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Statt Aussonderung von Behinderten: Lernen in der integrativen Schule | APuZ 22/1983 | bpb.de

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APuZ 22/1983 Artikel 1 Statt Aussonderung von Behinderten: Lernen in der integrativen Schule Therapeutischer Anspruch und ökonomischer Leistungszwang Werkstätten für Behinderte

Statt Aussonderung von Behinderten: Lernen in der integrativen Schule

Wolf Rüdiger Wilms

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Behinderte sind in besonderer Weise von Arbeitslosigkeit, Isolation und sozialem Abstieg bedroht. Um so dringender bedarf die Forderung nach gesellschaftlicher Integration Behinderter der Unterstützung. Ausgehend von der Gesamtschulbewegung, sich fortsetzend über die Grundschulreform bis hin zu den Einflüssen der skandinavischen und vor allem der italienischen Integrationspraxis werden jüngere Entwicklungen in der Integrationsdiskussion der Bundesrepublik aufgezeigt. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, daß inzwischen viel über Integration gesprochen wird, aber dennoch keine Einigkeit über die Integrationsziele besteht. Der Mißbrauch des Integrationsbegriffs für anti-integrative Bestrebungen wird an einigen Beispielen untersucht, wobei besonders auf Tendenzen einer ideologischen Integration statt „wirklicher" Integration aufmerksam gemacht wird. Dem wird ein Verständnis von umfassender Integration als das Ermöglichen von Prozessen gemeinsamen Spielens, Lernens und Arbeitens Behinderter und Nichtbehinderter an gemeinsamen Gegenständen zum Zwecke einer allseitigen Persönlichkeitsentwicklung aller an diesem Prozeß Beteiligten gegenübergestellt. Die meisten der bisher in der Bundesrepublik laufenden Modellversuche zur schulischen Integration behinderter Kinder und Jugendlicher lassen Halbherzigkeit und Inkonsequenz erkennen und sind für die Beurteilung der Realisierbarkeit von Integration ungeeignet. Das Modell einer integrativen Schule in Berlin-Schöneberg, auf das abschließend verwiesen wird, stellt dazu ein positives Gegenbeispiel dar.

I. Neuere Tendenzen in der Integrationsdiskussion

In der Bundesrepublik Deutschland leben zur Zeit rund 3 Millionen Menschen mit schweren Behinderungen; insgesamt wird der prozentuale Anteil von Behinderten an der Gesamtbevölkerung auf 10 bis 12 Prozent geschätzt. Aus der Soziologie stammt zur näheren Kennzeichnung dieser Population der vornehm-diffamierende Begriff „Rand-oder Problemgruppe". Auch Ausländer, Arbeitslose, Nichtseßhafte, alte Menschen, revoltierende Jugendliche und viele andere fallen unter diese Kategorie. Das Wachstum der Rand-und Problemgruppen ist beachtlich; immer neue Gruppen gesellen sich hinzu, und am Horizont taucht die bedrohliche Vision von einer Gesellschaft auf, die sich in einen einzigen Randgruppenhinterhof verwandelt hat, aus dem ein schmaler, aber harter Kern gut verbarrikadierter „Normalität" herausragt.

Sozialer Ausschluß, Isolierung und systematische Aussonderung von Behinderten äußern sich freilich nicht nur in dem einen oder anderen verräterischen Terminus; sie sind gesellschaftliche Realität, die sich in der Bundesrepublik manifestiert in 120 000 arbeitslosen Schwerstbehinderten oder in einem Heer von 360 000 Sonderschülern, die — was ihre berufliche Zukunft anbetrifft — größtenteils in dumpfer Perspektivelosigkeit verharren. Als weiteres Produkt der Isolation entstehen psychische Belastungen der Betroffenen und ihrer Familien bis zur Zerstörung der Persönlichkeit des einzelnen Behinderten, während eine „herrschende" Wissenschaft vom Behinderten sich mit scholastischer Akribie darum bemüht, die jahrhundertealten Vorurteile gegenüber Behinderten in immer neuen ideologischen Formen marktgerecht zu verbreiten.

Das in der deutschen Behindertenpädagogik und -politik stets dominante Prinzip des sozialen Ausschlusses hatte sich allerdings auch immer mit seinem Widerpart auseinanderzusetzen, der Forderung nämlich, allen Menschen ohne jegliche Einschränkung eine umfassende Entfaltung und Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu ermöglichen und ihnen eine uneingeschränkte Partizipation am gesellschaftlichen Leben und Arbeiten zu gewährleisten. Dies bekamen die — größtenteils nichtbehinderten — „Behindertenfachleute", die Wissenschaftler, Lobbyisten, Funktionäre und das Heer der „vor Ort" tätigen „Praktiker“ zu spüren, als sie durch die Reaktionen Behinderter auf das „Jahr der Behinderten" herausgefordert wurden. Wo sie Dankbarkeit und Zufriedenheit erwarteten, ernteten sie Protest, sahen sie sich mit dem Selbstvertretungsanspruch Behinderter konfrontiert. Das selbstverständliche Recht, stellvertretend für Behinderte zu sprechen, zu schreiben oder zu handeln, wurde ihnen plötzlich streitig gemacht, allerdings nicht umfassend, sondern zunächst noch in einem begrenzten Ausmaß, das es ihnen noch erlaubte, das Aufbegehren gegen ihre Art der „Objektivierung" von Behinderung als das Machwerk von „Ideologen, die politisch sonst kein Bein an die Erde bekommen", zu denunzieren — so geschehen durch den nordrhein-westfälischen Sozialminister F. Farthmann als Reaktion auf das „Dortmunder Krüppeltribunal" im Dezember 1981

In diesen Kontroversen wird das sogenannte Stellvertreterprinzip erkennbar, ein Prinzip, das bisher kaum in Frage gestellt wurde und dessen sich die genannten Personenkreise wie selbstverständlich bedienen und dessen Anwendung sie offenbar als ihr natürliches Recht betrachten. Das Stellvertreterprinzip besagt in letzter Konsequenz, daß Nichtbehinderte mit Behinderten alles tun können, sofern sie nur vorab oder im nachhinein deklarieren, daß ihr Handeln „zum Wohle der Behinderten“ geschieht, ohne daß ein Nachweis für die Gültigkeit dieser Deklaration verlangt wird.

