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Das neue Frankreich — eine Illusion? | APuZ 1/1983 | bpb.de

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Das neue Frankreich — eine Illusion?

Klaus-Peter Schmid

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der politische Erdrutsch des Frühjahrs 1981 hat sich ohne das von vielen beschworene Chaos vollzogen. Wenn sich für den Alltag der Franzosen auch wenig geändert hat, sind bereits heute Weichen für Jahrzehnte gestellt worden. Verstaatlichungen, Dezentralisierung, Sozialreformen haben das Gesicht Frankreichs nach 500 Tagen linker Regierung stärker verändert als in den sieben Jahren unter Präsident Giscard. Auffallend ist die Kontinuität im Wandel. Das gilt für die in der Verfassung der Fünften Republik definierten staatlichen Institutionen. Präsident Mitterrand füllt sie voll aus; seine Autorität ist unbestritten. Er hat zudem an gaullistische Traditionen (wie nationales Pathos und die Berufung auf die „France profonde“) angeknüpft. Auch die außenpolitischen Allianzen und das Verhältnis zu den Partnern werden weitergeführt. Das gilt vor allem für die Kooperation mit der Bundesrepublik. Drastisch revidieren mußte Frankreich angesichts der weltweiten Krise seine Wirtschaftspolitik. Auf ein Jahr sozialer Großzügigkeit und starker Verschuldung folgte nach der zweiten Franc-Abwertung eine harte Politik der Austerität. Im Mittelpunkt steht eine vom Staat kontrollierte Bremsung der Preise und Löhne. Der Rückgriff auf die jahrhundertealte Tradition des Colbertismus hat die Gefahr von Dirigismus und Protektionismus verstärkt. Von der Aufbruchstimmung der ersten Monate ist der Wille zum Wandel geblieben. Doch er stößt sich an den ökonomischen Zwängen. Die Ernüchterung vieler linker Wähler ist unverkennbar. Doch Mitterrand hat noch bis 1988 Zeit, um an seinen Zielen zu arbeiten.

Was hatten die Franzosen nicht alles von einem Machtwechsel erwartet! Mehr Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit natürlich. Mehr Demokratie und Selbstbestimmung für den einzelnen. Mehr Gerechtigkeit, das Ende der Privilegien, neue Hoffnung für die Zukurzgekommenen. Schließlich hatte das Programm der Sozialisten geheißen „Changer la vie“. Das mußte nicht das Ende des Kapitalismus sein, aber doch der sichere Weg aus der Krise, der Wohlstand für alle, die Zuversicht der kleinen Leute schließlich, ihre besseren Tage noch vor sich zu haben.

Wenn man heute, rund 500 Tage nach dem politischen Erdrutsch des Frühsommers 1981, die Franzosen danach fragt, was sich für sie grundlegend geändert hat, dann müssen sie lange überlegen, bis ihnen praktische, im Alltag spürbare Veränderungen einfallen. Zunächst kommt man wohl auf das, was ausgeblieben ist: das von vielen befürchtete Chaos, der voreilig an die Wand gemalte Generalstreik, ein Auflehnen gar der traditionell konservativen Armee. Doch der greifbare Wandel, das neue Lebensgefühl des „vivre ä gauche" — sie sind kaum auszumachen im französischen Krisenalltag.

Und doch kann es keinen Zweifel geben, daß sich Frankreichs Gesicht verändert hat. Es geht nicht darum, daß die Führungseliten ausgewechselt worden sind, daß neue Akteure neue Akzente gesetzt haben. Es geht um wichtige qualitative Veränderungen, mit denen Weichen für Jahre und möglicherweise Jahrzehnte gestellt worden sind, auch wenn sich viele Franzosen dessen noch gar nicht bewußt geworden sind.

Da ist zunächst die Erfahrung der „alternance", des demokratischen Machtwechsels selbst. Selbst eminente Verfassungsrechtler hatten daran gezweifelt, ob ein solcher Wechsel im institutionellen Rahmen der Fünften Republik und angesichts der politischen Teilung des Landes in zwei scheinbar unverrückbare Blöcke überhaupt möglich wäre. Heute hat Frankreich einen sozialistischen Staatspräsidenten, einen sozialistischen Premierminister und eine absolute sozialistische Mehrheit in der Nationalversammlung, ohne daß dies noch als außergewöhnlich empfunden würde.

