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West-östliche Goethe-Bilder. Zur Klassikrezeption im geteilten Deutschland | APuZ 11/1982 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 11/1982 West-östliche Goethe-Bilder. Zur Klassikrezeption im geteilten Deutschland Vaterland versus Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und deutsche Nation

West-östliche Goethe-Bilder. Zur Klassikrezeption im geteilten Deutschland

Karl Robert Mandelkow

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Am Beispiel der drei Eckdaten der Goethegedenkjahre 1932, 1949 und 1982 verfolgt der Beitrag den Wandel der Goethedeutung und Klassikauffassung im Spiegel der Konfrontation der marxistischen und der bürgerlichen Rezeption. Während die Berufung auf Goethe im März 1932 (100. Todestag) durch eine einseitig „rechte“ Perspektive bestimmt war, konkurrierten im Jahr 1949 (200. Geburtstag) zwei grundsätzlich unterschiedliche Goethe-und Klassikbilder miteinander. In beiden deutschen Staaten war die Feier Goethes mehr als ein nur literarisches Ereignis; sie erhielt eine eminent politische Funktion in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West In der DDR wurden Goethe und die deutsche Klassik im Rahmen des marxistischen Erbeverständnisses zum kanonisierten Gipfel der bürgerlichen Literatur und Kultur. Zugleich wurde an diesem Kanon die gesamte Moderne gemessen und kritisiert. Dem ideologisch einseitig besetzten Goethebild in der DDR korrespondierte in der Bundesrepublik ein weithin unpolitischer, vornehmlich ästhetischer Umgang mit dem Dichter. In beiden deutschen Staaten wurde am Ende der sechziger Jahre das etablierte Verständnis Goethes und der Klassik in Frage gestellt. Der Goethe-und Klassikkritik in der Bundesrepublik entspricht in der DDR der Abbau und die Revision eines „Klassikzentrismus", der zur Aufwertung der bis dahin negierten Romantik und der Avantgarde des 20. Jahrhunderts führt. In einem Ausblick wird die gegenwärtige Konstellation west-östlicher Goethe-Bilder beleuchtet. Der Forderung nach einer neuen, von allen politischen und ideologischen Inanspruchnahmen befreiten „Unmittelbarkeit“ im Umgang mit Goethe setzt der Verfasser die These entgegen, daß jeder neue Zugang zu den sogenannten Klassikern die rezeptive Vorgeschichte unserer bisherigen Erfahrungen mit ihnen zu bedenken hat. Auch der Umgang mit einem in Ost und West gespaltenen Goethe-Bild ist Teil unserer gesamtgesellschaftlichen Erfahrung einer unversöhnten und konfliktbehafteten Gegenwart.

I. „Goethe und kein Ende" oder die Suche nach einer neuen Unmittelbarkeit im Umgang mit dem Dichter

In seiner unter dem provozierenden Titel . Mein Gott Goethe" 1980 erschienenen Essay-sammlung hat der westdeutsche Literaturwis-

senschaftler Leo Kreutzer die These vertreten, daß auf Goethe „in unserer Gesellschaft eigentlich niemand mehr ernsthaft Anspruch“ mache. „Keine Bildungsschicht mehr, die ihn unter ihrer Fuchtel hätte, zu der man sich . bekennen', mit der man sich gemein machen würde, indem man ihn sich anzueignen suchte.“ „So merkwürdig das klingt“, so faßt Kreutzer seine Überlegungen zum gegenwärtigen Verhältnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu Goethe zusammen: „die Luft ist rein. In dieser veränderten, freilich etwas dünnen Luft liegt Goethe auf der Straße, da kann man ihn aufheben. Und vielleicht wirklich gebrauchen.“ Sieben Jahre zuvor hatte ein anderer Autor, der DDR-Schriftsteller Ulrich Plenzdorf, eine ähnliche Situation beschrieben, wenn er den Helden seines Romans „Die neuen Leiden des jungen W“., Edgar Wibeau, Goethe auf der Straße nicht nur, sondern, symbolisch radikalisiert, „auf dem ollen Klo von Willis Laube“ finden und aufheben läßt, das Reclamheft des „Werther", durch das Fehlen des Titelblatts der Aura des berühmten Verfassernamens beraubt, eine anoyme „alte Schwarte", mit der Edgar im weiteren Verlauf der Erzählung in eine uns allen inzwischen hinreichend bekannte eigenartige und eigen-willige Kommunikation tritt. Eine, wenn man so will, west-östliche Konstellation der Goe-therezeption der jüngsten Vergangenheit, die eine scheinbare Gemeinsamkeit bezeichnet, deren allerdings völlig unterschiedliche, ja gegensätzliche Voraussetzungen geeignet sind, in das Thema der nachfolgenden Überlegungen einzuführen.

Goethe, von keinem mehr beansprucht oder in Dienst gestellt, auf der Straße liegend, dem freien Zugriff offen, oder der „Werther“ ohne Titelblatt auf einem Klo in einer Laubenkolonie: hinter diesen Vorstellungen steht nicht, wie man vermuten könnte, ein kulturzerstörender oder kulturnegierender Vandalismus. Viel eher ist dahinter der Wunsch nach einer neuen Unmittelbarkeit im Umgang mit einem Autor verborgen, der wie kein anderer der deutschen Literatur im Verlauf seiner über zweihundertjährigen Wirkungsgeschichte in den Dienst der unterschiedlichsten Weltanschauungen, Ideologien und ästhetischen Programme gestellt wurde und dessen Texte durch eine lange Tradition ihrer Auslegung fast verschüttet worden sind. Wo sein Name fällt — vor allem in Schule und Universität —, stellen sich berechtigte Berührungsängste ein. Goethe und kein Ende — dieser Klageruf durchzieht, den Titel eines Aufsatzes des Dichters über Shakespeare assoziierend, angesichts der ins Unübersehbare ausufernden Literatur über ihn bereits das 19. Jahrhundert; er scheint auch heute noch nichts von seiner Aktualität verloren zu haben, und vor allem in einem sogenannten Goethejahr wie 1982 läßt sich in dieser Hinsicht das Schlimmste befürchten.

Angesichts einer solchen Situation, und sie ist kennzeichnend für den Umgang mit soge-nannten Klassikern, hat die Feststellung: „die Luft ist rein", auch wenn es sich um eine verdünnte handelt, etwas Befreiendes. Ist die Luft jedoch tatsächlich rein, oder unbildlich gesprochen: ist Goethe aus der Umklammerung seiner unterschiedlichen Inanspruchnahmen herausgefallen auf die Straße, wo er nun, entkleidet seines Kultwertes, als Gebrauchswert „aufgehoben“ werden kann?