Unabhängig von dem gewachsenen Selbstvertretungsanspruch Behinderter ist in der Bundesrepublik seit einiger Zeit eine Diskussion unter dem Stichwort „Integration" stärker in das Blickfeld der Öffentlichkeit gelangt Das Problem wurde dabei zunächst auf die Frage der institutioneilen Segregation bzw. Integration und hier besonders auf die Frage der schulischen Integration behinderter Kinder und Jugendlicher zugespitzt. Diese (scheinbare) Eingrenzung ist insofern legitim, als allein die institutioneile Form des Umgangs mit geschädigten, behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen eine gewichtige Vorentscheidung im Hinblick auf eine mögliche umfassende soziale Integration beinhaltet. Dies um so mehr, als das Prinzip der Selektion, der Weichenstellung für eine ungleiche Verteilung der Zugangsmöglichkeiten zu begehrten gesellschaftlichen Reichtümern und Erfahrungen erwiesenermaßen zu den wesentlichen gesellschaftlichen Funktionen eines Bildungssystems zählt.

Einen ersten starken Impuls erhielt die neuere Integrationsdiskussion durch die sich in den späten sechziger Jahren langsam ausbreitende Gesamtschulbewegung, obgleich gerade hier die Frage nach der Integration behinderter Schüler zunächst völlig ausgeklammert wurde. Aber in den Gesamtschulen gab es fast gleichzeitig mit dem differenzierten Ausbau des Sonderschulwesens (in der Zeit von 1960 bis 1973 stieg die Zahl der Sonderschüler von 133 000 auf 397 000 an eine Integrationsdebatte auf anderer Ebene: Herausgefordert durch einen höheren Qualifikationsbedarf auf dem Produktionssektor und angeregt durch optimistische Begabungstheorien („Begabungen sind nicht angeboren, sondern werden angeeignet"), bemühte man sich um eine effektivere Ausschöpfung von „Begabungsreserven" in den unteren sozialen Schichten. Vor allem durch die Organisation gemeinsamer (sozialer) Lernprozesse mit Schülern unterschiedlicher sozialer Herkunft versuchte man, die im hierarchisch gegliederten Schulsystem gegebenen systematischen Benachteiligungen der „Unterschichtkinder“ zu kompensieren.

Durch derartige Überlegungen wurden Lehrer und Eltern behinderter Kinder für den Integrationsgedanken sensibilisiert. Mit der Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates aus dem Jahre 1973 („Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher") gab es sogar eine gewichtige bildungspolitische Unterstützung für die Integrationsidee, denn die Bildungskommission sprach sich für eine pädagogische Konzeption aus, „die eine weitmögliche gemeinsame Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten vorsieht und selbst für behinderte Kinder, für die eine gemeinsame Unterrichtung mit Nichtbehinderten nicht sinnvoll erscheint, soziale Kontakte mit Nichtbehinderten ermöglicht. Damit stellt sie der bisher vorherrschenden schulischen Isolation Behinderter ihre schulische Integration entgegen."

Die Phase der Bildungsreform und des Bildungsoptimismus ermöglichte somit eine erste fundamentale, wenn auch in der Regel nur verhalten und indirekt formulierte Kritik an dem differenziert ausgebauten Sonderschulwesen der Bundesrepublik. Glücklicherweise verlagerte sich der Schwerpunkt der Integrationsanstrengungen von der Gesamtschule auf die Grundschule und erhielt auf diese Weise — angesichts der nur geringen Anzahl an Gesamtschulen — eine breitere Basis und eine präventive Orientierung.

Mit dem nachlassenden Reformeifer der Bildungspolitiker und der schrittweisen Zurücknahme der Reformansätze hätte man befürchten müssen, daß nun die Frage der Integration von Sonderschülern endgültig beiseite gelegt sein könnte. Aber das Gegenteil trat ein.

Wiederum durch einen Anstoß von außen erhielt die Integrationsdiskussion einen neuen Auftrieb. In Italien entstand die Bewegung der demokratischen Psychiatrie, vor allem inspiriert durch die Tätigkeit des Psychiaters Franco Basaglia, der die systematische Auflösung geschlossener psychiatrischer Einrichtungen betrieb. Er legitimierte dieses Vorgehen u. a. mit der Theorie der „Institution der Gewalt“. Dieses Konzept, in dem strukturelle Merkmale von Institutionen herausgearbeitet werden, die das Moment der direkt oder indirekt gewaltsamen Domestizierung der Klienten einer Institution beinhalten, wurde auch auf die Analyse der Sonderschule in der Bundesrepublik angewendet In Italien wurde — auch mit Bezugnahme auf die Erfahrungen Basaglias — das Sonder-schulwesen gleich komplett aufgelöst. Ein Land ohne Sonderschulen — undenkbar für deutsche Verhältnisse? Die Italiener, die ebenfalls gegen Ende der sechziger Jahre mit einer Integrationsdiskussion und einigen praktischen Integrationsversuchen begonnen hatten, schufen 1977 die gesetzliche Grundlage für die vollständige Auflösung der Sonderschulen. Behinderte und nichtbehinderte Kinder werden seitdem gemeinsam in (staatlichen) Regelschulen unterrichtet. Mit der Aufnahme eines behinderten Kindes in die Regelklasse sinkt die Klassenfrequenz von normalerweise 25 auf 20 Schüler. Falls dies erforderlich ist, kann einer Klasse ein zweiter Lehrer mit sonderpädagogischen Spezial-kenntnissen zugeteilt werden. Ein im Aufbau befindliches flächendeckendes Netz von medizinisch-pädagogisch-psychologischen Beratungsstellen kann als zusätzliche Unterstützung von Kindergärten, Schulen, Eltern u. a. in Anspruch genommen werden.

