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Afghanistan: Legitimität der Tradition und Rationalität der Modernisierung | APuZ 21/1982 | bpb.de

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Afghanistan: Legitimität der Tradition und Rationalität der Modernisierung

Herfried Münkler

/ 35 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Abstrahierend vom Ost-West-Konflikt, der spätestens seit der sowjetischen Intervention den afghanischen Bürgerkrieg überlagert hat, werden hier die jeweiligen Rechtfertigungen untersucht, auf die sich die in Afghanistan gegeneinander kämpfenden Parteien jeweils berufen. Geht es den Partisanen um die Verteidigung ihrer traditionellen Lebensordnung und der dieser zugehörigen Institutionen, so will die von der Sowjetunion an der Macht gehaltene Regierung das Land politisch und wirtschaftlich modernisieren, um so die Armut in einem der „rückständigsten" Länder der Welt überwinden zu können. Die Ordnung des Paschtunwali, auf die sich die Partisanen u. a. berufen, ist durch das weitgehende Fehlen hierarchischer Strukturen gekennzeichnet. Die Gleichheit aller Paschtunen beruht darauf, daß Paschtunen und paschtunische Gemeinwesen souverän sind und keine übergeordnete Macht anerkennen. Mit Hilfe britischer Subsidien ist es den afghanischen Königen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gelungen, einen locker gefügten Staatsapparat aufbauen zu können, der mit der traditionellen Ordnung konkurrierte, sie jedoch nie völlig außer Kraft zu setzen vermochte. Erst durch die zunehmende Integration des afghanischen Wirtschaftslebens in den Weltmarkt ist die traditionelle Ordnung unterhöhlt worden; sie erscheint heute den städtischen Intellektuellen nur noch als ein Hemmnis auf dem Weg politischer und ökonomischer Modernisierung. An europäischen Vorbildern orientiert, verlangen diese Intellektuellen die Aufhebung der alten Normen und Bräuche, um das Land aus Armut und Not herausführen zu können. Da dem von ihnen entworfenen Reformprogramm jedoch die gesellschaftlichen Träger fehlten, waren sie von vornherein auf den Weg der autoritären Reform von oben verwiesen. Die Intensität, mit welcher die Kämpfe in Afghanistan ausgetragen werden, resultiert nicht zuletzt aus den grundlegend verschiedenen Legitimitäten und politischen Zielvorstellungen, auf die sich beide Seiten berufen. Politische Kompromisse scheinen dadurch ausgeschlossen zu sein. Doch die beiderseitige Flucht in die Gewalt hat weder den Zerfall der Traditionen aufgehalten noch die Modernisierung zu beschleunigen vermocht. Wie auch immer der Krieg enden wird: beide afghanischen Bürgerkriegsparteien werden die Verlierer sein.

Wenn vom Widerstandskampf der afghanischen Freischärler gegen die sowjetische Intervention und die von den Russen an der Macht gehaltene Kabuler Regierung gesprochen wird, so ist zugleich die Rede vom Hegemonialanspruch der Sowjetunion und den vielfältigen Problemen bei der forcierten Modernisierung eines armen Landes, vom Selbstbestimmungsrecht der Völker und vom Selbstbehauptungswillen der islamischen Religion; nur selten ist die Rede von jener Ordnung, ihren Werten und Normen, zu deren Verteidigung die afghanischen Bauern und Nomaden in den Kampf eingetreten sind und die ihren Kampfeswillen motivieren und stimulieren -Offensichtlich interessiert im Westen an dem Guerillakrieg in Afghanistan mehr, gegen wen er gerichtet ist, und weniger, von wem er getragen wird. Dementsprechend wird der Einmarsch sowjetischer Truppen im Dezember 1979 fast ausschließlich unter dem Blickwinkel der möglichen Motive der sowjetischen Führung zu erklären versucht; nur selten wird auf die innere Entwicklung Afghanistans Bezug genommen, die doch erst die sowjetische Intervention möglich gemacht hat.

So konnte denn im Westen der Widerstand großer Teile der afghanischen Bevölkerung gegen die sowjetischen Interventen und die von ihnen gestützte Regierung auf Werte festgelegt werden, die nicht seine eigenen sind und für die die Bauern und Nomaden Afghanistans auch schwerlich kämpfen würden. Was sie zum Kampf motiviert, ist wohl kaum eine abstrakte Idee wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder die Verteidigung der nationalen Souveränität, sondern vielmehr die Loyalität gegenüber der traditionellen Ordnung ihres Lebens, die sie durch die autoritären Reformen der Regierung und deren sowjetischen Verbündeten bedroht sehen. Es ist auch nicht der Islam als Inbegriff einer Reihe theologischer Werte und Visionen, der die Afghanen zum Widerstand getrieben hat; wenn ihr Kampf dennoch als ein islamischer Kampf bezeichnet werden kann, dann aufgrund der besonderen und einmaligen Art, in welcher der Islam in die traditionelle Ordnung der afghanischen Stämme Eingang gefunden hat Diesen Kampf mit politisch abstrakten Ideen wie der Verteidigung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts der Völker erklären und rechtfertigen zu wollen, heißt ihn um seine ureigenste Legitimität zu bringen.

Konkret will dies besagen: Sowohl die von dem derzeitigen afghanischen Ministerpräsidenten Babrak Karmal proklamierte „nationaldemokratische Etappe der sozialen Bewegung", die auf eine forcierte industrielle Entwicklung und politische Modernisierung des Landes abzielt, als auch die im Westen dagegengestellte Forderung nach Wahrung der Menschenrechte und Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker sind formal demselben Typus politischer Legitimation verpflichtet. Beide, mögen sie inhaltlich noch so weit auseinandergehen, beziehen ihre Legitimität aus der wertrationalen Begründung ihrer Ziele und deren universellem Geltungsanspruch,wohingegen sich die von den afghanischen Freischärlern verteidigte Ordnung aus der Unvordenklichkeit ihrer Tradition legitimiert einer Tradition also, die — wie ihre Anhänger meinen — vom Anfang der Zeiten an bestanden hat und die darum keiner weiteren Begründung bedarf.

Im Rahmen einer rationalen Legitimation politischer Ziele können unterschiedliche politische Systeme darüber streiten, ob nun die ökonomische Modernisierung oder die Wahrung von allen Menschen gleichermaßen zukommenden Rechten das jeweils höchste politische Ziel bildet; aber grundsätzlich steht doch außer Frage, daß es sich bei beidem um gut begründbare Ziele handelt. Gerade dies ist bei einer traditional legitimierten Ordnung nicht der Fall: Jede politische und ökonomische Modernisierung würde hier zwangsläufig die Infragestellung, zumindest aber die Relativierung der Traditionen einschließen, jede auf universelle Geltung abzielende Begründung von Rechtsverhältnissen würde die Identität der Gemeinschaft, die in der traditionellen Ordnung verankert ist, über kurz oder lang aushöhlen Sichert die auf Traditionen beruhende Legitimität eine wesentlich statisch Ordnung in ihrer Einmaligkeit und Besonderheit, so verlangt die wertrationale Legitimität infolge der ihr eigenen Universalisierung der Geltungsansprüche die dynamische Anpassung der bestehenden Verhältnisse an die Legitimität verschaffenden Grundsätze. Infolgedessen sind wertrationale Legitimationen aber auch in der Lage, die historische Veränderung einer Gemeinschaft samt ihrer Normen und Werte zu begreifen und zu begleiten, während die traditionale Legitimität sich solchen Entwicklungen nur starr entgegenzustemmen vermag und in ihnen nichts als den Abfall von der guten alten Ordnung sieht. Wo die traditionale Legitimität den Verlust der alten Werte und Normen auf moralische Korruption der Menschen zurückführt und zur Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung durch moralische Rückbesinnung aufruft, vermögen rationale Legitimationen die politische und wirtschaftliche Bedingtheit des Werte-und Normenwandels zu sehen und können die veränderten und verändernden Bedingungen selbst zum Gegenstand ihrer Argumentationen machen. Dieser grundsätzliche Konflikt der Legitimitäten soll hier am Beispiel Afghanistans präzisiert werden.

Abstrahierend von den Überlagerungen durch den Ost-West-Konflikt seit der sowjetischen Intervention im Dezember 1979 werden die

Auseinandersetzungen in Afghanistan, die schon lange vor dieser Intervention ihren An-fang genommen haben, dabei als ein Konflikt um die zukünftige politische und ökonomische Ordnung des Landes begriffen, der seine Intensität aus den unterschiedlichen Legitimitäten bezieht, auf die sich die jeweiligen Parteien berufen. Unter diesen Bedingungen sind politische Kompromisse ausgeschlossen, weil jede Verständigung über einen für beide Seiten nicht nur akzeptablen, sondern auch legitimen Zustand unmöglich ist. Unterschiedliche Legitimitäten lassen sich nicht relativieren und verweigern sich jeder erst für die Zukunft in Aussicht gestellten vollkommenen Anerkennung. Sie gelten uneingeschränkt und unbedingt oder gar nicht. Würde es sich bei den Auseinandersetzungen in Afghanistan um einen Konflikt zwischen der Sicherung bestimmter Rechte (z. B.des Eigentumsrechts) und der forcierten Industrialisierung des Lan-des handeln, so wäre ein politischer Kompromiß zwischen beiden Seiten möglich. Da es jedoch ein Kampf der Legitimitäten ist, ist auch jeder Kompromiß ausgeschlossen und der Guerillakrieg ein bedingungsloser Kampf auf Sieg und Niederlage.