II. Das Goethejahr 1932. Der Dichter zwischen „rechter" Vereinnahmung und „linker" Negation

Dichtergedenkjahre fordern zum Vergleich heraus mit früheren Gedenkfesten, das Goethejahr 1982 lenkt den Blick zurück auf das Jahr 1949, hinter dem das Jahr 1932 sichtbar wird; die Eckdaten sind mehr als nur Zäsuren der Goetherezeption des letzten halben Jahrhunderts. „Soll das Goethe-Jahr 1932 gefeiert werden?“: Diese Frage stellte 1931 die „Literarische Welt", und ihr Herausgeber, Willy Haas, hatte vorab in einem Diskussionstext eine bejahende Antwort für sich verneint. Denn: „Von Goethes Erbschaft ist heute — verschwindende Ausnahmen abgerechnet — im Leben seiner Nation nichts zu spüren.“ Haas schlug vor, den Dichter durch Schweigen zu ehren. Es kam bekanntlich anders: Noch nie zuvor wurde so viel und so ausführlich zu Goethes Ehren gesprochen wie im März 1932, knapp zehn Monate vor der Machtergreifung Hitlers. Es war ein sehr gemischter Chor, dessen Stimmführung jedoch eindeutig auf der rechten Seite des politischen Spektrums lag. Die Gestalt Goethes wurde beschworen als die eines Statthalters einer gesetzhaft-organischen Weltschau, die gegen die Wissenschaftsgläubigkeit und den Technikkult der Neuen Sachlichkeit gesetzt wurde; sein dichterisches Werk wurde interpretiert als Ausdruck individueller Selbstverwirklichung, der gegen Demokratie und politische Massenbewegung ausgespielt wurde; Goethes antirevolutionären Bekenntnisse wurden zitiert als Bollwerk gegen eine vom Osten drohende revolutionäre Umgestaltung der politischen Verhältnisse. Bereits 1921 hatte der dem George-Kreis nahestehende Literaturwissenschaftler Ernst Bertram die Gefahr bezeichnet, die der „deutschen Sendung“ Goethes aus dieser Weltgegend drohe: „Ein Jahrhundert Goethe hat nur erst diese geistige Einheit des Volkes, im bewußten Besitz der in Denkmalen und Werken verdichteten Vergangenheit, vorbereiten helfen. Doch in einem geistigen Augenblick, da ein guter Teil lebendigster deutscher Jugend sich, unter dem betäubenden Eindruck der furchtbarsten Abdankung westlicher Kultur, der bildlosen und unbildbaren Steppengeistigkeit Moskaus verschrieben hat oder sich zu verschreiben in Gefahr ist, in einem Augenblick, da zum ersten Mal in deutscher Geschichte Rom — die goethesche Welt , Rom — und durch Rom hindurch das hellenistische Erbe seine Macht über die Seelen deutscher Jugend zu verlieren droht, in solchem Augenblick ist Goethes bild-erzwingende, Geschichte vergegenwärtigende, plastisch zu sich selbst mahnende Augenkraft vielleicht der letzte entscheidende Damm gegen ein Hinüberbrechen der deutschen Seelenkräite in einen innerlich grenzenlosen Osten.“ Die von Bertram geäußerte Befürchtung, daß ein guter Teil lebendigster deutscher Jugend sich der „Steppengeistigkeit Moskaus“ verschrieben habe und die „deutsche Sendung Goethes“ bedrohe, war so falsch nicht gewesen. Schon Expressionisten wie Carl Stern-heim und Dadaisten wie Raoul Hausmann hatten gegen die mit dem Namen Goethes verbundene Kunst-und Weltauffassung protestiert, und die mit der Sowjetunion sympathisierenden linken Intellektuellen führten in der Weimarer Republik diesen Kampf weiter im Dienste einer neuen, dezidiert nichtbürgerlichen oder unbürgerlichen Kunst. „Die unbedingte Verehrung der künstlerischen Götzen, die von der bürgerlichen Wertung als Klassiker aufgestellt wurden", heißt es 1922 in Ma Hermann-Neißes Manifest „Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat, »be deutet letzten Endes nichts anderes als Anerkennung der bürgerlichen Weltordnung. Denn diese Klassiker repräsentieren eine Dichtung, die im Sinne der Aufrechterhaltung und Verewigung des Unrechts schafft Was ist der Kern des ganzen Klassikertums: das Totschweigen des Mißlichen, das Verklären des Bestehenden." 1926 veröffentlichte Egon Erwin Kisch seine vernichtende Reportage des Goethe-Kultortes Weimar. Sie trägt den Titel „Der Naturschutzpark der Geistigkeit", und in ihr heißt es u. a.: „Ganz Weimar ist eine zur Stadt erhobene Dichterbiographie. (... ] Lächerlich, solch ein Geniekult, lächerlich, ein Leben in Spiritus zu konservieren, lächerlich, die Bewohner einer Stadt zu Mitwirkenden eines beständigen Passionsspieles zu machen.“

Der Theaterkritiker Herbert Jhering brachte 1929 das Schlagwort vom „Klassikertod" in die Debatte um eine zeitgemäße Theaterpraxis, ein Schlagwort, das sich vor allem auf Goethe bezog, dessen „Überbetonung", so Jhering, „Theater und Kritik um ein Jahrhundert“ zurückgeworfen hatte Bertolt Brecht bestätigte in einem Gespräch mit dem Kritiker diese Diagnose und fügte hinzu: „Wenn sie [die Klassiker] nun gestorben sind, wann sind sie gestorben? Die Wahrheit ist: sie sind im Krieg gestorben. Sie gehören unter unsere Kriegsopfer. Wenn es wahr ist, daß Soldaten, die in den Krieg zogen, den . Faust'im Tornister hatten — die aus dem Krieg zurückkehrten, hatten ihn nicht mehr.“

Es leuchtet ein, daß aus der Gruppe dieser Intellektuellen ein positiver Beitrag zum Goethejahr 1932 nicht zu erwarten war. Sie ließen den Dichter rechts liegen, wo der Präsident der Goethe-Gesellschaft, der Berliner Literaturwissenschaftler Julius Petersen, schon bereit stand, um ihn 1933, von linken Verunglimpfungen gereinigt, den Machthabern des neuen Reiches zu Füßen zu legen. In seiner Ansprache auf der Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft am Juni 1933 betonte Petersen, daß in einer Zeit, da ein gewaltiges Ringen um neue Daseinsformen unseres Volkes begonnen habe, die Goethe-Gesellschaft, die seit fast einem halben Jahrhundert dem Vermächtnis unseres größten Dichters, der auch der deutschesten einer gewesen sei, verehrend diene, mit den heißesten Wünschen eine Bewegung begrüße, deren großes Ziel die staatliche, sittliche und soziale Erneuerung unseres Volkes sei. Er erinnerte an den früheren Präsidenten, Professor Roethe, der so manchesmal zu Zeiten, da vielen im Lande das noch ein Ärgernis bedeutete, den Geist von Potsdam heraufbeschworen und gezeigt habe, daß er nicht im Gegensatz stünde zu dem von Weimar, daß vielmehr in der Synthese der beiden sich das deutsche Wesen vollende. Heute, da der Geist von Potsdam neu erstanden sei, sei unsere Bitte an den Genius unseres Volkes, daß der Geist von Weimar ihm zugesellt bleiben möge 9).

III. Goetherenaissance und Goethekult in Westdeutschland nach 1945

Das Jahr der zweihundertsten Wiederkehr von Goethes Geburtstag war zugleich das Geburtsjahr zweier deutscher Staaten auf dem Boden des alten deutschen Reichsgebiets.

Wiederum stand eine Goethefeier ins Haus, wenn schon ins geteilte, und diesmal stellte, im Unterschied zu 1932, keiner die skeptische Frage, ob denn überhaupt gefeiert werden sollte. Hatte Brecht Ende der zwanziger Jahre die Behauptung aufgestellt, die Klassiker seien im Krieg gestorben, sie gehörten unter unsere Kriegsopfer, so waren die überlebenden des Zweiten Weltkrieges in dieser Frage grundsätzlich anderer Meinung. Ja, blickt man einen Goethe von innen bittend“, diesem Krisenbewußtsein heute verwundert auf die Zeugnisse der , im Hinblick auf den gewandelten nach 1945 und die Goethe-Reden Umgang mit den Klassikern den vielleicht und -Aufsätze von 1949 zurück, so ist schärfsten Ausdruck verliehen: „Der Mensch man fast versucht festzustellen, daß nichts die war ein Tier mit Klassikern. Aber die europäische des Faschismus und die Grauen des Krise, die eine Weltkrise ist, könnte geradezu Weltkriegs so siegreich überlebt als eine Krise jedes Klassizismus definiert wie die Klassiker, allen voran Goethe. An werden.“ Darum auch bleibt „in dem seiner Feier beteiligten sich nun auch jene, die harten, anspruchsvollen, unerbittlichen Licht 1932 entweder geschwiegen oder deren der gegenwärtigen Lebensnot [... ] von dem Stimme im Chor der rechten Mehrheit unterdrückt des Klassikers nichts übrig als ein leeres worden oder untergegangen war, jetzt Gerede und Getue“ Ortega forderte von als Vertreter und Repräsentanten eines Staates, künftigen Goethebiographen: „Schreiben der das klassische Erbe für sich allein beanspruchte. Sie einen Goethe für Ertrinkende“ einen Goethe, der vor dem „Gerichtshof“ von Die Geschichte der Goetherezeption nach Scheiternden und Schiffbrüchigen bestehen 1945 ist ein wesentliches und besonders aufschlußreiches Moment innerhalb des umfassenderen war diese Rezeptionssituation eingetreten. Prozesses der ideologischen und ästhetischen Ein ganzes Volk war gescheitert, hatte Selbstverständigung der Deutschen erlitten, und wiederum ergriff Ortega nach dem Ende der Ära des Faschismus.

y Gasset das Wort zur Feier Goethes, Lange Zeit herrschte bei uns im Westen die diesmal auf Einladung der Freien und Hansestadt die Zeit unmittelbar nach 1945 Hamburg. Er kam, wie er am Beginn seiner was die Literatur und das allgemeine kulturelle Festansprache berichtet, direkt aus den Bewußtsein betrifft, eine Zeit des radikalen Staaten, wo in Aspen in Colorado Neuanfangs gewesen, zu charakterisieren internationale Goethefeier stattgefunden durch die Schlagworte „Kahlschlag“ und hatte, zu der zum ersten Mal auch wieder „die „Nullpunktsituation". Wir wissen heute, daß großen deutschen Gelehrten" eingeladen waren. mit diesen Schlagworten bezeichnete „Sie kamen wie Schiffbrüchige", so heißt es Sachverhalt zwar dem Selbstverständnis vieler wörtlich in Ortegas Festrede, „die auf einen am sogenannten kulturellen Wiederaufbau Strand geworfen sind, gealtert, verwittert Beteiligten entsprochen hat, daß in Wahrheit verbittert, in sich selbst verschlossen wie eine die Zäsur des Jahres 1945 jedoch in viel stärkerem Stadt, voll Mißtrauen auf ihre Umgebung. Maße durch Kontinuität als durch eine zu Es war für mich eine geradezu beispielhafte Diskontinuität geprägt war.