Die schulische Integration der behinderten Kinder blieb nicht ohne Folgen für die Gestaltung des Regelunterrichts. So wurde 1978 die Notengebung in der achtjährigen Pflicht-schule abgeschafft. Aber auch die Lerninhalte und Lernformen änderten sich. Ludwig O. Roser, ein Florenzer Psychologe und Sonderpädagoge schreibt dazu: „Schule ist nicht nur der Ort einer mechanistischen Wissensvermittlung, der den abstrakten Bedürfnissen der Gesellschaft zu genügen hat, sich aber fern von den Motivationen der heranwachsenden Menschen bewegt, sondern die Gelegenheit der Bewußtwerdung, der Suche nach Wissen und vor allem der Gestaltung der mitmenschlichen Beziehungen." Dabei verliert Roser den Zusammenhang von schulischer und gesellschaftlicher Integration keineswegs aus dem Blick: „Wenn man behaupten kann, daß es in Italien die behinderten Kinder sind, die einerseits die Schule dazu zwingen, sich wieder pädagogisch zu orientieren, und andererseits eine Generation Erwachsener entstehen lassen, denen das Zusammenleben mit Behinderten vertraut ist, dann muß man annehmen, daß solche Wechselwirkungen das Fortschreiten einer Gesellschaft auf menschlicher Ebene überhaupt ausmachen, d. h. vor allem die Wahrnehmung der Belange anderer.“

Diese Entwicklung wäre in Italien nicht möglich gewesen, wenn nicht an der Basis von Eltern, Lehrern, Gewerkschaften, Parteigruppierungen und Betroffenen ein erheblicher Druck auf die Behörden ausgeübt worden wäre, wenn sich nicht das Bewußtsein von der Notwendigkeit der Integration auf der untersten Ebene herausgebildet hätte. Das Gesetz von 1977 war eher eine Konsequenz dieser Basisbewegung. Dies rechtfertigt — bei allen heute noch ungelösten Problemen — ein gewisses Vertrauen in eine weitere positive Entwicklung des „italienischen Modells".

Die dramatischen Entwicklungen in Italien wirkten sich nachhaltiger auf die westdeutsche Integrationsdiskussion aus als die in der ersten Phase der Kritik des Sonderschulsystems stets herangezogene skandinavische, speziell die schwedische Integrationskonzeption. Obwohl niemand ernsthaft danach trachtete, das „italienische Modell” unbesehen auf die Bundesrepublik zu übertragen, konnte sich unter den konsequentesten Befürwortern der Integration in der Bundesrepublik dennoch die Forderung durchsetzen: Schafft die Sonderschule abl Gegenwärtig zeichnet sich eine gewisse Polarisierung der Standpunkte ab, denn die zweifellos provozierende Forderung nach Abschaffung der Sonderschulen löste bei der Mehrzahl der traditionell integrationsfeindlichen Sonderpädagogen, ihren Verbandsfunktionären und den ihnen zuarbeitenden Wissenschaftlern geradezu hysterische Gegenreaktionen aus.

II. Kontroversen um das Integrationsziel

Die Beurteilung von Modellversuchen zur schulischen Integration Behinderter sowie die Entwicklung weitergehender Vorstellungen zur vollständigen Beseitigung der Aus-sonderungspraxis in der Bundesrepublik kann nur auf dem Hintergrund eines übergreifenden Integrationsziels geleistet werden. Institutionen an sich sind nichts Bösartiges; ihr spezifischer Charakter bestimmt sich aus dem gesellschaftlichen Zweck, dem sie dienen, bzw. aus den Mitteln, die sie anwenden, um den jeweiligen Zweck zu erfüllen. Die Bewältigung gesellschaftlicher Aufgaben wie Bildung und Erziehung, medizinische und psychosoziale Versorgung u. a. m. sind ohne die Zuhilfenahme von Institutionen nicht denkbar. Die Integrationsdiskussion ist also keine Entschulungskampagne.

Nun behaupten alle, sowohl die Befürworter eines differenziert ausgebauten Sonderschulwesens als auch die Vertreter einer ausgrenzungsfeindlichen Position, sie seien bedingungslose Verfechter der gesellschaftlichen Integration von Behinderten. Bruno Prändl, Vorsitzender des Verbandes Deutscher Sonderschulen und Verfechter eines ausgebauten Sonderschulwesens, ist sicher, „daß wir auf dem Wege sind, behinderte Kinder zu integrieren in Beruf und Gesellschaft...“ Im gleichen Atemzug hört man von ihm: „Die italienische Seuche darf in Deutschland nicht grassieren."

Hans Haas, Landesvorsitzender desselben Verbandes in Baden-Württemberg, schreibt: „Es würde nicht schwer fallen, nachzuweisen, daß gerade die besonderen Leistungen der Sonderschulen in vielen Fällen den ausschlaggebenden Beitrag für die spätere gesellschaftliche Eingliederung der behinderten Schüler erbrachten"; er fügt hinzu, „daß Sonderschulen die spätere bestmögliche Integration ihrer Schüler immer als vornehmstes Ziel ihrer Bemühungen betrachtet haben"

Auch die unzähligen Reden, Verlautbarungen, Aktionen und Aufklärungskampagnen im Jahr der Behinderten“ enthielten eine übereinstimmende Tendenz: Sie gaben vor, der gesellschaftlichen Integration Behinderter zu dienen — allen voran die „Nationale Kommission zum Internationalen Jahr der Behinderten 1981“, die uns die Losung „Einander verstehen — miteinander leben" bescherte. Der Vorsitzende Ehrenberg erklärte, „daß die auf der Basis einer Bestandsaufnahme entwickelten Zielvorstellungen und Empfehlungen die volle Integration aller behinderten Bürger in Arbeit, Beruf und Gesellschaft fördern werden“ Selbst die hartnäckigsten

Vertreter einer institutioneilen Verwahrung von Behinderten (in Form von Anstaltsunterbringung, Sonderbeschulung inklusive entsprechender persönlichkeitsdeformierender Erziehungs-und Therapieformen) verbreiten inzwischen die Formel: „Soviel Integration wie möglich, soviel Separation wie nötig“, wobei sich unsere Experten selbstverständlich die Entscheidung darüber Vorbehalten, was „möglich" und was „nötig“ ist.

Die Tatsache, daß ein Terminus, der noch vor gut zehn Jahren bestenfalls bei einigen Außenseitern der westdeutschen Behinderten-pädagogik hoffähig war — das war damals die „schwedische Seuche", die hier und da in Deutschland grassierte —, sich nun breiter Zustimmung erfreut, darf nicht zu der irrigen Schlußfolgerung verleiten, als bestünde nun Einigkeit über das Integrationsziel oder als sei das Problem der Integration Behinderter insgesamt schon gelöst. Kann man von beruflicher und gesellschaftlicher Integration schwärmen, wenn lediglich 12 Prozent aller Sonderschüler überhaupt nur den Hauptschulabschluß oder mehr erreichen? Integration in die Arbeitslosigkeit? Angesichts dieser Perspektiven müssen Betroffene die Behauptung, die Leistungsfähigkeit eines differenzierten Sonderschulwesens im Hinblick auf die gesellschaftliche Integration der behinderten Schüler sei hinlänglich „bewiesen“, als blanken Hohn empfinden.

