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Der Wandel der Rahmenbedingungen für Sicherheitsvereinbarungen in Europa | APuZ 26/1981 | bpb.de

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APuZ 26/1981 Artikel 1 Der Wandel der Rahmenbedingungen für Sicherheitsvereinbarungen in Europa Für eine westeuropäische Mittelostpolitik

Der Wandel der Rahmenbedingungen für Sicherheitsvereinbarungen in Europa

Gerhard Wettig

/ 66 Minuten zu lesen

Verschiebungen des Kräfteverhältnisses auf dem potentiellen Gefechtsfeld

Mit der militärischen Besetzung der Tschechoslowakei im Sommer 1968 verlegte die UdSSR fünf bis sechs zusätzliche Divisionen nach Mitteleuropa. Seitdem befinden sich 31 sowjetische Divisionen zwischen der Ostsee und den Nordgrenzen Österreichs, Jugoslawiens und Rumäniens. 20 Divisionen davon sind in der DDR stationiert; sie weisen den Bereitschaftsgrad und die beste Bewaffnung auf. Die verbündeten ostmitteleuropäischen Länder stellen weitere 37 Divisionen. Im europäischen Teil der Sowjetunion befinden sich weitere 60 Divisionen unterschiedlicher Bereitschaft und Bewaffnung. Nach westlicher Einschätzung könnten davon innerhalb kurzer Zeit 33 kampfkräftige Divisionen nach Westen geworfen werden. Anfang der siebziger Jahre verfügte die UdSSR ingesamtüber 157 Divisionen. Mittlerweile ist ihre Zahl auf 169 angewachsen. Der Zuwachs erklärt sich durch Neu-aufstellungen an der chinesischen Grenze, wo die Zahl der Divisionen von 30 auf 44 stieg 1). Der Personalbestand der sowjetischen Landtruppen in der DDR, in der Tschechoslowakei und in Polen erhöhte sich von 430 000 Mann im Jahre 1973 auf 460 000 Mann zwei Jahre später und auf 475 000 Mann 1977 Auch andere Warschauer-Pakt-Staaten, beispielsweise die DDR, vermehrten ihre Soldaten. Auf dem Gebiet der drei genannten Länder erhöhte sich die Truppenzahl von 900 000 Mann im Jahre 1971 auf 920 000 Mann drei Jahre später und auf 960 000 Mann 1976 Die Personalzu-wächse flossen in die bestehenden Einheiten, die so einen größeren Umfang erhielten. Beispielsweise erhöhte sich der Bestand einer sowjetischen Panzerdivision von 9 000 auf 11 000 Mann

Dramatischer als die Zunahme des Personals waren die waffenmäßigen Verstärkungen. Die Zahl der Kampfpanzer auf östlicher Seite stieg von 14 000 im Jahre 1971 auf 19 000 fünf Jahre später. Mindestens die Hälfte davon befand sich in sowjetischen Einheiten. Eine sowjetische Panzerdivision in der DDR verfügte 1973 über 315, 1978 jedoch über 415 Kampfpanzer. Außerdem wurden außer Dienst gestellte Panzer in großem Umfang in Depots eingelagert, statt wie früher in die UdSSR zurücktransportiert zu werden 5). Bei den leichtgepanzerten Gefechtsfahrzeugen der UdSSR in Mitteleuropa (ohne Ungarn) erhöhte sich die Zahl von 300 im Jahre 1968 auf 9 500 neun Jahre später. Seit Mitte der siebziger Jahre führte die sowjetische Armee in großem Umfang Panzerhaubitzen ein. Vergrößert wurde die Zahl der Artilleriegeschütze und der Mehrfachraketenwerfer (700 Rohre 1974 statt 220 Rohre fünf Jahre zuvor). Diese Waffensysteme sind darauf abgestellt, die infanteristische Panzerabwehr des Gegners zu vereiteln Bei den Panzerabwehrwaffen konnte der Warschauer Pakt seinen Rückstand gegenüber der NATO aufholenn Die sowjetischen Verbände könntnen sich durch ein technisch hochentwickeltes Flugzeugabwehrsystem wirksam gegen Angriffe aus der Luft schützen. Dadurch werden die früher durch Luftverteidigungsaufgaben gebundenen Jagdflugzeuge für offensive Aufgaben frei

Die NATO hat gegen diese militärische Macht in Mitteleuropa nur relativ bescheidene Kräfte aufzubieten. In der Bundesrepublik Deutschland und in den Benelux-Staaten unterhält das Bündnis 28 Divisionen mit 6 500 Kampfpanzern. In den USA stehen ca. zweieinhalb Divisionen für einen eventuellen Einsatz in Mitteleuropa bereit. Wieweit darüber hinaus amerikanische Truppen zu mobilisieren sind, ist angesichts eines fehlenden Reservoirs an ausgebildeten Wehrpflichtigen unklar. Sobald Frankreich sich beteiligt, kommen in Westeuropa noch 15 — allerdings weniger gut ausgerüstete, und vielfach auf niedrigerem Bereitschaftsgrad stehende — Divisionen mit 1 000 Kampfpanzern hinzu Eine erhebliche Waffendisparität zu westlichen Ungunsten besteht nicht nur bei den Kampfpanzern, sondern auch bei anderen schweren Systemen. Auch bei den Flugzeugen existiert ein deutlicher Rückstand.

Das Ungleichgewicht ist am wenigsten ausgeprägt, wenn man sich allein auf die Personal-stärken bezieht und ausschließlich die Bundesrepublik Deutschland und die BeneluxStaaten einerseits und die DDR, Polen und die Tschechoslowakei andererseits gegenüberstellt. Es ist unter anderem auf die kürzeren östlichen Anmarschwege zurückzuführen, daß die Umsetzung der Soldatenzahlen in Kampf-kraft beim Warschauer Pakt günstiger liegt als beim westlichen Bündnis. In den genannten westlichen Ländern standen 1973 775 000 Mann. Ihre Zahl erhöhte sich bis 1976 geringfügig auf 790 0001 10).

Diese Angaben lassen die Unterschiede bei den paramilitärischen Einheiten außer Be-tracht. Während die Bundesrepublik Deutschland nur über 20 000 Mann Länderbereitschaftspolizeien und 11 000 Mann Bundesgrenzschutzverbände verfügt und die Benelux-Staaten weniger als 20 000 M 000 Mann Bundesgrenzschutzverbände verfügt und die Benelux-Staaten weniger als 20 000 Mann Gendarmerie-Einheiten besitzen, haben die entsprechenden Formationen in Ostmitteleuropa ungleich größere Dimensionen. Die DDR hat mehr als 160 000 Mann in paramilitärischen Streitkräften, die nach Ausbildung, Organisation und Ausrüstung motorisierten Infanterie-bataillonen gleichkommen und zumindest zur Übernahme von Hilfs-und Sicherungsaufgaben geeignet sind 11). Weniger hoch bewertet werden 10 000 Mann Grenztruppen und 120 000 Mann Miliz in der Tschechoslowakei und 100 000 Mann Grenzpolizei und 350 000 Mann Miliz in Polen. Aber auch diese Einheiten könnten die regulären Streitkräfte in gewissem Umfang entlasten Nach den Einschätzungen, die in einer kürzlich erschienenen Studie der RAND-Corporation enthalten sind, haben die Verbände der kleineren Staaten im Falle eines Ost-West-Konflikts einen relativ großen militärischen Wert. Nur bei inneren Unruhen ist mit erheblichen Einsatz-problemen zu rechnen.

Die alte Rechnung, der Quantitätsvorsprung des Warschauer Pakts werde durch einen ebensolchen Qualitätsvorsprung der westlichen Bewaffnung ausgeglichen, ist fragwürdig geworden Die NATO ist technologisch vielfach nicht mehr überlegen und hinkt in der Menge der den Truppen zugeführten neuen Systeme oft hinterher

Der Faktor Militärstrategie

Die sowjetische Planung sieht im Kriegsfall einen raschen Offensivvorstoß nach Westen vor Vor allem die in der DDR stationierten fünf sowjetischen Armeen eignen sich aufgrund ihres Bereitschaftsstandes, ihrer Panzerausstattung und ihrer Beweglichkeit zu blitzartigem Losschlagen. Innerhalb eines Tages wären die Verbände für einen Angriff uneingeschränkt zu verwenden Der Gegner soll, falls die sowjetische Führung den militärischen Einsatzbefehl gibt, mit überraschender Wucht getroffen und geschlagen werden. Dabei wird der Ersteinsatz von nuklearen Gefechtsfeldwaffen nicht ausgeschlossen, wenn sich dies zu einem bestimmten Zeitpunkt als militärisch zweckmäßig erweisen sollte.

Eine wesentliche Erhöhung der Kampfkraft, vor allem der Elemente Feuer, Panzer und Bewegung, wurde durch Erweiterungen des Personalumfangs in den sowjetischen Divisionen und durch erhebliche Verstärkungen bei der Kampfpanzerausstattung erreicht. Die Artillerie wurde auf Selbstfahrlafetten montiert; die Panzer und Flugabwehrwaffen wurden zur Durchkreuzung gegnerischer Abwehrversuche vermehrt; der Umfang der taktischen Kernwaffenträger erhöhte sich; Pionier-Groß-geräte, vor allem die Mittel zum überqueren von Flüssen, wurden verstärkt zugeführt. Es vergrößerten sich auch die von den Truppen mitgeführten Munitions-und Lebensmittelbestände. Ein Zuwachs an Panzertransportern und Lastkraftwagen macht die sowjetischen Einheiten bei einem Vormarsch von Rückgriffen auf Reserven an zivilen Ladefahrzeugen unabhängig.

Ebenso fällt der Ausbau der Luftlandekapazitäten in Form von Fallschirmtruppen und Hubschrauberregimentern (die mit mittelschwerem Gerät in den Rücken des Gegners gebracht werden können) auf. Die Flugzeug-waffe ist für den offensiven Einsatz bestimmt. Das östliche Dislozierungsdispositiv sieht den Vormarsch mehrerer „Strategischer Staffeln“ vor: Wenn die „Erste Strategische Staffel" den Zweck des Durchbruchs durch die gegnerische Front verfehlt hat, kann eine zweite und dritte Angriffswelle gegen den geschwächten Feind geschickt werden

Demgegenüber beschränkt sich die NATO mit ihrer „Vorneverteidigung“ auf die Defensive. Das verschafft dem östlichen Gegner im Kriegsfall den Vorteil, daß er sich die Haupt-schauplätze der militärischen Auseinandersetzung aussuchen kann. Er hat die Möglichkeit, seine Kräfte an den von ihm festgelegten Schwerpunkten zu konzentrieren, ohne an anderer Stelle eine großangelegte Offensive in seine Flanken befürchten zu müssen. Wenn er überraschend und entschlossen zu handeln versteht, kann er so seine militärische Überlegenheit an den Stellen des angestrebten Durchbruchs erheblich über das durchschnittliche Maß hinaus steigern.

Das Ringen um Parität bei den MBFR-Verhandlungen 1973— 1976

Seit 1973 verhandeln die in Mitteleuropa militärisch präsenten Staaten der NATO und des Warschauer Pakts über eine „wechselseitige ausgewogene Truppenreduzierung" (MBFR) in diesem Raum. Die Westlichen Vorschläge zielten auf die Herstellung einer militärischen Parität — im Sinne einer gleichen Personal-stärke von 700 000 Mann für beide Bündnisse — ab. Da die Ergebnisse der NATO-Aufklärung eine größere Zahl von Soldaten auf östlicher Seite ausweist, ließ sich das Ziel der Truppengleichheit in Mitteleuropa nur durch ungleiche Reduzierungen im Westen und Osten erreichen. Die jeweils 700 000 Mann auf bei-den Seiten könnten nur zustande kommen, wenn der Warschauer Pakt mehr reduzierte als die Atlantische Allianz. Außerdem forderte die NATO, daß die UdSSR als Zeichen ihres guten Willens ihre Fähigkeit zu einer offensiven Bedrohung Westeuropas verminderte. Sie sollte eine vollständige Panzerarmee mit zunächst 1 500, dann 1 700 geschätzten Kampfpanzern abziehen. Dabei wurde die 1. sowjetische Gardepanzerarmee im Süden der DDR anvisiert. Seit Dezember 1975 bot die westliche Seite dafür zusätzlich den Abzug von 1 000 Kernsprengköpfen mit ihren Trägern an.

Der sowjetische Verhandlungspartner war damit nicht einverstanden. Er sah keinen Grund, auf größere militärische Kapazitäten zu verzichten als die Gegenseite. Statt dessen verlangte er, die Streitkräfte beider Seiten müßten zu einem jeweils gleichen Prozentsatz in geschlossenen Einheiten mit ihren jeweiligen Waffenanteilen reduziert werden. Davon betroffene Streitkräfte, die in dem Reduzierungsgebiet beheimatet seien, müßten aufgelöst werden. Stationierungstruppen seien aus Mitteleuropa zurückzuziehen. Die sowjetische Argumentation während der ersten Jahre implizierte, daß der Warschauer Pakt aus verschiedenen Gründen mehr Soldaten benötige als die NATO.

Das sowjetische Konzept lief grundsätzlich auf eine Festschreibung des bestehenden Kräfte-verhältnisses hinaus. Das bedeutete, daß die UdSSR die Elemente militärischen Übergewichts, die sie auf dem europäischen Schauplatz erworben hatte, uneingeschränkt beibehalten würde. Faktisch sollten die militärischen Vorteile auf östlicher Seite sogar noch wachsen. Im Laufe der Verhandlungen stellte sich heraus, daß die sowjetische Führung in einer Reduzierung der Bundeswehr die einzig angemessene Gegenleistung für eine Reduzierung der eigenen Streitkräfte in Mitteleuropa sah. „Reduzierung" hieß aber in beiden Fällen etwas ganz Verschiedenes. Die betroffenen Teile der Bundeswehr wären aufzulösen gewesen, während die entsprechenden sowjetischen Truppen nur 600 km nach Osten zurück-verlegt worden wären. In dem einen Fall hätte man es also mit einer Potentialbeschränkung zu tun gehabt, die auf der anderen Seite nur mit einer relativ geringfügigen Dislozierungsbeschränkung zu honorieren gewesen wäre.

Ein anderer Faktor, der das für die NATO nachteilige Kräftverhältnis weiter ungünstig beeinflußt hätte, war das Problem der Minimalverteidigung. Die westliche Defensivstrategie war von vornherein auf wenig mehr als eine Mindestabdeckung des zu verteidigenden Raumes ausgelegt. Daher konnte die Atlantische Allianz im Mitteleuropa nur in begrenztem Umfange auf Truppen verzichten, wenn die Abwehrfront keine Löcher bekommen sollte. Die östlichen Vorschläge hätten, wenn sie verwirklicht worden wären, die Mindesterfordernisse der westeuropäischen Verteidigung unterschritten. Dagegen wären dem Warschauer Pakt immer noch Überhangkapazitäten verblieben — ganz abgesehen von dem Umstand, daß die UdSSR im Bedarfsfälle relativ leicht und schnell die für erforderlich gehaltenen Streitkräfte wieder nach Mitteleuropa vorverlegen konnte.

Auch soweit — westlichen Vorstellungen folgend — sowjetische Verbände im Gegenzug zu amerikanischen Einheiten aus dem Reduzierungsgebiet herausgenommen werden sollten, wären nach den vom Warschauer Pakt vorgeschlagenen Kriterien ungleiche Auswirkungen entstanden. Der Abzug ganzer Formationen mit all ihren Waffen begünstigte die UdSSR. Angesichts ihrer räumlichen Nähe zum Reduzierungsgebiet wäre es für sie kein großer Verzicht, ganze Kampfverbände aus Mitteleuropa herauszunehmen. Diese Streitkräfte ließen sich dann ohne Schwierigkeiten ein wenig weiter östlich bereithalten; der Transport der zugehörigen schweren Waffen über die Distanz von einigen hundert Kilometer hinweg war lediglich ein Zeitfaktor von begrenztem Ausmaß. Wenn die Verhandlungspartner darüber hinaus Modernisierungsbeschränkungen für die im Reduzierungsraum verbleibenden Truppen vereinbarten, behielt die Sowjetunion die Fähigkeit, das in Mitteleuropa Verbotene in den östlich angrenzenden Gebieten vorzunehmen und bei einem bevorstehenden militärischen Zusammenstoß die derart in ihrer Kampfkraft gestärkten Formationen nach Westen vorzuverlegen.