Frankreich ist heute ein sozialistisch dominierter Staat, dessen Autorität ungefährdet ist und dessen Verfassungsgefüge keinen Augenblick ins Wanken geriet. Daß an der Regierungsgewalt erstmals seit 1947 wieder Kommunisten partizipieren, hat die Stabilität eher noch unterstrichen. Denn die KPF ist damit genau wie die von ihr gelenkte Gewerkschaft CGT in die Pflicht genommen. Der Präsident kann dem Land seinen Stempel aufdrücken, ohne auf Ruhe zu seiner Linken achten zu müssen. Wenn sich die Linke in manchen Fragen auch nicht einig ist, dann war die Regierung von solchen Meinungsverschiedenheiten bisher kaum tangiert.

Eine der großen sozialistischen Ambitionen ist bereits Wirklichkeit geworden: die Verstaatlichung des Kreditsektors und einiger wichtiger Industriekonzerne. Es wäre kurzsichtig, ihre Bedeutung als eine unerhebliche Veränderung der Wirtschaftsstruktur abzutun. Gewiß, der von manchen beschworene Kollektivismus ist das nicht. Doch der öffentliche Sektor hat binnen weniger Monate die Zahl seiner Mitarbeiter um fast 50 Prozent erhöht; er erstellt heute 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gegenüber nur zehn Prozent vor der Nationalisierungsaktion. Wenn heute ein Drittel des Umsatzes der französischen Industrie aus staatseigenen Betrieben kommt, dann kann von einer marktwirtschaftlichen Struktur wohl nur noch mit Einschränkung gesprochen werden. Die Regierung hat sich hier eine Spielwiese für ökonomische und soziale Experimente geschaffen, aber auch ein zentrales Instrument für die Durchsetzung ihrer politischen Vorstellungen.

Die zweite große Veränderung der sozialistischen Ära ist noch im Werden: die Dezentralisierung. Wird sie so wie angekündigt in die Tat umgesetzt, dann kann getrost von einem Jahrhundertgesetz gesprochen werden. Es hebt nämlich eine Organisationsform des Staates aus den Angeln, die seit den Tagen des ancien rgime als unverrückbar galt. Bisher galt, daß Paris befiehlt und die Provinz zu folgen hat; das auf die wirtschaftliche Realität zielende Wort von „Paris und der französischen Wüste" hatte auch im politischen Sinne Gültigkeit. Der Präfekt, Statthalter der Zentralgewalt, sorgte dafür, daß die Anordnungen aus Paris bis ins kleinste Bauernnest vordrangen. Das war seit Napoleon so und genau besehen sogar seit den Tagen eines Colbert und Richelieu, die im ganzen Land Intendanten als Vertreter des Königs eingesetzt hatten.

Die Präfekten, seit ein paar Monaten als „Kommissare der Republik" tituliert, haben bereits einen Großteil ihrer Exekutivgewalt abgetreten. Der Conseil Gnral, das vom Volk direkt gewählte Parlament eines jeden Departements, hat neue Vollmachten bekommen, sein Präsident ist zugleich Chef der Exekutive. Auch die Regionen sollen bald gewählte Gremien erhalten, die mit politischen wie finanziellen Kompetenzen ausgestattet sind. Die Bürgermeister können schon heute eine ganze Reihe von Entscheidungen treffen, ohne sie — wie bisher nötig — dem Präfekten zur Genehmigung vorlegen zu müssen.

ist noch Manches unklar auf diesem Weg in die schrittweise Emanzipierung der Provinz. Vor allem Finanzprobleme gilt es noch zu regeln, denn Kompetenzverschiebungen haben zwangsläufig eine Verschiebung der Lasten zur Folge. Doch die Regierung hat Zeichen für die Ernsthaftigkeit ihres Bemühens gesetzt. So praktiziert Korsika seit dem letzten Sommer ein Sonderstatut; gerade die Insel, die sich jahrelang mit Worten und Bomben für eine Autonomie schlug, die diesen Namen verdient, erprobt heute ein System, wie es andere Regionen in gleicher oder ähnlicher Form ebenfalls erhalten sollen. Ein Zurück auf diesem Weg kann es nicht mehr geben. Was de Gaulle und seine Nachfolger im höchsten Staatsamt versprochen, aber nicht gehalten haben, wird jetzt langsam zur Realität: die politische Wiederbelebung der Provinz ohne die vielbeschworene Gefährdung der nationalen Einheit.