Indem die westlichen Berichte und Analysen über Afghanistan unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und das Recht auf Verteidigung der nationalen Souveränität den Freischärlern eine wertrationale Legitimation ihres Kampfes verleihen, passen sie diese ein in die globalen Grenzlinien des Ost-West-Konflikts — insbesondere in der Afghanistan-Frage — zumindest auf der Ebene der Selbstlegitimation von östlicher und westlicher Seite -Hier handelt es sich um einen intra-wertrationalen Konflikt zwischen dem Primat von Menschenrechten und nationaler Souveränität auf der einen und bedingungslos forcierter politischer und ökonomischer Mo-dernisierung auf der anderen Seite. Sie bringen die afghanischen Freischärler so — gewollt oder ungewollt — um die Authentizität ihres Kampfes, um sie zur Bestätigung eines politischen Weltbildes zu instrumentalisieren, dessen politischer Durchsetzung, wären sie mit ihr konfrontiert, sie wohl denselben Widerstand entgegensetzen würden, wie sie ihn

Die Ordnung des Paschtunwali

Niemand außer dem Patriarchen der Gemeinschaft hat das Recht, einen erwachsenen männlichen Paschtunen in seiner Hand-lungsund Entscheidungsfreiheit einzuschränken. Niemand hat das Recht, die Hand-lungs-und Entscheidungsfreiheit einer paschtunischen Gemeinschaft, mag es sich dabei um eine Familie, einen Clan, ein Dorf oder eine Gefolgschaftsgruppe handeln, in irgendeiner Form zu begrenzen. Auf diesen beiden Grundpostulaten von der Souveränität eines jeden Paschtunen und der Souveränität allerpaschtunischen Gemeinwesen beruht die Ordnung des Paschtunwali, das die Rechtsgrundsätze, das Weltbild und die Wertvorstellungen der paschtunischen Stämme Afghanistans — aber auch Pakistans — umfaßt Die materielle Grundlage der jeweiligen Souveränitätsansprüche bildet der Landbesitz. Mögliche Konflikte zwischen den Souveränitätsansprüchen von Individuen und Gemeinwesen untereinander sind durch die im Paschtunwali besonders herausgestellte Verpflichtung zu gegenseitiger Solidarität limitiert. Ein Paschtune ist davon überzeugt, daß das Leben hart und die Welt feindlich ist und darum Individuum und Gemeinwesen ständiger Bedrohung ausgesetzt sind. Zugleich geht er davon aus, daß Frauen den Männern im Wert nachgeordnet sind, weil sie physisch schwächer und moralisch anfälliger seien. jetzt leisten. Demgegenüber soll hier versucht werden, den Kampf der afghanischen Nomaden und Bauern als den verzweifelten Wider-stand einer sich durch die Unvordenklichkeit ihrer Tradition legitimierenden Ordnung ge-gen die sie immer enger umschlingende Rationalität politischer und ökonomischer Modernisierung zu verstehen.

Die Integration der paschtunischen Gesellschaft erfolgt dementsprechend nicht über die Ausbildung einer Zentralinstanz mit eigenem Verwaltungs-und Erzwingungsstab, sondern durch eine auf hohen Solidaritätsansprüchen beruhende Verhaltenskonformität. Der Zusammenhalt der Gemeinschaft wird nicht durch den Zwang einer Zentralinstanz, sondern durch die Verbindlichkeit allgemein anerkannter Normen hergestellt. Solche Werte sind Heldenmut und Gastfreundschaft, und auf ihrer Verwirklichung beruht das jeweilige „Prestige" eines Paschtunen. Diesem Prestige kommt eine wichtige regulative Funktion im Rahmen der paschtunischen Gesellschaft zu: Einerseits weist es seinem Träger einen seinem jeweiligen Prestige entsprechenden Rang in der Gemeinschaft zu, andererseits verpflichtet es ihn aber auch zu einer seinem Prestige gemäßen Gastfreundschaft und zur Unterstützung von Hilfesuchenden, was jede herrschaftliche Aneignung von gesellschaftlichem Mehrprodukt (den für den Fortbestand der Gruppe nicht unbedingt erforderlichen Gütern) unterbindet Die lange Zeit uneingeschränkte Anerkennung der Normen des Paschtunwali hatte somit zur Folge, daß bei aller differenzierenden Statuszuweisung die egalitären Fundamente der paschtunischen Gesellschaft bewahrt blieben.

Der Sicherung der Egalität dient auch das strikte Verbot, paschtunisches Land an Nicht-Paschtunen zu verkaufen. So gelten auch die hohen Solidaritätsforderungen, die das Paschtunwali auferlegt, nur gegenüber Paschtunen, während sie gegenüber Nicht-Paschtunen deutlich relativiert sind. Grundlage dessen ist der paschtunische Bericht über die Erschaffung der Menschen, der die Menschheit in Paschtunen und Nicht-Paschtunen unterteilt. Er verbürgt die ethnische Identität der Stämme, indem er ein „Wir-Gefühl" entstehen läßt, das die politische Einheit der Paschtunen trotz fehlender Zentralinstanz sicherzustellen vermag.

Hieran läßt sich noch einmal die wechselseitige Ausschließung traditionaler und rationaler Legitimität präzisieren: Die Ordnung der Paschtunen einer Legitimation mit tendenziell universellen Geltungsansprüchen zu unterwerfen, würde die Zersetzung des paschtunischen „Wir-Gefühls" nach sich ziehen und so zwangsläufig auf die Auflösung jener Werte und Normen hinauslaufen, die in der traditionellen Ordnung das soziale Leben der Paschtunen regulieren. Ihre gesellschaftliche Integration wäre dann allein durch die Schaffung einer Zentralinstanz mit eigenem Verwaltungs-und Erzwingungsstab zu gewährleisten. Dies aber würde zu einer grundsätzlich anderen Ordnung als der im Paschtunwali geforderten führen. Liegen die Integrationskräfte der traditionellen Ordnung in der ausschließlichen Gültigkeit ihrer Werte und Normen für den eigenen Stamm, so sind Gesellschaften, deren Ordnung sich durch allgemein gültige wertrationale Begründungen legitimiert, auf die Ausbildung von Zentralinstanzen angewiesen, die sie in ihrer historischen und geographischen Besonderheit zu integrieren vermögen.

Die Einsetzung einer mit dem „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit" (Max Weber) ausgestatteten Herrschaftsinstanz ist für die rationale Legitimation politischer Herrschaft unverzichtbar, während die traditionale Legitimation mit ihrem Verzicht auf die Universalisierbarkeit ihrer Werte und Normen auch ohne Zentralinstanz auszukommen vermag. Die Integration einer „akephal-segmentären Gesellschaft" — d. h. einer Gesellschaft, deren Teile (Segmente) ohne Ausbildung einer Hierarchie (akephal; ohne Haupt) nebeneinander bestehen — ist auf der hohen gegenseitigen Solidaritätsverpflichtung der ihr Zugehörigen und der relativen Ausschließung Nicht-Zugehöriger von dieser Solidarität begründet.

Zu den Funktionsweisen einer akephal-seg-mentären Gesellschaft gehört aber auch, daß jeder sein Recht selber sucht und verteidigt, insofern der Appell an eine Zentralgewalt als Instanz der Rechtssicherung und Rechtszuteilung unmöglich ist. Wo eine die Legitimität physischer Gewalt monopolisierende Instanz fehlt, kann auch die individuelle Gewalt in Rechtsstreitigkeiten nicht diskriminiert werden. Die nötigenfalls auch gewaltsame Durchsetzung dessen, was als Recht angesehen wird, ist für den auf seiner individuellen Souveränität beharrenden Paschtunen unfraglich legitim. Die Folge dessen ist der häufige und schon bald nach Beginn eines Streites eintretende Rückgriff auf die Gewalt bei der Durchsetzung tatsächlicher oder vermeintlicher Rechtsansprüche. Gleichwohl sind der ungehemmten Eskalation der Gewalt in Rechtsstreitigkeiten Grenzen gesetzt, denn nach Beginn der Gewalthandlungen interveniert sehr bald die Gemeinschaft: nicht als die Recht setzende und zuweisende Instanz, sondern als Schlichter und Vermittler Immerhin: „Ein hohes Maß an physischer Gewaltsamkeit ist", wie Sigrist festgestellt hat, „der Preis, den eine individualistische Gesellschaft für ihre Herr-schaftslosigkeit zahlt"

Die Fähigkeit zur Selbstbehauptung wird für einen Paschtunen durch das Tragen eines Gewehrs repräsentiert; dementsprechend wird im Paschtunwali der Verlust der Waffe an einen anderen ebenso wie ängstliches Verhalten während eines Duells als eine der schwerwiegendsten Formen von Ehrverlust angesehen. Ausgenommen von solchem Ehrverlust ist nur die zeitweilige Hinterlegung der Gewehre bei einer angesehenen Führungspersönlichkeit während der Schlichtung von Rechtsstreitigkeiten. Unter diesen Bedingungen muß jeder Versuch der staatlichen Instanzen, ein wertrational legitimiertes Recht und ihren Anspruch auf das „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit" durchzusetzen, auf den erbitterten Widerstand eines jeden dem Paschtunwali weiterhin verpflichteten Paschtunen stoßen. Nicht zuletzt sind es die im Paschtunwali repräsentierten Werte und Normen gewesen, die sich in der Geschichte Afghanistans immer wieder gegen die Errichtung eines mit den Insignien der Souveränität nach außen wie nach innen ausgestatteten Zentralstaates gesperrt haben.