Anders standen die Dinge für die amerikanischen Streitkräfte. Wenn sie für zurückgezogene Truppen keine Verbandskader und Waffendepots in Mitteleuropa unterhalten durften, dann war es im Krisenfall kaum möglich, militärische Kräfte in der verfügbaren Zeit wieder nach Mitteleuropa zurückzubringen. Das schwere Gerät und die notwendigen personellen und unterbringungsmäßigen Voraussetzungen waren über mehr als 6 000 km hinweg nicht so leicht wieder nach Mitteleuropa zurückzuübertragen. Der geographische Unterschied, der die östliche Seite begünstigt veranlaßte die NATO-Staaten dazu, auf Verbändekaderungs-und Waffenlagerungsrechten für in Mitteleuropa nicht präsente amerikanische Streitkräfte zu bestehen. Auf diese Weise wollten sich die USA wenigstens in begrenztem Maße die Möglichkeit der militärischen Rückkehr im Krisenfall sichern, die der UdSSR mühelos zu Gebote steht. Das schien um so notwendiger, als die Amerikaner nach östlichem Vorschlag die Personal-und Waffengerippe von mehr als zwei Divisionen ohne jede östliche Gegenleistung hätten abziehen müssen. Die Enge des westlichen Glacis in Mitteleuropa, die höchst unvorteilhaft mit der Tiefe des östlichen Raums kontrastiert, war einer der wesentlichen Gründe für die Wahl der Personalstärken als Paritätskriterium auf NATO-Seite: Aus der Sicht der westlichen Hauptstädte galt es, einschneidende Rüstungsbeschränkungen für Mitteleuropa zu verhindern, die im Westen das gesamte kontinentaleuropäische Verteidigungssystem erfaßt hätten, während im Osten nur ein vergleichsweise schmaler Saum des militärisch wichtigen Gebietes davon betroffen worden wäre.

Veränderte Fronten bei dem Ringen um die MBFR-Parität seit 1976

Die UdSSR konnte sich der propagandistischen Wirkung des westlichen Paritätsstandpunktes nicht entziehen, zumal die USA bei den Verhandlungen über eine Begrenzung der strategischen Rüstungen (SALT) ihrerseits der bis dahin schwächeren Sowjetunion Parität zugestanden hatten. Dementsprechend veränderte sich die östliche MBFR-Position ab 1976. Die sowjetischen Unterhändler erklärten, in Mitteleuropa bestehe bereits „annähernde Parität". Sie setzten erstmals den westlichen Stärkeangaben eine eigene Zahl entgegen. Danach verfügte der Warschauer Pakt in Mitteleuropa gegenüber den westlichen Streitkräften, deren Umfang die NATO mit 790 000 angab, über 805 000 Mann. Die Erkenntnisse der westlichen Aufklärung, denen zufolge auf östlicher Seite 960 000 Mann vorhanden waren, wurden in Abrede gestellt. Die praktische Schlußfolgerung aus den sowjetischen Angaben lautete, man brauche, da die Differenz zwischen den wechselseitigen Stärken minimal sei, keine ungleichen Reduzierungen vorzunehmen. Die alte sowjetische Position, daß es nur gleichprozentige Verminderungen geben könne, wurde mit einer veränderten Argumentation untermauert.

In den fünf Jahren, die seither vergangen sind, ist es — einiger Spezifikationen ungeachtet — nicht gelungen, die Datendifferenz zu klären. Ebensowenig hat sich die sowjetische Führung bereitgefunden, ihren Standpunkt wesentlich zu verändern. KPdSU-Generalsekretär Breschnew hat sich zwar bei seinem Bonn-Besuch im Mai 1978 ausdrücklich zu dem Prinzip der Parität bekannt doch folgten daraus kaum praktische Zugeständnisse. Die sowjetische Seite hat sich in ihrem Vorschlag vom 8. Juni 1978 nur dazu verstanden, in einer ersten Phase der amerikanisch-sowjetischen Reduzierung die nach ihren Angaben bestehende Ost-West-Differenz von rund 15 000 Mann zusätzlich zurückzuziehen. Weil zunächst nur ein Abzug geringen Umfangs vereinbart werden sollte, hätte die UdSSR ungefähr die doppelte Truppenzahl zurückzuverlegen gehabt. Dieses Angebot war jedoch an eine verbindliche Übereinkunft darüber geknüpft, daß beide Seiten bei einer Phase II die östlicherseits geltend gemachten Zahlen von 790 000 und 805 000 Mann zugrunde legen würden, um von da aus mittels gleichprozentiger Reduzierungen bei jeweils 700 000 Mann anzukommen Nach westlicher Berechnung hätte der War-schauer Pakt demnach einen Mannschaftsüberhang von rund 150 000 behalten. Das war für die NATO-Staaten unannehmbar.

Das Paritätsverlangen der NATO-Staaten war von Anfang an nur eingeschränkter Art. Mit dem Kriterium der Personalstärken hatten die westlichen Staaten ihren östlichen Verhandlungspartnern von vornherein ein gewisses Übergewicht an Kampfstärke zugebilligt, wie der numerische Vergleich zwischen den Divisionen auf beiden Seiten (die sich hinsichtlich ihrer Feuerkraft nicht allzu sehr voneinander unterscheiden) erkennen läßt. Auch die Ausklammerung der paramilitärischen Verbände begünstigte den Warschauer Pakt. Den NATO-Staaten kam es — außer auf eine prinzipielle Anerkennung des Paritätsgedankens — nur auf eine Begrenzung der östlichen Übergewichte auf dem mitteleuropäischen Schauplatz an. Dahinter stand die Überlegung, der Verteidiger könne sich ein gewisses Weniger an Kampfkraft leisten, weil sich der Angreifer in die schwierigere militärische Lage begebe.

Die so definierten westlichen Sicherheitserfordernisse erwiesen sich jedoch bei den MBFR-Gesprächen als nicht verhandelbar. Die sowjetische Führung glaubte, das überwiegende Interesse an einem Verhandlungserfolg liege auf westlicher Seite, und sah daher keinen Anlaß, größere Zugeständnisse zu machen als die NATO-Staaten. Der Versuch, die sowjetische Militärmacht in Mitteleuropa auf dem Verhandlungswege zu beschränken, versprach keine Aussicht auf Erfolg.

Die westlichen Regierungen zogen daraus die Konsequenz, daß sie dem Element der Reduzierung bei MBFR keinen großen Stellenwert mehr einräumten. Am 20. Dezember 1979 schlugen sie ein interimistisches Reduzierungsabkommen vor, das nur noch geringen Umfang haben sollte. USA und UdSSR sollten Truppen proportional zu ihrem westlicherseits errechneten Stärkeverhältnis abziehen. Das lief auf 13 000 amerikanische und 30 000 sowjetische Soldaten hinaus. Diese Zahlen entsprachen ziemlich genau dem sowjetischen Vorschlag vom 8. Juni 1978. Allerdings fehlten zwei bedeutsame Elemente. Von einer selektiven Beschränkung von Waffensystemen — amerikanischen Kernwaffen und sowjetischen Kampfpanzern — war nicht mehr die Rede. Vor allem aber fehlte eine Verknüpfung der vorgeschlagenen Phase I mit einem künftigen umfassenden und weitreichenden Reduzierungsabkommen. Die Übereinkunft sollte nach westlicher Ansicht primär dazu dienen, den Boden für Vereinbarungen in einem anderen Bereich zu bereiten Die östliche Seite lehnte ab, weil sie selbst in teilweiser Form eine Dateneinigung scheute und auf einer westlichen Zusage weiterreichender Reduzierungen bestand.

Das Problem der geographischen Ungleichheit

Der anfänglichen Ansicht, daß die NATO mit weniger Truppen in Mitteleuropa auskommen könne, lag unter anderem die Vorstellung der „Warnzeit" zugrunde. Die Grundannahme dabei war, daß die UdSSR, ihrer relativen Nähe zum mitteleuropäischen Schauplatz ungeachtet, doch noch eine gewisse Zeit benötigen werde, um in großem Umfange Truppen auf das potentielle Schlachtfeld vorzuverlegen. Wolle sich die sowjetische Führung zu einem Angriff entschließen, dann müsse sie daher nach einer Beschränkung ihrer in Mitteleuropa präsenten Militärstärke entweder auf die Chance eines raschen Durchbruchs durch die NATO-Verteidigungslinien verzichten oder längere militärische Vorbereitungen für den geplanten Vorstoß treffen. In den westlichen Hauptstädten rechnete man allgemein damit, daß sich Moskau für die zweite Möglichkeit entscheiden werde. Dementsprechend, so war die westliche Einschätzung, werde die NATO eine längere Zeitspanne erhalten, während der sie die gegnerischen Vorkehrungen erkennen und daraus ihre Folgerungen ziehen könne. Die Erwartung ging dahin, daß sich auf diese Weise vor einem sowjetischen Angriff eine „Warnzeit" von 20 bis 30 Tagen ergeben werde.

Mit einem Reduzierungsabkommen, das mit den westlichen Vorstellungen vereinbar gewesen wäre, verweigerte die sowjetische Führung den NATO-Staaten zugleich den angestrebten Warnzeitgewinn. Darüber hinaus ist es mittlerweile in den westlichen Hauptstädten zweifelhaft geworden, ob ein Reduzierungsabkommen, egal wie es ausfallen würde, überhaupt noch eine wirksame Warnzeitgarantie bieten könnte. Die technische Entwicklung hat der Distanz von 600 km von den Grenzen der UdSSR bis zum sowjetischen Aufmarschraum in der DDR den Charakter eines zeitlich stärker verzögernden Faktors genommen. Sowjetische Verbände, die aus Mitteleuropa abgezogen worden sind, können innerhalb weniger Tage wieder dorthin zurückgebracht werden. Wenn man bedenkt, daß ein Erkennen und Beurteilen von militärischen Vorkehrungen beim Gegner eine gewisse Zeit benötigt, bleibt für die erst danach einsetzende Warnzeit nicht mehr viel übrig.

Besondere Aufmerksamkeit in den westlichen Ländern hat die Vergrößerung der sowjetischen Lufttransportkapazitäten auf sich gezogen. Seit 1972 nimmt die UdSSR zweimal jährlich einen Personalaustausch ihrer Truppen in der DDR auf dem Luftwege vor. Anfangs wurden auf diese Weise 25 000 Soldaten hin-und hergeschafft. Inzwischen ist das Volumen auf bis zu 130 000 Mann gesteigert worden, die innerhalb von zehn Tagen verfrachtet werden, ohne daß die rund 1 300 Transportflugzeuge der sowjetischen Luftwaffe zum Einsatz gelangen. Die Durchführung liegt bei der Luftfahrt-gesellschaft Aeroflot, die währenddessen ihren zivilen Verkehr so gut wie nicht einzuschränken braucht. Im Bedarfsfälle würde also die UdSSR noch zusätzliche Kapazitäten mobilisieren können. Mit dem bisher eingesetzten Lufttransportraum können über 50 Flüge täglich stattfinden. Auf die Weise kann innerhalb von zwei Tagen das Personal von mehr als einer motorisierten Schützendivision nach Mitteleuropa gelangen . Mindestens acht sowjetische Luftlandedivisionen lassen sich samt ihren schweren Waffen innerhalb weniger Tage auf dem Luftweg von der UdSSR in das potentielle mitteleuropäische Kampfgebiet verlegen .

Das herkömmliche Haupttransportmittel der UdSSR ist die Eisenbahn. Früher lag eine Schwierigkeit darin, daß bei dem Wechsel von der sowjetischen Breitspur auf die europäische Normalspur umgeladen werden mußte. Dafür war Zeit erforderlich; gegnerische Angriffe aus der Luft versprachen während dieses Aufenthalts besonders guten Erfolg. Mittlerweile verfügt die UdSSR über Breitspurverbindungen bis auf das Gebiet der DDR und bis weit in die Tschechoslowakei. Man rechnet damit, daß zwischen Ostdeutschland und der Sowjetunion täglich 300 000 Tonnen Material verfrachtet werden können. Von der UdSSR ließen sich täglich vier Divisionen auf dem Schienenwege in Richtung DDR abfertigen. Drei Tage später würden sie ankommen .

Die Straßenverkehrswege sind ebenfalls ausgebaut worden, auch wenn sie noch weit vom westeuropäischen Standard entfernt sind. Weitere Maßnahmen sind geplant, so die autobahnähnliche Ausgestaltung von vier Hauptstrecken. Einen traditionellen Engpaß auf sowjetischer Seite bilden die Fahrzeuge. Bei längeren Straßenmärschen sind vor allem die schweren Kettenfahrzeuge, beispielsweise Panzer, langsam und abnützungsgefährdet. Dieser Schwierigkeit begegnet die sowjetische Militärführung durch den Aufbau von Panzertransportregimentern. Jedes dieser Regimenter kann auf schweren Sattelschleppern nahezu 300 Panzer, d. h. die Ausrüstung von drei Panzerregimentern, bewegen. Im Westen wird vermutet, daß diese Einheiten täglich 500 bis 600 km bewältigen können. Die Sowjetarmee kann mit Hilfe der Panzertransportregimenter vier bis fünf Panzerdivisionen in vier Tagen über eine Strecke von 2 000 km bewegen .

Dazu kommen noch die Möglichkeiten des Transports über die Ostsee, der sich von den überall längs der Küste vorhandenen Militär-flughäfen aus gut gegen Feindeinwirkungen aus der Luft schützen läßt. Nach vorsichtigen Annahmen steht dafür der UdSSR eine Lade-kapazität von wenigstens einer Million Bruttoregistertonnen zur Verfügung

Diese Fähigkeiten zum Nachziehen sowjetischer Truppen aus dem Heimatland gewinnen ihre volle Bedeutung, wenn man sich vergegenwärtigt, wie groß das dort vorhandene militärische Potential ist. Man rechnet damit, daß die in den westlichen Militärbezirken der UdSSR stationierten Divisionen in der Regel zwischen 50 und 75 Prozent personell aufgefüllt sind. Da das Land drei bis sechs Millionen ausgebildete Reservisten hat, dürfte eine kurzzeitige Bereitstellung der für eine Auffüllung erforderlichen 500 000 Mann nicht schwierig sein Demgegenüber geht man davon aus, daß die NATO innerhalb eines Monats fünf zusätzliche Divisionen für Mitteleuropa mobilisieren könnte. Frankreich könnte weitere drei Divisionen bilden Im Londoner International Institute for Strategie Studies schätzt man, daß die UdSSR in wenigen Wochen in der DDR, in der Tschechoslowakei und in Polen 80 Divisionen präsent haben könnte. Ein bedeutender Teil der Verstärkungen könnte schon in der ersten Woche eintreffen.

