechtsansprüche u. U. entscheidend relativieren könnten: Die Rede ist von der „Neuentdeckung" der Umwelt-und Lebensrechte, genauer, der Forderung nach einer Art „Verfassungsgarantie" für ökologische und lebensweltliche Unversehrtheitsansprüche gegenüber den Imperativen industriellen Wachstums und sozialer wie militärischer Sicherheit.

Neben und jenseits des Fragehorizontes nach der angemessenen, Frieden, Freiheit, Gleichheit und Solidarität verbürgenden verfassungspolitischen Ordnung schiebt sich immer mehr der radikale Rückbezug aller die politische Existenz des Staatsbürgers betreffenden Fragen auf den Bedürfniskontext des Menschen und die elementaren Determinanten seiner Gesamtexistenz in den Vordergrund. Die „Lebensweise" der Menschen, die psychischen und physischen „Umwelt-Bedingungen" entscheiden zunehmend über die Rechtferti7 gungsfähigkeit der politischen Ordnung. Legitimität gerät in direkte Abhängigkeit von der subjektiven Wahrnehmung und Beurteilung der eigenen Lebenschancen und Lebensbedürfnisse. Hält man diese für gefährdet oder bedroht, wie es heute bereits in vielen umweltrelevanten Entscheidungsbereichen der Fall ist, so schlagen sich solche Wahrnehmungen unmittelbar als Legitimitätszweifel nieder, die durch den Verweis auf Mehrheitsentscheidungen kaum zu beschwichtigen sind. Die vielfach politisch veranlaßten, fast immer politisch mitzuverantwortenden Beeinträchtigungen humaner Lebensverhältnisse geraten somit in den Rang eines Legitimitätsproblems.

Die Erfahrung, daß man auch „friedlich", „in Freiheit", „demokratisch" und sogar „wohlstandsgesegnet" in die Katastrophe „schlittern" kann, daß die politischen und institutionellen Grund-und Menschenrechtsgarantien, daß Mitwirkungsrechte und soziale Absicherung noch längst nicht die bedrohlichen Schatten zivilisatorischer Inhumanität zu bannen vermögen — diese Erfahrung hat im politischen Einzugsbereich der neuen sozialen Bewegungen eine Verunsicherung des Vertrauens in das herkömmliche Verständnis von „Demokratie" entstehen lassen. Hier geht es im Kern um die Erfahrung, daß es auch Gegnerschaften und Fronten innerhalb einer gemeinsamen Ordnung geben kann, die sich als unüberbrückbar und prinzipiell unversöhnlich erweisen, und für deren Beilegung die in der Bundesrepublik ohnehin und aus ziemlich einleuchtenden Gründen schwach entwickelten präpolitischen Bindungskräfte (sei es einer „historischen Schicksalsgemeinschaft", sei es einer von den Wechselfällen des Weltmarkts bedrohten „Export-Nation") schwerlich aussichtsreich in Anspruch genommen werden können. Solche Gegnerschaften können mithin, obgleich ihre ursprüngliche Stoßrichtung keineswegs eine „verfassungspolitische“ war, auf Dauer gesehen als Sprengsätze eben dieser Ordnung selbst wirken. Die Mechanismen der durch neuartige politische Entscheidungsthemen und Entscheidungen provozierten Legitimitätszweifel setzen die Pazifizierungsfunktion eingelebter verfassungspolitischer Gemeinüberzeugung zumindest partiell außer Kraft. Solche Symptome unversöhnlicher Gegnerschaften innerhalb einer vom Prinzip her durchaus gemeinsam getragenen „demokratischen" Ordnung rufen uns wieder ins Bewußtsein, was für die klassischen Verfechter des Mehrheitsprinzips eine schiere Selbstverständlichkeit darstellte: daß sich auch der moderne Verfassungsstaat und das Konfliktregelungssystem der parlamentarischen (Mehrheits-) Demokratie immer im Medium eines im wesentlichen vorpolitisch gefügten Konsenses bewegten, aus dem sich die Gütekriterien und Legitimitätsbedingungen politischer Herrschaft ergeben.