Ähnliches gilt für die Institution des Braut-preises, die in akephal-segmentären Gesellschaften gleichermaßen politische, ökonomische und rechtliche Funktionen übernimmt Die Aufbringung des Brautpreises durch die Verwandtschaft des Bräutigams hat, indem sie eine Brautpreisgruppe konstituiert, die Funktion eines Mechanismus'der Vergesellschaftung. Außerdem läßt sich durch den Erwerb mehrerer Frauen das landwirtschaftliche Mehrprodukt eines Jahres speichern; insofern dient der Brautpreis auch der Schatzbildung; gleichzeitig sichert oder verbessert er die Altersversorgung der Brauteltern, sofern diese keine Söhne haben. Schließlich bildet er in einer Gesellschaft, die den Wert der Frau deutlich unter dem des Mannes ansetzt, einen gewissen Schutz der Frau: Da der für die Frau entrichtete Preis verloren ist, wenn diese ihren Mann verläßt, setzt er der männlichen Gewaltherrschaft zumindest gewisse Nutzenerwägungen entgegen.

Diese mehrfache Bedeutung des Brautpreises für Zusammenleben macht das paschtunische verständlich, warum die von der Saur-Revolu-tion per Regierungsdekret angeordnete Abschaffung des Brautpreises Erbitterung und Widerstand bei den Paschtunen ausgelöst hat. Sie wurde von ihnen nicht als ein Akt der Durchsetzung von Menschenrechten, sondern als ein Angriff auf ihre traditionelle Lebensform erfahren; demgegenüber hat die Kabuler Regierung die in den paschtunischen Gebieten fortbestehende Institution des Brautpreises als „reaktionär", „barbarisch" und „menschenverächterisch" gebrandmarkt. Auch hier war zwischen rational und traditional begründeter Legitimität kein Kompromiß denkbar, und alles steuerte auf eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen beiden Legitimitätstypen hin.

Eine außerordentlich bedeutsame Stellung kommt in der Ordnung des Paschtunwali den Alten zu, die ihrer Kenntnisse, ihrer Weisheit, ihrer Würde und ihres Prestiges wegen hoch geachtet werden. Diese Achtung beruht nicht zuletzt darauf, daß in einer aus Bauern und Nomaden bestehenden Gesellschaft, die zwischen 90 und 95 Prozent Analphabeten aufweist, der ältere Mensch über einen Wissensvorsprung verfügt, aus dem ihm eine entsprechende Autorität zuwächst. Seine Kenntnisse über die Genealogie der Stämme, ihre Bräuche und Sitten bilden ein wesentliches Instrument gesellschaftlicher Integration in einer akephal-segmentären Gesellschaft. Die von der Saur-Revolution vorangetriebene Alphabetisierung der Bauern und Nomaden mußte sich bald als eine gravierende Bedrohung für den Wissensvorsprung der Alten und damit auch für deren gesellschaftliche Integrationsfunktion entpuppen. In dem Widerstand ge-gen die Alphabetisierungskampagne, der in der Ermordung vieler von der Regierung entsandter Lehrer seinen Höhepunkt fand, trafen die Typen rationaler und traditionaler Legitimität erneut unversöhnlich aufeinander.

Die Ordnung des Paschtunwali hat in den auf westlichen oder östlichen Universitäten ausgebildeten Intellektuellen Afghanistans ihre erbittertsten Gegner gefunden. Von der für sie augenscheinlichen Überlegenheit rationaler Legitimität und zentralisierter Staatlichkeit durch die politische und ökonomische Leistungsfähigkeit dieser Länder überzeugt, se-hen sie im Paschtunwali nur den Ehrenkodex einer feudalisierten Oberschicht und eine den Fortschritt ihres Landes hemmende, erstarrte Tradition -Zentralisierte Staatlichkeit und rationale Legitimität bilden aus ihrer Sicht die Voraussetzung für die politische und ökonomische Modernisierung eines der ärmsten Länder der Erde. Die Hemmnisse der Tradition müßten demzufolge so schnell wie möglich zerschlagen werden.

Der Zwang zur politischen und ökonomischen Modernisierung

Alles deutet darauf hin, daß es insbesondere die geographischen Gegebenheiten Afghanistans waren, die durch das nur geringfügige Mehrprodukt, das in ihnen zu erwirtschaften war, und durch ihre Bevorteilung voneinander abgesonderter Wirtschaftseinheiten Bildung und Fortbestand von akephal-segmentären Gesellschaften entscheidend begünstigt ha-ben. Diese wurden erstmals nachhaltig durch die Interventionen des europäischen Kolonialismus bedroht. Dessen Zangengriff, über Britisch-Indien und das zaristische Rußland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geführt, hat die Herausbildung und Stärkung einer politischen Zentralinstanz in Afghanistan deutlich forciert Erst die britischen Subsidien, gezahlt, um das Land als Pufferstaat gegen das zaristische Vordringen zum warmen Meer einsetzen zu können, ermöglichten Shah Shuja (1839— 1842) Aufbau und Finanzierung eines stehenden Heeres, das unter seinem Nachfolger Dost Mohammed (1842 bis 1863) auch zur inneren Konsolidierung der Herrschaft eingesetzt wurde. Wie wichtig diese Armee für die Stabilisierung der Zentralgewalt gewesen sein muß, zeigt sich auch darin, daß die Reform-initiativen unter der Regierung Sher Alis (1863— 1879) vor allem auf die Modernisierung und Reorganisation der Armee abzielten: Durch Einführung von Uniformen und Gründung einer Offiziersschule sollte sie zunehmend ihren europäischen Vorbildern angeglichen werden.

Gleichwohl konnte unterhalb der sich langsam formierenden Instanzen des Zentralstaates die akephal-segmentäre Ordnung des Paschtunwali im wesentlichen fortbesteheri. Weniger die politischen, sondern viel stärker die ökonomischen Veränderungen haben die Desintegration der traditionellen Ordnung forciert Die von König Amanullah (1919 bis 1929) durchgesetzte Monetarisierung der Steuerleistungen hat zur Verschuldung vieler Bauern geführt, und die damit allmählich einsetzende Kommerzialisierung von Grund und Boden hat die auf tendenzieller Gleichheit begründete Ordnung der Stämme zunehmend ausgehöhlt. Daneben hat die Entwicklung der Massenmedien — insbesondere der Aufbau des Rundfunks, dem in Anbetracht der geringen Alphabetisierung der Bevölkerung in Afghanistan eine besondere Bedeutung zu-kam — die auf den Wanderungsbewegungen der Nomaden beruhenden Nachrichtenkanäle und die damit gestifteten Formen gesellschaftlicher Beziehungen obsolet gemacht. Dies war einer der ersten Brüche in der traditionellen Symbiose zwischen Bauern und Nomaden. Die Aushöhlung der traditionellen Ordnung durch aus den Industrieländern eingeführte Produkte läßt sich am Auftauchen von Armbanduhren und Schnellfeuergewehren in den afghanischen Basaren beispielhaft belegen: In der politischen Organisation der paschtunischen Stämme ist demjenigen, der die Verteilung des Wassers aus den in gemeinsamem Besitz befindlichen Bewässerungssystemen kontrollierte (kaai/mir-ab), eine formelle Führungsposition zugekommen Er hatte die gleichmäßige und gerechte Verteilung des Wassers, festgelegt nach der jeweiligen Zuflußzeit, zu überwachen und bei Streitigkeiten schlichtend einzugreifen. Doch seit fast jeder erwachsene Paschtune eine Armbanduhr besitzt, hat sich die gesellschaftliche Stellung des kaai/mir-ab grundlegend gewandelt: Aus dem Kontrolleur der Wasserverteilung ist ein selbst kontrollierter Wasserverteiler geworden. Sein Anspruch, bei der Verteilung des knappen Gutes Recht und Gerechtigkeit walten zu lassen, kann mit der minutiösen Genauigkeit des Chronometers nicht konkurrieren.