Erfahrung, Zeuge der Wandlung zu sein, Höchst aufschlußreich ist in dieser Hinsicht die sich wenige Tage später in diesen Männern Vergleich mit der Situation nach 1918. Der vollzogen hatte. Mein lieber Freund Curtius, Weltkrieg wurde in sehr viel radikalerer mein lieber Freund Reinhardt, beide erschienen als dies nach 1945 der Fall gewesen ist, sie mir plötzlich wie verjüngt. Die als eine epochale Wende im kulturellen Bewußtsein Falten waren verschwunden, erfahren, nämlich als das Ende des auf ihren Gesichtern lag ein Lächeln, von ihrer bürgerlichen 19. Jahrhunderts, dessen Wert-begriffe war das Mißtrauen geschwunden und und Wertvorstellungen einer schonungslosen stand offen für alles: sie waren wieder sie Prüfung unterworfen wurden. Das selbst“

allgemeine Krisenbewußtsein der zwanziger Jahre erschütterte auch den im Wilhelminischen Kaiserreich zur Denkmalspose erstarrten Klassikerkult und sorgte für die dringend notwendig gewordene Durchlüftung eines nur noch musealen Traditionsverständnisses. Der spanische Philosoph Ortega y Gasset hat in seinem Beitrag zum Goethejahr 1932, „Um In einem ausgezeichneten Aufsatz „Die Goethefeiern von 1932 und 1949" hat der amerikanische Germanist Rainer Nägele auf den Symptomcharakter dieses Redepassus für die westliche Goetherezeption nach 1945 hingewiesen. Goethe als das Allheilmittel, das die . unnatürlichen Falten“ auf den Gesichtern der Schiffbrüchigen wieder verschwänden machte und ihnen in einer Art Wunderkur ihre verlorene Identität zurückgab.

Warum die Falten auf den Gesichtern „unnatürliche“ gewesen waren, erfuhren die Hamburger Festgäste im weiteren Verlauf der Rede, als Ortega auf die Katastrophe der jüngsten Vergangenheit zu sprechen kam: „Und Dank sei der Katastrophe, denn wir wollen uns ja im klaren darüber sein, daß Katastrophen normale Erscheinungen der Geschichte und ein für den Ablauf des menschlichen Schicksals unentbehrliches Rädchen sind.“ Die Deutschen sollten diese Katastrophe als etwas . Normales und in jedem Leben Vorkommendes mit Haltung“ hinnehmen und sich im übrigen auf Goethe besinnen, der die Bewältigung von Krisenerfahrungen in dem, was er „Entsagung"

nannte, vorbildhaft vorgelebt habe.

Erst auf dem Hintergrund eines solchen fatalen Umgangs mit der jüngsten Geschichte, der die Angesprochenen von dem Schuldzusam-menhang mit ihr exkulpierte und Verjüngung und wiedergewonnene Identität im Umgang mit dem Klassiker der Vergangenheit verhieß, gewinnt die Rede „Unsere Zukunft und Goethe", die Karl Jaspers 1947 anläßlich der Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt gehalten hat, ein zeitpolemisches Relief. Jaspers bestritt den unbedingten Vorbildcha-

rakter Goethes für die Gegenwart und benannte die Gefahren, die aus einem falschen Umgang mit ihm erwachsen können. Er war der erste, der innerhalb der westdeutschen Goethe-Diskussion den Blick von Goethe selbst auf die Weisen und Formen seiner bisherigen

und zukünftigen . Aneignung“ lenkte: •Vor uns steht, wenn wir geistig leben werden, eine Revolution der Goethe-Aneignung. Der früheren Aneignung verdanken wir Außeror-dentliches in der Bewahrung und Reinigung der Dokumente, der Sicherung der Überlieferung, der bequemen Zugänglichkeit alles dessen, was von Goethe kommt, darin ist sie vorbildlich und fortzusetzen, — aber ihre Goethe-bilder sind bei allem Respekt nicht zu übernehmen, und ihr Goethekult ist nicht fortzusetzen.

Jaspers'Rede provozierte eine Reihe von scharfen, entrüsteten Erwiderungen, unter denen die von Emst Robert Curtius, der nach Ortega y Gasset in Aspen/Colorado im Umgang mit Goethe sein Lächeln und seine Identität wiedergefunden hatte, die bekannteste und in ihrer Haltung einer anmaßenden Überheblichkeit wohl auch peinlichste ist

Es war der in die Vereinigten Staaten emigrierte Romanist Leo Spitzer, der den unduldsamen Goethekult seines Fachkollegen in der Zeitschrift „Die Wandlung“ souverän ins Licht einer grundsätzlichen Kritik an „der Elitepolitik der konservativen deutschen Intelligenz" rückte und nicht zufällig war es ein anderer Emigrant, der nach Köln berufene Literatur-wissenschaftler Richard Alewyn, der in der Einleitung zu einer Goethe-Vorlesung im Sommersemester 1949 angesichts der restaurativen Goetheeuphorie in Westdeutschland die Frage stellte: „Stehen wir vor einer anderen Massenflucht nach Weimar? Sind wir wieder auf der Suche nach einem Alibi?“ Alewyn war es auch, der daran erinnerte: „Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald. Darum kommen wir nun einmal nicht herum.“ Die äußerst empfindliche Reaktion auf jede Form der Goethe-Kritik war jedoch nicht nur Ausdruck der „Elitepolitik der konservativen deutschen Intelligenz“, sie hatte noch andere, tiefere Gründe. Angesichts des totalen Bankrotts der jüngsten deutschen Geschichte war der Rückbezug und die Rückbesinnung auf Goethe der Versuch, einen durch Politik nicht pervertierten archimedischen Punkt zu finden, an dem sich das beschädigte Selbstbewußtsein der Deutschen wieder aufrichten konnte. Es war nicht das ersten Mal, daß die Deutschen aus der Not ihrer Geschichte sich auf die Tugend ihrer Klassiker beriefen, so bereits nach der gescheiterten 48er Revolution, in deren Schatten der Klassikerkult in Deutschland seinen Anfang genommen hatte. Diese Umbesetzung eines nationalen Identifikationsobjekts, das nicht in der realen Geschichte, sondern in deren ideellen überbau gesucht wurde, ist ein spezifisches Merkmal deutschen nationalen Legitimationsdenkens, das zu einer für dieses Volk charakteristischen Überschätzung der Rolle der Kunst und der Literatur geführt hat Ihr entspricht eine ebenso entschiedene und übertriebene Infragestellung und Negation der eigenen kulturellen Überlieferung, die in dieser Form den benachbarten europäischen Nationen fremd ist Diesen Sachverhalt gilt es im Auge zu behalten, wenn wir uns jetzt dem anderen, dem östlichen Lager der Goetherezeption zuwenden.