Nationalisierung und Dezentralisierung sind die auffallendsten Veränderungen in dem neuen Gesicht, das sich Frankreich seit dem Mai 1981 gegeben hat. Andere, neue Züge sind weniger spektakulär, aber deshalb nicht unbedeutend. Vor allem konkrete Lebensverbesse-Gingen für die Rentner und die Bezieher der gesetzlich fixierten Mindestlöhne sind hier zu nennen. Die wöchentliche Arbeitszeit wurde auf 39 Stunden verkürzt, der Jahresurlaub um eine fünfte Woche für jedermann verlängert, das Ruhestandsalter auf 60 Jahre herabgesetzt. Auch die Rechte der Arbeiter in den Betrieben wurden (wenn auch zaghaft) verbessert. Schließlich dürfen zwei Reformen nicht übersehen werden, die mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden sind: die Abschaffung der Todesstrafe und des Staatssicherheitsgerichts, beides überfällige Relikte einer wenig demokratischen Rechtsauffassung.

Das neue Frankreich, es existiert also, auch wenn es sich im Alltag der Franzosen nur bedingt bemerkbar macht. Doch gerade diese Kontinuität im Wandel ist es, die viele Beobachter überrascht hat. Das gilt in erster Linie für die Institutionen des Staates, wie sie die Verfassung der Fünften Republik definiert. Diese Verfassung wurde 1958, in einer Zeit ernster Gefährdung des politischen Gefüges, auf einen einzigen Mann zugeschnitten: auf Charles de Gaulle. Die Linke kämpfte stets gegen diese Verfassung an, weil sie nach ihrer Überzeugung dem Mann an der Spitze des Staates eine Überfülle an Macht garantierte, die Frankreich an den Rand einer Wahlmonarchie rückte. Francois Mitterrand qualifizierte diese Republik einst gar als Diktatur ab. Die Frage, wie ein sozialistischer Präsident einer solchen Verfassung zurechtkommen mit würde, bewegte die Gemüter also nicht ohne Grund.

Heut füllt der neue Mann im Elyse eben diese Verfassung mit geradezu verblüffender Selbstverständlichkeit aus. Der Vergleich mit dem General drängt sich auf: Auch heute bestimmt der Staatspräsident nicht nur die Richtlinien der Politik, er behält sich auch die Sicherheits-und Außenpolitik weitgehend als „domaine rserv" vor. Nach wie vor ist der Premierminister vor allem Interpret und ausführendes Organ der im Elyse beschlossenen Optionen; seiner Autonomie sind eindeutig Grenzen gesetzt. Nach wie vor ist das Elyse die Schaltstelle der Macht, nicht die Regierung (und auch nicht die Sozialistische Partei). Bei Konflikten zwischen der Regierung und der linken Parlamentsmehrheit hat bisher noch immer Mitterrand das letzte Wort behalten. Er hat bisher seine Rolle als Schiedsrichter unangefochten erfüllt und das Amt des Staatspräsidenten als das eines Garanten der politischen Stabilität bekräftigt.

Wenn die Amtsauffassung Francois Mitterrands auch der seiner Vorgänger nahe ist, so hat er doch seinen persönlichen Stil eingebracht. Er verzichtet darauf, sich mit billigen Gesten beim Volk anzubiedern. Seine Art zu regieren wirkt überlegt, konzentriert, ohne hektischen Aktionismus. Er legt Wert auf Distanz, will eher respektiert als geliebt werden. Im Wahlkampf wurde der Kandidat Mitterrand werbewirksam als „la force tranquille" angepriesen. Die Realität liegt heute nahe bei diesem Bild, und mancher akzeptiert den Mann im Elyse wegen seiner Autorität, nicht wegen seiner politischen Entscheidungen. Das ist — angesichts der eher bewegten Karriere Mitterrands — keine Selbstverständlichkeit.