Gleichermaßen hat der Erwerb von Schnellfeuergewehren die traditionellen Mechanismen der Konfliktbegrenzung außer Kraft gesetzt. Die Wirksamkeit dieser Mechanismen ist, wie sich nun herausstellte, in hohem Maße von der geringen Feuergeschwindigkeit und Treffsicherheit der paschtunischen Flinten abhängig gewesen. Die labile Balance zwischen der Fülle konfliktauslösender Faktoren in der individualistischen Gesellschaft der Paschtunen und den Mechanismen der Hegung und Schlichtung dieser Konflikte ist durch die Ein-fuhr und Verbreitung moderner Waffen zerstört worden.

Als der Militärputsch am 27. April 1978 (nach afghanischem Kalender am 7. Saur 1357) die politische und ökonomische Modernisierung des Landes zum obersten politischen Ziel erklärte, zählte Afghanistan trotz aller die traditionelle Ordnung auflösenden Faktoren immer noch zu den traditionellsten und orthodoxesten, aber auch zu den ärmsten Ländern innerhalb der islamischen Welt. Die Grundüberzeugung der den Putsch durchführenden Politiker und Militärs war nun, daß beides, Armut und Traditionalismus, ursächlich miteinander zusammenhingen, und ihr politisches Programm lief im wesentlichen darauf hinaus, durch die Zerschlagung der traditionellen Strukturen auch die Armut des Landes zu überwinden. Mit diesem Programm gaben sie sich weniger als überzeugte Kommunisten zu erkennen — wie sie selbst glaubten und erklärten —, sondern folgten eigentlich nur jener von Gunnar Myrdal als „Glaubensbekenntnis der Dritten Welt" bezeichneten These, der-zufolge allein forcierte Modernisierung, orientiert an den Maßstäben und Normen der Industrieländer, die politischen und ökonomischen Probleme der armen Länder zu lösen vermöge

Myrdal selbst hat — nach dem Hinweis, „daß die Modernisierungsideale im Wettbewerb mit traditionellen, seit Jahrhunderten eingefahrenen und häufig durch die Religion sanktionierten Wertungen stehen“ — die These von der Unvermeidlichkeit der Modernisierung vertreten: „Wir sind der Überzeugung, daß besonders angesichts der beschleunigten Bevölkerungszunahme schnelle Schritte zur Verwirklichung der Modernisierungsideale erfolgen müssen, wenn eine zunehmende Verelendung und soziale Revolten vermieden werden sollen. (...) Auch sollten wir nicht vergessen, daß diese Länder gewissermaßen den Punkt, jenseits dessen es keine Umkehr mehr gibt, schon überschritten haben, denn die Mo-dernisierungsideale sind in Südasien zumindest schon in dem Maße wirksam, daß es die-sen Ländern unmöglich ist, ungestört zu ihrem traditionellen Zustand zurückzukehren." Man wird hinzufügen müssen, daß es nicht nur die Ideale der Modernisierung sind, deren Wirksamkeit die Rückkehr zu traditionellen Zuständen verwehrt, sondern auch und insbesondere die Folgen und Nebenfolgen von partiellen Modernisierungen, die in diesen Ländern unter dem Einfluß der Kolonialmächte stattgefunden haben.

Der auf jährlich 2 Prozent geschätzte Bevölkerungszuwachs in Afghanistan stellt einerseits die traditionelle Ordnung in Frage, indem er die in ihrem Rahmen mögliche Ausnutzung der Ressourcen übersteigt, unterbindet andererseits aber auch die weitere wirtschaftliche Entwicklung des Landes, insofern jede Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit fast völlig vom Wachstum der Bevölkerung verschlungen wird Pointiert zusammengefaßt heißt dies: Die Erfolge von Hygiene und Medizin haben gleichermaßen die demographischen Grundlagen der traditionellen Ordnung unterhöhlt und die ökonomischen Kräfte, die eine neue Ordnung begründen könnten, paralysiert.

Daß der Fortbestand der traditionellen Werte und Normen eines der schwerwiegendsten Hindernisse für ein größeres wirtschaftliches Wachstum Afghanistans darstellt, ist in den ökonomischen Entwicklungsanalysen immer wieder herausgestellt worden. Rhein und Ghaussy schreiben: „Die Wirtschaftsgesinnung in dieser bäuerlich-nomadischen Gesellschaft ist am besten durch den Begriff 'traditional'zu umschreiben. Der einzelne übernimmt die Lebensgewohnheiten, die Arbeitstechnik und die Wertvorstellungen der Eltern, ohne daß ihm Kritik daran zusteht. Das Streben nach materiellem Besitz ist wenig ausgeprägt, denn gesellschaftliche Anerkennung wird vor allem dem zuteil, der Klugheit, Frömmigkeit, Tapferkeit und Gerechtigkeit besitzt, der Gastfreundschaft übt und eine Schar von klugen

Söhnen hat.“ Tendiert die ökonomische Modernisierung des Landes zur Zersetzung der Werte und Normen des Paschtunwali, so bil-den diese ihrerseits das stärkste Bollwerk ge-gen die Entwicklung einer modernen Wirtschaftsgesinnung, die als Antriebsmoment der ökonomischen Modernisierung unverzichtbar ist. Die Gleichzeitigkeit einer ansatzweisen Modernisierung und des Fortbestehens der traditionellen Werte und Normen hat jenen verhängnisvollen, für Afghanistan charakteristischen Zustand konstituiert, in dem — in den Städten — Armut als solche bewußt geworden und negativ ausgezeichnet ist, aber die Mittel zu ihrer Überwindung blockiert sind und jeder einschneidende Versuch ökonomischer Modernisierung auf den massiven Widerstand der ländlichen Bevölkerung trifft.

Ähnliches gilt für die politische Modernisierung: Die paschtunische Norm einer ausgeprägten Solidarität des einzelnen gegenüber Familie und Clan ist überall dort, wo sie in die Verwaltungs-und Vollzugsapparate der Zentralinstanz eingedrungen ist, zur unversiegbaren Quelle von Korruption geworden. Die Norm der Familiensolidarität, die in einer akephal-segmentären Gesellschaft funktional war, ist in den Behörden der Zentralinstanz in eine Dysfunktionalität umgeschlagen, welche die Kompetenz der staatlichen Apparate grundsätzlich in Frage stellt. „Die korrupten Praktiken", heißt es bei Myrdal lakonisch, „sind sehr nachteilig für jedes Streben nach Verwirklichung der Modernisierungsideale."

Der Verweis auf die Korruption der seitherigen politischen Eliten ist darum zu einer stets wiederkehrenden Formel bei der Selbstrechtfertigung von Staatsstreichen und Militärputschen geworden. Womit freilich noch lange nicht feststeht, daß die neuen Eliten gegen Korruption gefeit sind, denn auch diese sind, selbst wenn sie sich nicht der Familien-, Clanund Stammessolidarität verpflichtet fühlen, auf Loyalität angewiesen, und die ist außerhalb der traditionellen Solidaritätsbeziehungen schwerlich zu beschaffen. So konnte es für einen westlichen Beobachter sogar den Anschein haben, als seien die seit dem Sturz der Monarchie (1973) in Afghanistan stattfindenden politischen Auseinandersetzungen nur bedingt politisch-programmatischer oder gar ideologischer Art: „Zahir Schah und sein Nachfolger, der Republikgründer Prinz Daud, waren Durrani, ihre Gegner aus dem dann folgenden sozialistischen Lager (Taraki und Amin, beide der Chalq-Fraktion in der „Volksdemokratischen Partei Afghanistans" zugehörig, HM) waren Gilzai. Erst der verstädterte Machthaber von heute, Karmal (der Part-scham-Fraktion zugehörig, HM) Verwischte die strengen Grenzen eines intern-paschtunischen Machtkampfes, bei dem Beweggründe mitspielen mögen, die über rationale Begriffe weit hinausgehen."

Die politischen und ökonomischen Verhältnisse Afghanistans in den letzten Jahrzehnten waren geprägt durch einen Zustand, in dem traditionelle Werte und Normen und erste Ansätze zu einer politischen und ökonomischen Modernisierung sich in einem ambivalenten Koexistenzzustand miteinander befanden, in dem zwei sich im Grundsatz ausschließende Legitimitätstypen gegeneinanderstan-den und zugleich sich auf verhängnisvolle Weise durchdrangen, in dem sich also die politisch Handelnden dadurch auszeichneten, daß sie den für sie jeweils verbindlichen Legitimitätstypus zu wählen hatten. Dieser Zustand konnte historisch nur eine Übergangssituation darstellen, die auf eine grundsätzliche Entscheidung drängte.