IV. Die marxistische Goetherezeption in der DDR

In der Besprechung einer vor kurzem in der Bundesrepublik erschienenen Literaturgeschichte, in der Goethe und die deutsche Klassik als ein Rückschritt hinter die von der Aufklärung gesetzten progressiv-emanzipatorischen Ziele und Ideen interpretiert werden, hat der Kölner Literaturwissenschaftler Walter Hinck in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ folgendes geäußert: „Wir sind in der Bundesrepublik drauf und dran, die Klassiker der deutschen Literatur an die DDR zu verlieren. Man muß es einmal so drastisch ausdrükken. Der Besucher von Weimar sieht sich umgeben von nationalen Forschungs-und Gedenkstätten. Die fast kultische Pflege des klassischen Erbes nimmt Formen einer Besitzergreifung an, die schon verdächtig sein mag — immerhin, es ist der sozialistische Staat, der zur Achtung vor der großen bürgerlich-humanistischen'Literatur erzieht. In der Bundesrepublik, im — vorwiegend von seinen Kritikern so genannten — bürgerlichen Staat, ist ein entweder verlegener oder sauertöpfischer Umgang mit den bürgerlichen Klassikern üblich geworden." Auch wenn diese Äußerung, veröffentlicht im April 1980, heute nur noch bedingt zutreffen mag, so zeichnet sie doch sehr genau das Bild, das sich dem westdeutschen Betrachter der kulturellen und der literarischen Szene der DDR bis heute bietet. Es gehört noch immer zum festen Repertoire der Urteile über die DDR, daß dieses Land ein Hort der Bewahrung des literarischen Erbes sei. Kulturkonservativismus, Traditionalismus, Antimodernismus und ein musealer Kult der Klassiker sind die Stichworte, die bis heute die Auseinandersetzung mit der Kunst und der Literatur der DDR bestimmt haben.

Die Rückbeziehung auf Goethe und die deutsche Klassik in den deutschen Westzonen und dem westlichen Ausland stand nach 1945 unter dem Leitbegriff einer — wie das Schlagwort lautete — geistigen „Überlieferung des Abendlandes", die — wenn schon durch den Faschismus zeitweilig pervertiert — ein Kontinuitätsbewußtsein verhieß, das, als „abendländisches", Universalitätsanspruch hatte und einen anderen Besitztitel als den, sich ihr dienend und bewahrend anzuschließen, nicht zuließ. Diesem unteilbaren, seit der Aufklärung von der bürgerlichen Klasse in Alleinvertretung in Anspruch genommenen Traditionsverständnis widersprachen diejenigen, die in der Ostzone und der späteren DDR eine Kulturrevolution „von oben“ durchzusetzen versuchten. Dem Begriff einer unteilbaren Überlieferung setzten sie den Begriff des „Erbes“ entgegen, für den per definitionem die Unterscheidung zwischen einem Erblasser und einem Erben konstitutiv ist

Im Rahmen dieses Erbe-Modells ist der Erblasser die bürgerliche Klasse, die ihre kulturelle und materielle Erbmasse dem nach marxistischen Selbstverständnis einzig und allein rechtmäßigen Erben, der revolutionären Arbeiterklasse, hinterlassen hat Aufgabe der Arbeiterklasse ist es, so hatte es Lenin Anfang der zwanziger Jahre in seiner Erbetheorie entwickelt, aus dieser Hinterlassenschaft die progressiven und für die Zukunft verwendbaren Teile kritisch auszusondern und in die eigene Erbeverwaltung zu nehmen. Daß gerade Goethe und der deutschen Klassik ein so bevorzugter, ja kanonischer Platz in der Erbehierarchie eingeräumt wurde, mag den überraschen, der sich an die linke Goethekritik in der Weimarer Republik erinnert.

So hat einer der einflußreichsten marxistischen Erbetheoretiker und Kulturpolitiker, der spätere Kulturminister der DDR, Johannes R. Becher, darüber berichtet, daß ihm einst Goethe der Inbegriff der deutschen Spießigkeit gewesen sei, ein Bekenntnis, das gut zum Bild des jungen expressionistischen Rebellen paßt Aus dem Saulus war nun ein Paulus geworden, der wie kein anderer bis ans Ende seines Lebens nicht müde wurde, Goethe als das größte Kulturereignis pathetisch zu feiern und zu preisen. Bechers Bekenntnis stammt aus dem Jahre 1937 und steht im Zusammenhang mit den großen Erbedebatten unter den in der Volksfront zusammengeschlossenen antifaschistischen Emigranten, die zur Grundlage der späteren Erbetheorie und Erbepraxis in der DDR wurden.

Ergebnis dieser höchst kontrovers geführten Diskussionen war eine Rehabilitierung und Kanonisierung des klassischen Erbes, das po-

emisch gegen alle Formen des Modernismus, der Avantgarde, auch einer genuin kommunistisch-proletkultischen Avantgarde ausge-----------spielt wurde; dieses Ergebnis kam nicht ohne massive Beeinflussung durch die stalinistische Kulturpolitik am Ende der dreißiger Jahre zustande. Das im wesentlichen von Johannes R. Becher, Alfred Kurella, Alexander Abusch und Georg Lukäcs erarbeitete Erbekonzept wurde die Basis der vom „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" seit August 1945 geförderten Strategie der Herstellung eines neuen kulturellen Kontinuitätsbewußtseins, das die Pflege des in Goethe und der deutschen Klassik aufgipfelnden bürgerlich-humanistischen Erbes mit der Kampfansage gegen seine bisherigen Verwalter zu verbinden suchte.

Das gesamtdeutsche Signum der west-östlichen Goethe-Bilder im Jubiläumsjahr 1949 ist geprägt durch eine auffällige Übereinstimmung im Hinblick auf die fast kultische Hochschätzung des Dichters auf beiden Seiten. Hinter dieser Fassade werden jedoch die Risse sichtbar, die nicht nur diejenigen der unterschiedlichen Fundierung des Goethekults dieses Jahres sind.

Das Goethebild in der DDR, wie es — von Modifikationen abgesehen — in den Grundzügen bis zum Ende der sechziger Jahre unangefochtene Gültigkeit gehabt hat, läßt sich vereinfachend durch drei Hauptpunkte charakterisieren:

1. Voraussetzung einer „richtigen" Aneignung Goethes im Sinne des Marxismus-Leninismus ist die radikale Kritik seiner bisherigen bürgerlichen Rezeptionsgeschichte, die — so der allgemeine Konsens — spätestens seit der gescheiterten 48er Revolution die Geschichte eines fortschreitenden Verrats an den durch ihn und sein Werk verkörperten humanistischen Idealen gewesen ist, kulminierend im Faschismus, der die Unfähigkeit der bürgerlichen Klasse, ihr eigenes Erbe produktiv zu nutzen., und zu verwalten, schlagend deutlich gemacht habe.

2. Im neuen marxistischen Goethebild erscheint der Dichter als der herausragende Exponent der aufstrebenden bürgerlichen Klasse an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Er ist der Verbündete der Französischen Revolution und im „Vorlauf" auch der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49. Die in seinem Werk vorhandenen Widersprüche sind nicht einem mangelnden Vermögen oder einer Unfähigkeit des Dichters anzulasten, sondern gründen in den zurückgebliebenen politisch-ökonomischen Zuständen Deutschlands im 18. Jahrhundert, der „deutschen Misere", wie das von Friedrich Engels entlehnte Stichwort lautet.

3. Goethes Werk, sein optimistisches Menschenbild und seine klassisch-realistische Ästhetik haben Vorbildfunktion für eine zu schaffende sozialistische Literatur. Goethe und sein Werk werden zum integralen Faktor des sogenannten sozialistischen Realismus, seit den dreißiger Jahren die offizielle Kunst-doktrin in der Sowjetunion, die nun ihrerseits den Maßstab zur Bewertung des als fortschrittlich eingestuften Erbes bildete. Dieses „östliche" Goethebild war — um mit dem Positiven zu beginnen — von den westlichen Versuchen, sich Goethe als trostspendende Kraft individueller Erneuerung und als Helfer gegen die widrigen Beschädigungen einer chaotisch-katastrophischen Zeit anzueignen, dadurch unterschieden, daß in ihm die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit als politische und geschichtliche aufgehoben und mitreflektiert wurden. Von diesen Voraussetzungen her verbot sich von vornherein ein nur kontemplativ-genießender, rein ästhetischer Umgang mit dem Dichter.

Wie wenig eine solche Rezeptionshaltung im Westen auf Verständnis rechnen konnte, veranschaulicht beispielhaft die Rezension von Georg Lukäcs'Buch „Goethe und seine Zeit" (1947) durch den jungen Walter Boehlich, von dem man später allerdings andere Töne hören sollte. Für Boehlich ist Lukäcs'Werk „trotz der angewandten Intelligenz genauso verdammenswert [... ] wie ähnliche Versuche des Dritten Reiches". Warum das so ist, wird von ihm folgendermaßen begründet: „Überall da, wo weltanschauliche Vorurteile sich auswirken, ist ein echtes aufnehmendes und genießendes Verhältnis zur Kunst nicht mehr möglich. Die Vergangenheit sinkt zum Objekt der Gegenwart herab und wird nach deren Bedürfnissen rektifiziert und purifiziert. Jede politische Veränderung, jeder Krieg, jeder verlorene Krieg vor allem zieht eine Revision des Geschichtsbildes nach sich. Es scheint einen Goethe für Demokraten, einen solchen für Imperialisten, einen für Nationalisten und noch manchen anderen zu geben. Man entledigt sich dessen, was einem widerspricht, man deutet aktualisierend um, was man brauchen zu können glaubt, man sucht Schuldige. Und man wird sie immer finden."