Noch in anderer Hinsicht ist die Kontinuität überraschend. Das sozialistische Frankreich erweckt Traditionen zu neuem Leben, die lange als „unmodern" aus der offiziellen Politik verbannt waren. Typisch für diese Haltung war die mit Pomp, aber nicht ohne Würde inszenierte Feier am Pariser Pantheon, mit der Mitterrand seine Machtübernahme beging. Die republikanische Wallfahrt zu den „großen Männern", allen voran dem Sozialisten Jean Jaurs und dem Widerstandshelden Jean Moulin, zeugte vom Geschichtsbewußtsein einer Linken, die ihren Sieg nicht nur als epochales Ereignis, sondern als Station auf dem langen Weg französischer Geschichte verstanden wissen will. Auch hier ist die Nachbarschaft zu de Gaulle nicht zu übersehen. Er war der letzte, der ähnliches politisches Pathos mit ähnlicher Selbstverständlichkeit zu zelebrieren liebte.

Genau wie der General (und anders als Pompidou und Giscard) kann Mitterrand an der Resistance anknüpfen und daraus eine Legitimation ableiten, die noch über das Votum der Wähler hinausreicht. Hier verwurzelt er ein neues Nationalbewußtsein und belebt es mit einem neuen Missionsgeist. Revolutionäre Traditionen werden wiedererweckt, deren mobilisierende Wirkung nicht zu verkennen ist. Wenn Mitterrand von „la France" spricht, dann ist der Geist des alten Mannes von Colombeyles-deux-Eglises nicht fern. Die „vieille France" ist wieder hoffähig, die Vergangenheit wird zu neuem Leben erweckt. So war es nur logisch, daß der 10. Mai als Erinnerung an den Sieg über das faschistische Deutschland erneut in den Rang eines nationalen Feiertages erhoben wurde.

Auch die de Gaulle einst so teure „France profonde“ ist wieder zu Ehren gekommen, die Hervorkehrung des ländlichen, der Scholle verbundenen Frankreich. Alljährlich an Pfingsten nimmt die ganze Nation teil an der Pilgerfahrt des Präsidenten zu seinem Familien-besitz in Burgund. Sein Landhaus in Latche ist zum Symbol für eine Art Rückkehr zu den eigenen Wurzeln geworden. Auch auf diese Weise rückt die Provinz wieder an ihren früheren Stellenwert heran, wird das modische Bild vom alles beherrschenden Pariser Leben zurechtgerückt. Nicht die Hauptstadtbourgeoisie gibt die alleinigen Impulse, nicht die Eliteschulen (aus denen Pompidou wie Giscard hervorgegangen sind) liefern exklusiv das Führungspersonal der Nation. Das tiefe, in seiner Geschichte ruhende Land prägt das Gesicht Frankreichs, dessen Zukunft Mitterrand gestalten will.

Ein drittes Element der Kontinuität ist schließlich zu vermerken: die Fortführung der Allianzen. Vor seiner Wahl hat Mitterrand gelegentlich Erklärungen abgegeben, die eigentlich das Gegenteil befürchten ließen. Seine Haltung zu den USA ließ sich getrost als Antiamerikanismus beschreiben, seine Einstellung zum atlantischen Bündnis war bestenfalls das einer kritischen Distanz. Die Europäische Gemeinschaft war für ihn nie viel mehr als eine Zweckgemeinschaft profitgieriger Händler. Und sogar über den Nachbarn Bundesrepublik sprach der Sozialist Mitterrand gelegentlich in einem Ton, der wenig Interesse bekundete und auf mangelndes Verständnis der deutschen Situation schließen ließ.