Durch die teilweise Paralyse der traditionellen Ordnung infolge der ersten Modernisierungen in Afghanistan war über die Richtung der zukünftigen Entwicklung jedoch bereits im voraus entschieden. Das niedrige Alphabetisierungsniveau der Bevölkerung erscheint nämlich nicht mehr als der Ausdruck traditioneller Strukturen von Wissensvermittlung, sondern einzig als gravierendes Hindernis bei der Vermittlung einer für die Entwicklung des Landes funktionalen Bildung. Sub specie mo-dernitatis wird alles, was eine weitere Modernisierung nicht befördert oder ihr gar entgegensteht, zu einem Hemmnis, das es zu überwinden gilt. Das relative Recht, die Verhältnisse nicht mehr in ihrer traditionellen Funktionalität, sondern als bloße Blockierung des Weges zu einer neuen politischen und wirtschaftlichen Ordnung zu sehen, beruht auf tatsächlichen politischen und ökonomischen Veränderungen und ist darum sicherlich mehr als nur die spezifische Betrachtungsweise von urbanen Intellektuellen, die ihren Traditionen entfremdet sind. Die Folgen der auch in Afghanistan längst feststellbaren Kommerzialisierung des Bodens belegen dies nur allzu deutlich. „Indem die europäische Einmischung", heißt es bei Myrdal, „individuelle Landbesitztitel schuf, trug sie zum Entstehen einer Umwelt bei, in der ein weiterer Agent der Veränderung der Agrarstruktur — der Geldverleiher — sich entfalten konnte. Sobald das Landpachtsystem an die westlichen Begriffe des Privateigentums angepaßt war, wurde der Boden zu einem handelsfähigen Aktivposten. Er konnte nunmehr als Sicherheit für Darlehen verpfändet und im Falle der Nichterfüllung eingezogen und transferiert werden."

Sicherlich hat es bei dem niemals im unmittelbaren Kolonialstatus befindlichen Afghanistan nur indirekte Einwirkungen des Kolonialismus gegeben, aber auch diese bewirkten, daß der in der alten Ordnung nur auf außergewöhnliche Situationen (Hochzeiten, Beerdigungen) begrenzte Geldverleih zu einer permanenten ökonomischen Vermittlungsinstanz avancieren konnte. Die Egalität der paschtunischen Stammesgesellschaft geriet damit zunehmend in Verfall; durch Zinssätze von 100 und mehr Prozent haben die — in der Regel nomadisierenden — Geldverleiher viele land-besitzende Bauern enteignet und zu Pächtern oder landlosen Arbeitern gemacht. Die Enteignung der Bauern ist durch das Institut des Brautpreises, das häufig „zur hoffnungslosen Verschuldung der Familie führte" beschleunigt worden. Was zuvor ein den Fortbestand der traditionellen Ordnung sichernder Vergesellschaftungsmechanismus war, verwandelte sich nunmehr in ein Instrument der Aushebe-lung der traditionellen Ordnung. Dies lief auf die paradoxe Situation hinaus, daß diejenigen, die an den alten Sitten und Bräuchen festhielten, zu Beschleunigern ihrer Zerstörung wurden.

Die Enteignung der Bauern markierte aber nicht nur das Ende der tendenziell egalitären Stammesgesellschaft der Paschtunen, sondern hat gleichzeitig zur weiteren Verarmung des Landes beigetragen. Wie Rhein und Ghaussy gezeigt haben, hat „die kurze Pachtdauer und die damit verbundene Unsicherheit (...) die ohnehin nicht große Neigung des Pächters, dauerhafte Verbesserungen im Betrieb vorzunehmen" noch weiter gehemmt. Insgesamt hat „die Trennung von Eigentum (besser: Besitz, HM) und Bewirtschaftung sich negativ auf den Leistungsstand der Landwirtschaft" ausgewirkt Afghanistan ist im Gefolge dieser Entwicklung seit Mitte der fünfziger Jahre zu einem Einfuhrland für Getreide geworden. Daß die ohnehin begrenzten Deviseneinnahmen des Landes nunmehr zu einem beachtlichen Teil für den Ankauf von Nahrungsmitteln ausgegeben werden mußten, erwies sich als ein weiteres schwerwiegendes Hemmnis bei der in Angriff genommenen Industrialisierung des Landes, die nur noch durch wachsende Auslandsverschuldung finanziert werden konnte

Besteht — wie am Beispiel des Brautpreises gezeigt — die Paradoxie der Tradition darin, daß die weitere Orientierung an der Gültigkeit ihrer Werte und Normen zu deren beschleunigter Aushöhlung beiträgt, so liegt die entsprechende Paradoxie der Modernisierung darin, daß deren erste Auswirkungen ihre weitere Durchführung verlangsamen, wenn nicht gar überhaupt blockieren. Die politische und ökonomische Situation Afghanistans zu Beginn der siebziger Jahre war dadurch gekennzeichnet, daß die Tradition in ein Stadium der Selbstdestruktion und die Modernisierung in einen Zustand der Selbstblockade eingetreten waren. Die wechselseitig beanspruchte Ausschließlichkeit von traditionaler und rationaler Legitimität, die jeden politischen Kompromiß, der eine zukünftige gesellschaftliche Ordnung hätte fixieren können, unmöglich machte, wurde unterbaut durch die Selbstdestruktion oder Selbstblockade jener Kräfte, die vermittels ihrer Beharrungsoder Veränderungspotentiale zu einer neuen, in sich ausbalancierten politischen und wirtschaftlichen Ordnung hätten hinführen können. Die politische und wirtschaftliche Apathie, in die Afghanistan seit dem Zweiten Weltkrieg verfallen ist, hat den Versuch zu ihrer gewaltsamen Auflösung gleichsam von selbst auf die politische Tagesordnung gesetzt.

Das Dilemma der Intellektuellen

Die Entfremdung der Intellektuellen von den Werten und Normen der Gesellschaft, der sie entstammen, ist ein in vielen Ländern der Dritten Welt beklagtes Phänomen. Wie sich gerade am afghanischen Beispiel zeigen läßt, impliziert der Status des Intellektuellen sui generis die Distanzierung von den traditionellen Werten und Normen. Als Weisheit ist im Paschtunwali das Wissen um die Traditionen ausgezeichnet, und am weisesten ist, wer die Genealogie von Clan und Stamm am weitesten zurückzuverfolgen vermag. Demgegenüber ist das Wissen des modernen Intellektuellen durch die kritische Reflexion auf die Traditionen und seine Verwendbarkeit für Pro-gramme politischer Veränderung gekennzeichnet. Ist der paschtunische Weise orientiert am Bestand einer statischen Ordnung, so ist der moderne Intellektuelle auf die dynamische Modernisierung seines Landes fixiert. Da der Typus rationalen Wissens traditionales Wissen allenfalls als Folklore gelten zu lassen vermag, sieht sich der Intellektuelle der geschichtlichen Identität der Gesellschaft, welcher er entstammt, entfremdet. Wo die alte Ordnung und ihre Traditionen nur als Hemmnisse der Modernisierung begriffen werden, vermögen sie auch nicht mehr den Grund historischer Identität darzustellen. Um diese Krise ihrer geschichtlichen Identität zu überwinden, neigen viele Intellektuelle der Dritten Welt zur Konstruktion historischer Fiktionen, durch die der Tradition alle originären Rechte abgesprochen werden und die alte Ordnung zur bloßen Blockade eines längst möglichen Fortschritts herabgestuft wird. Insbesondere die Fiktion einer lange vor dem Eingreifen der europäischen Kolonialmächte in nuce bereits entwickelten zentralstaatlichen (wenn nicht gar nationalstaatlichen) Instanz, die durch das Bündnis von Tradition und Kolonialismus an ihrer vollen Entfaltung gehindert worden sei, entzieht der traditionellen Ordnung jede historische und politische Legitimität, um sie ausschließlich der zentralstaatlichen Gewalt und den vor ihr initiierten Programmen politischer und ökonomischer Modernisierung zu-zusprechen. Solche historischen Fiktionen sind jedoch mehr als nur individuelle Lösungen von intellektuellen Identitätskrisen; wo sie politisch folgenreich werden, bilden sie das Vorspiel zu der gewaltsamen Zerschlagung der traditionellen Ordnung. Andererseits ist den Intellektuellen aber doch auch zuzugestehen, daß sie die Stagnation und Apathie, in welche die traditionellen Gesellschaften verfallen sind, deutlicher und klarer sehen und begreifen können als die Weisen der alten Ordnung, die nur den Verfall wahrzunehmen vermögen, dessen historische Gründe sich ihrem Blickfeld jedoch entziehen.

Doch wie präzise auch immer die Intellektuellen das zwingende Erfordernis einer durchgreifenden Reform der Landwirtschaft und eines forcierten Industrialisierungsprogramms vor Augen haben mögen, es fehlen ihnen die gesellschaftlichen Kräfte, die im Rahmen einer auf demokratischer Zustimmung beruhenden Veränderung zu politischen Trägern dieser Reformen werden könnten. Weder die Bourgeoisie noch das Proletariat stellen aufgrund der geringen Industrialisierung eine relevante gesellschaftliche Kraft dar. Das Dilemma der Intellektuellen — nicht nur in Afghanistan, sondern in den meisten Ländern der Dritten Welt — besteht darin, daß sie die Notwendigkeit von Reformen erkennen, aber es außer ihnen kaum jemanden gibt, der wie sie die Reformen als notwendig ansieht. Schlimmer noch: Gerade die Masse derer, denen durch solche Reformen geholfen werden soll, die Bauern und Nomaden, lehnen sie in weithin ungebrochener Loyalität gegenüber den Traditionen strikt ab.