Dabei darf nicht übersehen werden, wie stark die sowjetische Militärführung die Angriffskapazität der in Mitteleuropa stehenden östlichen Truppen — vor allem durch Modernisierung und Vermehrung der Kampfpanzer, der gepanzerten Gefechtsfahrzeuge, der selbstbeweglichen Artillerie-und Raketenwerfsysteme sowie der als „fliegende Panzer" bezeichneten Angriffshubschrauber — gesteigert hat. Zugleich ermöglicht die fortschreitende Neuausrüstung der sowjetischen taktischen Luftangriffsverbände mit Kampfflugzeugen größerer Reichweite, Tragfähigkeit und Allwettereinsatzfähigkeit Luftangriffsoperationen gegen große Teile Westeuropas ohne Abstützung auf Basen im mitteleuropäischen Vorfeld, d. h. von rückwärtigen Stützpunkten in der Weite des sowjetischen Territoriums. Die letzteren Potentiale, deren Einwirkungen für das Kriegsgeschehen auf dem Gefechtsfeld von sehr großer Wichtigkeit werden könnten, würden von Reduzierungsvereinbarungen im MBFR-Rahmen überhaupt nicht berührt. In der NATO wird man sich zunehmend der Notwendigkeit bewußt, daß an die Stelle der bisher für den Einsatz über sowjetischem Gebiet vorgesehenen Kampfflugzeuge (mit konventionellen und/oder nuklearer Beladung), die wegen der hoch entwickelten Luftabwehr der UdSSR ihre Ziele nicht mehr zu erreichen vermögen, neue Luftangriffssysteme treten müssen, damit die aus der Tiefe des östlichen Raumes heraus operierenden gegnerischen Kräfte bekämpft werden können. Anders ist eine Verteidigung Westeuropas, die eine auch nur minimale Erfolgsaussicht haben soll, immer weniger denkbar.

Angesichts der gesteigerten technischen Zuführungsmöglichkeiten auf sowjetischer Seite verliert die Mitteleuropa-Präsenz eines relativ kleinen Teils sowjetischer Truppen, die bei den MBFR-Verhandlungen zur Diskussion steht, an Gewicht. Die UdSSR kann aus ihren westlichen Militärbezirken und aus Ungarn im Bedarfsfälle so schnell Personal und Material heranführen, daß den NATO-Staaten aus dem eventuellen Abzug sowjetischer Einheiten kaum ein Warnzeitgewinn entstünde. Auf westlicher Seite jedoch würden größere Reduzierungen einschneidend wirken. Die Bundeswehr müßte Formationen auflösen; zurückverlegte amerikanische Streitkräfte wären von dem potentiellen Operationsgebiet durch große Distanzen und durch einen Ozean getrennt. • Unter derart veränderten Umständen steht zu befürchten, daß größere militärische Reduzierungen unabhängig von ihren Modalitäten ganz überwiegend für die östliche Seite vorteilhaft sind. Hier wirkt sich aus, daß es bei MBFR, was die Sowjetunion anbelangt, nicht um eine Beschränkung der militärischen Potentiale geht. Der Wert bloßer Dislozierungsbeschränkungen jedoch schwindet angesichts der geopraphischen Vorteile, welche die UdSSR im Vergleich zu den USA auf dem europäischen Schauplatz besitzt.

Das westliche Konzept der Begleitenden Maßnahmen

Auch die Öffentlichkeit in den westlichen Ländern wird sich zunehmend bewußt, daß an dem entscheidenden Punkt — der sowjetischen Fähigkeit zum Angriff gegen Westeuropa — MBFR nicht im mindesten eine Beschränkung des militärischen Potentials verspricht. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß jede Verquickung der Verhandlungen mit dem Gedanken westlicher Potentialbeschränkungen unzweckmäßig ist.

Zugleich jedoch besteht unverändert ein Bedürfnis nach Stabilisierung der militärischen Lage in Mitteleuropa: Der Sowjetunion soll die Option verwehrt sein, jederzeit ohne zeitlich ausgedehnte Vorbereitungen einen erfolgversprechenden Angriff gegen Westeuropa einleiten zu können. Das erscheint vor allem im Blick auf mögliche Krisen des Ost-West-Verhältnisses wichtig. Nur wenn die westeuropäischen Länder in diesem Fall sicher sein können, daß sie nicht unversehens einer sowjetischen Offensive ausgesetzt werden können, wird sich ein Kreislauf der Ängste, Eskalationen und Zuspitzungen vermeiden lassen. Unabhängig davon, ob sich die sowjetische Führung im Falle einer Krise wirklich zu einem Angriff entschließen würde (was in Anbetracht der nicht zu berechnenden Umstände wahrscheinlich auch in Moskau niemand mit absoluter Sicherheit voraussagen kann), bedarf Westeuropa der erkennbaren und nachprüfbaren Gewißheit Diese wäre gegeben, wenn die UdSSR objektiv unfähig wäre, ohne längerdauernde militärische Vorkehrungen in Mitteleuropa erfolgreich die Offensive zu ergreifen. Das würde nämlich bedeuten, daß die Westeuropäer, solange sie keine sowjetischen Angriffsvorbereitungen beobachten würden, der friedlichen Absichten Moskaus sicher sein könnten. Mit anderen Worten: Eine angemessene „Warnzeit", die der NATO zugestanden werden würde, hätte eine außerordentlich große vertrauensbildende Funktion. Sie würde die Lage in Mitteleuropa militärisch stabilisieren und damit politisch entschärfen.

Diese Überlegungen laufen darauf hinaus, den Gebrauch zu beschränken, der in Mitteleuropa von den jeweiligen militärischen Potentialen gemacht wird. Von östlicher Seite sind verschiedentlich im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) Gebrauchsbeschränkungen angeregt worden, die bestimmte militärische Aktivitäten unzulässig machen würden. Beispielsweise hat der Warschauer Pakt Höchststärken bei Manövern vorgeschlagen. Rumänien wollte multinationale militärische Übungen in der Nähe zu Grenzen anderer Staaten abgeschafft sehen. Derartige Konzepte wirken wegen der unterschiedlichen geographischen Voraussetzungen zum Nachteil der NATO, insbesondere wenn sie nur auf das MBFR-Gebiet bezogen würden. Das westliche Bündnis würde davon mit seinem gesamten kontinentaleuropäischen Glacis betroffen, während die östliche Allianz ihre Tätigkeit nur etwas zurückverlegen müßte. Für die NATO ergäbe sich die Gefahr einer militärischen Paralyse und damit einer Demontage ihres Verteidigungssystems, ohne daß dem ein Gleiches auf Seiten des Warschauer Pakts entsprechen würde

Aus diesen Überlegungen erwachsen zwei praktische Konsequenzen. Zum einen gilt es, solche Gebrauchsbeschränkungen zu vermeiden, welche die Aufrechterhaltung der Fähigkeit zu militärischem Handeln gefährden oder beeinträchtigen. Zum anderen ist der geographische Rahmen über das MBFR-Gebiet hinaus zu erweitern. Das eine erfordert, daß die militärisch beschränkenden Maßnahmen vor allem in den Bereichen des Informationsaustausches, der Vorankündigung und der Verifikation verwirklicht werden. Die Absichten, welche die eine Seite gegenüber der anderen hegt, wären dabei deutlich zu machen und der Nachprüfung zu unterwerfen. Das zweite Erfordernis — die Erweiterung des geographischen Rahmens — würde eine Neudefinition der Verhandlungsparameter bei MBFR erfordern. Allerdings könnte auch die Konferenz für Vertrauensmaßnahmen und Abrüstung, die auf dem Madrider KSZE-Folgetreffen beschlossen werden soll, eine entsprechende Basis schaffen. Die Auseinandersetzungen um den Geltungsbereich der von ihr zu beschließenden Maßnahmen (Frage der Einbeziehung der europäischen Sowjetunion oder nur eines schmalen westlichen Randstreifens der UdSSR) sind dafür entscheidend.

Bei den MBFR-Verhandlungen haben die NATO-Staaten von Anfang an darauf bestanden, daß die zu vereinbarenden Reduzierungen in Mitteleuropa mit Begleitenden Maßnahmen (associated measures) zu verknüpfen seien. Lange Jahre jedoch ist dieser Punkt nur als nachrangig, d. h. als erst nach der Erzielung von Reduzierungsübereinkünften zu regeln, behandelt worden. Hier haben die Regierungen der NATO-Staaten mittlerweile ihre Prioritäten geändert. Am 20. Dezember 1979 haben sie bei den MBFR-Verhandlungen einen ins einzelne gehenden Vorschlag über Begleitende Maßnahmen unterbreitet, der zum Kernstück ihrer MBFR-Politik geworden ist

Der NATO-Vorschlag enthielt ein Sieben-Punkte-Programm Begleitender Maßnahmen. Es ging vor allem darum, die militärischen Manöver, die Bewegungen von Truppen und andere Streitkräfte-Aktivitäten außerhalb der Garnisonen der jeweils anderen Seite anzuzeigen. Alle entsprechenden Unternehmungen sollten jährlich im voraus angekündigt werden. Die NATO-Staaten schlugen weiterhin Luft-und Bodeninspektionen sowie Kontrollen an den Ein-und Ausgangspunkten des Reduzierungsgebietes vor, um der jeweiligen Gegenseite eine zuverlässige Überprüfung der Grenzüberschreitungen durch Militäreinheiten zu ermöglichen. Außerdem sollten sich die Vertragspartner dazu verpflichten, wechselseitig die Verifikation durch nationale techni-sehe Mittel nicht zu behindern. Einem Konsultativgremium war die Funktion zugedacht, die Durchführung der Maßnahmen zu erleichtern.

Der westliche Vorschlag ist insoweit umfassend, als er sich auf alle militärischen Aktivitäten bezieht, von denen aus ein Übergang zu Angriffsoperationen vorgenommen werden könnte. Ein wesentliches Element ist die Langfristigkeit der Voranzeige. Das jährliche Vorlegen einer Übersicht über geplante militärische Tätigkeiten verschafft der jeweils anderen Seite die Möglichkeit zu erkennen, welche Aktivitäten regulärer Vorausplanung entspringen (Ankündigung in der jährlichen Übersicht und durch einmonatige detaillierte Vorausinformation) und welche durch kürzerfristig eintretende besondere Ereignisse hervorgerufen werden (Ankündigung nur durch einmonatige detaillierte Vorausinformation).

Besondere Wichtigkeit messen die NATO-Staaten der Verifikation durch Beobachter, Inspektionen und Luftaufklärung zu. Dabei geht es nicht nur um die Feststellung dessen, was die Truppen außerhalb der Garnison unternehmen. Noch bedeutsamer erscheint eine Kontrolle darüber, inwieweit Truppen nach Mitteleuropa vorverlegt werden. Die Satellitenaufklärung weist in dieser Hinsicht Mängel auf. Sie kann zwar die Truppentransporte über Land zuverlässig feststellen, ist. aber bei dem Personalaustausch mittels Flugzeugen außerstande, mit Sicherheit zu beurteilen, inwieweit beim Rücktransport Leerflüge vorgekommen sind. Daher liegt den westlichen Ländern sehr daran, zuverlässig zu erfahren, ob sich die sowjetischen Militärstärken im MBFR-Gebiet kurzzeitig verändern. Für ein etwa geplantes Vorgehen gegen Westeuropa würden sich dadurch frühestmögliche Indizien ergeben.

Während der folgenden MBFR-Verhandlungen erwies sich, von der Frage der geographischen Ausdehnung abgesehen, dieser Punkt als kontrovers. Der Vorschlag permanenter Inspektionspunkte und einer zu duldenden Luftüberwachung stieß auf heftigen Widerstand bei der UdSSR und ihren Gefolgschaftsstaaten. Nach westlichem Eindruck geht es der östlichen Seite vor allem darum, der NATO einen raschen und zuverlässigen Einblick in den jeweiligen militärischen Ist-Stand in Ostmitteleuropa zu verwehren.

Das Ringen um den Charakter des MBFR-Gebiets

Hinsichtlich der Art der Probleme, die durch MBFR gelöst werden sollten, bestand zwischen Ost und West von Anfang an ein grundlegender Unterschied. Für die NATO hat immer der Gesichtspunkt im Vordergrund gestanden, den von der UdSSR ausgehenden Druck auf Westeuropa zu verringern. Als Gegenleistung wurden — vor allem Anfang der siebziger Jahre — Abstriche von der amerikanischen Militärpräsenz auf dem europäischen Schauplatz in Aussicht genommen. Vielleicht hätte sich die sowjetische Führung auf ein entsprechendes Geben und Nehmen eingelassen, wenn es, ihren Vorstellungen folgend zu einer bilateralen amerikanisch-sowjetischen Verhandlungsführung gekommen wäre. Sie lehnte es jedoch ab, im Beisein und unter Mitsprache der kleineren Bündnismitglieder die das bilaterale Verhältnis der Weltmächte betreffenden Angelegenheiten stark in die Verhandlungen einzubeziehen. Nach ihrer Ansicht ließen sich die zweiseitigen sicherheitspolitischen Beziehungen zu den Vereinigten

Staaten besser in einem zweiseitigen Rahmen wie SALT regeln. Moskau wollte, wenn es schon eigene militärische Kapazitäten in Europa zur Disposition stellen sollte, dafür eine außerhalb des Verhältnisses zu den USA (deren konventionelle Streitkräfte auf dem europäischen Schauplatz nicht ausschlaggebend erscheinen) liegende westeuropäische Gegenleistung, vor allem eine Verringerung der Bundeswehr, erlangen.

Das sowjetische Vorgehen konfrontierte die NATO-Staaten nicht nur mit dem Ansinnen, daß sie Gebrauchsbeschränkungen der UdSSR mit Potentialbeschränkungen auf der eigenen Seite honorieren sollten, sondern warf auch ein grundsätzliches Problem auf. Das Bemühen Moskaus, mit Hilfe von MBFR-Ubereinkünften bedrohlich erscheinende militärische und politische Optionen in Westeuropa (Integration der Streitkräfte, Zusammenschluß der Staaten oder Zunahmen des westdeutschen Gewichts) auszuschließen setzte die westliche Seite einem sowjetischen Anspruch auf Mitsprache und Vetokompetenz im europäischen Teil des NATO-Gebiets aus. Das entsprach den Vorstellungen der UdSSR von „gleicher Sicherheit" mit den USA: So wie die amerikanische Weltmacht sich in ihrer Hemisphäre keiner militärischen Herausforderung gegenübersah, hatte demnach auch die UdSSR einen Anspruch auf Neutralisierung der ihr in ihrer Hemisphäre (d. h. in Europa und in Asien) begegnenden militärischen Herausforderungen. Aus sowjetischer Sicht ist die angestrebte Fähigkeit, im Kriegsfall mit einer solchen Bedrohung offensiv Schluß machen zu können, nur ein weniger guter Ersatz für die Gewähr, daß das eigene Land gar nicht erst einer militärischen Bedrohung ausgesetzt ist

Dementsprechend scheint die sowjetische Führung eine Sicherheitsordnung anzustreben, die westlich ihrer Grenzen eine Rüstungsüberwachungszone etablieren würde. Die kontinentaleuropäischen Länder, die bis jetzt außerhalb des sowjetischen Herrschaftsbereichs geblieben sind, müßten sich einem System militärischer Beschränkungen unterordnen, das der sowjetischen Führung eine Gewähr vor jeder möglichen Bedrohung verschaffen würde. Nach sowjetischer Ansicht setzt dies anscheinend voraus, daß die Beschränkungen sich ausschließlich oder zumindest mit nur geringer Ausnahme (wie bei den Vertrauensbildenden Maßnahmen der KSZE) auf nicht-sowjetische Länder beziehen.

