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War der Kalte Krieg unvermeidlich? Handlungsspielräume in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945 bis 1950 | APuZ 25/1983 | bpb.de

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APuZ 25/1983 War der Kalte Krieg unvermeidlich? Handlungsspielräume in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945 bis 1950 Handlungsspielräume der UdSSR in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945— 1950 Handlungsspielräume der UdSSR in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945 bis 1950 Handlungsspielräume der USA in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945— 1950 Handlungsspielräume der USA in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945 bis 1950

War der Kalte Krieg unvermeidlich? Handlungsspielräume in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945 bis 1950

Detlef Junker

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Das Leitmotiv und die zentrale methodische Perspektive des 34. Deutschen Historikertages in Münster vom 6. bis 10. Oktober 1982 — Handlungsspielräume in der Geschichte — stellten keine Aufforderung an die Geschichtswissenschaftler dar, Geschichte im Optativ zu schreiben und darüber zu spekulieren, was geschehen wäre, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre, als sie tatsächlich verlaufen ist. Ein solcher Versuch würde in Entwürfen fiktiver Geschichtsbilder ohne Realitätsgehalt enden und führte zu „monströsen Resultaten“ (Max Weber).

Die Rekonstruktion von Alternativen und Handlungsspielräumen, die in den Köpfen, in den Gedanken und Lagebeurteilungen, der Zeitgenossen tatsächlich vorhanden waren, hat vielmehr den Sinn, den Geschichtsprozeß vom Schein eines falschen Determinismus zu befreien und die Nachwelt daran zu erinnern, daß auch die Toten ihre Entscheidungsfreiheit und ihre offene Zukunft hatten. Zu diesem Zweck wechselt der Historiker seine gewohnte Perspektive. Er wendet den Blick von seinem Hauptgeschäft ab, nämlich zu verstehen und zu erklären, wie und warum eintrat, was tatsächlich geschehen ist — z. B., warum der Kalte Krieg entstanden ist. Er läßt sich versuchsweise von der alten Leibnizschen Erkenntnis leiten, daß in der geschichtlichen Folge von Entscheidungssituationen und Handlungszusammenhängen mehrere Alternativen zwar nicht zugleich möglich, aber in der Regel gleich möglich sind. Er erinnert sich an die ebenso fundamentale wie banale Tatsache, daß jedes Ereignis erst mit seinem Eintreten voll determiniert ist.

Wenn der empirische Historiker mit der Frage nach Alternativen auch auf eine mögliche Geschichte zielt, auf die — je nach Standort des Betrachters — „verpaßten Chancen“ oder „verhinderten Katastrophen“, so muß er dennoch in einem doppelten Sinne bei der

Einführung

wirklichen Geschichte anknüpfen. Er muß seine Frage gleichsam einem zweifachen Realitätstest unterwerfen. Der erste, in der Regel einfachere Test besteht in dem belegten Nachweis, daß die behauptete Alternative als Plan, Absicht, Wunsch, als kurzfristiges oder langfristiges Ziel im Bewußtsein der Zeitgenossen vorhanden war, aber nicht realisiert wurde. Nachträgliche Konstruktionen, denen dieses Fundament fehlt, bleiben reine Wunschvorstellungen.

Der zweite Test besteht in dem ebenso schwierigen wie notwendigen Versuch, den Realitätsgehalt der in den Köpfen von Gruppen oder entscheidenden Individuen vorhandenen Alternativen durch den Nachweis ihrer Realisierungschancen zu bestimmen. Dazu nun bedarf es einer Gesamteinschätzung der jeweiligen Entscheidungslage und Handlungsspielräume, deren Ausgangs-und Endpunkt wiederum die Tatsache bleibt, daß diese Chance eben nur eine Chance blieb und nicht Realität wurde. Formal muß eine solche Gesamteinschätzung immer zu folgendem Ergebnis gelangen: Die behauptete Alternative war je realistischer, desto größer, je unrealistischer, desto kleiner die Chance ihrer Verwirklichung war.

Die methodisch disziplinierte Diskussion zwischen Historikern über Alternativen und Handlungsspielräume ist immer ein Disput über ihre Realisierungschancen. Übereinstimmende Antworten und Ergebnisse sind deshalb so selten, weil die diskutierenden Historiker, wie gesagt, durch diese Frage zu einer allgemeinen Interpretation gezwungen werden, zu einem Gedankenexperiment, in dem potentiell alle Faktoren einer Situation rekonstruiert, auf das Regelwissen des Interpreten bezogen und „gewichtet“ werden müssen. Das ist eine der schwierigsten und theoretisch noch unzulänglich aufgeklärten Leistungen des Historikers. Schließlich schärft die systematische Frage nach den Alternativen den Blick des Historikers für die tatsächlich geschehene Geschichte. Je genauer ein Historiker eine mehr oder weniger offene Entscheidungssituation samt der in ihr vorhandenen Alternativen analysiert, desto eindeutiger und klarer treten in der Regel auch die Ursachen des realen geschichtlichen Verlaufes hervor. Auch in diesem Fall gilt: Nur wer das Mögliche denkt, erkennt das Wirkliche.

Trotz der Legitimität der allgemeinen Fragestellung stellte der konkrete Vorschlag des Verfassers dieser Einführung, eine Sektion des Historikertages zu planen und zu leiten, in der nach Alternativen zum Kalten Krieg und nach Handlungsspielräumen in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes von 1945 bis 1950 gefragt wurde, eine besondere Herausforderung dar, und zwar weil die Mehrzahl der Historiker die Verschärfung des amerikanisch-sowjetischen Gegensatzes zum Kalten Krieg für in hohem Grade determiniert und in diesem Sinne für unvermeidlich halten. Methodisch gesprochen: Die Realisierungschancen von Alternativen werden für klein gehalten.