Doch weniger aus dem bloßen objektiven Vorhandensein dieses als vielmehr aus Dilemmas der Weigerung der Reformkräfte, es als solches anzuerkennen, resultiert die verhängnisvolle Entwicklung in der jüngsten Geschichte Afghanistans. So täuschte man sich über die tatsächlich zu erwartenden Widerstände gegen politische und ökonomische Reformen hinweg, als man die Reformpolitik von König Amanullah idealisierte und die Ursachen ihrer gewaltsamen Beendigung ausschließlich in der Subversionspolitik Großbritanniens suchte. Amanullah wurde als ein Politiker gefeiert, „durch dessen konsequenten national-emanzipatorischen Führungsstil die politische Funktion der Jungafghanenbewegung (...) mit ihrer radikal antiimperialistischen Haltung und innenpolitischen Reformen Übergewicht gewann“ Seine Politik, so wurde erklärt, habe sich dadurch ausgezeichnet, daß sie „eine kleine Elite von politischen und wirtschaftlichen Führungskräften herangebildet und für das Land durchaus brauchbare Reform-und Entwicklungsmaßnahmen eingeleitet" habe

Die autoritäre Reform von oben auch gegen den Widerstand der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung — kurzerhand als „reaktionäre Kräfte“ abgetan — wurde hier als Königsweg politischer und ökonomischer Modernisierung favorisiert. Daß diese Politik, sollte sie erfolgreicher und folgenreicher sein als die des trotz seiner außenpolitischen Erfolge am inneren Widerstand gescheiterten Amanullah, wohl nur unter massivem Einsatz militärischer Gewalt durchzusetzen war, ist schlicht übersehen worden. Wobei noch die Frage zu stellen gewesen wäre, ob die militärischen Kräfte der Kabuler Zentralregierung ausreichen würden, den lokalen Widerstand zu brechen, oder ob dieses Konzept nicht überhaupt nur mit der massiven Intervention eines „befreundeten“ Staates durchzusetzen war. Tatsächlich ist das Reformprogramm der am April 1978 durch einen Militärputsch an die Macht gekommenen Taraki-Amin-Regie-rung sehr bald auf den entschiedenen Widerstand vor allem der ländlichen Bevölkerung gestoßen. Wenn die Regierung damals behauptete, ihre Politik liege im Interesse von 98 Prozent der afghanischen Bevölkerung, so mag sie mit einem gewissen Recht davon selbst überzeugt gewesen sein; doch die von ihr daraus gezogene und öffentlich verbreitete Schlußfolgerung, sie werde von 98 Prozent der Bevölkerung unterstützt, war falsch. Wie Karl-Heinrich Rudersdorf, der sich zu diesem Zeitpunkt in Afghanistan aufgehalten hat, feststellt, dürfte „das umgekehrte Zahlenverhältnis (...) der Wirklichkeit bedeutend näher“ gekommen sein 27). Die Propagandisten der Regierung hatten — willentlich oder unwillentlich — übersehen, daß die Loyalität großer Teile der Bevölkerung weiterhin der traditionellen Ordnung galt und diese an deren ausschließlicher Legitimität festhielten; wohinge-gen die Schlußfolgerung, eine Politik im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung könne der Unterstützung durch eben diese Mehrheit sicher sein, zu ihrer Richtigkeit vorausgesetzt hätte, daß die politische und ökonomische Modernisierung der traditionellen Ordnung als grundsätzlich legitim anerkannt worden wäre. In der Favorisierung eines vorwiegend ökonomisch definierten Interessensbegriffs ist die Differenz zwischen rationaler und traditionaler Legitimität verdeckt und zugleich zugunsten der ersteren entschieden worden.

Als der Widerstand gegen die Reformen dann immer stärker wurde und sich herausstellte, daß er gerade von jenen getragen wurde, in deren ökonomischem Interesse diese Reformen doch eingeleitet worden waren, wußte man dies nicht anders als durch die subversive Tätigkeit auswärtiger Mächte zu erklären. Es mag dahingestellt bleiben, ob die Kabuler Regierung, die sowjetischen Interventen und die kleine Zahl derer, die auch im Westen das militärische Eingreifen der UdSSR gerechtfertigt haben, ihre diesbezüglichen Behauptungen selbst geglaubt haben. Eine Reihe von Gründen legt sicherlich nahe, an der Aufrichtigkeit ihrer Einlassungen zu zweifeln. Und doch läßt die Penetranz, mit der sich die Genannten immer wieder auf den ökonomisch verkürzten Interessensbegriff berufen, die Möglichkeit offen, daß sie das, was sie sagen, auch selber glauben. Gefangen in einer ausschließlich auf ökonomischen Interessen und deren historischer Prädominanz aufgebauten Fiktion der Geschichte, wäre ihnen dann tatsächlich der Blick auf das versperrt geblieben, was sich dagegen wehrt, auf die Kategorie des ökonomischen Interesses reduziert zu werden.

Wer die Legitimität der Tradition schlechtweg in Abrede stellt und nur denen, die aus ihr wirtschaftlichen Nutzen ziehen, ein Interesse an ihrer Verteidigung zu konzedieren vermag, der kann den Kampf der vorgeblichen Nutznießer gegen ihren eigenen Nutzen nicht anders als mit Subversion erklären; um dann sogleich dazu überzugehen, jene mit Gewalt zu ihrem Besten zu zwingen.

Die Flucht in die Gewalt

Die durch den Staatsstreich vom 27. April 1978 an die Macht gekommene Regierung Taraki-Arnin hat sich von vornherein nur auf eine kleine städtische Anhängerschaft und Teile des Militärs stützen können. Auch wenn sie selbst ihre Machtübernahme und die danach eingeschlagene Politik als Revolution bezeichnete und sie sogar als „beispielhafte Modell-Revolution" feiern ließ, so ist diese doch nichts anderes gewesen als ein von der „Volksdemokratischen Partei Afghanistans" organisierter und gesteuerter Militärputsch. Das zahlenmäßig verschwindend kleine Industrieproletariat Afghanistans hat an den politischen Veränderungen in Kabul keinerlei Anteil gehabt. Wenn sich die „Volksdemokratische Partei Afghanistans" damals selbst als die „Vorhut der Arbeiterklasse“ zu bezeichnen pflegte, so konnte sie dies nur, weil sie sich auf der Basis ihres politischen und ökonomischen Interessensbegriffs als solche definierte, und nicht etwa deshalb, weil die kleine afghanische Arbeiterschaft sie tatsächlich an ihre Spitze gestellt hätte.

Was am 27. April 1978 stattfand, war, wie es bei Sigrist heißt, die „Machtübernahme durch eine modernistische städtische Elite, die nicht im Volk verankert war, sondern sich an ausländischen Vorbildern orientierte" Wie tief-greifend die mit der Orientierung an einem ausländischen Vorbild einhergehende Distan-zierung von den politischen und kulturellen Lebensformen und Verständnismöglichkeiten der Afghanen war, zeigt sich allein darin, daß Partei und Regierung sich bei der Bezeichnung ihrer Machtübernahme des persisch-arabischen Begriffs enqelab bedienen mußten, der gleichermaßen so verschiedene politische Handlungen wie Umsturz, Revolution, Subversion, Umstellung, Putsch, Umgestaltung und Veränderung umfaßt. Da „die segmentäre Organisation der afghanischen Gesellschaft (...) historisch das Ausbrechen von sozialen Konflikten entlang von Klassenlinien verhindert'hat, „existiert in Afghanistan keine historische Tradition, die dem Begriff von . enqelab'den eindeutigen Sinn von . Revolution'— als grundsätzlicher Umwälzung bestehender Klassenverhältnisse — hätte geben können" Partei und Regierung konnten die eigentliche Intention ihres politischen Programms begrifflich somit nur in fremdsprachigen Publikationen deutlich machen, was letzten Endes damit gleichbedeutend war, daß nur diejenigen Afghanen, die mindestens eine europäische Sprache beherrschen, den Anspruch der Regierung Taraki-Amin, nicht durch einen Militärputsch, sondern eine Revolution an die Macht gekommen zu sein, begrifflich nachzuvollziehen vermochten.

Die bis ins Extrem übersteigerte Orientierung am ausländischen Vorbild endete schließlich in der Pervertierung von politischer Propaganda: Der geschichtsklitternde Versuch, die eigene Machtübernahme in Kabul als revolutionären und nicht etwa putschistischen Akt darzustellen, konnte die nicht erreichen, in deren vorgeblichem Interesse dies alles doch stattgefunden haben sollte und von deren Unterstützung der Erfolg der selbsternannten Revolution abhängen würde. Um so besser war er statt dessen jenen verständlich, welche als historisches Vorbild gedient hatten. So wurde die mühselig aufgerichtete Behauptung von der Revolution in Afghanistan zur Legitimation allein gegenüber dem ausländischen Vorbild, während sie bei der Bevölkerung auf Unverständnis stieß und keinerlei Loyalität herzustellen vermochte. Die Propaganda von der Revolution führte sich selbst ad absurdum, als sie anstelle der Bevölkerung des eigenen Landes, in deren vorgeblichen Interesse die propagierte Politik betrieben wurde, das ausländische Vorbild zum exklusiven Bezugspunkt der legitimatorischen Bemühungen avancieren ließ. So war es schließlich denn auch nur konsequent, daß die Regierung, als sie am Widerstand der Landbevölkerung zu scheitern drohte, diejenigen zur bewaffneten Hilfe aufforder-te denen gegenüber sie ihre Politik legitimiert zu haben glaubte.