Das würde dem Territorium der UdSSR einen privilegierten Status in Europa verleihen. Wenn die militärischen Beschränkungen überdies noch einschneidenden Charakter hätten und demzufolge Aufsichtsfunktionen von außerhalb stehenden Mächten erfordern würden, dann könnte Moskau ein Mitspracherecht (droit de regard) in dem westeuropäischen NATO-Gebiet geltend machen. Ein so kontrolliertes westliches Vorfeld wäre eine Garantie dafür, daß die Sowjetunion von Europa aus keiner militärischen Bedrohung. mehr ausgesetzt werden könnte

Der MBFR-Verhandlungsrahmen bietet für die Durchsetzung solcher Absichten einige Ansatzpunkte. Würde man nämlich nach sowjetischem Vorschlag die Reduzierungspflichten nach Einheiten und Waffen spezifizieren, dann wären damit künftig in diesen beiden Hinsichten Höchststärken — also militärische Obergrenzen, deren Einhaltung überwacht werden müßte — festgelegt. Außerdem wendet sich Moskau gegen das von der NATO geltend gemachte Prinzip der kollektiven Reduzierung innerhalb des jeweiligen Bündnisses und fordert statt dessen die Fixierung von Höchststärken für jeden einzelnen Teilnehmerstaat. Daraus ergibt sich als praktische Konsequenz, daß innerhalb des Reduzierungsgebietes das zulässige Kontingent an Einheiten und Waffen für die Teilnehmerländer jeweils einzeln fixiert werden würde. Damit sähen sich die im Reduzierungsgebiet gelegenen Staaten individuellen Abrüstungsverpflichtungen unterworfen, die, weil sie nach Verbänden und Ausrüstungen spezifiziert wären, ihre organisatorischen und bewaffnungsmäßigen militärischen Strukturen einseitig festschreiben und kontrollieren würden. Den am Abkommen beteiligten, aber hinsichtlich ihres militärischen Potentials nicht begrenzten Staaten außerhalb der Reduzierungszone fiele primär die Aufgabe zu, darüber zu wachen, daß der festgelegte Zustand bestehen bleibt. Das wäre, weil die NATO ihren gesamten Verteidigungsraum auf dem Kontinent einzubringen hätte, während beim Warschauer Pakt nur ein Vorfeld betroffen wäre, mit einer alleinigen militärischen Lähmung des Westens in Europa gleichbedeutend

Anpassungen an veränderte militärische und technische Gegebenheiten würden für den mitteleuropäischen Raum — und damit für das kontinentale Glacis der NATO insgesamt — ausgeschlossen. Das interne Kräfteverhältnis zwischen den Verbündeten ließe sich ohne die Zustimmung der anderen Seite nicht verändern. Das alles beträfe nur auf westlicher Seite die Gesamtheit des Verteidigungsgebietes. Die Funktionsfähigkeit der integrierten westeuropäischen Verteidigung ließe sich unter diesen Umständen nicht aufrechterhalten, während die UdSSR ihre militärischen Dispositionen östlich bzw. südlich der polnischen und tschechoslowakischen Grenzen weiterhin nach freiem Ermessen treffen könnte

Ein derartiges Konzept ist für die NATO-Staaten unannehmbar, weil es auf dem europäi-sehen Schauplatz zu einseitig sowjetischen Gunsten Sicherheit schaffen und ungleiche Machtverhältnisse etablieren würde. Die westeuropäischen Länder blieben bei einem derartigen Arrangement, das jede Wechselseitigkeit ausschließt, ohne Schutz und Einfluß. Das Gebot der „gleichen Sicherheit", auf das die sowjetische Führung so großen Wert legt, fände keinerlei Anwendung auf die Beziehungen der UdSSR zu Westeuropa.

Dafür hält Moskau freilich eine ideologische Rechtfertigung bereit. Demnach verändert sich das Kräfteverhältnis in der Welt gesetzmäßig zugunsten der „sozialistischen Gemeinschaft", die überall für den Frieden eintritt und niemanden bedroht. Im militärischen Bereich ist der Machtverschiebungsprozeß inzwischen schon so weit vorangeschritten, daß sich die „kapitalistischen" Staaten zunehmend an die sowjetische Politik anpassen müssen und von daher objektiv genötigt sind, auf die von der UdSSR angebotene „friedliche Koexistenz" zwischen Ost und West einzugehen. Nach dieser Darstellung gewährleistet allein die östliche Militärmacht den Frieden in Europa und anderswo und verschafft damit zugleich den Völkern Sicherheit. Somit ist die militärische Stärke auf östlicher Seite eine entscheidende Voraussetzung der Entspannung.

Daraus ergibt sich der Schluß, daß Maßnahmen zur Verstärkung der östlichen Verteidigungsfähigkeit nicht im Widerspruch zur Entspannung stehen, sondern sie im Gegenteil fördern. Westliche Verteidigungsanstrengungen dagegen, die der sowjetischen Politik entgegenwirken, haben nach Moskauer These als entspannungsfeindlich zu gelten. An diesem Punkt haben die MBFR-Verhandlungen nach sowjetischer Ansicht auch eine psychologische Funktion zu erfüllen: Die Tatsache eines Ost-West-Einvernehmens über militärische Fragen soll in der westeuropäischen Öffentlichkeit den Eindruck schaffen, daß die Sicherheit problemlos gewährleistet sei und daß daher kein Grund mehr für weitere „Aufrüstung” der NATO bestehe.

Die nukleare Dimension der Sicherheit in Europa

Die Fähigkeit der NATO, ihr europäisches Territorium unter allen Umständen gegen einen sowjetischen Angriff zu verteidigen, erscheint nicht zweifelsfrei gewährleistet. Das gilt vor allem im konventionellen Bereich. Aber auch bei den taktisch-nuklearen Waffen hat das westliche Bündnis den großen Vorsprung eingebüßt, den es früher besessen hat. In dem Maße, wie die Wirksamkeit der NATO-Verteidigung auf dem europäischen Gefechtsfeld beeinträchtigt ist, stellt sich die Frage nach weiteren Mitteln der Sicherheitswahrung. Die Antwort der westlichen Militärstrategie lautet, daß Verteidigungsdefizite durch die Fähigkeit zur Eskalation auf höhere militärische Ebenen wettgemacht werden können. Die UdSSR wird für den Fall, daß sie Westeuropa erfolgreich angreifen sollte, mit der Aussicht auf die unabsehbar schlimmen Folgen nuklearer Schläge gegen ihr eigenes Territorium konfrontiert. Das soll ihr von vornherein jede denkbare Lust an einem Angriff auf Westeuropa oder an der Androhung eines solchen nehmen bzw. sie zum Abbruch eines bereits gestarteten Angriffs veranlassen. Die politische Folge dieser „Abschreckung" ist, daß die westeuropäischen Länder von einer Lahmlegung der sowjetischen Angriffsposition ausgehen können und daher ihre Entscheidungen frei von dem Gefühl sowjetischen Drucks (das im Wissen um die militärischen Fähigkeiten der UdSSR auch bei deren Verzicht auf ausgesprochene Drohungen entstehen würde) zu treffen in der Lage sind.

Der sowjetischen Fähigkeit zur Offensive gegen Westeuropa stellt somit die NATO, da sie des Erfolgs ihrer Verteidigungsmittel auf dem Gefechtsfeld nicht sicher ist, den Hinweis auf ihre Fähigkeit zu nuklearer Eskalation entgegen. Dabei geht es vor allem um die Verhütung eines Krieges in Europa. Die sowjetische Führung soll für den Fall, daß sie sich hinreichende Chancen für einen Sieg über die NATO auf dem europäischen Schauplatz ausrechnen und daraus die Konsequenz eines offensiven militärischen Vorgehens ziehen sollte, durch die Inaussichtstellung eines für sie unannehmbaren Schadens an einem Angriff gehindert werden. Das nukleare Risiko soll ihr klarmachen, daß sie sich eine Ausnutzung ihrer militärischen Überlegenheitsmomente auf dem europäischen Gefechtsfeld unter keinen Umständen leisten kann. Das erscheint in den westlichen Hauptstädten insbesondere auch im Blick auf etwaige Krisensituationen wichtig. Würde die UdSSR trotzdem irgendwann einmal eine militärische Offensive gegen Westeuropa einleiten und hätte sie dann mit dem Bemühen um ein Niederkämpfen der westlichen Verteidigung Erfolg, dann soll die Fähigkeit zur nuklearen Eskalation der NATO dazu dienen, dem eventuellen östlichen Angreifer ein gebieterisches Halt zuzurufen, weil er andernfalls mit katastrophalen Konsequenzen zu rechnen habe. Für das westliche Bündnis hat das nukleare Instrumentarium, das ihm oberhalb der Gefechtsfeld-Ebene zur Verfügung steht, den ausschließlichen Sinn, die UdSSR absolut zu militärischer Zurückhaltung zu verpflichten.

Aus amerikanisch-atlantischer Perspektive scheint dies am besten gewährleistet, wenn die notfalls in Aussicht genommene nukleare Eskalation in angemessener Weise begrenzt ist und zugleich den potentiellen Angreifer fühlbar treffen würde. Die Kernwaffenschläge, die als Reaktion auf sowjetisches Vordringen nach Westeuropa angedroht werden, sollen daher in einem regionalen Rahmen bleiben und wesentliche Gebiete der UdSSR einbeziehen. Dabei dient die geographische Beschränkung auf Europa nach amerikanisch-atlantischer Überzeugung zugleich der Glaubwürdigkeit des Eskalationskonzepts: Die nukleare „Vergeltung" für den sowjetischen Angriff, welche die USA in Aussicht stellen, erscheint nicht unmittelbar als amerikanische Entscheidung für die Beteiligung an einem wechselseitigen Holocaust. Als weitere Eskalationsgewähr gilt, daß die nuklearen Mittel, die gegen die UdSSR eingesetzt werden sollen, auf westeuropäischem Territorium stationiert sind. Wenn nämlich sowjetische Streitkräfte gegen ihre Dislozierungsgebiete vorrücken würden, müßte die amerikanische Führung sich entweder zu deren Einsatz entschließen oder aber deren Verlust an den Gegner riskieren. Eine Politik des Hinauszögerns, wie sie hinsichtlich des Gebrauchs von anderswo bereitgehaltenen Waffen denkbar wäre, erscheint hier ausgeschlossen.

Für die NATO ist die Fähigkeit zur nuklearen Eskalation in Europa das unerläßliche Gegengewicht zu der befürchteten sowjetischen Fähigkeit zum Angriff gegen Westeuropa, weil nur sie eine zuverlässige Gewähr für einen sowjetischen Angriffsverzicht zu bieten scheint. Damit wird nicht unterstellt, daß die Führung in Moskau eine militärische Offensive plane. Es gilt vielmehr nur als nicht ausgeschlossen, daß die Männer im Kreml das mit ihrer Militärmacht verbundene Druckpotential ausnutzen oder bei einer akuten Krise des Ost-West-Verhältnisses im Verlauf wechselseitiger militärischer Vorkehrungen schließlich zum Erst-schlag übergehen könnten. Dieses Unsicherheitsmoment soll zuverlässig ausgeschaltet sein, damit die westeuropäischen Länder auch in schwierigen und kritischen Situationen von Gefahr und Nervosität frei sein können. Schließlich ist eine objektive Gewähr dafür, daß die andere Seite am Frieden festzuhalten allen Grund hat, besser als die bloße Hoffnung auf deren jederzeitiges Gefeitsein gegen die Versuchungen des Gewaltgebrauchs.

Aus sowjetischer Sicht stellt sich die Lage anders dar. Die westliche Fähigkeit zur nuklearen Eskalation in Europa erscheint als direkte Bedrohung der UdSSR — vor allem auch darum, weil ein geographischer Rahmen abgesteckt wird, der die USA im Gegensatz zur Sowjetunion nicht einbezieht. In Moskau wird immer wieder erklärt, das sei ein deutliches Indiz für amerikanische Absichten, eventuell ohne jeden Anlaß einen nuklearen Erstschlag gegen die UdSSR zu führen Die Schlußfolgerung lautet, den Amerikanern müsse die Möglichkeit hierzu genommen werden. Das aber bedeutet — unabhängig von den damit verbundenen sowjetischen Absichten — für Westeuropa, daß die Garantie, die der UdSSR das Interesse an einer etwaigen Ausnutzung der Fähigkeit zum Angriff gegen Westeuropa nimmt, wegfallen soll.

Nach sowjetischer Ansicht verträgt sich eine Lage, in der eine Weltmacht über die Fähigkeit zu regionalen Nuklearschlägen gegen die andere verfügt, ohne daß umgekehrt das Gleiche gelten würde, nicht mit den Grundsätzen „gleicher Sicherheit". Die Vereinigten Staaten, so heißt es, besäßen gegenüber der Sowjetunion ein „zweifaches Potential" (Optionen des nuklearen Schlages auf global-strategischer wie auf euro-strategischer Ebene). Die UdSSR dagegen könne die andere Weltmacht nur mit einem einzigen Potential (mit Nuklearschlägen auf global-strategischer Ebene) treffen Dabei bleibt nicht nur außer Betracht, daß die „vorne stationierten [Nuklear-jSysteme“ (forward-based Systems, sredstva peredovogo bazirovanija) der Amerikaner in Westeuropa die Funktion eines Gegengewichts zu dem be-fürchteten Angriffspotential der UdSSR auf dem europäischen Gefechtsfeld haben. Ebenso wird in Moskau ignoriert, daß die Sowjetunion über umfangreiche euro-strategische Nuklearkapazitäten gegenüber den westeuropäi-schen Ländern verfügt, von denen viele (wie z. B. die Bundesrepublik Deutschland) ohne die vorgeschobenen amerikanischen Kernwaffensysteme vielfach nicht das mindeste Äquivalent dazu besäßen.

Das sowjetische Bemühen um eine Beseitigung oder Neutralisierung der „vorne stationierten Systeme" und die Antwort der NATO

Bei SALT I und II machten die sowjetischen Vertreter immer wieder geltend, die in Westeuropa bzw. Ostasien und auf den jeweils angrenzenden Meeren stationierten amerikanischen Kernwaffen mit einer Reichweite bis in die UdSSR dürften nicht außerhalb der strategischen Gleichung bleiben. Sie seien als Teil der amerikanischen Kapazitäten zu behandeln, die gegen das global-strategische Potential der Sowjetunion aufgerechnet werden müßten. Praktisch wurde den USA auf diese Weise nahegelegt, auf ihre vorgeschobenen Nuklearsysteme (die wegen ihrer exponierten Lage relativ verwundbar sind und daher keinen allzu großen Wert für die Sicherheit des Heimatterritoriums haben) zu verzichten. Eine nuklearstrategische Entblößung West-, europas war für die NATO unannehmbar. Daher widersetzte sich die amerikanische Regierung dem sowjetischen Ansinnen. Im Herbst 1974 kamen Präsident Ford und Generalsekretär Breshnew in Wladiwostok überein, eine Regelung der Frage auf SALT III zu verschieben. Bis dahin sollten sich die Vereinigten Staaten einer „Umgehung" der bilateral ausgehandelten global-strategischen Obergrenzen enthalten. Was dies konkret bedeutete, blieb unklar

Später hat die sowjetische Seite in der Öffentlichkeit die Interpretation hinzugefügt, die „vorne stationierten Systeme" dürften nicht über den bisherigen Stand hinaus vermehrt werden. Zugleich jedoch sollte die sowjetische Handlungsfreiheit durch die Absprache nicht berührt sein. Daher war nach Moskauer These die einseitige quantitative und qualitative Verstärkung, die sich die UdSSR mit der zwei Jahre später beginnenden Umrüstung von den 1961 bzw. 1964 dislozierten Mittelstreckensystemen SS-4 und SS-5 auf den modernen Typ SS-20 zu verschaffen begann, vollauf gerechtfertigt. Das neue Trägersystem ist mit drei voneinander unabhängigen Sprengköpfen (MIRV) ausgestattet und läßt sich bis dreimal nachladen. Die Treffgenauigkeit liegt gegenüber den alten Raketen beim Sechs-bzw. Dreifachen. Die SS-20 ist überdies mobil und entzieht sich damit amerikanischer Zielplanung. Die UdSSR verbesserte ihr euro-strategisches Arsenal auch mit weiteren Maßnahmen. Dabei kommt der Einführung des schweren Bombers „Backfire" besondere Bedeutung zu.