Vielmehr dient die Sonderschule nicht erst in diesen Tagen der Entlastung der „Normalschüler 11 von langsamen Lernern und von Störern, der Zurüstung minderqualifizierter Arbeitskräfte, deren Entsendung in die Arbeitslosigkeit keine großen Legitimationszwänge mehr auferlegt. Nicht als Hilfe für eine umfassende Partizipation am gesellschaftlichen Leben erleben die meisten Sonderschüler „ihre“ Schule, sondern als Endstation, als eine Etappe auf dem karrieremäßig vorgezeichneten Weg in die gesellschaftliche Isolation. Gegenüber diesen objektiven Funktionen der Sonderschule stellt das subjektive Bemühen zahlreicher Pädagogen um die individuelle Förderung ihrer Schüler in den Sonderschulen, um eine demokratische Berufspraxis in dieser Institution nur eine schwache, aber notwendige Gegenkraft dar. Falls es dazu überhaupt eines Beweises bedürfte — gibt es einen schlagkräftigeren Beweis für die Lernund Entwicklungsfähigkeit der Sonderschüler als den, daß es gelingt, eine größere Zahl von ihnen selbst unter den Bedingungen der absoluten Perspektivelosigkeit, der Isolation und Aussonderung überhaupt noch zum Lernen zu bewegen? Das psychische Überleben von Sonderschülern in der Situation der Isolation basiert zweifellos auf großen Anstrengungen der betroffenen Schüler und vieler ihrer Lehrer. Diesen Erfolg jedoch in einen „Beweis" für die Notwendigkeit einer separaten Sonderbeschulung behinderter Schüler umzudefinieren, ist schon reichlich absurd.

Entsprechend verworren und diffus sind gelegentliche Versuche der Sonderschulbefürworter, den Begriff Integration zu definieren. „Es ist zweckmäßig, ein lediglich äußeres Beieinander (etwa mit ausländischen Arbeitnehmern an der Arbeitsstelle) von echter Integration, der humanen Annahme der Behinderten zu unterscheiden", sagt Ulrich Bleidick Allzu oft drängt die „humane Annahme" den „Behinderten" in eine Abhängigkeit von Gnadenakten und Heilstaten der „Normalen" und bereitet den Boden für jene Almosenmentalität, die von den Betroffenen im Jahr der Behinderten als „Wohltätigkeitsdampfwalze'1 empfunden wurde. Wer die humane Annahme fordert und gleichzeitig radikale Eingriffe in inhumane, Isolation und sozialen Ausschluß erzeugende Lebens-und Entwicklungsbedingungen vermissen läßt, ja sogar im Falle der Sonderschule für den Erhalt eines Systems der Aussonderung eintritt, der sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, mit der Individualisierung und mit irrational-karitativer Verklärung des Problems der Integration letztlich eine ideologische Verkleisterung inhumaner Zustände zu betreiben.

In Schweden startete der Arbeitgeberverband vor einigen Jahren eine Kampagne, die eine „Aktion gegen Jugendarbeitslosigkeit" darstellen sollte. In großen Zeitungsanzeigen wurden Bilder von Björn Borg (einem schwedischen Tennisspieler), Ingemar Stenmark (World Cup Champion im Skilaufen) und Abba (einer bekannten schwedischen Pop-gruppe) verbreitet. Der Text lautete: „Ihr könnt es selber — wenn ihr es wirklich versucht. Seht euch Björn, Ingemar und Abba an. Sie haben es geschafft. Ihr könnt es auch, wenn ihr es einfach versucht.“ Es ist befremdend, daß Behindertenpädagogen dieses »ideologische Klima" als eine ideale Grund-läge für die gesellschaftliche Integration Behinderter bejubeln

Nicht von ungefähr taucht der Begriff der Integration in den kritischen Analysen von Funktionen des westdeutschen Schulsystems in diesem Sinne auf. Der Erziehungswissenschaftler Helmut Fend arbeitete neben den Funktionen der Qualifikation und Selektion die Integrations-bzw. Legitimationsfunktion der Schule heraus. Damit ist die Vermittlung jener Deutungsmuster von Realität gemeint, die eine gewisse Massenloyalität gegenüber den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen sichern. Die Brisanz dieses Gedankens liegt auf der Hand, wenn man bedenkt, daß die „modernen" Gesellschaften insgesamt unter einen erheblichen ideologischen Legitimations-und Integrationszwang geraten sind, und die einst relativ solide Basis an Massen-loyalität gegenüber den bestehenden Verhältnissen erhielt auch in unserem Lande einige Risse. Mit einer gewissen Ratlosigkeit stehen die Regierenden im Lande vor dem Problem, bei einer zunehmenden sozialen Ausgliederung immer größerer Bevölkerungsgruppen keineswegs der Aufgabe enthoben zu sein, diese Ausgegrenzten auch ideologisch wieder erreichen, ihre prinzipielle Loyalität zur bestehenden gesellschaftlichen Ordnung bzw.den gegenwärtigen politischen Zielen herstellen zu müssen. Also Integration durch Ideologie? Was bieten wir den arbeitslosen und/oder behinderten Jugendlichen in der Bundesrepublik an? Karl-Heinz Rummenigge mit Lena Valaitis (letztere besonders qualifiziert durch den rührenden Schlager von dem kleinen blinden Knaben „blue Jonny blue")?