Die Programme zur Entschuldung und Neuverteilung des bäuerlichen Landes, zur Alphabetisierung der Bevölkerung und zur Abschaffung der ruinösen Brautpreispraktiken trafen auf den Widerstand der Landbevölkerung, weil ihr der für sie damit beabsichtigte Nutzen nicht einsichtig gemacht werden konnte und den Nomaden und Bauern die Orientierung am ökonomischen Nutzen als ausschließlichem Bezug ihrer Lebensgestaltung illegitim erschien. Ihre ungebrochene Loyalität gegenüber der Tradition dürfte nicht zuletzt daraus resultiert haben, daß diese ihnen mehr Lebenssinn versprach als eine durch autoritäre

Reformen aufgezwungene Zukunft. So gingen sie, gemäß ihren Traditionen, zur gewaltsamen Verteidigung ihrer Traditionen über: Sie verjagten oder ermordeten die von der Regierung entsandten Funktionäre und Lehrer, machten die eingeleiteten Reformen in ihren Dörfern rückgängig und nahmen die anrückenden Verbände der regulären afghanischen Armee in schwer zugänglichem Gelände unter Feuer.

Die beiderseitige Eskalation der Gewalt endete im offenen Bürgerkrieg, der auch durch die Intervention sowjetischer Truppen, die Einsetzung einer neuen, im sowjetischen Troß mitgeführten Regierung und die von dieser eingeleiteten Reform der Reformen nicht beendet werden konnte, sondern vielmehr, infolge seiner nunmehr eingetretenen Überlagerung durch den Ost-West-Gegensatz, in eine neue Etappe der Eskalation eingetreten ist Die Flucht aus der politischen Apathie und ökonomischen Stagnation in die gewaltsame Ausfechtung des Konflikts der Legitimitäten hat den Zustand, dem sie entkommen wollte, jedoch nur dem Schein nach verlassen. Die Selbstdestruktion der Tradition und die Selbstblockade der Modernisierung sind durch die Gewalt nicht überwunden, sondern vielmehr intensiviert worden. Clausewitz'berühmt-berüchtigte Bemerkung vom Krieg als einer „Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel“ variierend, zeigt sich auch hier, daß der Rückgriff auf die Gewalt keinen grundlegend anderen politischen Zustand konstituiert, sondern nur in der Lage ist, die zuvor bereits angelegten politischen Konflikte zu intensivieren und die sich ehedem bereits anbahnenden Entwicklungen zu beschleunigen.

Konkret heißt dies: Indem sich die der Tradition verpflichteten Bauern und Nomaden in „Partisanen der Tradition" verwandelten, haben sie die schleichende Aushöhlung der traditionellen Ordnung nicht gestoppt, sondern nur den Schlußakt ihrer Liquidierung eingeleitet. Im Guerillakrieg mit regulären afghanischen Truppen und dem sowjetischen Militär sind die nicht selbst am Kampf Beteiligten, die Frauen, Kinder und Alten, gezwungen, ihre traditionellen Siedlungsräume zu verlassen und sich in Flüchtlingslagern neue, ihren Traditionen fremde Lebensmöglichkeiten zu schaffen. Und die Kämpfenden fallen in der unmittelbaren kriegerischen Konfrontation der eigentlich doch bekämpften Rationalität der Modernisierung zum Opfer, wenn sie, um militärisch bestehen zu können, sich die strategischen, taktischen, logistischen und waffen-technischen Ausprägungen dieser Rationalität zu eigen machen. Diesem Kampf, wie auch immer er enden mag, fällt die Tradition als erstes zum Opfer, und wo sie sich zu halten vermag, ist sie mehr Folklore als ein tatsächlich lebensgestaltendes Wert-und Normsystem.

In der Abschlußbilanz, so könnte daraus gefolgert werden, wachsen die Gewinne der auf die Modernisierung abzielenden Kräfte proportional mit den Verlusten, welche die Tradition bei ihrer kriegerischen Verteidigung hinzunehmen hat, und darum sei die Partei der Modernisierung der zwangsläufige Sieger des Kampfes. Solche Bilanzierung übersieht je doch, daß es den Reformern nicht um die Mo dernisierung des Landes in irgendeiner Zu kunft ging, sondern darum, diese so schnell und so umfassend wie möglich in Gang zu setzen. Gerade um diese eigentliche Intention ihrer Anstrengungen werden sie durch den Bürgerkrieg gebracht, der mehr an Ressourcen verzehrt, als er freizusetzen vermag. Wie der Krieg die Selbstdestruktion der Tradition beschleunigt hat, so hat er auch die Selbstblokkade der Modernisierung potenziert. Die beiderseitige Flucht in die Gewalt hat die politisch-ökonomische Ausgangslage nicht verändert, allenfalls hat sie deren destruktive Seite, die man gewaltsam zu eliminieren suchte, noch intensiviert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Als bemerkenswerte Ausnahmen sind zu nennen: Jan-Heeren Grevemeyer, Afghanistan: Das „neue Modell der Revolution" und der dörfliche Widerstand, in: Revolution in Iran und Afghanistan, mardom nameh — Jahrbuch zur Geschichte und Gesellschaft des Mittleren Ostens, Frankfurt/M. 1980, S. 140— 176; Willi Steul, Pashtunwali und Widerstand. Stammesgesellschaft im Staat: Die Pashtunen in Paktia, ebd., S. 250— 263, sowie Christian Sigrist, Die afghanische Krise und die Großmachtpolitik der Sowjetunion, in: Afghanistan — Eine Dokumentation, Schwerte/Ruhr 1980, S. 49— 58.

  2. Peter Scholl-Latour hat verschiedentlich die Unterschiede zwischen iranischer und afghanischer „Re-Islamisierung" religionsgeschichtlich mit der Kluft zwischen Schiiten und Sunniten zu erklären versucht (Peter Scholl-Latour, Die islamische Revolution, in: Buchholz und Geiling (Hrsg.), Wie gefährdet ist der Frieden?, Frankfurt/M. 1981, S. 147ff). Darüber hinaus ist freilich die Amalgamierung islamisch-sunnitischer Einstellungen mit den Grundwerten der Stammesgesellschaften zu beachten, die dem afghanischen Widerstand sein eigentümliches Gepräge verleiht. Es handelt sich hier nicht — wie im Iran — um eine islamische Revolution, die ihre Werte und Ziele aus islamisch-fundamentalistischen Überzeugungen bezieht, sondern um die Verteidigung einer Tradition, in die auch der Islam eingegangen ist.

  3. Die Unterscheidung von wertrationaler und traditionaler Legitimität („Geltung des als absolut gültig Erschlossenen" — „Geltung des immer Gewesenen") ist systematisch entwickelt bei Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Heidelberg 1921, Tübingen 19725, S. 19; sie ist fortgeführt in Webers Gegenüberstellung von rationaler und traditionaler Herrschaft als den — neben der charismatischen Herrschaft — reinen Typen legitimer Herrschaftsausübung (ebd., S. 124ff).

  4. Dies heißt freilich nicht, daß bestimmte universell begründete Rechte nicht auch durch die Geltung von Traditionen gewährleistet sein könnten. Doch die unter bestimmten historischen Bedingungen mögliche Gleichgerichtetheit beider Legitimationsformen zerfällt, sobald sich die sie gewährleistenden Bedingungen geschichtlich fortentwickeln.

  5. Ausdrücklich sei hier festgehalten, daß die Legitimation von politischen Handlungen nicht mit den ihr tatsächlich zugrundeliegenden Intentionen übereinstimmen muß. Wenn die Sowjetunion ihre Intervention in Afghanistan als Unterstützung und Absicherung des politischen und gesellschaftlichen Fortschritts legitimiert, so heißt das nicht, daß sie tatsächlich aus diesem Grund interveniert hat. Dies gilt auch für die westliche Führungsmacht USA, die sich das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Wahrung der Menschenrechte in allen Fällen, in denen sie von der Sowjetunion mißachtet oder unterdrückt werden, deutlich angelegener sein läßt als in solchen Situationen, in denen sie sich selbst zur Entsendung von Militärberatern „gezwungen" sieht, was sie ihrerseits mit der Notwendigkeit begründet, die Ausbreitung des Kommunismus verhindern zu müssen. Dies zeigt aktuell die unterschiedliche Reaktion auf das Kriegsrecht in Polen und der Türkei, dies zeigte aber auch die divergierende Bewertung der „Re-Islamisierungen" in Iran und Afghanistan.