In diesen Sätzen wird die Notwendigkeit, Geschichte — und auch vergangene Kunst ist eine Teil geschichtlicher Erfahrung — im Lichte der Gegenwart neu sich anzueignen und zu deuten, negiert. In der Verlängerung dieser Boehlichschen Kritik an Lukäcs steht der Satz, mit dem Emil Staiger wenig später die Einleitung zum ersten Band seiner großen Goethedarstellung beschließt: „Gerade dann aber, ja nur dann, wenn uns die Frage: Was hat uns Goethe heute zu sagen? angesichts seiner Wirklichkeit auf den Lippen erstirbt oder sich in die angemessenere verwandelt: Wie bestehen wir heute vor ihm? — dann ist es geglückt, ihn neu zu gewinnen und so der Zeit den Dienst zu leisten, den niemand leistet, der sich von ihr die Gesetze des Denkens vorschreiben läßt."

Die marxistische Position einer parteiergreifenden Inbesitznahme des literarischen Erbes der Vergangenheit war nicht nur an politische Vorentscheidungen im Sinne einer Option für die Führungsrolle des Proletariats im Klassenkampf gebunden, sondern schloß zugleich ein normatives Interpretationsraster der Rezeption mit ein, das an den Prinzipien des sozialistischen Realismus orientiert war. Dies führte zu einer konsequenten und durch kulturpolitischen Druck erzwungenen Ausblendung der gesamten ästhetischen Erfahrungen der Moderne, die mit dem Verdikt der Dekadenz belegt wurden. Für die Goethe-Interpretation bedeutet dies die folgenreiche Beschneidung der Möglichkeit von Korrespondenzerfahrungen zwischen vergangener und moderner Kunst als Quelle jeder schöpferischen Aneignung. Alle großen Leistungen der Goethe-Interpretation der Vergangenheit und der Gegenwart waren und sind solche gewesen, die die blick-öffnende und erkenntnissteigernde Möglichkeit der Perspektivierung ihres Gegenstandes durch neue ästhetische Erfahrungen im Umgang mit der Avantgarde ihrer Zeit genutzt haben, so die Entdeckung der gegenklassischen Modernität des „West-östlichen Divan" im Lichte der Lyrik der Jahrhundertwende, die Einsicht in die Symbolstruktur von Jaust II." im Horizont einer nicht-mimetischen, abstrakten Kunstpraxis, die Erkenntnis des komplex-kontrapunktischen Aufbaus der . Wanderjahre" durch Rekurs auf die Revolution der Form im modernen experimentellen Roman.

Diese restriktive Einschränkung des Rezeptionshorizonts, wie sie durch die Anbindung der Goethe-Interpretation an die Norm des sozialistischen Realismus gegeben war, hat in der DDR zur Restitution eines Goethe-Bildes geführt, dessen Physiognomie in vielen Zügen die des 19. Jahrhunderts zeigt, und zwar gerade in jener Phase nach 1870, die von der marxistischen Rezeptionskritik als eine Epoche des Verfalls und des Verrats an Goethe und der Klassik denunziert worden war. Beispielhaft dafür ist die Behandlung des „Faust", der von Beginn an im Zentrum des Goethe-Interesses und der Goethepflege in der DDR stand.

Wurden in Westdeutschland bereits unmittelbar nach 1945 Zweifel am Vorbildcharakter der Faustfigur laut, die zu einer Verlagerung des Interesses auf die Gestalt des Mephistopheles führten und in eine grundsätzliche Problematisierung des sogenannten Faustischen einmündeten so wurde in der DDR Faust zur Identifikationsfigur schlechthin, zum nachahmenswerten Beispiel für den in den Begriffen Tat und Arbeit fundierten Prozeß der Menschheitsentwicklung, der in den vielziüerten Versen des sterbenden Faust am Ende der Tragödie, daß nur der „sich Freiheit wie das Leben“ verdiene, „der täglich sie erobern muß“ und der an sie sich anschließenden Vision vom „freien Volk auf freiem Grund" auf-gipfele. In unzähligen Variationen ist dieses Positive, optimistische, „faustische" Faustbild, höchste Gestaltung progressiver Bürgerlich-keit und nach marxistischer Deutung den Übergang vom bürgerlichen Kapitalismus zum Sozialismus bereits prophetisch in sich ber-8end, in Interpretationen, Aufführungen und dichterischen Adaptionen in der DDR bis in die Gegenwart hinein wiederholt worden Hinter diesem „Faust" -Bild wird fast unverhüllt der Faust-Mythos der Wilhelminischen Ära sichtbar, der in ähnlich gründerzeitlicher Weise auf die Verherrlichung von Arbeit, Tat, Beherrschung der Natur und Menschheitsfortschritt gerichtet war.

Bertolt Brecht und der Komponist Hanns Eisler waren die ersten, die an diesem alt-neuen Faustmythos Kritik übten, Brecht in seiner Bearbeitung des Urfaust und Eisler in seinem Opernlibretto . Johann Faustus" (beide 1952). Beide Versuche wurden von der parteioffiziellen Kritik in der DDR scharf angegriffen. „Es kann [... ] keine . Zurücknahme’ von Goethes Faust von . links'her geben“, stellte Alexander Abusch 1953 im Hinblick auf Eislers Opernlibretto fest. „Faust war und bleibt die große geistige Figur des einstigen bürgerlich-revolutionären Strebens zur Erkenntnis und Veränderung der Welt Durch die humanistische Höhe, auf die Goethes geniale Dichtung sie erhob, wurde sie zu einem Gipfelpunkt der deutschen Nationalliteratur und zu einem wesentlichen Stück Geschichte des deutschen Geistes, in dem sie die Entwicklung der physischen Wesensart der Nation ausprägte."

Die Unantastbarkeit des Goetheschen Erbes galt es nicht nur gegen bürgerliche Dekadenz, sondern auch gegen „linke“ Eingriffe zu schützen. Unumstritten war in der DDR bis zum Ende der sechziger Jahre für Klassikeraufführungen der produktionsästhetisch fundierte Grundsatz der Werktreue, der jeden experimentellen oder verfremdenden Umgang mit diesen Werken verbot. Diese Werktreue war allerdings orientiert an der normativen Vor-entscheidung über das, was klassischer Humanismus und klassisches Menschenbild bei Goethe sein solle. Dieser normative Begriff des Klassischen, abgeleitet aus den Begriffen Ordnung, Gesetz, Gesundheit, Normalität und transzendenzlose Diesseitigkeit schloß alle Grenzphänomene menschlicher Existenz wie Tod, Krankheit, das Pathologische und das Irrationale aus dem Kanon des Vorbildhaften aus. Gestalten wie Werther, Tasso, Mignon und der Harfner aus „Wilhelm Meisters Lehrjahren" und Ottilie in den „Wahlverwandtschaften“ waren nur schwer in dieses Konzept zu integrieren.

So weist Wilhelm Girnus in einem 1960 erschienenen programmatischen Aufsatz „über Goethes Humanismus" scharf die Zumutung zurück, Goethes Tasso als eine pathologische Figur zu interpretieren und verbindet mit dieser Zurückweisung einen Angriff auf die Psychoanalyse: „Vergessen wir jedoch nicht, daß auch in der jüngsten Zeit vielfach versucht wird, diese Herabsetzung des Menschen unter dem Schein des wissenschaftlichen Arguments zu erneuern, indem man über den Menschen den eisernen Bann . einer unentwurzelbaren tierischen Natur'verhängt. Ich meine u. a. die sogenannte Psychoanalyse, deren Dogmatik dieses Zitat entstammt. wird Hier deutlich, daß der sogenannte Modernismus bewußter Bruch unserer großen klassischen mit ist Grunde genommen und im Tradition mittelalterli eine höchst katholische, höchst -che [... ] Es Lehre. hieße Goethes Welt völlig auf den Kopf stellen, wollte man Alphons und Tasso hingegen als normale Menschen, als das pathologische Phänomen werten.“

Ohne auf die spezielle Problematik des Pathologischen in Goethes „Tasso“ hier eingehen zu können, die in Peter Steins Bremer „Tasso" -Inszenierung ein den „östlichen“ Verdikten entgegengesetztes „westliches" Pendant erhalten hat, bleibt festzustellen, daß der Klassikbegriff in der DDR bis Ende der sechziger Jahre ein restauratives Bollwerk gegen jede Form des Modernismus und eines die Norm des Gesellschaftlichen verletzenden Irrationalen gewesen ist. Goethe und die Klassik wurden hier benutzt, um ein vormodernes Menschenbild und eine vormoderne Ästhetik als Maßstab auch für die Gegenwart verpflichtend zu setzen. Diese konservative Indienstnahme Goethes ist ein für seine gesamte Rezeptionsgeschichte exemplarischer Vorgang.