Die sowjetische Rüstung setzt die amerikanischen Nuklearsysteme in Westeuropa, die Mittelstreckenwaffen Großbritanniens und Frankreichs sowie die taktisch-nuklearen Gefechtsfeldwaffen der NATO zunehmend dem Risiko aus, daß sie im Falle einer militärischen Auseinandersetzung mittels eines sowjetischen Erstschlages ausgeschaltet oder zumindest radikal dezimiert werden. Die euro-strategischen Sprengköpfe der UdSSR haben einen solchen Zuwachs an Zahl und Treffgenauigkeit erfahren, daß jedes nukleare Ziel in Westeuropa von ihnen zuverlässig erfaßt und mehrfach abgedeckt werden kann. Gleichzeitig stellt die zunehmend perfektionierte sowjetische Luftabwehr die Eindringfähigkeit der „vorne stationierten Systeme" in Frage. Es wird daher zweifelhaft, ob dem westlichen Konzept der Kriegsverhütung durch die Fähigkeit zu nuklearer Eskalation noch Wirksamkeit beigemessen werden kann.

Damit eröffnet sich die Aussicht, daß die UdSSR gegenüber den in Westeuropa stationierten Mittelstreckensystemen die Fähigkeit zum entwaffnenden Erstschlag gewinnt und die mit der Existenz der amerikanischen Kernwaffenträger in Europa verknüpfte westliche Option zum Kontern der sowjetischen Offensivfähigkeit auf dem Gefechtsfeld neutralisiert. Die westliche Sicherheit droht ins Schwanken zu geraten. Der NATO-Rat beauftragte daher 1977 eine Sachverständigengruppe, nach Wegen zu suchen, wie dem zu begegnen sei. Die Experten kamen zu dem Schluß, das westliche Bündnis müsse, wenn auch in begrenztem Umfange, ebenfalls eine euro-strategische Umrüstung vornehmen.

Die Entscheidung, die der NATO-Rat am 12. Dezember 1979 aufgrund des Sachverständigenvotums traf, suchte den sowjetischen Sicherheitsinteressen in größtmöglichem Umfange zu entsprechen. Die Zahl der Raketen und Sprengköpfe vom Typ „Pershing IT, der denkbarerweise als Erstschlagswaffe gegen die UdSSR dienen kann, wurde auf 108 begrenzt. Mit diesem geringen Potential läßt sich ein nuklearer Überfall gegen die Sowjetunion nicht durchführen, weil er von vornherein keine Chance zur Ausschaltung eines irgendwie bedeutsamen Teils der sowjetischen Mittelsteckenwaffen hätte und daher nur Vergeltungsschläge von Seiten eines euro-strate-, gisch um ein Vielfaches überlegenen Gegners provozieren würde. Das Hauptgewicht legte die NATO auf die Beschaffung und Stationierung landgestützter Marschflugkörper (crUise missiles).

Davon wurden 464 vorgesehen. Dieses Waffensystem eignet sich wegen seiner relativ langen Flugzeiten nicht für Erstschläge: In der Zeit, die vom Abschuß bis zum Eintreffen am Zielort vergeht, könnte der angegriffene Gegner ohne Schwierigkeit seine Vergeltungswaffen bereitmachen und abfeuern. Daher kommen die Marschflugkörper nur als Zweitschlagswaffe in Betracht, mit der die NATO auf einen vorher erfolgten sowjetischen Ersteinsatz antworten würde. Zurückhaltung suchte die NATO auch bei ihrer Reichweitenfestlegung zu demonstrieren. Die neuen Mittelstreckenträger erfassen zwar wichtige industrielle und administrative Zentren der Sowjetunion einschließlich der Hauptstadt Moskau, können aber nicht die großenteils weiter östlich gelegenen Dislozierungsgebiete der sowjetischen Mittelstrekkensysteme abdecken. Alles in allem wurde die Hauptvoraussetzung für einen eventuellen Erstschlag, die Fähigkeit zum Unschädlichmachen der entsprechenden nuklearstrategischen Mittel auf Seiten des Gegners, bewußt außer acht gelassen. Für eine Kriegführung in dem regional begrenzten Rahmen Europas sind die zur Nachrüstung vorgesehenen euro-strategischen Systeme der NATO nicht nur wegen ihrer Merkmale ungeeignet. Auch der zahlenmäßige Umfang ist nicht darauf eingerichtet, ein europäisches Kernwaffenduell mit der UdSSR unter irgendeinem Gesichtspunkt sinnvoll erscheinen zu lassen. In einem solchen Fall würde die sowjetische Seite jede ihr interessant erscheinende Ziele in Westeuropa mehrfach abdecken und daher mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ausschalten können. Das westliche Bündnis dagegen befände sich — nach amtlichen Vorausschätzungen für das euro-strategische Kräfteverhältnis (gerechnet in Sprengköpfen) — nach dem Ende der sowjetischen Vor-und der atlantischen Nachrüstung noch immer in einer 3, 5fachen numerischen Unterlegenheit, so daß es von vornherein allein wegen mangelnder Masse nicht die mindeste Chance hätte, die gegnerische Kernwaffendrohung zu beseitigen oder auch nur wesentlich zu verringern (und zwar selbst dann nicht, wenn das Kunststück gelänge, die mobilen sowjetischen Systeme zu orten und, soweit überhaupt erreichbar, mit einem Schuß zu erledigen — was so gut wie unmöglich ist).

Trotzdem sah sich die sowjetische Führung durch die Aussicht auf euro-strategische Modernisierung der NATO alarmiert. Ihre Hoffnung, die Wirksamkeit der „vorne stationierten Systeme“ in Westeuropa ausschalten zu können, hatte vor allem auf zweierlei beruht. Zum einen waren die Nuklearsysteme der NATO durch die zunehmenden sowjetischen Kapazitäten zur euro-strategischen Offensive in eine Lage immer größerer Verwundbarkeit geraten (Möglichkeit der ihrem Einsatz vorausgehenden Ausschaltung mittels eines sowjetischen Erstschlags). Zum anderen verloren die „vorne stationierten Systeme“ fortschreitend ihren Wert als Mittel des Angriffs gegen die UdSSR: Die Nuklearbomber der USA hatten wegen der laufend verbesserten sowjetischen Luftabwehr immer weniger Eindringchancen. Genau an diesen beiden Punkten suchte die NATO mit ihrem Beschluß vom 12. Dezember 1979 Abhilfe zu schaffen. Die Verwundbarkeit der neuen Systeme wurde durch Mobilität eingeschränkt. Zugleich wurde eine Eindringfähigkeit vorgesehen, der die UdSSR keine erfolgversprechende Abwehr entgegenzusetzen hatte. Sowohl die schnelle ballistische Rakete „Pershing II" als auch die zwar langsamen, aber durch Ortungssysteme so gut wie nicht zu erfassenden Marschflugkörper würden bei ihrem Flug ins Zielgebiet kaum aufzuhalten sein. Die sowjetische Führung sah sich daher mit der Aussicht konfrontiert, daß die Verwirklichung des NATO-Beschlusses vorn 12. Dezember 1979 die erfolgreich begonnene Neutralisierung der amerikanischen Nuklear-systeme in Europa durchkreuzen werde.

Auseinandersetzungen um die euro-strategische Nachrüstung im Westen

Die Leiter der sowjetischen Politik sahen eine intensive Propagandakampagne, verbunden mit einem Angebot zu Verhandlungen, als das geeignete Mittel an, um dies abzuwenden. In Moskau setzte sich dabei die Ansicht durch, daß der westlichen Seite kein Stopp beim Aufbau der SS-20 anzubieten sei. Daher machte Breshnew in seiner Ost-Berliner Rede vom 6. Oktober 1979 den Westmächten nur das symbolische Zugeständnis eines 20 000-Mann-Abzugs aus der DDR. Er forderte zu sofortigen Ost-West-Verhandlungen auf. Wenn die NATO auf ihr Vorhaben verzichte, könne über eine Beschränkung der sowjetischen Mittelstreckensysteme gesprochen werden

Der sowjetischen Position lag augenscheinlich die Einschätzung zugrunde, es komme entscheidend darauf an, daß die NATO den von der UdSSR vollzogenen euro-strategischen Qualitätssprung (namentlich durch die Einführung der SS-20 und des „Backfire“) nicht nachvollziehe. Wenn der sowjetischen Seite das Monopol überlegener Qualität verbleibe, könne sie unbesorgt quantitative Zugeständnisse machen. Diese Ansicht stimmt mit den Ergebnissen einer Studie überein, die Klaus-Peter Stratmann kürzlich vorgelegt hat. Danach hängt die westliche Eskalationsfähigkeit, deren Gewährleistung die „vorne stationierten Systeme" in Westeuropa dienen sollen, nicht von einem bestimmten euro-strategischen Zahlenverhältnis, sondern allein von einem qualitativ gleichartigen Niveau auf beiden Seiten ab Die fehlende sowjetische Bereitschaft zu einem SS-20-Moratorium machte überdies deutlich, daß die sowjetische Führung in künftige Verhandlungen mit einem möglichst großen Überhang an qualitativ überlegenen Mittelstreckensystemen gehen wollte.

Die westlichen Regierungen hielten einen Verzicht auf das Vorhaben einer euro-strategisehen Modernisierung für unzumutbar, zumal wenn die UdSSR gleichzeitig weiterrüstete. Sie fürchteten, daß der sowjetische Qualitätsvorsprung und dessen ständige Ausweitung sie bei Verhandlungen einem einseitigen Druck aussetzen würde, wenn sie ihre Modernisierungsoption preisgäben und damit dem sowjetischen Partner das von ihm gesuchte Zugeständnis bereits gemacht hätten. Darüber hinaus neigten sie zunehmend der Ansicht zu, daß ein vollständiger euro-strategischer Modernisierungsverzicht auf westlicher Seite nur in dem wenig wahrscheinlichen Fall in Frage komme, daß die andere Seite ihre modernisierten Kapazitäten völlig abbaue. Andernfalls könne man sich nur über wechselseitige Begrenzungen bei den modernisierten Systemen verständigen.

Parität nicht in quantitativer, wohl aber in qualitativer Hinsicht schien notwendig, um die westliche Fähigkeit zur nuklearen Eskalation in Europa aufrechtzuerhalten und so das Gegengewicht gegen die sowjetischen Offensiv-kapazitäten auf dem europäischen Gefechts-feld zu wahren. Aus solchen Überlegungen entstand das Doppelprogramm der NATO vom 12. Dezember 1979, das sowohl eine euro-strategische Modernisierung als auch Verhandlungen über eine Beschränkung der euro-strategischen Rüstungen vorsah.

Die sowjetische Propaganda stellte den NATO-Beschluß als eine auf einseitige Aufrüstung gerichtete Maßnahme hin, die einem amerikanischen Streben nach militärischer Überlegenheit diene. Die Führung in Moskau ließ wissen, daß an Verhandlungen nicht zu denken sei, solange die NATO ihr Votum für die euro-strategische Modernisierung nicht widerrufe. Sie bemühte sich in der Folgezeit darum, in den westeuropäischen Ländern eine möglichst wirkungsvolle Opposition gegen den NATO-Beschluß zu mobilisieren und in das amerikanisch-westeuropäische Verhältnis auf alle mögliche Weise Zwist hineinzutragen. Damit erzielte sie jedoch keinen politischen Durchbruch. Das veranlaßte sie dazu, ihren Kurs abzuändern.

In den Moskauer Gesprächen mit Bundeskanzler Schmidt vom 30. Juni und 1. Juli 1980 hielt die sowjetische Führung grundsätzlich daran fest, daß Verhandlungen, die auf die Mittelstreckenraketen beschränkt seien und daher raschestmöglichen Erfolg versprächen, nur nach einer Aufhebung des NATO-Beschlusses in Frage kämen. Wenn aber die westliche Seite zu dem verlangten Entgegenkommen nicht bereit sei, könne statt dessen die gesamte euro-strategische Problematik im Rahmen von SALT III aufgerollt werden. Dann müßten freilich „in organischem Zusammenhang" mit den Raketen auch alle „vorne stationierten Systeme" behandelt werden. Der Antwort auf Schmidts Frage, ob die UdSSR einer Einbeziehung auch ihrer entsprechenden Träger zustimmen würde, wich Breshnew aus. Die Führer der UdSSR waren jedoch willens, die SALT III-Gespräche schon vor der noch ausstehenden Ratifizierung des SALT II-Vertrages durch den amerikanischen Senat zu beginnen. Eine Übereinkunft könne freilich erst dann Wirklichkeit werden, wenn zuvor die Bestimmungen von SALT II in Kraft getreten seien

Ende September 1980 verabredeten die Außenminister Muskie und Gromyko, einem NATO-Vorschlag folgend, amerikanisch-sowjetische Vorgespräche. Die Beauftragten beider Seiten trafen sich zwischen dem 13. Oktober und dem 17. November 1980 in Genf. Dabei kam es zu keinem Einvernehmen über die Verhandlungsgegenstände. Die Amerikaner strebten ein Abkommen allein über die Mittelstreckenraketen an. Presseberichten zufolge plädierten sie dabei für eine Obergrenze von je 600 Sprengköpfen. Demgegenüber wollte die sowjetische Seite über alle Systeme einschließlich der nuklearfähigen Bomber sprechen und von vornherein jede Stationierung der im Dezember 1979 geplanten neuen Trägerwaffen der NATO verhindern.

Der Meinungsverschiedenheiten ungeachtet, zeigte sich Moskau befriedigt darüber, daß der Dialog überhaupt in Gang gekommen war. Das sowjetische Interesse an Verhandlungen trat auch nach der Wahl Ronald Reagans zum neuen amerikanischen Präsidenten deutlich hervor. Während der ganzen Zeit lief die sowjetische Propagandakampagne gegen die euro-strategische „Nachrüstung" weiter und suchte die westeuropäische Öffentlichkeit gegen die von der NATO abgesteckte Linie und gegen die amerikanische Führungsmacht zu beeinflussen.

Auf dem XXVI. KPdSU-Parteitag machte Generalsekretär Breshnew am 23. Februar 1981 den Vorschlag, UdSSR und NATO sollten ihre euro-strategischen Systeme in quantitativer und qualitativer Hinsicht auf dem bestehenden Stand einfrieren und auf dieser Basis in Verhandlungen über eine Begrenzung ihrer euro-strategischen Rüstungen eintreten. Das Moratorium solle in Kraft treten, sobald die Verhandlungen begonnen hätten. Der sowjetische Parteichef ging damit auf eine Anregung ein, die Bundeskanzler Schmidt im Herbst 1979 geäußert hatte und die damals in Moskau auf taube Ohren gestoßen war. Nach Ansicht vieler Beobachter hätte ein sowjetisches Eingehen auf den Moratoriumsgedanken zum damaligen Zeitpunkt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Bildung harter Fronten in der Nachrüstungsfrage verhindert und Möglichkeiten für einen raschen Ost-West-Dialog eröffnet.

Eineinhalb Jahre später hatten sich die Geschehnisse, wie man auch in Moskau außerhalb des propagandistischen Kontextes wußte, längst über diesen Punkt hinaus entwickelt. Die UdSSR hatte seither ihre euro-strategische Vorrüstung über das bis 1979 beobachtete Maß hinaus gesteigert und besaß beispielsweise Anfang 1981 ca. 220 SS-20 statt der knapp 140 am Vorabend des westlichen Nachrüstungsbeschlusses. Die NATO hatte zudem festgestellt, daß 1980 nicht mehr, wie zuvor üblich, die durch die SS-20 ersetzten alten Systeme SS-4 und SS-5 demontiert worden waren. Angesichts dieser vermehrten sowjetischen Rüstungen waren die Hoffnungen auf eine auszuhandelnde wechselseitige „Null-Lösung", wie sie 1979 noch in den westlichen Ländern bestanden hatten, verflogen. Ein Ja zu Breshnews Moratoriumsvorschlag hätte unter diesen Umständen für die NATO bedeutet, sich auf die Hinnahme eines euro-strategisehen Modernitäts-und Effizienzmonopols der UdSSR — bei fortdauerndem Vorhandensein substantieller Quantitäten auf sowjetischer Seite — einzurichten. Dazu aber waren die westlichen Regierungen weniger denn je bereit.