Eine besonders abgeschmackte Pervertierung des Integrationsprinzips liegt dann vor, wenn das soziale Wesen von Behinderung existenz-philosophisch umgedeutet wird in eine „grundsätzliche Daseinsform", eine „existentielle Situation". Zunächst wird eine Minusvariante Mensch herausontologisiert, wird , der Behinderte'als die Realisation einer prinzipiell anderen Schöpfungsidee aufgefaßt. Diese anthropologische Vorgabe rechtfertigt sodann den Verzicht auf die Bereitstellung menschlicher und menschenwürdiger Entwicklungsbedingungen, ein Verzicht, der absurderweise noch als der „späteren" gesell-schaftlichen Integration der Behinderten förderlich hervorgehoben wird

Die Forderung nach Abschaffung der Sonder-einrichtungen wird von den Integrationsbefürwortern nicht als die bloße Herstellung von physischer Nähe zwischen Behinderten und Nichtbehinderten verstanden, sondern als eine notwendige Voraussetzung für eine wirkliche Integration von Behinderten im Sinne einer „Wiederherstellung der durch den Ausschluß zerstörten gemeinsamen Lebensrealität, die es in kooperativen und kommunikativen Handlungen ständig neu herzustellen und zu erhalten gilt" Das Wesen der Integration von Behinderten verwirklicht sich in Prozessen des gemeinsamen Lernens, Spielens, Arbeitens von Behinderten und Nichtbehinderten an gemeinsamen Gegenständen bzw. Produkten mit dem Ziel der allseitigen und umfassenden Persönlichkeitsentwicklung von Behinderten und Nichtbehinderten Dieser Definition von Georg Feuser werden auch die Vorstellungen von Ulf Preuss-Lausitz gerecht, soweit sie die Herstellung dieser gemeinsamen Lebensrealität betreffen. Er fordert als globales Integrationsziel, „den von der ökonomischen, politischen, kommunikativen und bewußtseinsmäßigen Ausgrenzung betroffenen und bedrohten Teil der Lohnarbeiterschaft (wieder) zum aktiven Teil der Lohn-arbeiterschaft zu machen"

Mit dieser Zielperspektive deutet Preuss-Lausitz einen Weg an, wie Probleme der schulischen, der außerschulischen, der beruflichen Integration in einem übergreifenden Bezugssystem gesellschaftlicher Integration betrachtet werden können und wie auf dieser Grundlage spezielle Aufgaben schulischer Integration formuliert werden können. Der kurz-schlüssigen Argumentation, die schulische Integration sei eine reine Schonraum-Integration, die an der (nun einmal unveränderbaren) gesellschaftlichen Realität vorbeiintegriere, ist damit zwar noch nicht endgültig der Boden, aber zumindest der Teppich unter den Füßen entzogen.

Die sehr weit auseinandergehenden und z. T. miteinander unvereinbaren Ideen über „Integration" müßten eigentlich einen kritischen Blick auf den Begriff selbst provozieren. Verweist der Terminus „Integration" schon von vornherein auf eine Tendenz des Harmonisierens, auf eine ideologische, heuchlerisch-karitative Lösung (humane Annahme statt qualifizierter Bildung und Erziehung)? Suggeriert er nicht Interessenneutralität? Hier und da zeichnet sich bereits auch bei kompromißlosen Integrationsbefürwortern ein vorsichtiger Umgang mit dem Integrationsbegriff ab: Ludwig Roser z. B. kennzeichnet die italienischen Integrationsbemühungen begrifflich als „Verhinderung von Aussonderung" Das „Jahr der Behinderten" hat deutlich gemacht, daß die Integration der Behinderten nur eine Seite einer Totalität ausmacht, deren zweite Seite in der Integration der Nichtbehinderten besteht. Unter individuellem Aspekt stellt sich bei Nichtbehinderten in prinzipiell gleicher Weise das Problem von Lern-und Erfahrungsdefiziten, unter gesellschaftlichem Aspekt ist auf den Abbau des Stellvertreter-verhältnisses durch Beseitigung aller gesetzlich abgesicherten und institutionalisierten Gewalt gegenüber Behinderten hinzuarbeiten.

III. Die begrenzte Beweiskraft von Modellversuchen zur schulischen Integration behinderter Kinder

In der Bundesrepublik sind knapp 100 Modellversuche zur Integration behinderter Schüler in den Regelschulbereich angelaufen. Dabei ist der Anteil an Schulversuchen, die auch sogenannte Lernbehinderte mit einbeziehen, weitaus geringer, als es dem ca. 80prozentigen Anteil der „Lernbehinderten" an der Gesamtpopulation der Behinderten entsprechen würde. Modellversuche sind in der Regel zeitlich begrenzt, sind von besonderen finanziellen Zuwendungen abhängig und daher gegenwärtig besonders von der Gefahr des Auslaufens, des Nichtverlängertwerdens bedroht. Ein großes Problem der Modellversuche liegt in der Frage der Verallgemeinerbarkeit von Ergebnissen und Erfahrungen. Man kennt das aus der Gesamtschuldiskussion, wo wissenschaftliche Begleituntersuchungen von den Gegnern der Gesamtschule stereotyp mit dem Hinweis auf eine nicht gewährleistete Übertragbarkeit der Ergebnisse abgeschmettert werden.

Den Modellversuchen im Behindertenbereich widerfährt ein ähnliches Schicksal. Hier wird sogar noch auf das geläufige Gesamtschulargument verzichtet, man müsse erst noch weitere, bessere Untersuchungen abwarten, sondern es wird kurz und bündig erklärt: „Schulversuche können die Frage, welche Art der Beschulung Behinderter zweckmäßiger ist, nicht beantworten." Im ungünstigsten Falle bündelt diese Aussage Bleidicks die negativen Vorurteile gegenüber Integrationsversuchen. Aber gilt dann eigentlich die Umkehrung: Kann man mit Hilfe von Schulversuchen die Möglichkeit einer umfassenden integrativen Beschulung Behinderter beweisen? Nein, das kann man nicht! Aus den bisher vorliegenden Schulversuchen läßt sich die radikale Integrationsforderung weder ableiten noch beweisen. Mehr noch: Die Integrationsfähigkeit Behinderter darf man mit Hilfe der gängigen empirischen Prüfverfahren auch gar nicht beweisen wollen. Integration ist keine Hypothese! Das verbriefte Menschenrecht auf soziale Eingliederung kann als Postulat nicht falsifiziert werden. Wer die Forderung nach Verhinderung sozialen Ausschlusses als solche empirisch überprüfen und somit beweispflichtig machen will, untergräbt hiermit bereits das Menschenrecht auf Integration und Partizipation. In dieses Fahrwasser geraten auch jene, die die irrsinnige Formel beschwören: „So viel Integration wie möglich — so viel Separation wie nötig.“ Diese von opportunistischen Erwägungen verdorbene Formulierung ist ein Nährboden, auf dem die Integrationsfähigkeit und Integrationswürdigkeit Behinderter prinzipiell und beliebig in Frage gestellt werden kann.