Schon Heine hatte im Namen einer neuen, zeitzugewandten Literatur gegen die das Alte bewahrenden „Goetheaner" seine Stimme erhoben; die Goethe-Philologen des Wilhelminischen Kaiserreichs beriefen sich in ihrem Kampf gegen den Naturalismus auf die klassische Ästhetik und-Friedrich Gundolf holte in seinem 1916 erschienenen Goethe-Buch zum großen polemischen Rundschlag aus gegen den Sturm und Drang, gegen Kleist, gegen die Romantiker und gegen die Expressionisten. Die west-östliche Rückbesinnung auf Goethe nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich uns, trotz der Fassade einer für beide Seiten charakteristischen, fast kultischen Hochschätzung des Dichters, als ein Phänomen gezeigt das auf höchst unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Vorausetzungen aufruht. Der Teilung entspricht auch ein geteiltes der Bild Goethes und deutschen Klassik. Zwar ist die Goethe-Gesellschaft in Weimar eines der wenigen Foren geblieben, auf denen Bürger beider deutscher Staaten gemeinsam über Fragen der eigenen Literatur diskutieren. Diese erfreuliche Tatsache darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß es unter dem Aspekt ihrer Rezeption eine Einheit der deutschen Kultur und Literatur nicht mehr gibt. Man sollte diesem Sachverhalt jedoch nicht nur in der Haltung des Bedauerns oder der Aggression begegnen, sondern ihn als Herausforderung annehmen, unsere literarische Tradition und die Beschäftigung mit ihr als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung zu betrachten.

Unter diesem Aspekt soll zum Abschluß ein Blick auf die jüngstvergangene und die gegenwärtige Konstellation west-östlicher Goethe-Bilder geworfen werden.

V. Goethekritik in der Bundesrepublik und Revision des Klassikbildes in der DDR

Für die Bundesrepublik in der Adenauer-Ära war eine von Kritik fast unbehelligte Neu-aneignung der literarischen Tradition charakteristisch, die in Goethe und der deutschen Klassik zwar ein Zentrum, aber nicht, wie in der gleichzeitigen Ulbricht-Epoche in der DDR, ihre die gesamte Erbeaneignung bestimmende Norm hatte. Die bereits kurz nach 1945 geradezu programmatisch erhobene Forderung nach einer Entpolitisierung des Umgangs mit der literarischen Überlieferung bestimmte auch weiterhin die vornehmlich ästhetisch und formalanalytisch ausgerichtete wissenschaftliche Beschäftigung mit Goethe auf der Universität und seine didaktische Vermittlung in der Schule.

Dies änderte sich erst Mitte der sechziger Jahre. Die tabuverletzende Goethe-Biographie von Richard Friedenthal (1963) setzte ein erstes Signal Der Zürcher Literaturstreit um Emil Staigers Rede „Literatur und Öffentlichkeit“ im Dezember 1966 machte den Wider-spruch deutlich, in den die akademische Goethepflege zur literarischen Praxis in der Bundesrepublik geraten war, die sich in zunehmendem Maße politisch artikuliert und radikalisiert hatte Der im gleichen Jahr abgehaltene Germanistentag in München brachte die längst überfällige Auseinandersetzung mit der nationalistischen und faschistischen Vergangenheit einer Wissenschaft, die nicht unwesentlich dazu beigetragen hatte, Denkmuster der dreißiger Jahre ohne Bruch an die Nachkriegsgermanistik zu vermitteln

Die Studentenbewegung beerbte diese kritischen Impulse und setzte Goethe und die deutsche Klassik stellvertretend für alle restaurativen Kräfte in der deutschen Literatur auf die Bank einer generellen Anklage gegen die bestehenden Verhältnisse in der Bundesrepublik. Die Argumente, mit denen dies geschah, stammten zu einem großen Teil aus dem Repertoire der „linken" Klassikkritik der Weimarer Republik, die jetzt auf breiter Front aktualisiert wurde.

Gleichzeitig öffnete sich die linksbürgerliche Literaturwissenschaft der bis dahin fast ausschließlich im Modus der Abgrenzung oder der Negation behandelten marxistischen Literaturwissenschaft in der DDR, und jetzt zuerst fand das statt, was man einen kritischen Dialog zwischen beiden nennen könnte.

Hier nun geschah etwas sehr Eigenartiges, was hüben wie drüben zu Reaktionen und Revisionen führte, die bis heute die west-östliche Auseinandersetzung um Goethe und die Klassik bestimmen. Die Rezeption der marxistischen Goethedeutung konfrontierte die bilderstürmerische linke Klassikkritik der Bundesrepublik mit einer Erbekonzeption, für die Goethe noch immer eine uneingeschränkt kanonische Geltung besaß, während auf der anderen Seite der antiautoritäre Protest der westdeutschen Linken gegen etablierte Normen und Verstehensmuster das eigene traditionsfixierte Selbstverständnis in Frage stellte. Für das westdeutsche Goethevertändnis hatte dieser kritische Dialog eine wesentlich differenziertere Einschätzung der politischemanzipativen Funktion Goethes und seines Werkes zur Folge, als sie die griffige SchwarzWeiß-Schablone der linksradikalen Kritiker bot; für das ostdeutsche Erbeverständnis war der über ihre westdeutschen Dialogpartner mitvermittelte Hinweis auf die Vorgeschichte eines marxistischen Goetheverständnisses bei den Linksintellektuellen der Weimarer Republik der Anstoß, das bisherige dogmatische Erbekonzept einer Revision zu unterziehen und damit den Weg zu öffnen für eine vom „Klassikzentrismus" befreite Neueinschätzung 34 von literarischen Traditionen, die unter Berufung auf die klassische Norm über zwanzig Jahre lang unterdrückt oder verdrängt gewesen waren.

Dieser Paradigmawechsel, der sich gleichzeitig mit der Ablösung des Ulbricht-Regimes durch die Honecker-Ara vollzog, hat weitreichende Folgen für das literarische Traditionsverständnis in der DDR gehabt. Erst die Relativierung und der Abbau eines zur Norm und zum Kanon erhobenen Goethe-und Klassik-bildes ermöglichte die Wiederentdeckung der Romantik, die Neubewertung von Autoren wie Kleist, E. T. A. Hoffmann und Jean Paul, die vorsichtige Annäherung an die avantgardistische Moderne.

Kein Ausspruch Goethes hatte das normative Goethebild in der DDR bislang so bestimmt wie die von Eckermann am 2. April 1829 aufgezeichnete Bemerkung des Dichters: „Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke." Das Gesunde stand in dieser Inanspruchnahme für das Normale, für das mit intakter Gesellschaftlichkeit Identische, für das Optimistische und das Fortschrittliche; das Kranke für das Dekadente, für das gesellschaftliche Außenseitertum, für die Leistungsverweigerung, für das Deformierte, das Abseitige und das Normverletzende. Goethes vielzitierte Ablehnung des das Normale „krankhaft" überschreitenden Werks Heinrichs von Kleist wurde zum Index der Beurteilung des Verhältnisses von sozialistischer und bürgerlich-romantisch-dekadenter Literatur, ein Deutungsmodell, gegen das schon die junge Anna Seghers in ihrem bekannten Briefwechsel mit Georg Lukäcs aus dem Jahre 1938 protestiert hatte.