Konsequenzen bei den MBFR-Verhandlungen

Im Dezember 1975 hatten die NATO-Staaten bei den MBFR-Verhandlungen der Sowjetunion ihre Paritätsforderung dadurch schmackhaft zu machen gesucht, daß sie ihr als einmalige Draufgabe den Abzug von 1 000 amerikanischen Kernsprengköpfen und der zugehörigen Träger, insbesondere 54 nuklear-fähiger F-4-Flugzeuge und 36 „Pershing-I" -Raketen, anboten. Dieses Anerbieten ließ sich auf das Argument stützen, daß die nuklearen Kapazitäten der NATO-Verteidigung nach sowjetischer Darstellung ebensosehr eine offensive Bedrohung darstellen, wie umgekehrt die sowjetische Panzerwaffe die Sicherheit Westeuropas gefährdet. Selektive Reduzierungen der jeweils von der anderen Seite als bedrohlich angesehenen Systeme könnten, so meinte man im Westen vielfach, eine Wechselseitigkeit des Interesses an einer MBFRübereinkunft herstellen.

Die sowjetische Führung war denn auch nicht abgeneigt, das von der NATO offerierte Zugeständnis entgegenzunehmen. Sie war jedoch nicht bereit, den dafür geforderten Preis zu zahlen. Ihr äußerstes Gegenangebot, das sie am 8. Juni 1978 unterbreitete, sah statt des Rückzugs einer geschlossenen Panzerarmee mit fünf Divisionen nur eine Rückverlegung von zwei Panzerdivisionen und einiger kleinerer Verbände vor.

Das NATO-Angebot war zu einer Zeit gemacht worden, als die westliche Fähigkeit zur nuklearen Eskalation in Europa noch keinem Zweifel unterlag und allgemein von einer großen taktisch-nuklearen Überlegenheit auf westlicher Seite ausgegangen wurde. Daher schien es unbedenklich zu sein, daß sich mit dem Angebot der Zurückziehung von Kernwaffenelementen für das westliche Bündnis die Konsequenz einer einseitig festgelegten nuklearen Höchststärke verband. Die Atlantische Allianz verfügte nach allgemeiner Auffassung über einen solchen Überhang bei den taktischen Kernwaffen und über eine so solide Eskalationsfähigkeit, daß zu irgendwelchen Sorgen kein Anlaß bestand. Niemand sah voraus, daß sowjetische Anstrengungen dieses Bild drastisch verändern würden.

Ende der siebziger Jahre wurde klar, daß die NATO in Europa vor der Gefahr einer völligen nuklearen Unterlegenheit stand. In Washington, Bonn, London und anderen westlichen Hauptstädten sah man zunehmend die Notwendigkeit, den von der UdSSR erreichten Vorsprung bei den euro-strategischen Rüstungen zwar nicht quantitativ, wohl aber qualitativ aufzuholen. Die Überlegungen sahen keine mengenmäßige Zunahme des Nuklearpotentials auf dem europäischen Schauplatz vor. Da man jedoch nicht wissen konnte, wie weit die UdSSR ihren euro-strategischen Aufbau vorantreiben werde und ob das westliche Bündnis dem nicht zu irgendeinem Zeitpunkt die Option eines größeren Mengenaufwuchses dämpfend entgegesetzen müsse, schien eine vertragliche fixierte Obergrenze nicht mehr annehmbar.

Das Ergebnis dieser Überlegungen war, daß die NATO am 12. Dezember 1979 einseitig auf 1 000 Kernsprengköpfe — freilich ohne zugehörige Träger — verzichtete. Mit dem reduzierten Sprengkopfniveau gedachte das westliche Bündnis unter den vorhersehbaren künftigen Bedingungen auszukommen. Für den Fall jedoch, daß die UdSSR ihre euro-strategische Aufrüstung über lange Zeit unbegrenzt fortsetzen sollte, war es von einer entsprechenden Verpflichtung gegenüber der östlichen Seite frei. Es würde daher in der Lage sein, die Option einer eventuellen Sprengkopfvermehrung in Verhandlungen auszuspielen, um der Sowjetunion die Einhaltung bestimmter Grenzen nahezulegen.

Das westliche Konzept der kriegsverhütenden Abschreckung

Die entscheidende sicherheitspolitische Frage hoben wird. Nach sowjetischer These kommt in Europa lautet, ob das sowjetische Übergewicht darauf an, dieses westliche Gegengewicht auf dem europäischen Gefechtsfeld, das als einen Faktor der Friedensbedrohung auszuschalten. UdSSR möglicherweise die Fähigkeit zum Die Rüstungs-wie Verhandlungs'nach Westeuropa einräumt, auch weiterhin anstrengungen Moskaus sind auf dieses Ziel durch eine westliche Fähigkeit zur nuklearen Bei MBFR hat sich die sowjetische Eskalation gekontert und damit aufge- Seite als unwillig erwiesen, bei den sie militärisch begünstigenden Faktoren und Tendenzen ernstliche Einschränkungen zu akzeptieren. Würde es Moskau überdies gelingen, das gegenwärtige Qualitätsmoncpol bei den euro-strategischen Rüstungen zu halten und zu festigen, könnte in absehbarer Zeit von einem Verhältnis vergleichbarer oder ähnlicher Sicherheit zwischen Westeuropa und der Sowjetunion keine Rede mehr sein. Daher konzentriert sich das Bemühen der NATO weithin darauf, durch eine quantitativ eng begrenzte euro-strategische „Nachrüstung" eine Wiederherstellung der qualitativen nuklearen Parität in Europa herbeizuführen. Das Ziel dabei ist, die UdSSR an einer Ausnutzung der Vorteile zu hindern, die sie auf dem europäischen Gefechtsfeld für sich verbuchen kann, und auf diese Weise den Zustand wechselseitig gewährleisteter Sicherheit zu erhalten, der bisher zwischen den westeuropäischen Staaten und der Sowjetunion eine Beziehungsstruktur gemeinsamer Friedenswahrung und wechselseitiger Interessenrespektierung geschaffen hat In Frage steht die Kriegsverhütung auf dem europäischen Kontinent mittels wechselseitiger . Abschreckung“ oder „dissuasion" (wie die Franzosen formulieren). Danach darf keine Option der Bedrohung, d. h. keine der jeweils anderen Seite bedrohlich erscheinende Handlungsmöglichkeit, ungekontert bleiben. Dementsprechend muß die sowjetische Option der Offensive auf dem europäischen Gefechtsfeld gekontert werden durch eine amerikanisch-atlantische Option selektiver Nuklearschläge gegen die UdSSR. Diese Bedrohungsoption des Westens unterliegt ihrerseits einer doppelten Konterung seitens der Sowjetunion: Nicht nur für die westeuropäischen Staaten, sondern auch für die USA sind Zerstörung und mögliche Eroberung Westeuropas auf jeden Fall ein unannehmbarer Preis für eine Schwächung und eventuelle Desorganisation der östlichen Supermacht; die euro-strategischen Vergeltungsmöglichkeiten der UdSSR übersteigen mit Sicherheit auch nach einer Verwirklichung des westlichen Nachrüstungsprogramms den auf sowjetischem Gebiet anrichtbaren Schaden bei weitem

Als Methode des Konterns setzt die NATO das Risiko ein. Der Krieg wird verhütet, indem diejenige Seite, die zu militärischen Handlungen überginge, sofort mit der Perspektive eines für sie völlig unannehmbaren Schadens konfrontiert würde. Diese Methode verspricht nur dann wirksam zu sein, wenn sie alle an der Entscheidung über Krieg und Frieden Beteiligten einbezieht. Das heißt in Europa, daß die Unannehmbarkeit des im Kriegsfälle drohenden Schadens nicht nur für die Westeuropäer, sondern auch für die UdSSR bestehen muß. Solange sich die militärische Auseinandersetzung, die auf dem europäischen Schauplatz ausbrechen könnte, von vornherein auf das Gefechtsfeld beschränken würde, wäre davon keine Rede: In dem für die westliche Seite günstigsten Falle hielte die NATO-Vorneverteidigung dem östlichen Druck stand; sowjetische Kampferfolge dagegen böten Moskau die Chance einer risikolosen Machtausdehnung über ganz Europa. Nur die Existenz einer kontinentweit wirkenden Vergeltungswaffe auf westlicher Seite schafft eine Situation, die das im Kriegsfälle drohende Risiko auch auf die Sowjetunion erstreckt — und damit die Gleichheit der Sicherheitsbedingungen in Europa herstellt.

Dagegen wendet sich in der westlichen Öffentlichkeit die kritische Frage, ob denn die Option der sowjetischen Führung, einen erfolgversprechenden Krieg gegen Westeuropa auf dem Gefechtsfeld einleiten könne, nicht auch mit dem Hinweis auf die global-strategische Vergeltungsmacht der USA durchkreuzen lasse. Dieses Argument machen auch die Kader des Moskauer ZK-Apparats, die für die Einflußnahme auf die öffentliche Meinung des Westens zuständig sind, geltend, um der NATO die Notwendigkeit zu einer euro-strategischen Nachrüstung zu bestreiten Die sowjetische Führung freilich folgt ihrerseits einer anderen Maxime: Sie legt in ihrer Rüstungspolitik größten Wert darauf, für militärische Auseinandersetzungen in jedem geographischen und waffenmäßigen Teilbereich gewappnet zu sein, und sieht damit den bloßen Rückgriff auf global-strategische Abschrekkungskapazitäten als etwas an, das keine ausreichende Rückversicherung darstellt.

Auch die Verantwortlichen des westlichen Bündnisses glauben, daß sie nicht allein auf ein Abschreckungsverhältnis im global-strategischen Bereich bauen können. Der Grund dafür sind sicherheitspolitische Veränderungen, die seit den fünfziger Jahren eingetreten sind. Die Relation der Bedrohungsoptionen zwischen den USA und der UdSSR hat sich verschoben. Das bedingt eine veränderte Funktionsweise der kriegsverhütenden Abschrekkung. Art und Ausmaß des seitherigen Wandels sind im Westen umstritten. Skeptiker leugnen mittlerweile überhaupt, daß die Vereinigten Staaten mit ihren global-strategischen Kapazitäten die Sowjetunion von einem Krieg auf dem europäischen Schauplatz wirksam abschrecken können. So fragt Carl Friedrich von Weizsäcker, wer werde es „wagen, die strategische Nuklearwaffe im Ernst auch gegen eine begrenzte Kriegshandlung einzusetzen". Das festgelegte „Gleichgewicht der strategischen Kernwaffen" führe dazu, „daß diese Waffen sich gegenseitig nur von ihrem eigenen Einsatz abschrecken". Daher stehe das global-strategische Potential der NATO „nicht mehr glaubwürdig zur Verfügung". Als Folge dieses Zustandes betrachtet Carl Friedrich von Weizsäcker „die nicht abreißende Kette von lokalen Kriegen, die freilich bisher auf die Dritte Welt beschränkt geblieben sind"

Der These, daß die global-strategische Parität eine wechselseitige Selbstabschreckung nach sich ziehe und daher die Wahrnehmung von Abschreckungsfunktionen für untere militärische Ebenen von vornherein ausschließe, liegt eine doppelte Vorausannahme zugrunde.

Zum einen wird dem Zustand einer global-strategischen Überlegenheit die Folge zugeschrieben, daß die begünstigte Seite nach einseitigem Gutdünken über die zentralen Abschreckungsmittel verfügen und daher risikolos Vergeltungsdrohungen aussprechen können. Das ist zu optimistisch. Dazu sind die USA nur so lange imstande gewesen, wie sie Nuklearschläge in Aussicht stellen konnten, ohne ihrerseits überhaupt eine nukleare Vergeltung für ihr Territorium befürchten zu müssen. Seit sie nur noch ein — lange Zeit freilich sehr massives — global-strategisches Übergewicht besaßen, mußten sie beim Aussprechen von Abschreckungsdrohungen bereits mit unvorstellbar großen und daher nicht mehr annehmbaren Verwüstungen im eigenen Land rechnen, falls die Abschreckung versagen und der Krieg ausbrechen sollte.

Zum anderen nimmt ein Zustand global-strategischer Parität den Vereinigten Staaten keineswegs alle Mittel, die Sowjetunion — sofern dies notwendig werden sollte — zu militärischer Zurückhaltung in anderen Bereichen zu nötigen. An diesem Punkt ist die Annahme der Kritiker zu pessimistisch. Wenn die amerikanische Führung glaubhaft machen kann, daß sie ein bedrohtes vitales Interesse (als solches kann die global entscheidende Verbindung mit Westeuropa gelten) nicht anders zu verteidigen vermag, erscheint ein voller politischer und militärischer Einsatz überzeugend. In diesem Falle jedoch ist es an der sowjetischen Seite, die Konsequenzen eines eventuellen nuklearen Zusammenstoßes zu bedenken: Die USA haben auch bei einem paritätischen, ja sogar einem unterlegenen global-strategischen Potential die Möglichkeit, dem sowjetischen Territorium unvorstellbaren und daher nicht mehr annehmbaren Schaden zuzufügen.

Dies gilt freilich nur unter der Voraussetzung, daß die amerikanischen Vergeltungswaffen gegen eventuelle vorwegnehmende Entwaffnungsschläge gefeit sind, d. h., daß die Zweischlagsfähigkeit der USA unter allen vorhersehbaren Bedingungen gewährleistet ist. Neuere Studien unter sozialpsychologischen und kybernetischen Fragestellungen haben ergeben, daß —vor allem wegen des bei einem global-strategischen Konflikts zu erwartenden Schadensausmaßes — die Staatsführungen zu äußerster Vorsicht neigen und daher auf eine auch nur relativ geringe Konfliktwahrscheinlichkeit abwehrend reagieren

Die euro-strategische Nachrüstung als wesentliches Element kriegsverhütender Abschreckung

Die gleiche Vorsicht, welche die Verantwortlichen vor einer nur kleinen Wahrscheinlichkeit nuklearer Auseinandersetzung zurückschrecken läßt, macht sie auch unwillig dagegen, eine begrenzte militärische Bedrohung (wie etwa einen konventionellen Angriff auf dem europäischen Gefechtsfeld) sogleich mit der Androhung einer totalen Katastrophe (d. h.der Inaussichtnahme eines global-strategischen Schlagabtauschs für den Fall der Verwirklichung oder Fortsetzung der regionalen Bedrohung seitens des Gegners) zu beantworten. Das erschienene disproportioniert und daher unglaubwürdig. In dieser Sicht kann die Abschreckung nicht in einer Maximalfähigkeit bestehen, die entweder geltend gemacht oder nicht geltend gemacht wird. Statt dessen soll sich Abschreckung als ein gradueller, der jeweiligen Bedrohungssituation entsprechender Prozeß vollziehen. Dazu bedarf es eines lückenlosen Instrumentariums, das die verschiedenen abgestuften Abschreckungsfähigkeiten, die den jeweiligen Erfordernissen angemessen sind, bereitstellt. Mittels solcher Gradualisierung sollen die gegnerischen Friedensbedrohungen, wo immer sie auftreten, eine proportionale Reaktion finden. Das bedeutet freilich nicht, daß ein Rückgriff auf höhere Ebenen der Abschreckung ausgeschlossen würde, falls sich dies als notwendig erweisen sollte.