Hier hat der Präsident Mitterrand ganz andere Töne angeschlagen. Er ist näher an die NATO herangerückt als sein Vorgänger Giscard, den die Opposition noch als „Atlantiker" beschimpfte. Die Vereinigten Staaten, zuvor noch mit dem Vorwurf bedacht, sie wollten mit ihrem militärischen Potential ein Protektorat in Europa errichten, können heute nicht demonstrativ genug mit ihren Waffen drohen. Der Mann, der sich noch vor ein paar Jahren seiner Unterstützung für den Rapackiplan zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa rühmte, insistiert heute auf der Stationierung amerikanischer Atomraketen in Mitteleuropa. Auch die EG ist kein prinzipieller Streitpunkt mehr, wenn Mitterrand auch ihre Ausrichtung auf die Sicherung sozialer Bedürfnisse gerne sähe.

Auf das deutsch-französische Verhältnis schließlich hat die Wachablösung an der Seine so gut wie keine Auswirkung gehabt. Wer glaubte, die guten Beziehungen stünden und fielen mit dem freundschaftlichen Einvernehmen zwischen Präsident Giscard und Bundeskanzler Schmidt, wurde eines Besseren belehrt. Weder der Wechsel in Paris noch der in Bonn haben an der Substanz gezehrt. Die bilateralen Konsultationen sind weder Routine noch bloße Erfüllung einer einmal auferlegten Pflicht geworden. Nach wie vor dominiert die Überzeugung, daß die Zusammenarbeit zwischen Paris und Bonn für den Frieden in Europa wie für die Zukunft Europas unerläßlich ist. Daß gerade im Bereich der Sicherheit die Kooperation eine neue Qualität zu erreichen scheint, muß als Beweis dafür gelten, daß das sozialistische Frankreich bereit ist, weit in die Zukunft hinein auf den deutschen Partner zu bauen.

Seitdem historischen Tag des 10. Mai 1981 hat Francois Mitterrand grundlegende Reformen verwirklicht, eine beachtliche Zahl von Wahlversprechen realisiert und die sozialen Gegensätze abzubauen begonnen. Der Elan der ersten Monate war geradezu atemberaubend — aber auch die Verkennung der harten ökonomischen Zwänge. Erst spät erkannte die Regierung, daß die besten Absichten zum Scheitern verurteilt sind, wenn die Mittel für ihre Verwirklichung fehlen. Von Anfang an warnten Skeptiker davor, die Effekte der weltweiten Wirtschaftskrise außer Acht zu lassen und das im Alleingang anzustreben, was in anderen Ländern bereits als Wunschdenken zu den Akten gelegt war. Im vergangenen Sommer hat die Wirklichkeit nun auch Frankreich eingeholt und eine Wende in der Wirtschaftspolitik erzwungen, wie sie drastischer nicht hätte sein können.

Nach der zweiten Franc-Abwertung innerhalb eines Jahres wurde auch Paris klar, daß die Zeiten für soziale Geschenke und teure Gesten vorbei waren. Die Stimmen derer verstummten, die ein Jahr lang propagiert hatten, man müsse mit dem Kapitalismus brechen und nur die Reichen schröpfen, um genügend Geld für eine soziale Umverteilung großen Stils zur Verfügung zu haben. Mit einem jährlichen Inflationsrhythmus von 14 Prozent, einer Arbeitslosigkeit von über zwei Millionen Menschen, einer Wachstumsrate nahe Null, einem Rekorddefizit im Außenhandel und einem ständig gefährdeten Franc mußten schließlich auch die Sozialisten auf eine Politik der Austerität umschalten, allen Versprechungen und guten Absichten zum Trotz.

Die Grundhypothese linker Wirtschaftspolitik hatte sich als falsch herausgestellt. Auf der Basis eines allseits prognostizierten Konjunkturaufschwungs sollte dank staatlich geförderter Konsumnachfrage die Investitionstätigkeit angeregt werden und damit der Weg aus der Krise beginnen. Der Aufschwung blieb genauso aus wie der als Impuls für den darnie-

derliegenden Arbeitsmarkt gedachte Konsum-stoß. Statt dessen stiegen Produktionskosten, Verbraucherpreise, öffentliche Schulden und Importe. In höchster Not mußte die Regierung einen Lohn-und Preisstopp verkünden, um die Situation wieder halbwegs in den Griff zu be-

kommen.