Der Horizont dieser vorpolitisch konstituierten und vorpolitisch wirksamen Gemeinüberzeugungen ist im einzelnen schwer abzugrenzen. Die Schwierigkeit in der Beschreibung dieser „Gemeinüberzeugung" rührt vor allem daher, daß sie als eine kulturelle „Beiläufigkeit", als etwas „Selbstverständliches" selten bewußt gemacht und so gut wie nie systematisch thematisiert wird.

Für die Vergangenheit wäre diese Gemeinüberzeugung annäherungsweise zu kennzeichnen als die alltagspraktisch wirksame, seit dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts nahezu alle relevanten Bevölkerungskreise einbeziehende „Festlegung" auf das wissenschaftlich, technisch und wirtschaftlich begründete Fortschrittsprogramm Bacon’scher Provenienz: das Vertrauen in den Dreiklang von objektivierendem Wissen, daraus abgeleiteter technischer Naturbeherrschung und der hierauf gegründeten materiellen Wohlstandsmehrung. Diese „Verpflichtung" und noch mehr vielleicht die sie begleitenden Erwartungen (Wohlstandsversprechen) waren die ungeschriebene konsensuelle Bestandsgrundlage auch des Institutionengefüges des demokratischen Verfassungsstaats. Die Tatsache, daß seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Realeinkommen aller Bevölkerungsgruppen, über einen gewissen Zeitraum hinweg betrachtet, kontinuierlich gestiegen sind, hat den Handlungsspielraum der Politik nicht unerheblich bestimmt. „Wachstum" und die damit einhergehende allgemeine Wohlstandserwartung war gewiß eine, wenn nicht die entscheidende Bedingung für die Möglichkeit der Mehrheitsdemokratie. Sollten nun — aus ökonomischen oder/und ökologischen Gründen — tatsächlich „objektive", d. h. nicht verfügbare Grenzen dieses Wachstums in Sicht sein, dann fiele der eigentliche „Niveauregler" für soziale Konflikte aus, der pazifizierende, mildernde, politische Belastungstoleranzen konstituierende Puffer, der die explosive Dynamik von Gruppenkonflikten im Medium allgemeiner Wohlstandssteigerung weitgehend abzufedern vermochte. Jener Wachstums-und sicherheitsorientierte Basiskonsens hat bisher in zweifacher Weise zur Entlastung des politischen Prozesses beigetragen: er verdrängte „ideologische" Grundsatzkontroversen und konfrontierte das politische System mit Forderungen und Erwartungen distributiver Art, denen es unter Bedingungen kontinuierlichen Wirtschaftswachstums relativ leicht entsprechen konnte.

Nur einer solchen politischen, ökonomischen und kulturellen Normalität entspricht die Mehrheitsentscheidung als Methode der Konfliktschlichtung. Für die Bewältigung außerordentlicher Krisensituationen ist sie keine hinreichend erfolgsverbürgende Rezeptur. Man muß sich stets vor Augen halten, daß Abstimmung und Entscheidungsfindung nach dem Mehrheitsprinzip auf Dauer nur dort „funktionieren“ und ihre Vorzüge entfalten können, wo es nicht „ums Ganze“ geht, wo auf dem Schlachtfeld der politischen Willensbildung keine unbefriedbare Minderheit zurückbleibt, niemand endgültig „ausgegrenzt“ wird. In existenziellen Fragen läßt man sich nicht überstimmen. Mit den „Mitteln der Normalität“ lassen sich politische Konflikte nur dort bewältigen, wo durch die Inhalte der Entscheidung selbst in der Wahrnehmung aller Beteiligten „die Normalität" nicht suspendiert wird.