Die USA und die NATO haben sich, seit sie in den sechziger Jahren das Konzept der „massiven Vergeltung" zugunsten einer „flexiblen Erwiderung" aufgegeben haben, ausdrücklich auf eine graduelle Abschreckung festgelegt. Eventuellen sowjetischen Friedensbedrohungen soll nicht durch die sofortige Inaussichtnahme eines weltumspannenden und allvernichtenden Krieges entgegengewirkt werden. Die kriegsverhütende Gegenandrohung wird vielmehr in einzelne Schritte unterteilt, mit denen die NATO zunächst nur begrenzt reagiert und dabei der anderen Seite den „Schwarzen Peter” weiterer Eskalation zuschiebt. Wenn ein sowjetischer Angriff das westeuropäische Territorium bedrohen würde, hätte als Antwort eine Androhung „selektiver Schläge" mit Kernwaffen zu erfolgen (wobei die amerikanische Führung sich offenhält, welche Reichweiten eingesetzt werden würden und inwieweit in Westeuropa und/oder in Nordamerika stationierte Systeme zum Einsatz kämen). Dadurch würden die Verantwortlichen in Moskau vor die Wahl gestellt, entweder von der konventionell-militärischen Bedrohung Westeuropas abzulassen oder aber eine gefährliche Eskalation des Kriegsgeschehens in Kauf zu nehmen. Ein analoger Vorgang würde sich auf höherer Ebene wiederholen, wenn die Bedrohung auf diese Weise nicht abgewendet werden könnte.

Die Logik der westlichen Abschreckungspolitik läuft darauf hinaus, daß die sowjetische Seite auf jeder Stufe vor die Entscheidung gestellt wird, daß sie entweder ihre militärische Aktion einstellen bzw. westliche Eskalationsschläge hinnehmen muß oder aber die kriegerische Auseinandersetzung auf eine gefährlich gesteigerte höhere Ebene zu verlagern gezwungen ist. Das bedeutet praktisch eine Wahl zwischen Verzicht auf den angestrebten Erfolg und Näherbringen einer totalen Kriegs-katastrophe. Dabei würde jeder Eskalationsschritt es fraglicher machen, ob es auf dem Weg zum global-strategischen Zusammenstoß noch ein Halten geben kann. Dieses westliche Konzept der „flexiblen Erwiderung" bezweckt, der sowjetischen Seite zu demonstrieren, daß sie, wenn sie nicht früher oder später auf die militärische Bedrohung Westeuropas verzichtet, unausweichlich eine Eskalation bis zum wechselseitig bitteren Ende herbeiführt.

Diese Form der Abschreckung operiert also genauso wie das Konzept der „massiven Vergeltung" letztlich mit der Perspektive der möglichen Eskalation auf die global-strategische Ebene. Im Unterschied zu diesem jedoch schaltet sie „Pausen" ein, die dem Gegener, falls er als militärischer Bedroher auftreten sollte, auf mehreren Stufen hintereinander die Entscheidung für oder gegen ein Weitergehen ermöglichen und aufnötigen. Dabei ist es wichtig, daß die „selektiven Schläge", die als erste Eskalationsstufe vorgesehen sind, nicht von vornherein ihren Herkunfts-und Zielorten nach auf die europäische Region festgelegt sind. Das entspricht dem Dislozierungsmuster bei der euro-strategischen Nachrüstung, das die selbständige Führung eines Kernwaffen-krieges in Europa nicht zuläßt.

Das westliche Konzept einer abgestuften Kriegsverhütungsstrategie setzt voraus, daß Kapazitäten der nuklearen Eskalation unterhalb der global-strategischen Ebene vorhanden sind. Funktionsfähigen euro-strategischen Systemen kommt dabei große Wichtigkeit zu. Die Entscheidung der NATO, sich nicht allein auf das global-strategische Abschreckungspotential zu verlassen, hat jedoch noch weitere Gründe. Die Fähigkeit, gegenüber der UdSSR auf Kriegsverhütung zu bestehen, soll durch möglichst vielfältige Mittel gewährleistet werden. Je unterschiedlicher das westliche Instrumentarium ist, desto schwerer kann die sowjetische Führung dessen abschreckende Wirkungen vorausberechnen, kontrollieren und gegebenenfalls ausschalten. Jedes einzelne Mittel bedarf einer anderen Neutralisierungsstrategie. Vielerlei Instrumente zugleich verläßlich zu kalkulieren und zu entschärfen, ist auch unter günstigen Voraussetzungen ein Ding der Unmöglichkeit.

Wenn die Verantwortlichen der NATO ein möglichst vielgestaltiges Abschreckungspotential anstreben, handeln sie wie ein Kaufmann, der sein Geschäft nicht auf eine einzige Karte setzt, sondern die Risiken zu verteilen sucht. Die Analogie sollte freilich einen sehr wesentlichen Unterschied nicht verdecken: Das Risiko, das ein Kaufmann in einem seiner Tätigkeitsbereiche eingeht, betrifft den dort eingesetzten Teil seines Vermögens; die NATO dagegen sieht sich der militärischen Bedrohung, die sie abwenden möchte, erst dann ausgesetzt, wenn die Risiken in den verschiedenen Bereichen gleichzeitig durchschlagen. Die sicherheitspolitische Diversifikation wirkt sich also dahin gehend aus, daß jedes Abschreckungselement eine zusätzliche Gewähr für das Gelingen der Kriegsverhütung insgesamt bietet.

Die Stationierung effizienter euro-strategischer Systeme in Westeuropa würde in besonderem Maße dazu beitragen, eine sowjetische Entscheidung für kriegerische Aktionen gegen die NATO zu erschweren. Das westliche Bündnis hätte auf dem europäischen Gefechtsfeld Kernwaffen zu seiner Verfügung, die nicht auf kurze Reichweiten beschränkt wären und auch kaum durch konventionelle Angriffsmittel ausgeschaltet werden könnten. Die sowjetische Führung müßte daher, wenn sie gegen Westeuropa Krieg führen wollte, zugleich eine Entscheidung darüber treffen, ob sie ihren Angriff mit einem nuklearen Erst-schlag einleiten oder ob sie das Risiko eines ihrer Operationen in der Tiefe bedrohenden westlichen Kernwaffengegenschlages eingehen will. Entschlösse sie sich dann für einen nuklearen Vorwegnahme-Schlag, wäre sie mit kaum zu bewältigenden Problemen konfrontiert. Sie könnte kaum mit der Möglichkeit eines hinreichend erfolgreichen Entwaffnungsschlages gegen die Kernwaffensysteme in Westeuropa rechnen. Daraus würden sich zusätzliche Erfolgsrisiken auf dem europäischen Gefechtsfeld (Einsatz amerikanischer Kernwaffen gegen im Hinterland bereitgestellte Verstärkungen) ergeben. Der erstrebte militärische Zweck würde also verfehlt. Zugleich würden in dem zur Eroberung vorgesehenen westeuropäischen Gebiet Verwüstungen in einem Ausmaß angerichtet, das die dort zu errichtende politische und wirtschaftliche Kontrolle aller Voraussicht nach gegenstandslos machen würde. Damit würde auch der Angestrebte politische Zweck unerreichbar werden

Bisher liegt der nukleare Abschreckungsschutz für Westeuropa bei den landgestützten „Minuteman" -Raketen, die in den USA stationiert sind. Durch sie würden wahrscheinlich die „selektiven Schläge" geführt werden, welche die westliche Seite bei einer Gefährdung des NATO-Verteidigungssystems androhen und notfalls gegen den östlichen Aufmarsch anwenden würde. Das damit Verbundene Risiko ist jedoch für die UdSSR zunehmend berechen- und beherrschbar geworden. Das „Minuteman' -System ist gegenüber einem möglichen sowjetischen Erstschlag zunehmend verwundbar geworden. Dies könnte die amerikanische Führung unter Umständen dazu veranlassen, ihr bedrohtes Kernwaffenpotential, das bis jetzt die einzige zur Bekämpfung militärischer Punktziele zuverlässig geeignete nukleare Komponente darstellt, nicht vorzeitig zu gefährden und für die Extremsituation des global-strategischen Schlagabtauschs aufzusparen.

Die kriegsverhütende Abschreckung in Europa allein auf diese Konterungsoption gründen zu wollen, mag nicht hinreichend sicher erscheinen. An dieser Stelle dürfte der rationale Kern von Einschätzungen wie der Carl Friedrich von Weizsäckers liegen, daß die Westeuropäer nicht mehr mit dem global-strategischen Abschreckungsschutz der USA rechnen könnten Anders sieht die Sache aus, wenn die UdSSR mit einer gemischten Abschreckung von „Minuteman" -Systemen und euro-strategischen Waffen konfrontiert ist.

Land-oder seegestützte euro-strategische Stationierung

Das Hauptargument der Nachrüstungskritiker in Westeuropa von Carl Friedrich von Weizsäcker über Erhard Eppler bis Rudolf Augstein lautet, daß auf westeuropäischem Boden stationierte Kernwaffen großer Reichweite im Kriegsfälle unausweichlich sowjetische Nuklearschläge magnetartig anzögen. In dichtbesiedelten Räumen sei das ein Unding. Derartige Systeme gehörten in menschenleere Wüstenregionen oder auf die weiten Weltmeere Zuweilen wird dabei auf den Umstand hingewiesen, daß die Amerikaner, obwohl sie über menschenarme Landstriche verfügen, Widerstände gegen die Dislozierung der landgestützten MX-Rakete erkennen ließen und über eine seegestützte Alternative nachzudenken begännen. Was in den dünnbesiedelten Teilen der USA recht sei, müsse in den überbevölkerten Ländern Westeuropas allemal billig sein.

Alle diese Einwände beruhen auf der Annahme, daß die kriegsverhütende Abschreckung der NATO mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit früher oder später versagen wird und daß daher von der realen Möglichkeit des Kriegs-falles auszugehen ist -Man kann freilich die Kriegsverhütungsgewähr, welche die Politik wechselseitiger Abschreckung bietet, mit gutem Grund weit höher einschätzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien es, als würde Europa als der eindeutig konfliktträchtigste Kontinent am meisten von Kriegsgefahr bedroht sein. In Wirklichkeit jedoch trat das Gegenteil ein: In anderen Erdteilen entwickelten sich blutige Auseinandersetzungen, während in Europa trotz scharfer Spannungen kein Krieg zwischen Ost und West ausbrach. Europa wurde zum friedlichen Kontinent — und das läßt sich nur erklären, wenn man die durch die wechselseitige Abschreckung (die angesichts der objektiven militärischen Bedrohtheit Westeuropas auch in Zeiten großer sowjetischer global-militärischer Unterlegenheit bestand) hervorgerufene regionale Kriegsscheu der beiden Großmächte ins Bild einbezieht.

Eine völlige Gewißheit dessen, daß ein Fehlschlag der Abschreckung ausgeschlossen ist, kann es freilich nicht geben. Den Kritikern der Nachrüstung läßt sich freilich entgegenhalten, daß ein Krieg für die Europäer westlich der sowjetischen Grenzen auch dann eine total lebensbedrohende Katastrophe zu werden verspricht, wenn er „nur" mit konventionellen Massenvernichtungsmitteln geführt werden sollte. Ob dann die nukleare Komponente, noch einen wesentlichen Unterschied ausmachen würde, ist allerdings fraglich. Zudem läßt sich eine nukleare Kriegführung in Europa auch durch eine nukleare Enthaltsamkeit des Westens nicht zuverlässig vermeiden. Es sind viele Kriegslagen denkbar, in denen die sowjetische Seite auch konventionelle Ziele nuklear angreifen könnte und voraussichtlich auch tatsächlich nuklear angreifen würde.

Die Verknüpfung, die zwischen der Stationierung landgestützter Mittelstreckenraketen in Westeuropa und der amerikanischen Entscheidung für oder gegen MX-Raketen in den westlichen USA hergestellt wird, läßt sich nicht halten. Funktional betrachtet, handelt es sich um zwei verschiedene Dinge. In Westeuropa soll die sowjetische Führung dazu genötigt werden, ihre mögliche Entscheidung für einen Krieg gegen Westeuropa unter anderem mit der Entscheidung zur völligen Zerstörung des als Siegespreis winkenden Gebietes zu verbinden. Nach den Regeln menschlicher Vernunft und Berechnung, denen sich bisher auch Moskau zugänglich gezeigt hat, muß dies einen Verzicht auf etwaige Angriffsabsichten nahelegen. Nukleare Erstschläge gegen „Minuteman" -oder MX-Raketen würden, wenn sich die sowjetische Seite erst einmal zu einem global-strategischen Schlagabtausch ent25 schlossen hätte, keine derartigen rationalen Hemmungen unterliegen, weil es nur um die Ausschaltung einer gegen das eigene Land gerichteten Vernichtungskapazität ginge.

Unterschiedlich sind auch die zu erwartenden Auswirkungen auf die soziale und ökologische Umwelt. Die Stationierung der „Pershing II" und der Marschflugkörper in den westeuropäischen Ländern wird keine wesentlichen Erweiterungen der bestehenden militärischen Stützpunkte und Anlagen erfordern. Dagegen würde die MX-Dislozierung in den betroffenen nordamerikanischen Gebieten gewaltige Straßen-und Grabensysteme ausschließlich militärischer Zwecksetzung notwendig machen, die unabsehbare Konsequenzen für den Naturhaushalt, die Beschäftigungsstruktur und die Möglichkeiten von Freizeitgestaltung und Tourismus nach sich ziehen würden. Es sind Überlegungen dieser Art, die in der amerikanischen Öffentlichkeit gegen das MX-Projekt geltend gemacht werden.

Auf ein schwerwiegendes Problem, das die Stationierung landgestützter Mittelstrecken-systeme in Westeuropa hervorruft, hat Carl Friedrich von Weizsäcker mit besonderem Nachdruck hingewiesen: „Die landgestützten neuen Mittelstreckenraketen erregen eine (berechtigte!) Angst in der Bevölkerung, und es wird in allen westeuropäischen Ländern schwerer und schwerer, ihre Postierung gegen den Widerstand der Menschen, zu deren Schutz sie gedacht waren, überhaupt durchzusetzen. Eben diese Vorgänge aber bringen die westeuropäischen Regierungen ... in ein fast unlösbares Dilemma ... zwischen der Bündnistreue gegen Amerika und dem Sicherheitsbedürfnis der eigenen Bevölkerung. Das Bündnis wird in unserem Volke diskreditiert, wenn wir den Nachrüstungsbeschluß strikt erfüllen, und wir werden bei der heute wieder militant antisowjetischen amerikanischen Öffentlichkeit diskreditiert, wenn wir von dem Beschluß loszukommen suchen."

Der Umstand, daß die bestehenden sicherheitspolitischen Erfordernisse in der Bevölkerung nicht verständlich gemacht werden konnten, ist in der Tat eine schwere Hypothek auf dem Nachrüstungsbeschluß. Daher ist die Frage gestellt worden, ob nicht eine andere Form der euro-strategischen Nachrüstung — nämlich mittels seegestützter Dislozierung — den gleichen Zweck erfüllen könne.

Damit verbindet sich häufig die Vorstellung, daß die amerikanische Führung mit der geplanten Landstationierung wesentlich das Ziel verfolge, eine Beteiligung der westeuropäischen Verbündeten am Risiko der nuklearen Abschreckung zu gewährleisten Gegen diese gemutmaßte Absicht hat Hermann Scheer zu Recht geltend gemacht, daß „eher von einer einseitigen deutschen Risikolast gesprochen werden" könne. „Zwar tragen die Amerikaner die Hauptlast des nuklearstrategischen Risikos, dafür tragen die Deutschen die Hauptlast des Risikos eines konventionellen und taktischen Nuklearkrieges, wovon das US-Territorium überhaupt nicht betroffen würde."