Was nach viereinhalb Monaten Blockade übrigblieb, war eine klassische Politik der Austerität. Preise und Löhne werden weiter reglementiert und damit in ihrem Anstieg künstlich gebremst. Doch für die Masse der Einkommensbezieher kommt damit nicht einmal mehr eine Garantie der Kaufkraft heraus. Selbst in Jahren galoppierender Inflation hatte man das den Arbeitnehmern nicht zugemutet. Und um ein Zeichen zu setzen, verbot die Regierung kurzerhand alle in Tarifverträgen verankerten Lohngleitklauseln (das heißt die Bindung der Löhne und Gehälter an die Inflationsrate), nachdem gerade diese Regelung stets als soziale Errungenschaft ersten Ranges gefeiert worden war.

Die drastische Kehrtwendung nahm zwar all denen den Wind aus den Segeln, die der Linken zuvor eine leichtfertige Gefälligkeitspolitik vorgeworfen hatten. Doch sie hat neue Gefahren heraufbeschworen. Sie heißen Etatismus, Dirigismus und Protektionismus. Gewiß, die Omnipräsenz des Staates in der Wirtschaft entspricht jahrhundertelanger französischer Tradition. Seitdem Jean-Baptiste Colbert, der Finanzminister Ludwig XIV., die jungen Manufakturen durch gezielte Subventionen und harte Schutzzölle zum Blühen brachte, ist Frankreich vom Colbertismus nicht mehr los-gekommen. Der Staat wurde seither als Finanzier und Schutzherr der Wirtschaft verstanden, gleichzeitig aber auch als kontrollierender Gendarm akzeptiert.

Paris ist erneut auf diesen Kurs eingeschwenkt. Mit Hilfe des erweiterten Staats-sektors kann die Regierung heute ihre Politik auch dann durchsetzen, wenn sie nicht marktgerecht ist. Der politischen Dezentralisierung setzt sie eine wirtschaftliche Zentralisierung großen Ausmaßes entgegen. Das französische Wirtschaftsmodell, als „conomie concerte" treffend umschrieben, droht zu einer „conomie administre" zu werden, in der dirigistische Eingriffe in Wirtschaftsstruktur und -ablauf die Regel und nicht die Ausnahme sind. Eine ganze Reihe von Maßnahmen hat zudem in den letzten Monaten gezeigt, daß die Zuflucht zu protektionistischen Regelungen mit dieser Entwicklung Hand in Hand geht. Was kurzfristig gesehen eine Verschnaufpause schafft, kann auf lange Sicht der Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs nur abträglich sein.

Ganz aus freien Stücken wurde der neue Weg freilich nicht eingeschlagen. Hinter den ökonomischen Zwängen stehen auch solche politischer Art, die gerade kurzfristige Erfolge verlangen. Die Linke hat nämlich zu spüren bekommen, daß ihre Erfolge bei den Präsidentschafts-und Parlamentswahlen des Frühjahrs 1981 das Ergebnis extrem hoher Erwartungen von Seiten der Wähler waren. Bei mehreren zur Nachwahlen Nationalversammlung und bei der Wahl der Generalräte im letzten Frühjahr hat das Pendel der Wählergunst bereits bedrohlich zugunsten der konservativen Opposition ausgeschlagen. Damit ist keine Erosion der Macht verbunden, wohl aber eine Ernüchterung derjenigen Wähler, die weniger für die Linke gegen die weniger für als Rechte, ein sozialistisches Frankreich als gegen das Abonnement der konservativen Kräfte auf die Macht gestimmt hatten.

Natürlich hat die Regierung nicht ihre Ambitionen aufgegeben. Sie kann mit Recht darauf verweisen, daß die Linke auch in den schwierigen Augenblicken der Neuorientierung eine erstaunliche Einigkeit bewiesen hat. Die Allianz zwischen Sozialisten und Kommunisten zeigt keine tiefen Risse, auch wenn vieles an der offiziellen Politik nicht nach dem Geschmack der KP sein kann. Die Gewerkschaften belassen es bisher bei eher symbolischen Aktionen gegen eine Politik, die nicht vor einer Reduzierung des sozialen Besitzstandes zurückschreckt. Alle Parallelen, die voreilig zu 1936 und dem raschen Scheitern der Volksfront gezogen wurden, erweisen sich heute als falsche Prophetie.