Jetzt erfuhr in der DDR nicht nur der „kranke" Kleist seine Rehabilitation, so bei Günter Kunert und bei Christa Wolf die Goetherezeption selbst richtete sich auf jene Werke des Dichters, die dem verordneten Klassikmodell am wenigsten entsprachen — so auf die von Pathologie nicht freie Leidensgeschichte Werthers, die in Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W." eine Aktualisierung und Mo-dernisierung erfuhr, die erst auf der Folie des parteioffiziellen Erbeverständnisses ihre systemsprengende Funktion offenbart. Es ist kein Zufall, daß im Erscheinungsjahr von Plenzdorfs Werk in der führenden Literatur-zeitschrift der DDR in „Sinn und Form", eine mit polemischer Verve ausgetragene Klassik-debatte stattfand, die am Beginn eines neuen, dynamischen und flexiblen Erbekonzepts steht

„Unruhe um einen Klassiker“: unter diesem Titel erschien 1978 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig eine Broschüre des in Weimar tätigen DDR-Germanisten Bernd Leistner. Der Verfasser analysiert in ihr den „Goethe-Bezug in der neueren DDR-Literatur“ (so der Untertitel), und er kann nachweisen, in wie starkem Maße die Auseinandersetzung mit Goethe die gegenwärtige literarische Praxis in der DDR bestimmt, und zwar in jüngter Zeit zunehmend in der Form des Gegenentwurfs, der Kontrafaktur und des polemischen Kontrapunkts. Eine vergleichbare Untersuchung für die Literatur der Bundesrepublik existiert nicht und vielleicht ist dies kein Zufall. Es würde sich lohnen, einmal darüber nachzudenken, warum — von Ausnahmen wie Peter Handke, Martin Walser und einigen wenigen anderen abgesehen — Goethe für die Literatur hierzulande kein Bezugspunkt gewesen ist, sei es in affirmativer oder in polemischer Hinsicht Allerdings wird man in beiden deutschen Literaturen vergeblich nach Werken wie „Lotte in Weimar" und „Doktor Faustus" suchen. Die Zeit einer derartigen epocheprägenden Repräsentanz Goethes, wie sie als letzter Thomas Mann mit gesamtdeutscher Zustimmung vor-gelebt hat, scheint endgültig vorbei zu sein.

VI. Die gegenwärtige Konstellation west-östlicher Goethe-Bilder

. Unruhe um einen Klassiker": Auch im Westen, auch in der Bundesrepublik hat es diese Unruhe gegeben, und viele Goethefreunde hierzulande haben dies mit Kopfschütteln und Besorgnis registriert. Sie erscheint im Rückblick als die notwendige Reaktion auf einen allzu selbstgewissen und selbstsicheren Umgang mit einem Autor, dessen überzeitliche Geltung und dessen übergeschichtlicher Anspruch aus dem Spannungsfeld politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen herausgenommen und der einer Legimitation vor dem Forum sich wandelnder Gegenwartsinteressen nicht zu bedürfen schien.

Die westdeutsche Goethe-und Klassikkritik an der Wende der sechziger zu den siebziger Jahren war der nachgeholte, um zwei Jahrzehnte verspätete Versuch, die 1945 weithin ohne Bruch vollzogene Integration Goethes ins Bewußtsein der Nachkriegsdeutschen einer kritischen Infragestellung zu unterwerfen. Auch wenn diese Kritik nicht zu der von Karl Jaspers seinerzeit geforderten „Revolution der Goethe-Aneignung“ geführt hat, so wurde sie doch zum Auslöser einer Revision der bis dahin weithin unangefochten geltenden Adap-tionsformen. Hinter der vermeintlichen Nähe zu ihm und der Illusion einer noch immer intakten ideellen Gleichzeitigkeit mit seinem Werk wurde die sich jedem unmittelbaren Zugriff verweigernde Fremdheit Goethes sichtbar, der gegenüber die eingeschliffenen Deutungsmuster ins Leere griffen.

Die zahlreichen überanstrengten Versuche — vor allem auf der Bühne —, den Dichter im Lichte gegenwärtiger Interessen und Fragestellungen zu aktualisieren, waren ebenso wichtige und ehrliche wie vielfach zugleich hilflose Manifestationen der Kluft, die unsere bundesrepublikanische Gegenwart von Goe-

trennt. Jede produktive Neuaneignung the des Dichters sollte sich diesem Faktum stellen und sich nicht vorschnell von dem Bedürfnis leiten lassen, diese Fremdheit durch falsche, weil durch keine Erfahrungskorrespondenz mehr gedeckte Anbiederung oder Popularisie-rung überspielen zu wollen. So hat die westdeutsche Goetheforschung seit geraumer Zeit bereits die Möglichkeiten, die ein in die Distanz der Fremdheit gerücktes Bild ihres Gegenstandes bietet, in produktiver Weise genutzt und in exemplarischen Beispielen den Weg zu einem neuen Goethebild gewiesen, das Walter Benjamins Verdikt über die soge-nannten „Kulturgüter" in sich aufgenommen und verarbeitet hat. Und wie nach dem Benjamin der „Geschichtsphilosophischen Thesen“ das Kulturgut nicht frei ist von Barbarei, „so ist [es] auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist"

Die moderne Rezeptionsforschung hat sich diese fundamentale Einsicht zu eigen gemacht. Für sie gibt es die Trennung zwischen einem „Goethe an sich" und der Geschichte seiner bisherigen Rezeption nicht. Die Gebrauchsspuren, die diese Rezeptionsgeschichte in dem Bild des überlieferten Werkes und seines Schöpfers hinterlassen haben, sind die untilgbaren Zeichen seines dem Vergessen entrissenen Überdauerns in der Zeit. In dieser Betrachtungsperspektive schließt jede gegenwärtige Rezeption Goethes die Auseinandersetzung mit dem Prozeß seiner bisherigen Überlieferung ein.

Nord und West und Süd zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern, Flüchte du, im reinen Osten Patricharchenluft zu kosten, Unter Lieben, Trinken, Singen Soll dich Chisers Quell verjüngen.

So lautet bekanntlich die erste Strophe des Eingangsgedichts zu Goethes „Westöstlichem Diwan“, und man könnte versucht sein, im Hinblick auf den Gegenstand der hier angestellten Betrachtungen die vier ersten Zeilen umzuformulieren:

Nord und West und Süd zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern Flüchte du, im reinen Goethe Dichtungsluft zu kosten,....

So wenig sich die beiden letzten Zeilen in der Umformulierung reimen, so ungereimt im übertragenen Sinne wäre eine solche Flucht aus den west-östlichen Problemen der Gegenwart zu einem „reinen" Goethe, einem Goethe, der noch unbefleckt wäre von allen Gebrauchsspuren, die die Geschichte seiner Rezeption ihm und seinem Werk bis heute aufgeprägt hat.

Hinter der eingangs zitierten Diagnose Leo Kreutzers, Goethe sei in unserer Gesellschaft aus allen ideologischen Inanspruchnahmen herausgefallen und liege auf der Straße, wo man ihn „aufheben" und endlich gebrauchen könne, steht der wohl berechtigte Wunsch, jeden angemaßten Besitztitel auf den Dichter zu tilgen und ihn gewissermaßen gegen den Strich seiner bisherigen Verwertungsgeschichte neu zu entdecken. Dennoch wäre es eine Illusion, anzunehmen, wir könnten uns ohne weiteres aus dieser Verwertungsgeschichte herauskatapultieren in den Stand einer neuen Unmittelbarkeit im Verhältnis zu einem Autor, der wie kein anderer unsere ideelle Geschichte bestimmt und geprägt hat.

Goethe und die Deutschen: diese Konstellation kennzeichnet nicht nur das Verhältnis einzelner individueller Leser zu einem Dichter der Vergangenheit, sondern die kollektive Geschichte einer Nation auf der Suche nach ihrer kulturellen Identität. Daß diese Geschichte heute die eines in Ost und West geteilten Bildes ist, sollte nicht durch einen privatistischen Rückzug in eine neue Innerlichkeit unterlaufen werden. Sie sollte vielmehr als Herausforderung begriffen werden, den Umgang mit den sogenannten Klassikern produktiv zu vermitteln mit den politischen und gesellschaftlichen Erfahrungen einer unversöhnten und konfliktbehafteten Wirklichkeit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Leo Kreutzer, Mein Gott Goethe. Essays, Reinbek “ e 1 Hamburg 1980, S. 153f. (dnb 136).

  2. Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen Frankfurt/M. 1973, S. 19.