Auf welcher Grundlage, so wird gefragt, hätte sich angesichts des Wegfalls der einzigen Klammer der Großen Kriegskoalition, eben des gemeinsamen Feindes, so etwas wie ein „entspanntes" Nebeneinander entwickeln können? War das Auseinanderfallen der Koalition nicht der zu erwartende Regelfall, wenn man an die Nachgeschichte der Napoleonischen Kriege oder des Ersten Weltkrieges denkt? Wie hätte eine Kooperation über den Tag des Sieges hinaus möglich sein sollen, angesichts der durch die Niederlage der Achsenmächte und Japans entstandenen Machtvakuen in Europa und Asien; angesichts zweier Weltmächte mit antagonistischen Wert-, Gesellschafts-und Staatssystemen, die beide das eine Modell für die ganze Welt und damit den potentiellen Weltbürger-krieg propagierten; angesichts zweier Weltmächte, deren Politiker die Geschichte radikal anders interpretierten und die Zukunft unterschiedlich entwarfen; angesichts der völlig verschiedenen wirtschaftlichen Ausgangslagen der beiden Staaten und des noch nicht vorhandenen Gleichgewichts des Schreckens? Müßte man nicht eigentlich darüber staunen, daß es nicht zum heißen Krieg in Europa gekommen ist?

Der Überzeugungsdruck dieser und anderer Argumente spiegelt sich auch in den folgenden Referaten wider, und es ist kein Zufall, daß nur einer von vier Autoren (Werner Link) eine Alternative zum Kalten Krieg zu erkennen meint.

Noch einige Worte zur zeitlichen Eingrenzung auf die Jahre von 1945 bis 1950: Jeder Kenner der wissenschaftlichen Kontroversliteratur über den Kalten Krieg weiß, daß man Argumente dafür vortragen kann, sowohl die Entstehung des Ost-West-Gegensatzes als auch des Kalten Krieges — beide Phänomene muß man ja nicht als identisch betrachten — anders zu datieren, etwa auf das Jahr 1943 oder gar auf das Jahr 1917. Auch in den folgenden Referaten setzt die Schilderung der Handlungs-, Ereignis-und Absichtszusammenhänge nicht immer erst im Jahre 1945 ein. Dennoch schien es sinnvoll, das Thema auf jene Jahre einzugrenzen, in denen der Konflikt für die Zeitgenossen manifest wurde. In den Jahren von 1945 bis 1947 mußte die Welt erkennen, daß die Hoffnung der Alliierten, ihre Zusammenarbeit über den Tag des Sieges hinaus fortzusetzen, erstaunlich schnell zusammenbrach. An die wichtigsten Konfliktfälle sei stichwortartig erinnert: Polen, Rumänien, Bulgarien, Deutschland, Griechenland, die Türkei, Persien, die UNO, das Problem der amerikanischen Kredite an die Sowjetunion, das Problem des amerikanischen Atomwaffenmonopols. Die dichte Folge dieser Konflikte führte in Ost und West, in der Sowjetunion und den USA, zu einer Neu-einschätzung der weltpolitischen Situation und als Konsequenz ab 1947 zu einer Politik der konfrontativen Blockbildung auf beiden Seiten, eben zum Kalten Krieg. Auch hier nur einige Stichworte: Truman-Doktrin, MarshallPlan, Staatsstreich in der Tschechoslowakei, endgültige Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas, Gründung der Bundesrepublik und der DDR, Berliner Blockade, Luftbrücke, Gründung der NATO und des Warschauer Paktes. Mit dem Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg 1949 und dem Beginn des Korea-Krieges im Jahre 1950 war die Konfliktlinie um den Erdball gewandert. Aus der Sicht der USA hatte der Kalte Krieg spätestens 1950 zu einer völligen Umkehr der amerikanischen „Dämonologie" geführt. Aus den bösen Deutschen, guten Russen, bösen Japanern und guten Chinesen des Zweiten Weltkrieges waren die guten Westdeutschen, bösen Russen, guten Japaner und bösen Chinesen des Kalten Krieges geworden. Die folgenden vier Referate werden in der Reihenfolge des Vortrags auf dem Historikertag abgedruckt. Sie sind leicht überarbeitet worden, der englischsprachige Vortrag des Norwegers Geir Lundestad wurde ins Deutsche übersetzt. Andreas Hillgruber und Alexander Fischer konzentrieren sich auf mögliche Alternativen der sowjetischen, Geir Lundestad und Werner Link auf mögliche Alternativen der amerikanischen Politik. Dabei sollte ein Tatbestand nicht vergessen werden: Solange der Forschung der Zugang zu den sowjetischen Archiven verwehrt bleibt, sind Aussagen über Optionen und Handlungsspielräume der sowjetischen Seite, sprich: Stalins, sehr viel schwerer zu belegen als Aussagen über Alternativen der amerikanischen Politik.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Detlef Junker, Dr. phil., geb. 1939; Professor für Neuere Geschichte in Heidelberg; 1970/71 Postdoctoral Research Fellow an der Yale University (USA), 1974 Habilitation an der Universität Stuttgart. Veröffentlichungen u. a.: Die Deutsche Zentrumspartei und Hitler 1932/33. Ein Beitrag zur Problematik des politischen Katholizismus in Deutschland, 1969; Der unteilbare Weltmarkt. Das ökonomische Interesse in der Außenpolitik der USA 1933— 1941, 1975; Franklin D. Roosevelt. Macht und Vision: Präsident in Krisenzeiten, 1979; Mitherausgeber der dreibändigen „Deutschen Parlamentsdebatten" (1970/71).