Ambitionen hat Paris auch nach außen. Die Forderung nach der Einrichtung eines „espace social" in Europa, einer Gemeinschaft des sozialen Fortschritts, wurde zwar mangels Mitteln wieder zu den Akten gelegt. Doch Frankreich setzt mehr denn je auf die Ausstrahlung seiner Kultur, vornehmlich seiner Sprache. Es möchte eine Führungsrolle für die Dritte Welt übernehmen, sich zum Sprecher der Unterentwickelten und der Freiheitskämpfer machen. Es versucht, seiner Diplomatie durch Vermittlung in Krisensituationen (etwa in Nahost oder Schwarzafrika) neue Aufgaben und neuen Glanz zu geben, über Ansätze ist man bisher kaum hinausgekommen, und mancher Versuch (etwa die Kampfansage gegen den amerikanischen Kulturimperialismus) ist über das Ziel hinausgeschossen. Doch der Ehrgeiz, neue Wege zu öffnen, ist unverkennbar. Was bleibt also nach 500 Tagen linker Herrschaft in Frankreich? Zunächst die Erkenntnis, daß der Wille zum Wandel sich aber existiert, bereits an den Realitäten reibt, die einem Wandel entgegenstehen. Der Elan der ersten Monate war fast atemberaubend, Gesetze wurden durch das Parlament gejagt, die ohne die Aufbruchstimmung Jahre benötigt hätten. Der Wunsch nach schnellen, konkreten Ergebnissen war dominierend. Doch den rosa Zeiten folgte der graue Alltag, der Aufbruch zu neuen Horizonten scheint bereits an seinen Grenzen angelangt. Die Zeit der kleinen Schritte ist angebrochen, der politischen Kärrnerarbeit. Statt ehrgeiziger Höhenflüge machen die Franzosen die schmerzliche Erfahrung, daß Ambitionen nicht genügen, ein Land zu verändern, wenn die Mittel fehlen.

Vieles an dem ungestümen Aufbruch des Jahres 1981 erinnert an die Bundesrepublik im Jahre 1969, als Willy Brandt die Epoche der Reformen ankündigte und Hoffnungen wekken konnte wie kaum ein Kanzler vor ihm. Doch die Erneuerung der Bundesrepublik fiel in eine Zeit wirtschaftlicher Blüte, während Mitterrands Amtsantritt mit der schwersten Krise der Nachkriegszeit zusammenfiel. Brandt konnte zudem den Kalten Krieg mit seiner Politik der Entspannung beenden, während Mitterrands Einzug ins Elyse mit einer Verhärtung der alten Fronten zwischen den Supermächten einhergeht. Der deutschen Linken waren immerhin 13 Jahre bis zur Ernüchterung gegönnt, für die französische Linke setzte sie schon nach 13 Monaten ein.

Ist das Bild vom neuen Frankreich, von mehr Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit also nicht mehr als eine Illusion? Ein solches Urteil wäre vorschnell. Mitterrand hat Frankreichs Gesicht in 500 Tagen stärker verändert als Giscard in sieben Jahren. Er hat Entwicklungen in Gang gesetzt, die nicht mehr zurückgedreht werden können. Und er hat noch gut fünf Jahre vor sich. Erst 1988 sind wieder Präsidentschaftswahlen, und gerade Mitterrand hat in seiner langen politischen Karriere bewiesen, daß er ein Mann des langen Atems ist.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Klaus-Peter Schmid, Dr. rer. pol., geb. 1942; Studium der Volkswirtschaft in Heidelberg, München, Mannheim und Paris; 1970 Stipendiat an der Ecole Nationale d’Administration (ENA), Paris; von 1971 bis 1973 Wirtschaftsredakteur der ZEIT in Hamburg, danach Frankreichkorrespondent der ZEIT; seit September 1982 in gleicher Funktion für den SPIEGEL tätig; Theodor-Wolff-Preis 1977. Zahlreiche Veröffentlichungen und Sendungen für Presse und Funk.