Vielleicht sollten sich die Entscheidungsbefugten in hochrangig streitbefangenen Entscheidungssituationen stärker in die Position jener versetzen, für die durch die geplante Entscheidung ihre ganz spezifische „Normalität" gefährdet wird: in die Position jener, die sich wehren, ein seit zwanzig Jahren von ihnen bewohntes, nun vom Abriß bedrohtes Haus zu räumen; jener, die die Identität ihres Dorfes, ihrer Region, ihres Stadtteils durch eine großtechnologische Entscheidung (Kernkraftwerk, Flughafenerweiterung, Stadtsanierung) bedroht sehen; jener, für die es unerträglich scheint, auf Dauer mit einem unkalkulierbaren Risiko zu leben.

Es geht hier nicht darum, zu aktuellen politischen Themen Stellung zu nehmen. Aber sollte es wirklich nicht einsichtig sein, daß beispielsweise durch die drastische Reduzierung der Vorwarnzeiten von ca. fünfzehn auf nurmehr sechs Minuten für wachsende Minderheiten die „Normalität" eines relativ friedlichen Alltags in unerträglicher Weise suspendiert wird? Und gilt nicht das nämliche für jene — nun gewiß nicht politisch ferngesteuerte und fremdbestimmte — bodenständige Bevölkerung um Wyhl, die als Folge des geplanten Kernkraftwerks für sich und ihre Kindeskinder ein „Ruhrgebiet am Oberrhein" befürchtet? In der subjektiven Wahrnehmung der widerstandleistenden Gruppen ist es gerade der „von außen“, von der verfaßten Mehrheitsgesellschaft drohende Eingriff in die „Normalität", in die Freiheit, zu leben und weiterzuleben, wie man es gewohnt ist, der das am Normalfall ausgerichtete Konfliktregelungssystem aus dem Gleichgewicht bringt. Durchgehendes Kennzeichen solcher Protest-anlässe, die dann durch den Verweis auf vorausliegende Mehrheitsentscheidungen eher potenziert als neutralisiert werden, ist die plötzlich und massenhaft gemachte Erfahrung, daß fundamentale physische und kulturelle Gegebenheiten (die Integrität von Landschaften und ihrer Bewohnbarkeit ebenso wie die Integrität einer vor Überwachung und Kontrolle geschützten Privatsphäre) nun ohne erkennbare Not zum Gegenstand von Kosten-, Standort-und Risikokalkulationen gemacht und damit zur zweckrationalen Disposition gestellt werden. Es ist ein Unterschied ums Ganze, ob die zukünftige Bewohnbarkeit einer Region als eine Selbstverständlichkeit behandelt, oder ob sie mit einem bewußt in Kauf genommenen Risiko von 10-7 belastet ist; es ist diese Differenz, die als „Übergriff", ja „Vertreibung" erlebt wird.

Solche Ausnahmesituation ist stets eine Situation der umkämpften „Souveränität", in der die verpflichtende Kraft von Verfahrensprinzipien leerläuft. Während sich für Theoretiker wie Carl Schmitt das „wahre Wesen des Politischen“ gerade an diesem Punkt zeigt, verpflichtet der Verfassungsstaat, der die traditionelle Ein-Punkt-Souveränität vordemokratischer Regimes durch klar begrenzte, vielfältig balancierte Gewaltarrangements ersetzt hat, auf das Gegenteil: auf Ernstfallvermeidungspolitik. Der Ernstfall illuminiert nicht das „eigentlich" Politische, er indiziert das Ende der Politik. Nicht das Manifestwerden der Freund-Feind-Beziehung, sondern im Gegenteil: ihr Latentbleiben ist Kriterium „erfolgreicher“ Politik im Rahmen des Verfassungsstaates. Carl Schmitt beschreibt gewiß die Struktur des Konflikts zutreffend. Statt auf demokratische Abhilfe zu sinnen, ontologisiert er ihn jedoch und verklärt ihn zum „wahren Wesen des Politischen". Unverkennbar ruht sein dezisionistisches Konfliktmodell auf der Basis einer monozentrischen Staats-9 auffassung und verfehlt damit das Wesen des vielgliedrigen („polyzentrischen") demokratischen Verfassungsstaates mit starken Partialgewalten und ausgeprägtem Gruppenpluralismus. Wer will, daß Konflikte systemkonform, d. h. mit den Mitteln der „Normalität" bewältigt werden, der muß ganz besonders dafür Sorge tragen, daß auch in der Wahrnehmung von Minderheiten die Eckwerte von deren „Normalität" erhalten bleiben und jedenfalls erkennbar geschont werden.