Es ist also festzuhalten, daß die Forderung nach sozialer Integration, nach Verhinderung von sozialen Ausschlußprozessen, nach allseitiger Persönlichkeitsentfaltung aller Mitglieder der Gesellschaft in kooperativen und kommunikativen Lebenszusammenhängen grundsätzlich nicht zur Disposition stehen kann. Dann bleibt noch die Frage nach dem Wie. Prinzipiell können Schulversuche hierzu Lösungsversuche erarbeiten; aber es muß leider festgestellt werden, daß die überwiegende Zahl der Modellversuche zur schulischen Integration behinderter Schüler in diesem Punkte bisher keine schlüssigen und endgültigen Antworten zu geben vermochte und — wie noch zu zeigen ist — auch gar nicht geben konnte.

Ein Hauptmangel bisheriger Schulversuche besteht in den Verfahren und Gesichtspunkten zur Auswahl der „geeigneten" Schüler. In einer Reihe von Modellversuchen findet eine strenge Selektion zur Integration statt, d. h. aus der Population der Integrationsbedürftigen werden die Integrationswürdigen ausgelesen, während die „Integrationsunfähigen" in separate Einrichtungen wandern. Integrationswürdigkeit oder -fähigkeit wird im Einzelfalle willkürlich und pragmatisch definiert; häufig spielt das Bestreben dabei eine Rolle, dem Schulversuch schon auf dem Wege einer günstigen Auswahl der Adressaten eine angemessene Erfolgsquote zu sichern. So herrschen beispielsweise in dem von Prof. Hell-brügge initiierten Modellversuch der Montessori-Schule in München, der im Bewußtsein der Öffentlichkeit als Musterbeispiel eines gelungenen Integrationsversuches gilt, besonders strenge Auswahlkriterien: „Jedes Kind, das in unsere Schule aufgenommen wird, muß mindestens im Ansatz zeigen, daß es im Kindergarten gelernt hat, für seine Person zu sorgen. Es muß alleine gehen, stehen oder sich bewegen können. In Ausnahmefällen kann ein Rollstuhl oder Rollator als Hilfsmittel der Fortbewegung dienen. Hör-und Sehbehinderungen müssen soweit durch Hörgeräte und Brille ausgeglichen werden, daß eine Spezialbehandlung, z. B. Taubstummensprache oder Blindenschrift, für die Entwicklung des Kindes nicht erforderlich ist. Für die spastisch gelähmten Kinder gilt gleichfalls, daß sie sich allein bewegen können müssen und auch sprachlich mit der Umwelt Kontakt aufnehmen können. Letzteres gilt auch für alle anderen sprachgestörten Kinder ... Zu diesen körperlichen Voraussetzungen sind noch zwei weitere Forderungen zu erfüllen: Das Kind muß eine entwicklungsfähige Arbeitshaltung aufweisen, und es darf in seinem Verhalten nicht so aus dem Rahmen fallen, daß die Kameraden durch sein krankhaftes Benehmen dauernd gestört werden. Letzteres bedeutet, daß das Kind auf Erklärungen und Zuspruch von Seiten des Lehrers und seiner Kameraden angemessen reagieren muß."

Wenn man nun noch die Ausgliederung der sogenannten Lernbehinderten, Geistigbehinderten und Verhaltensgestörten in Sonderklassen sowie eine Überrepräsentation der Oberschichtkinder (48 Prozent) in Rechnung stellt, dann reduziert sich das zur integrativen Beschulung berufene Potential auf eine sehr spezielle Gruppe von „Edelbehinderten“. Im übrigen illustriert die obige Auflistung der Auswahlkriterien, wie leicht sich im Zuge des Selektionseifers eine „Sprache der Gewalt“ einschleicht, bürokratisch-diffamierende Floskeln („krankhaftes Benehmen"), die eigentlich im krassen Widerspruch stehen zu Maria Montessoris Sensibilität für die soziale Lernfähigkeit von Kindern.

Besonders bei Integrationsversuchen mit „Lernbehinderten“ wird die Gruppe der Integrationswürdigen als „eigentlich nicht“ oder „noch nicht behindert" bezeichnet; die „echten Lernbehinderten" werden von Anfang an aus dem Integrationsversuch ausgeklammert. Ein typisches Beispiel hierfür sind die „differenzierten Grundschulen" in Bayern. Zielgruppe sind Schüler mit „zeitlich begrenzten Lernschwierigkeiten" (ca. 10 Prozent eines Jahrgangs) und die von Behinderung bedrohten Kinder (3 bis 4 Prozent). Eindeutig lernbehinderte Schüler sollen jedoch frühzeitig erkannt und rechtzeitig in eine Sondervolksschule für Lernbehinderte überwiesen werden

Die Neigung, sich bei der Festlegung der Auswahlkriterien stets ein Hintertürchen offen zu halten für den Ausschluß „nicht geeigneter" Behinderter, wirkt sich zudem nachteilig auf die Gestaltung des integrativen Unterrichts selbst aus. Die Möglichkeit gemeinsamen Lernens Behinderter und Nichtbehinderter wird häufig umgangen, indem die Behinderten in einen Bereich zwischen Regelschule und Sonderschule abgedrängt werden. Es werden Fördergruppen, therapeutische Gruppen, Spielgruppen usw. für die behinderten Kinder eingerichtet, während der Bereich des gemeinsamen Lernens auf jene Tätigkeiten eingeschränkt wird, die auch von den Behinderten bzw.den Förderkindern „normal" ausgeführt werden können. Zwar verfolgt die Einzel-bzw. Spezialgruppenförderung das Ziel, die Förderkinder für eine möglichst umfassende Teilnahme am Klassenunterricht „zuzurüsten", aber gleichzeitig droht bei ausbleibendem Erfolg die Überweisung in die Sonderschule.