  3. Zitiert nach: Zeitgemäßes aus der „Literarischen Welt” von 1925— 1932, hrsg. von Willy Haas, Stuttgart 1963, S. 377.

  4. Ernst Bertram, Deutsche Gestalten. Fest-und Ge denkreden, Leipzig o. J. [1935], S. 122.

  5. Zitiert nach: Literatur im Klassenkampf. Zur protarisch-revolutionären Literaturtheorie 1919— • 923. Eine Dokumentation von Walter Fahnders und Martin Rector, München 1971, S. 71.

  6. Egon Erwin Kisch, Gesammelte Werke in Einzel-Ausgaben, hrsg. von Bodo Uhse und Gisela Kisch, u-5. Berlin und Weimar 1974, S. 401 u. 403.

  7. Herbert Jhering, Reinhardt, Jessner, Piscator . er Klassikertod?, Berlin 1929. Das Zitat nach: Jhenng. Der Kampf ums Theater und andere Streitschriften 1918 bis 1933, Berlin (Ost) 1974, S. 313.

  8. Bertolt Brecht, Schriften zum Theater I. 1918— 1933, Redaktion Werner Hecht, Frankfurt/M. 1963, S. 146.

  9. Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 19 (1933), S. 265.

  10. Jos 6 Ortega y Gasset Um einen Goethe von innen bittend, Stuttgart 1950, S. 8.

  11. Ebd„ S. 8.

  12. Ebd., S. 11.

  13. Jose Ortega y Gasset, über einen zweihundert, jährigen Goethe, in: Hamburger Akademisch 6 Rundschau 3 (1948/49), H. 8— 10, S. 572— 588. Das Zitat: S. 573.

  14. In: Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.), deutsche Feiern, Wiesbaden 1977, S. 97— 122; 176179 (Athenaion Literaturwissenschaft, Bd. 5).

  15. Ortega y Gasset, über einen zweihundertjähriGoethe, a. a. °., S. 585.

  16. Lbd.

  17. Karl Jaspers, Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, München 1951, S. 46.

  18. Ernst Robert Curtius, Goethe oder Jaspers?, in: Die Tat (Zürich), 2. April 1949, nachgedruckt in: Die Zeit, 28. April 1949; vgl. die Erwiderung von Hans Heinrich Schaeder, Karl Jaspers und sein Kritiker, in: Die Zeit, 12. Mai 1949; dazu das „Schlußwort in eigener Sache" von Curtius, Goethe, Jaspers, Curtius, in: Die Zeit, 2. Juni 1949.

  19. Leo Spitzer, Zum Goethekult, in: Die Wandlung 4(1949), S. 581— 592.

  20. Richard Alewyn, Goethe als Alibi?, in: Hamburger Akademische Rundschau 3 (1948/49), H. 8— 10, S. 685— 687.

  21. Ebd., S. 686. Alewyns Beitrag erschien in der gleichen Goethe-Nummer der „Hamburger Akademischen Rundschau", in der auch Ortega y Gassets Hamburger Festrede „über einen zweihundertjährigen Goethe“ abgedruckt ist und die als Dokument eines höchst widerspruchsvollen Umgangs mit dem Klassiker Goethe jetzt wieder als (um den Rezensionsteil gekürzten) Nachdruck zugänglich ist: Joachim Heitmann Verlag, Hamburg.

  22. Walter Hinck, Das Verschweigen hat Methode. Vom Elend unserer Literaturgeschichten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. April 1980.

  23. Zum Erbe-Begriff in der DDR vgl. Wolfram rnienker. Das „Kulturelle Erbe“ in der DDR. GesellsChaftliche Entwicklung und Kulturpolitik 1945— 8005, Stuttgart 1977; Hans Kaufmann, Versuch über 4aS, Erbe. Leipzig 1980 (Reclams Universal-Biblio-thek/OstBd. 849).

  24. vgl. Literatur der Arbeiterklasse. Aufsätze über >e Herausbildung der deutschen sozialistischen Li-S 659r (1918— 1933), Berlin und Weimar 1971,

  25. In: Hamburger Akademische Rundschau 3 (1948/49), H. 8— 10, S. 703 u. 700. „

  26. Emil Staiger, Goethe, Band 1 (1749— 17862 Aufl. Zürich und Freiburg im Breisgau 1957, S. 1

  27. Vgl. dazu: Hans Schwerte, Faust und das Fausti-Sche. Ein Kapitel deutscher Ideologie, Stuttgart

  28. Vgl. Paul Michael Lützeler, Goethes „Faust" und der Sozialismus. Zur Rezeption des klassischen Er-bes in der DDR, in: Basis 5 (1975), S. 31— 54; zum „Faust" -Bild im Wilhelminischen Kaiserreich vgl. Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Band I (1773— 1918), München 1980, S. 240— 261.

  29. Alexander Abusch, Kulturelle Probleme des sozialistischen Humanismus. Beiträge zur deutschen Kulturpolitik 1946— 1967, Berlin und Weimar 1967, S. 160.

  30. In: Kolloquium über Probleme der Goetheforschung (31. Oktober bis 4. November 1960 in Weimar), Vorträge und Diskussionen, Weimarer Beiträge 1960, Sonderheft, S. 944f.

  31. Vgl. dazu: Goethe und die Folgen... Richard Friedenthals Buch in der Diskussion, München o. J.

  32. Der Zürcher Literaturstreit ist dokumentiert in: i 1P 90r 8a. che im technischen Zeitalter 22/1967 und 26/

  33. Nationalismus in Germanistik und Dichtung. Dokumentation des Germanistentages in München, wom 17. — 22. Oktober 1966, hrsg. von Benno von Wiese und Rudolf Henß, Berlin 1967; Germanistik 2 eine deutsche Wissenschaft. Beiträge von Eber-nard Lammert, Walther Killy, Karl Otto Conrady und Peter von Polenz, Frankfurt/M. 1967 (edition suhrkamp 204).

  34. Diesen Begriff benutzte der DDR-Literaturwissenschaftler Claus Träger in einem Rundtischgespräch über „Probleme der sozialistischen Rezeption des Erbes", das von der Redaktion der „Weimarer Beiträge" im September 1969 veranstaltet wurde; vgl. Weimarer Beiträge 2/1970, S. 46.

  35. VgL Günter Kunerts 1975 geschriebenes „Pamphlet für K" (Sinn und Form 30, 1978, H. 5, S. 1091— 1097) und Christa Wolfs Erzählung „Kein Ort. Nirgends" (Berlin und Weimar 1979, Lizenzausgabe: Darmstadt und Neuwied 1979).

  36. Neben den Texten zur Plenzdorf-Debatte enthält der Jahrgang 1973 von „Sinn und Form'foh gende wichtige Beiträge zur Erbe-und Klassikdiskussion: Werner Mittenzwei, Brecht und die Probleme der deutschen Klassik, S. 135— 168; Helmut Holtzhauer, Von Sieben, die auszogen, die Klassik zu erlegen, S. 169— 188; Wolfgang Harich, Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß. Aus Anlaß der . Macbeth" -Bearbeitung von Heiner Müller, S. 1891 218; Hans-Heinrich Reuter, Die deutsche Klassik und das Problem Brecht. Zwanzig Sätze der Entgegnung auf Werner Mittenzwei, S. 809— 824; Hans Dietrich Dahnke, Sozialismus und deutsche Klassik, S. 1083— 1107. Die gesamte Klassik-Debatte, erweitert um neue Texte, ist jetzt abgedruckt in: Wer war Brecht? Wandlung und Entwicklung der Ansichten über Brecht, hrsg. von Werner Mittenzwei, Berlin (Ost) 1977, S. 483— 731; auch als Lizenzausgabe: Berlin (West).

  37. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften I, 2., hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1974, S. 696.

Weitere Inhalte

Karl Robert Mandelkow, Dr. phil., geb. 1926; Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg; 1961— 1965 Dozent an der Universität Amsterdam; 1965— 1970 Professor an der Universität Leiden/Niederlande; seit 1970 Professor in Hamburg; 1974 Gastprofessor in Princeton/USA. Veröffentlichungen u. a.: Hermann Brochs Romantriologie „Die Schlafwandler". Gestaltung und Reflexion im modernen deutschen Roman, Heidelberg 1962, 2. Aufl. 1975; Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe, 4 Bde, Hamburg (ab 1975: München) 1962— 1967 (unter Mitarbeit von Bodo Morawe); Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe, 2 Bde, Hamburg (ab 1975: München) 1965— 1969; Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland, 3 Bde, München 1975— 1979; Orpheus und Maschine, Heidelberg 1976; Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Band 1: 1773— 1918, München 1980.