Auch Entscheidungen, die sich direkt oder indirekt auf den Mehrheitswillen berufen, sollten den Rahmen dieser „Normalität" nicht sprengen. Wer bewußt oder unbewußt die Grundlagen einer gewohnten Lebensordnung von Minderheiten (die von deren Privilegien sehr wohl zu unterscheiden sind!) außer Kraft setzt oder sie bedroht, setzt damit auch die Umgangsregeln außer Kraft, die zur politischen Normalsituation gehören. Auf der Basis einer von allen Beteiligten gewollten und bejahten Normalität friedlichen Umgangs erst gelingt die Integration von Mehrheit und Minderheit zum handlungsfähigen politischen Gesamtkörper. Sollen auch ungeliebte Entscheidungen akzeptiert werden, so darf für die überstimmten Minderheiten letztlich nie etwas auf dem Spiel stehen, das schwerer wiegt, als der durch die gemeinsame Verpflichtung auf den Modus mehrheitlicher Entscheidungsfindung gestiftete Friedenszustand selbst. Wo Mehrheitsentscheidungen die Kernbestände des — wenn auch nur für Minderheiten — „Normalen" irreversibel in Mit-leidenschaft ziehen, tragen sie dazu bei, den Friedensrahmen der Verfassung zu gefährden. Wir nähern uns offenbar in vielen (und von der staatlichen Politik zunehmend mitzuverantwortenden) Fortschrittsfeldern politischen Patt-Situationen. Es herrscht das „Nichtsgeht-Mehr"; jedenfalls geht nichts allein unter Berufung auf das Prinzip mehrheitlicher Entscheidungsfindung. Dies gilt für die Kernenergie nicht weniger als für die moderne Waffentechnologie und die neuen Medien, ist bei der Umweltchemie nicht anders als bei der zentralen Datenerfassung, bei Flughafen-planungen genauso wie bei großflächigen Stadtsanierungsvorhaben.

Es wird nur gelingen, die Mehrheitsentscheidung als den zentralen Mechanismus unblutiger Stärkeermittlung zu erhalten, wenn es uns möglich ist, die Unversehrtheit des „NorB malen" — also der physischen und kulturellen Bestände, die dem zweckrationalen Zugriff vorenthalten sind — im gemeinsamen Überzeugungsminimum von Staatsbürgern wie Eliten dauerhaft und zweifelsfrei zu verankern.