Der „Schulversuch zur integrativen Förderung lernbehinderter und nichtlernbehinderter Schüler in Essen-Vogelheim" verkörpert diesen Mangel in auffälliger Weise. Die spezielle Förderung wurde in dem Essener Versuch in Anlehnung an das schwedische Spezialunterrichtsmodell organisiert. (In der neunjährigen schwedischen Einheitsgrundschule erhielten knapp 30 Prozent der Schüler vorübergehenden oder andauernden Spezialunterricht. Inzwischen ist dieses System langsam in der Auflösung zugunsten eines konsequent integrativen Unterrichts in kleineren Klassen. Die Umgestaltung leidet aber offensichtlich noch unter sehr großen Schwierigkeiten wie z. B. an Finanzierungsproblemen, Widerständen der Speziallehrer usw.).

In der Erklärung der insgesamt negativen Bilanz des Essener Versuchs spielt der Faktor „Lehrer" eine gewichtige Rolle Die Lehrer empfanden ihre Arbeit als belastend und verunsichernd, sicher nicht nur aufgrund fehlender Handlungskompetenz gegenüber neuartigen Anforderungen. Man muß darüber hinaus befürchten, daß das entlastungsorientierte Denken noch bei einer großen Zahl von Grundschullehrern, mehr aber noch bei Eltern aus privilegierten Schichten fest verankert ist. Letzteren fällt es angesichts eines Bildungssystems, das die permanente Selektion geradezu herausfordert, nicht schwer, entsprechenden Druck auf den Grundschullehrer auszuüben, und möglicherweise sind auch noch Sonderschullehrer — selbst wenn sie an Integrationsversuchen mitarbeiten — in ihrem Selbstverständnis auf jene Restmenge von Schülern fixiert, die das Regelschulsystem ausscheidet, so daß eine integrative Tätigkeit sich zunächst einmal quer zu ihrem Bewußtsein verhält. Daß etliche Integrationsversuche unter ungünstigen materiellen Voraussetzungen, unter zu großen Klassen, unter einem „unnatürlichen" Verhältnis von behinderten und nicht-behinderten Schülern (überproportional viele Behinderte), unter zu wenigen Spezialkräften und der mangelnden Kooperation zwischen ihnen, unter der mangelnden Einbeziehung des sozialen Umfeldes der Kinder, unter dem rigiden Diktat vorgegebener Lehrpläne, unter die Bedürfnisse und konkreten Lebensbedingungen der Kinder nur unzulänglich berücksichtigenden Lerninhalten leiden, sei hier nur am Rande vermerkt.

Die kritischen Anmerkungen zu den Integrationsversuchen in der Bundesrepublik dürfen nicht als Aufforderung zum generellen Verzicht auf derartige Modellversuche mißverstanden werden. Die Versuche haben trotz aller Mängel die Integrationsdiskussion belebt; sie haben dazu beigetragen, daß sich fundiertere Vorstellungen über die soziale Integration Behinderter entwickeln konnten. Viele der in den Schulversuchen engagierten Pädagogen, Psychologen, Ärzte, Eltern u. a. haben eine wertvolle Pionierarbeit geleistet. Auf dieser Grundlage konnten Planungen und Projektierungen in Gang kommen, in denen die bisherige Befangenheit und Halbherzigkeit in den Integrationsvorstellungen weitgehend überwunden ist. Auf ein solches Beispiel soll abschließend kurz verwiesen werden.

Es handelt sich um ein Modell integrativer Grundschulen zur Vermeidung der Überweisung in Sonderschulen im Bezirk Berlin-Schöneberg. Die Planung für dieses Projekt ist weitgehend abgeschlossen. In dem Schöneberger „Integrationsversuch Fläming-Grundschule" hat es einen interessanten Vorläufer Die Fläming-Grundschule baute von 1975 an sukzessive einen integrativen Zug auf; die Kinder wurden in der Regel als integrativ geführte Vorschulgruppe übernommen. Die Klassenfrequenz beträgt 15 Schüler, davon ein Drittel Behinderte (überwiegend „Lernbehinderte"). Es wird auf eine weitgehend gemeinsame Unterrichtung Wert gelegt. Die hohe „Sozialkompetenz" der Kinder und ihre „emotionale Stabilität" werden als besonders positive Merkmale herausgestellt.

Das Projekt „Integrative Grundschulen" unter Leitung von Ulf Preuss-Lausitz sieht eine vollständige integrative Beschulung der Schöneberger Kinder vor; in diesem Punkte orientiert man sich am italienischen Beispiel. Es wurde eine sorgfältige infra-bzw. sozialstrukturelle Analyse in den für das Projekt relevanten Bereichen vorangestellt. Ferner wurde schon in der Planungsphase eine intensive Öffentlichkeitsarbeit betrieben. Das Projekt wurde an der ehemaligen Pädagogischen Hochschule Berlin (jetzt in die Technische Universität Berlin integriert) in Kooperation mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Berlin erarbeitet. Die pädagogische Konzeption der integrativen Schule kann hier nur stichwortartig angedeutet werden

— Früherkennung von Schädigungen und Entwicklungsrückständen sowie eine gemeinsame Erziehung im Elementar-und Vorschulbereich sind notwendige Voraussetzungen der integrativen Schule.

— Es muß an die nachschulische, d. h. berufliche Integration gedacht werden, eine Abstempelung der Behinderten als . Arbeitskraft minderer Güte" muß verhindert werden.

— Aus dem Einzugsgebiet des Projekts wird kein Kind in eine Sonderschule (welcher Sparte auch immer) überwiesen.

— Die integrative Schule soll eine Schule des Wohnviertels (Stadtteilschule) Sein (Kooperation mit Eltern, außerschulischen Einrichtungen usw.).

— Die Klassenfrequenz soll höchstens 20 Kinder betragen, davon maximal 10 Prozent Behinderte (der Anteil behinderter Kinder in Schöneberg beträgt ca. 5 Prozent, der Ausländeranteil in Grundschulen 26 Prozent).

— In der integrativen Schule arbeiten Grund-schullehrer, Sonderschullehrer, ausländische Lehrer, pädagogische Unterrichtshilfen (Helfer mit heilpädagogischer Zusatzausbildung), ein in einem „gemeindeorientierten Beratungszentrum" stationiertes „fliegendes Team" (Sonderpädagogen, Psychologen, Therapeuten, Ärzte u. a. mit speziellen Kompetenzen ausgerüstete Fachkräfte), ferner Sozialarbeiter und Eltern.