  6. Die Paschtunen, auf die sich die Analyse konzentriert, stellen die größte zusammenhängende Ethnie im afghanischen Staat dar.

  7. Die nachfolgende Darstellung des Paschtunwali stützt sich vor allem auf folgende Arbeiten: Willi Steul, Paschtunwali. Ein Ehrenkodex und seine rechtliche Relevanz. Beiträge zur Südasienforschung. Südasien-Institut der Universität Heidelberg, Bd. 54, Wiesbaden 1981; Latif Tabibi, Staatliches und traditionales Recht in Afghanistan: Probleme und Materialien, in: Revolution in Iran und Afghanistan (Anm. 1), S. 236— 249; Christian Sigrist, Pashtunwali — das Stammesrecht der Pashtunen, ebd., S. 264— 279. Die paradigmatische Grundlegung dieser Analysen von akephal-segmentär organisierten Gesellschaften ist: Christian Sigrist, Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas, Olten 1967, Frankfurt/M. 19792; darin auch verschiedentlich Verweise auf die Gesellschaft der Paschtunen.

  8. Das Verhältnis von Prestige und Autorität in den westlichen Gesellschaften ist von Theodor Eschenburg (Uber Autorität, Frankfurt/M. 1965, 19762, S. 173f) eingehend untersucht worden. Die mit dem Begriff Prestige benannte Statuszuweisung in traditionellen Gesellschaften steht dem Begriff der Autorität sicherlich näher als der ursprünglichen lateinischen Bedeutung von prestigium: dem gaukleri-sehen Beiwerk.

  9. Fallbeispiele hierfür sind dokumentiert bei Steul, Paschtunwali a. a. O. (Anm. 6), S. 192 ff.

  10. Sigrist, Pashtunwali, a. a. O. (Anm. 1), S. 274.

  11. Dies belegt auch das Beispiel von zwei an der Freien Universität Berlin entstandenen Dissertationen: Rahmat R. Djan-Zirakyar, Stammesgesellschaft, Nationalstaat und Irredentismus am Beispiel der Pashtunistanfrage, Frankfurt/M. 1978, S. 61; Mohammad S. Sarwari, Afghanistan zwischen Tradition und Modernisierung. Europäische Hochschulschriften XXXI/2, Bern u. Frankfurt/M. 1974, S. 98.

  12. Zuverlässig über diesen Abschnitt der afghanischen Geschichte informieren: Louis Dupree, Afghanistan. Princeton/N. J. 1973, 19803, S. 343 ff„ und der von Klaus Jäkel verfaßte Abschnitt über die Geschichte Afghanistans in dem Standardwerk: Afghanistan. Natur, Geschichte und Kultur, Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, hrsg. von Willy Kraus, Tübingen u. Basel 1972, 19753, S. 120ff.

  13. Steul, Paschtunwali, a. a. O. (Anm. 6), S. 88 ff.

  14. Gunnar Myrdal, Asiatisches Drama. Eine Untersuchung über die Armut der Nationen, aus dem Engi, von Nils Lindquist, Frankfurt/M. 1980, S. 40f.

  15. Ebd., S. 42.

  16. Die Wirtschaftsgeschichte Afghanistans ist dargestellt in: Eberhard Rhein/A Ghanie Ghaussy, Die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans 1880— 1965, Opladen 1966; Peter Oesterdiekhoff, Hemmnisse und Widersprüche in der Entwicklung armer Länder — Darstellung am Beispiel Afghanistans, München 1978. Ist die Untersuchung von Rhein und Ghaussy eher einer marktwirtschaftlichen Theorie verpflichtet, so erfolgt die Analyse Oesterdiekhoffs in marxistischen Kategorien. Wenngleich von unterschiedlichen theoretischen Ansätzen ausgehend und verschiedene Entwicklungsmodelle favorisierend, zielen beide Untersuchungen doch gleichermaßen auf die politische und ökonomische Modernisierung des Landes ab.

  17. Rhein/Ghaussy, Die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, S. 15.

  18. Myrdal, Asiatisches Drama, a. a. O. (Anm. 14), S. 203.

  19. Winfried F. Wiegandt, Afghanistan. Nicht aus heiterem Himmel, Zürich 1980, S. 20. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch ein von Rudersdorf gegebener Hinweis: „Während sich die Chalq-Anhänger zum großen Teil aus paschtunischen, aufsteigenden bäuerlichen Schichten zusammensetzten, fand Partscham seinen Hauptrückhalt bei städtischen, mittelständischen, darisprechenden Intellektuellen." (Karl-Heinrich Rudersdorf, Afghanistan — eine Sowjetrepublik?, Reinbek b. Hamburg 1980, S. 30). Für Halliday sind — neben außenpolitischen Entwicklungen — die partei-internen Konflikte, die von ihm eher als politisch-programmatische Auseinandersetzungen begriffen werden, einer der entscheidenden Gründe für das Scheitern der afghanischen „Revolution“ (Fred Halliday, Krieg und Revolution in Afghanistan, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 23/81, S. 20). Bei einem taktisch geschickteren Vorgehen, so die von ihm implizit vertretene These, wäre der Widerstand der Landbevölkerung gegen das Reformprogramm vermeidbar gewesen. Der Konflikt der Legitimitäten wird von ihm nicht gesehen.

  20. Myrdal, Asiatisches Drama, a. a. O. (Anm. 14), S.232.

  21. Rudersdorf, Afghanistan, a. a. O. (Anm. 19), S. 46.

  22. Rhein/Ghaussy, Die wirtschaftliche Entwicklung, a. a. O. (Anm. 16), S. 45.

  23. Zur Vorgeschichte der ökonomischen Stagnation in Afghanistan gehört jedoch auch der Zusammenbruch des die islamische Ökumene verbindenden afghanischen Transithandels durch das Vordringen der europäischen Kolonialmächte Großbritannien und Rußland. Wenngleich sich Afghanistan nie in einem formellen Kolonialstatus befunden hat, so treffen im ökonomischen Bereich die Charakteristika der Kolonialisierung doch auch auf seine Situation zu: die „Orientierung auf die Reproduktionsbedürfnisse der jeweiligen Zentren unter Minimierung oder gar Eliminierung ökonomischer Beziehungen außerhalb des Metropole-Peripherie-Kontextes" (Oesterdiekhoff, Hemmnisse und Widersprüche, a. a. O. [Anm. 16), S. 344).

  24. Wie die bis zum Jahre 1919 gezahlten britischen Subsidien zur Finanzierung einer gegenüber der Zentralinstanz loyalen regulären Armee zeigen, hat sich in Afghanistan gerade die Zentralstaatsbildung mit massiver Unterstützung der Kolonialmächte vollzogen. Die sowjetische Militärintervention vom Dezember 1979 bildet den Endpunkt dieser „Tradition“.

  25. Sarwari, Afghanistan, a. a. O. (Anm. 11), S. 73.

  26. Djan-Zirakyar, Stammesgesellschaft, a. a. O. (Anm. 11). S. 127.

  27. Rudersdorf, Afghanistan, a. a. O. (Anm. 19), S. 59.

  28. Gemeint ist hier das subjektive Für-wahr-Hal-ten, nicht eine wie auch immer überprüfte objektive Wahrheit

  29. Sigrist, Die afghanische Krise, a. a. O. (Anm. S. 52.

  30. Grevemeyer, Afghanistan, a. a. O. (Anm. 1), S. 155.

  31. Daß sich die bewaffnete Hilfe der Sowjetunion im Dezember 1979 zur Intervention sowjetischer Truppen, dem Sturz der Amin-Regierung und der Einsetzung von Babrak Karmal als neuem Regierungschef auswuchs, dürfte Hafizullah Amin bei seinen Hilfsersuchen an die Sowjetunion sicherlich nicht beabsichtigt haben. Doch da seine Regierung zuvor bereits verschiedentlich um Entlastungsangriffe sowjetischer Kampfbomber für ihre regulären Truppen ersucht und diese auch erhalten hatte (vgl. Der Spiegel Nr. 24, 11. 6. 1979, S. 140), hat sie selbst den Weg zur Intervention im Dezember 1979 geebnet.

  32. Carl v. Clausewitz, Vom Kriege, hrsg. von Werner Hahlweg, Bonn 198019, S. 990.

  33. Herfried Münkler, Partisanen der Tradition-, in: Der Monat, 1982, Heft 1, S. 109ff.

Weitere Inhalte

Herfried Münkler, Dr. phil., geb. 1951; Studium der Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft in Frankfurt/M.; Lehrbeauftragter am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt. Veröffentlichungen: Ideologien der Terroristen in der Bundesrepublik Deutschland (zusammen mit Iring Fetscher u. Hannelore Ludwig), Opladen 1981; Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt/M. 1982; zu Problemen der Dritten Welt: Perspektiven der Befreiung. Die Philosophie der Gewalt in der Revolutionstheorie von Frantz Fanon, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 33. Jg„ 1981, Heft 3, S. 437— 468; Partisanen der Tradition, in: Der Monat, Nr. 1, 1982, S. 109— 119.