Wer heute über das Prinzip mehrheitlicher Entscheidungsfindung und seine Grenzen laut nachdenkt, gerät unvermeidlich in das Schußfeld zwischen den politisch-ideologischen Fronten. Dorthin kann man sich nur mit dem Mut begeben, der allenfalls aus dem Grundsatz zu beziehen ist, daß man nicht füglich den Seismographen fürs Beben wird verantwortlich halten wollen. Bei aller Unterschiedlichkeit des jeweiligen Ansatzes und der jeweiligen Argumentationsperspektive besteht eine Gemeinsamkeit der zahlreichen politischen, sozialwissenschaftlichen, juristischen, philosophischen und theologischen Stimmen, die sich in der Bundesrepublik jüngst zu den Grenzen des Mehrheitsprinzips geäußert und vor seiner Überstrapazierung gewarnt haben, darin, daß sie das Mehrheitsprinzip nicht elitär zurückweisen, sondern aus grundsätzlichen Erwägungen heraus bejahen, jedoch Tendenzen zu seiner Fehlentwicklung und zur Selbstaufhebung seiner Legitimationskraft konstatieren. Jedenfalls wird das Mehrheitsprinzip nicht von denen in Frage gestellt, die darüber nachdenken, welches seine ungeschriebenen politisch-kulturellen und sozialstrukturellen Voraussetzungen sind und wo die Grenzen seiner legitimatorischen Wirkung liegen. Es wird vielmehr von jenen in seiner Überzeugungskraft beeinträchtigt, die dem Prozeß, in dem diese Grenzen erreicht und überschritten werden, tatenlos und in doktrinärer Beharrung zusehen. „Wer das Mehrheitsprinzip auflöst, löst die Demokratie auf”, schreibt Theo Sommer warnend Recht hat er! Doch lösen wirklich ein paar Sozialwissenschaftler dieses bewährte, altehrwürdige Prinzip auf? Und nicht vielmehr jene, die es, in Blindheit für seine Voraussetzungen und seine Mäßigung auferlegenden Grenzen, überdehnen und überstrapazieren, indem sie mit weit in die Zukunft vor-ausgreifenden Entscheidungen aktuelle und künftige Minderheiten mit Lasten und Risiken überhäufen und Situationen schaffen, in denen das „Prinzip Verantwortung" leer-läuft?

Fussnoten

Fußnoten

  1. R. Vogt, Das Konzept der Grünen Listen greift zu kurz, in: Frankfurter Rundschau vom 5. 5. 1978.

  2. Ebd.

  3. Vgl. H. Oberreuter, Abgesang auf einen Verfassungstyp?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 3/

  4. T. Sommer, Wenn Widerstand zur Losung wird, in: DIE ZEIT vom 10. 6. 1983.

  5. Ebd.

  6. Vgl. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1979.

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Bernd Guggenberger, Dr. phil., geb. 1946; Studium in Freiburg i. Br. und Berlin; z. Z. Heisenberg-Stipendium an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld und Verwalter einer Professur für Soziologie an der Universität Osnabrück, Abt. Vechta. Veröffentlichungen u. a.: Wem nützt der Staat?, Stuttgart u. a. 1974; Krise des Staates? Zur Funktionsbestimmung des Staates im Spätkapitalismus, Neuwied u. Berlin 1975 (Mitautor); Parteienstaat und Abgeordnetenfreiheit. Zur Diskussion um das imperative Mandat, München 1976 (Mitautor und Mitherausgeber); Bürgerinitiativen und repräsentatives System, Opladen 19832 (Mitautor und Mitherausgeber); Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie. Von der Okologiebewegung zur Umweltpartei, Stuttgart u. a. 1980; Die Zukunft der GRÜNEN, in: Frankfurter Hefte (FH extra 2), Frankfurt 1980; An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie?, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 27 (1983) 3; Die neue Macht der Minderheit, in: Merkur, 2 (1983); Umweltschutz und neue Parteibewegung. Wieviel Zukunft hat die Volksparteiendemokratie?, in: C. Graf v. Krockow (Hrsg.), Brauchen wir ein neues Parteiensystem?, Frankfurt 1983. Claus Offe, Dr. rer. pol., geb. 1940; Studium der Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie an der Universität zu Köln und an der Freien Universität Berlin; o. Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen u. a.: Leistungsprinzip und industrielle Arbeit, Frankfurt/M. 1970; Berufsbildungsreform. Eine Fallstudie über Reformpolitik, Frankfurt/M. 1975; Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur politischen Soziologie, Frankfurt/M. 1972; Wohlfahrtsstaat und Massenloyalität (mit Wolf D. Narr, Hrsg.), Köln 1975; Opfer des Arbeitsmarktes. Zur Theorie der strukturierten Arbeitslosigkeit (et. al., Hrsg.), Darmstadt 1977; Arbeitszeitpolitik. Formen und Folgen einer Neuverteilung der Arbeitszeit (et. al„ Hrsg.), Frankfurt/New York 1982.