— Es bestehen detaillierte Vorstellungen über die erforderlichen räumlichen Gegebenheiten (z. B. die Drei-Räume-Einheit für zwei Parallelklassen eines Jahrgangs mit einem Raum, der jahrgangsspezifisch reichhaltig mit Lernmitteln, Kochecke, Druckerei usw. ausgestattet ist).

— Für die integrativen Klassen gilt das Zwei-Lehrer-Prinzip, wobei eine bedarfsspezifische Zuordnung der zweiten Kraft notwendig ist.

— Das gemeinsame Lernen schließt eine Vielfalt von Binnendifferenzierungsmaßnahmen innerhalb einer 20er-oder 40er-Gruppe ein.

— Die integrative Schule versteht sich als eine „andere Leistungsschule" in Abgrenzung von der vorhandenen, sie vermittelt eine umfassende kognitive, emotionale und soziale Bildung.

— Der Rahmenplan (Lehrplan) der Grundschule (Kl. 1— 6) erhält die Funktion einer Orientierungshilfe. Gemeinsames Lernen und individuelle Lehrpläne schließen sich nicht aus.

— Die integrative Schule wird nicht als Ganztagsschule geführt, lediglich ein Projekttag pro Woche verläuft ganztägig.

Schon aus diesen nur grob skizzierten Prinzipien wird ersichtlich, daß das Schöneberger Projekt in einer Reihe von Punkten über die Mehrzahl bisheriger Integrationsversuche hinausgeht. Falls die Etablierung der integrativen Schule in dieser Form gelingt, dann sollte man nicht von einem „Schulversuch" oder „Modellversuch" sprechen, dem man nur ein Als-ob-Dasein zubilligt, einen verminderten Realitätsgehalt sozusagen. Die integrative Schule muß sich als ein Stück Wirklichkeit verstehen, gegenüber dem es kein Zurück mehr geben kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Frankfurter Rundschau vom 15. 12. 1981.

  2. Die Sonderschulen in der bundeseinheitlichen Schulstatistik, hrsg. von der Kultusministerkonferenz, Bonn 1973, S. 32.

  3. Deutscher Bildungsrat (Empfehlungen der Bildungskommission), Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher, Bonn 1973, S. 15 f.

  4. Der Bremer Behindertenpädagoge Wolfgang Jantzen arbeitete Merkmale der Schule für Lernbehinderte heraus, die diese als eine „Institution der Gewalt“ im Sinne Basaglias ausweisen; s. dazu: W. Jantzen, Schafft die Sonderschule abl, in: Demokratische Erziehung 7, 2/1981, S. 96 ff.

  5. L O. Roser, Wo es keine Behinderung mehr gibt, in: Pädagogik extra 3/1981, S. 18.

  6. L. O. Roser, a. a. O., S. 21.

  7. B. Prändl, Offener Brief, in: Z. Heilpäd. 32, 11/1981, S. 804.

  8. B. Prändl, a. a. O.. S. 804.

  9. H. Haas, Brief an die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg, in: Sonder-schule in Baden-Württemberg 14, 3/1981, S. 152.

  10. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Bericht und Empfehlungen der Nationalen Kommission zum Internationalen Jahr der Behinderten, Bonn 1981, Vorwort.

  11. U. Bleidick, Diskussion: Integration, in: Z. Heil päd. 32, 10/1981, S. 719.

  12. M. Söder, Soziale Integration und berufliche Eingliederung von Behinderten, in: Z. Heilpäd. 31, 6/1980, S. 370.

  13. H. Fend, u. a„ Sozialisationseffekte der Schule, Weinheim 1976; s. dazu: W. R. Wilms (Hrsg.), Lernen mit „Behinderten", Ravensburg 1979, S. 10.

  14. Das in jüngster Zeit extremste Beispiel einer solchen Position lieferte der Sonderpädagoge N. Baude, Zum Selbstverständnis der Sonderpädagogik: wider die Abschaffung der Sonderschule, in: Z. Heilpäd. 32, 6/1981, S. 449 ff.

  15. G. Feuser, Integration statt Aussonderung Behinderter?, in: Behindertenpädagogik 20, 1/1981, S. 14.

  16. G. Feuser, Integration statt Aussonderung Behinderter?, in: Behindertenpädagogik 21, 2/1982, S. 86 ff.

  17. U. Preuss-Lausitz, Fördern ohne Sonderschule, Weinheim 1981.

  18. L. O. Roser, Keine Aussonderung Behinderter: Gemeinsam leben und lernen, in: Behindertenpädagogik 20, 1/1981, S. 18.

  19. U. Bleidick, Benötigen wir Sonderschulen?, in: Sonderschule in Baden-Württemberg 14, 3/1981, S. 154.

  20. B. Ockel, Ist die Integration behinderter Kinder in die Grundschule möglich? Bericht der Sonder-schule der Aktion Sonnenschein — Schulversuch nach Maria Montessori, in: Deutscher Bildungsrat (Materialien zur Bildungsplanung); Schulversuche zur Integration behinderter Kinder in den allgemeinen Unterricht, Braunschweig 1976, S. 207.

  21. K. -H. Schlund, Schulversuch mit „differenzierten Grundschulen" in Bayern, in: Z. Heilpäd. 32, 1/1981, S. 34.

  22. M. Springer, Was erbringt eine „Mini-Sonderschule“ an der Grundschule?, in: Z. Heilpäd. 32, 3/1981, S. 241 ff.

  23. N. Stoellger, Kooperation zwischen Grund-und Sonderschullehrern — Sonderpädagogik in der Grundschule, in: Z. Heilpäd. 32, 1/1981, S. 107 ff.

  24. Als Quelle diente der im Oktober 1980 verfaßte Zwischenbericht der TU Berlin (Preuss-Lausitz u. a.) zum Projekt „Planung und Realisierung integrativer Grundschulen im Bezirk Schöneberg zur Vermeidung der Überweisung in Sonderschulen".

Weitere Inhalte

Wolf Rüdiger Wilms, Prof., Dipl. Päd., geb. 1941 in Recklinghausen; seit 1974 Hochschullehrer für das Fach „Pädagogik der Lernbehinderten" an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Verschiedene Veröffentlichungen im Bereich Pädagogik und Didaktik der Lernbehinderten.