Die Annahme, daß die USA die euro-strategische Nachrüstung um einer Risikobeteiligung Westeuropas willen forderten, widerspricht den historischen Tatsachen. Die amerikanische Führung hat, seit sie zu Beginn der sechziger Jahre die Fähigkeit zu Kernwaffenschlägen gegen das sowjetische Territorium von ihrem Heimatland aus gewonnen hat, in einseitiger Entscheidung die bis dahin in West-und Südeuropa stationierten Mittelstreckenraketen abgebaut und nur geringes Interesse am weiteren Verbleib anderer Kernwaffenträger mittlerer Reichweite gezeigt. Vermutlich hätten die USA, wenn die westeuropäischen NATO-Verbündeten keinen Einspruch erhoben hätten, die „vorne stationierten Systeme" bei SALT ohne größere Bedenken preisgegeben. Es waren westeuropäische Politiker, allen voran Bundeskanzler Schmidt, welche die Notwendigkeit europäisch dislozierter Mittelstreckenwaffen als Elemente der sicherheitspolitischen Kopplung zwischen Nordamerika und Westeuropa geltend gemacht haben. Ihrem Verlangen setzte die Regierung in Washington noch bis zum Frühjahr 1979 die Ansicht entgegen, man solle doch die Stationierung neuer Systeme auf westeuropäischem Boden vermeiden und den Schutz der NATO-Staaten allein auf die global-strategischen Kapazitäten der USA gründen.

Das schließt freilich nicht aus, daß die These von der notwendigen Risikobeteiligung der Westeuropäer inzwischen für die amerikanische Regierung, nachdem sie sich auf eine euro-strategische Nachrüstung festgelegt hat, zu einem innenpolitischen Rechtfertigungsar-gument mit einer gewissen Eigendynamik geworden ist. Der Gesichtspunkt dürfte aber nach allem, was vorausgegangen ist, für die Administration in Washington kaum entscheidendes Gewicht haben.

Verschiedenen Abschreckungsüberlegungen läßt sich ebenso gut mit einer seegestützten wie mit einer landgestützten Stationierung entsprechen. Das gilt insbesondere für das Erfordernis einer graduellen Abstufung samt der zugehörigen Lückenlosigkeit des Instrumentariums. Nur mit Einschränkung wäre die angestrebte Erschwerung für eine sowjetische Kriegsentscheidung zu verwirklichen. Die NATO könnte zwar mit dem Eintreten des Diversifikationseffekts rechnen, doch wäre die Beziehung der Mittelstreckensysteme zu Westeuropa gelockert: Da diese Waffen nicht in einer von sowjetischer Besetzung bedrohten Zone stünden, wäre Washington keinem Zeitdruck ausgesetzt, über ihren schnellen Einsatz zu befinden; die sowjetische Führung ihrerseits sähe sich nicht der Notwendigkeit gegenüber, die Entscheidung über einen entwaffnenden Erstschlag mit der Entscheidung über ein Unbrauchbarmachen des zu erobernden Gebietes zu verbinden, überdies würde eine Seestationierung die Möglichkeit eröffnen, daß die Regierung der USA, wenn sie es für tunlich erachten sollte, die betreffenden Systeme kurzfristig aus den europäischen Randmeeren zurückziehen könnte. Vorteilhaft wäre demgegenüber, daß Nuklearträger, die auf U-Booten montiert wären, eine durchschnittlich geringere Verwundbarkeit aufweisen würden, als wenn sie mobil auf dem Lande stünden.

Eine Dislozierung zur See würde gewisse politische Komplikationen hervorrufen. Seegestützte Raketen euro-strategischer Bestimmung lassen sich merkmaismäßig nicht von entsprechenden Komponenten des global-strategischen Arsenals unterscheiden. Westliche Experten sind sich insbesondere im Zweifel darüber, ob die UdSSR ihren Gebrauch nicht mit einem Einsatz der amerikanischen global-strategischen Kapazitäten verwechseln und daher eine bestimmt beabsichtigte nukleare Selektivität nicht wahrnehmen würde. Auch geriet die bei SALT vereinbarte global-strategische Parität ins Rutschen, wenn man, einer Anregung Hermann Scheers folgend, unter Inkaufnahme gewisser Nachteile auf die Verwendung atomgetriebener U-Boote verzichten und statt dessen dieselgetriebene U-Boote in Dienst stellen würde. Die sowjetische Führung würde nicht versäumen, aller Welt lauthals zu erklären, damit sei unzweideutig der Beweis für ihre Annahme erbracht, daß es den Vereinigten Staaten bei der euro-strategischen Nachrüstung um nichts anderes als um die Herstellung einer nuklearen Überlegenheit in globalem Rahmen gehe. Eine solche propagandistische Festlegung würde die denkbare Bereitschaft Moskaus, eine Seestationierung als geringeres Übel zu akzeptieren, von vornherein erschweren. Ein weiteres Problem wären die Kosten, die bei einer Seestationierung erheblich höher ausfallen dürften als bei einer Dislozierung auf dem Land.

Möglichkeiten für eine einvernehmliche euro-strategische Rüstungsbegrenzung?

Auch die Kritiker des Nachrüstungsbeschlusses, soweit sie nicht einfach der beispielgebenden Wirkung einseitiger Abrüstung vertrauen, sehen die Zwangsläufigkeit, mit der die NATO in das von der UdSSR vorangetriebene Wettrüsten verwickelt ist. „Einseitige Einsicht in den Mechanismus der Rüstungskonkurrenz", so meint etwa Carl Friedrich von Weizsäcker, genüge „nicht, um aus ihm zu entrinnen. Denn wer das Rennen nicht mitmacht, wird wirklich der Schwächere und hat die Folgen zu tragen“ Einem Bemühen um weitrei-chende wechselseitige Abrüstung, das Carl Friedrich von Weizsäcker für notwendig erachtet, stehen nach seiner Einschätzung starke Hindernisse entgegen: „Das Interesse der Russen ist, durch Drohung ihre heutige Überlegenheit festzuschreiben. Dann würde eine Begrenzung der weiteren Rüstung, ja eine begrenzte Abrüstung nur eine Verminderung : hrer Wirtschaftslast ohne Verminderung ihrer Überlegenheit bedeuten ... Die Versuchung für sie, in den achtziger Jahren eine agressive Politik zu führen, würde objektiv nur wenig vermindert. Eben darum würden solche Vereinbarungen unsere Sicherheit nicht erheblich erhöhen." Der trotzdem zu unternehmende Versuch, „die Sicherheit beider Seiten durch eine große Abrüstung wesentlich''zu erhöhen, gründet sich unter anderem auf die Hoffnung, daß die Verantwortlichen in Moskau angesichts der beschränkten Wirtschaftskraft ihres Landes einen ungebremsten Rüstungswettlauf scheuen und daher letztlich doch einem sicherheitspolitischen Einvernehmen zu ausgewogenen Bedingungen ihre Zustimmung nicht versagen würden. „Daß die sowjetische Seite ein derartiges Angebot unserer Seite einer ernsthaften Würdigung unterziehen würde, ist, wenn überhaupt, nur zu erwarten, sofern die Alternative eine von ihr als bedrohlich empfundene militärische Verstärkung des Westens ist Aus diesem Grunde ist zu vermuten, daß ein jetzt geäußerter Verzicht der NATO auf die geplanten Mittelstreckenraketen ein verhandlungstaktischer Fehler wäre." Dieser Analyse ist nichts Wesentliches hinzuzufügen.

Vorstellungen darüber, wie eine Rüstungsbegrenzung für Europa aussehen könnte, sind bisher kaum im einzelnen entwickelt worden. Sicher erscheint, daß die sowjetische Führung ein Abkommen über den nuklearen und nicht-nuklearen Ersteinsatzverzicht als eine wesentliche Maßnahme der politischen Vertrauensbildung in Europa ansieht. Daher ließe sich überlegen, ob eine derartige Vereinbarung nicht einleitend mit Maßnahmen der militärischen Gebrauchs-und Potentialbeschränkung zu koppeln wäre. Würde der Ersteinsatzverzieht so formuliert, daß nukleare Waffen nicht erstangewendet werden dürfen außer im Falle der Erstanwendung konventioneller Waffen — und umgekehrt —, dann wäre damit den wechselseitigen Bedrohungsvorstellungen in West und Ost entsprochen.

Es steht zu befürchten, daß Abmachungen über wechselseitige Beschränkungen der militärischen Potentiale in Europa entweder bescheiden ausfallen oder überhaupt nicht zustande kommen. Die Standpunkte und Absichten beider Seiten sind allzu gegensätzlich. Der Verlauf der MBFR-Verhandlungen hat dies überdeutlich werden lassen, und der Auftakt des euro-strategischen Dialogs ist ebenfalls alles andere als ermutigend gewesen. Es wäre sehr viel, wenn es gelänge, auf der Basis relativer Ausgewogenheit Obergrenzen für künftiges Rüsten zu setzen und zugleich durch militärische Gebrauchsbeschränkungen einen Zuwachs an Krisenstabilität in der europäischen Region zu erreichen. Es wäre vorstellbar, daß zu diesem Zweck offensivbedrohliche sowjetische Gefechtsfeld-Potentiale weit nach Osten zurückverlagert werden könnten, um so einen deutlichen Verzicht Moskaus auf überraschende Gefährdung der westeuropäischen Sicherheit zu markieren. Dem könnte als westliche Gegenleistung vielleicht eine Zurückverlegung der geplanten euro-strategischen Systeme in bestimmte Zonen der europäischen Randmeere entsprechen. Sinnvoll wären derartige Regelungen freilich nur, wenn der gesamteuropäische Raum zwischen Ural und Atlantik in die Verhandlungen eingebracht werden würde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. u. a. Weißbuch 1979, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, S. 115 f.; Les Aspin, Comparing Soviet and American Defense Efforts, in: NATO's Fifteen Nations, 3/1976, S. 35f.; The Military Balance 1970— 71, hrsg. vom IISS, London 1970, S. 7; The Military Balance 1978— 79, hrsg. vom IISS, London 1978, S. 9.

  2. The Military Balance 1973— 74, hrsg. vom IISS, London 1973, S. 93; The Military Balance 1975— 76, hrsg. vom IISS, London 1976, S. 102; The Military Balance 1977— 78, hrsg. vom IISS, London 1977, S. HO.

  3. Weißbuch 1973/74, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, S. 13; Lothar Ruehl, Unter sowjetischer Tarnkappe, in: Die Zeit, 6. 5. 1977.

  4. Weißbuch 1975/76, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, S. 36; Hans-Christian Pilster, Friede und Gewalt, Stuttgart 1977, S. 49.

  5. Weißbuch 1971/72, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, S. 17; Weißbuch 1975/76, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, S. 35; The Military Balance 1973— 74, hrsg. vom IISS, London 1973, S. 80; The Military Balance 1978— 79, hrsg. vom IISS, London 1978, S. 102; Hans-Christian Pilster, Friede und Gewalt, Stuttgart 1977, S. 49.

  6. Statement on the Defense Estimates 1978, Presented to Parliament by the Secretary of State for Defense, February 1978, London, S. 7; Die Mechanisierung der sowjetischen Artillerie, in: Soldat und Technik, 7/1977, S. 362— 367; Weißbuch 1975/76, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, S. 36.

  7. Präsentation in Moskau: Panzerabwehrlenkwaffe M-1977, in: Soldat und Technik, 1/1978, S. 5.

  8. Lehren aus dem Yom-Kippur-Krieg, in: FAZ, 19. 1. 1977; Friedrich Wiener, Die Armeen der War-schauer-Pakt-Staaten, München 1979’, S. 157 f., 238— 240.

  9. Weißbuch 1979, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, S. 115f.

  10. Ulrich Rühmland, Die Territorialverteidigung der DDR, Bonn 1975, S. 40, 59 f.; Günter Holzweißig, Die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ in der DDR, in: Information für die Truppe, 9/1976, S. 47— 59; 450 000 Mann „Betriebskampfgruppen''wurden 2. Welle, in: Soldat und Technik, 5/1977, S. 264; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU, Deutscher Bundestag, Drucksache 8/2060, 23. 8. 1978, S. 1— 3.

  11. The Military Balance 1978-— 79, hrsg. vom IISS. London 1978, S. 13, 15; Hans-Christian Pilster, Streitkräfte und Wehrwesen in den osteuropäischen Ländern, in: österreichische Militärische Zeitschrift, 2/1978, S. 104f.

  12. Gert Schmückle, Wenn wir immer weiter rüsten, in: Stern-Magazin, 8. 12. 1977, S. 84— 92; Alexander M. Haig, NATO and the Tasks Ahead, in: The Atlantic Community Quarterly, Winter 1976/77, S. 463f.

  13. Vgl. Günter Poser, Militärmacht Sowjetunion 1980, München 1980, S. 125— 130.

  14. Vgl. ebenda, S. 38— 40; Eberhard Schulz, Charakteristika sowjetischer Westpolitik und ihre Auswirkung auf die Entspannung, in: Entspannung am Ende?, hrsg. von Josef Füllenbach und Eberhard Schulz, München—Wien 1980, S. 239— 242; Stephan Tiedtke, Militärische Planung und MBFR-Politik der Sowjetunion, in: Osteuropa, 4/1980, S. 301 bis 309; Hans-Jürgen Hartung, Angriff — Hauptkampf-art der Roten Armee, in: Wehrforschung, 3/1971, S. 88; Jeffrey Record, Sizing up the Soviet Army, The Brookings Institution, Washington/D. C, 1975, S. 33— 36; Pierre Gallois, La dfense de l'Europe face au Pacte de Varsovie, in: Le Monde des Conflits, Nr. 2 (Nov. —Dez. 1978), S. 1— 19; Interview with General I. G. Pavlovsky, in: Soviet Military Review, 9/1976, S. 2— 7.

  15. John Erickson, Soviet Breakthrough Operations: Resources and Restraints, in: RUSI-Quarterly, 3/1976, S. 74— 79; Weißbuch 1971/72, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, S. 16; K. -Peter Stratmann, NATO-Strategie in der Krise?, Baden-Baden 1981, S. 34— 36.

  16. Günter Poser, Militärmacht Sowjetunion 1980, München 1980, S. 40— 46.

  17. Vgl. General Heinz Hoffmann, Sozialistische Landesverteidigung, Berlin (Ost) 1974.

  18. Text des westdeutsch-sowjetischen Kommuni-qus vom 6. 5. 1978, in: Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung, 9. 5. 1978, S. 429f.

  19. Vgl. Ingo Oeser, Für eine Wende in den Wiener Verhandlungen, in: Deutsche Außenpolitik, 9/1978, S. 15— 24.

  20. Vgl. Presseerklärung des westlichen MBFR-Sprechers, Botschafter W. J.de Vos van Steenwijk, vom 3. 4. 1980, in: Stichworte zur Sicherheitspolitik, 5/1980, S. 11.

  21. Günter Poser, Militärmacht Sowjetunion 1980, München 1980, S. 47 f. Sir Peter Hill-Norton, NATO and the Warsaw Pact — The Balance, in: NATO-Re-view, 1 /1976, S. 3 f.; Joseph M. Luns, Die Bundeswehr aus der Sicht der NATO, in: Standortbestimmung II. Die Bundeswehr von außen gesehen, hrsg. vom Bun-desministerium der Verteidigung, Bonn 1977, S. 27.

  22. Erich Sobik, Die sowjetischen Luftlandetruppen, in: Soldat und Technik, 10/1976, S. 508—516; Robert Close, Europa ohne Verteidigung, Bad Honnef 1977, S.241f.

  23. Hans-Christian Pilster, Die sowjetischen Statio-nierungstruppen in Mitteleuropa, in: österreichi-sche Militärische Zeitschrift, 1/1977, S. 9; Ulrich Rühmland, Nationale Volksarmee der DDR in Stich-worten, Bonn 19744, S. 9.

  24. Neue Fernstraßen verbinden Sowjet-Machtbereich, in: Soldat und Technik, 9/1978, S. 479; Friedrich Wiener, Die Armeen der Warschauer-Pakt-Staaten, München 1979’, S. 66 f; John Erickson, Trends in the Soviet Combined Arms Concept, in: Strategie Review, 1/1977, S. 43.

  25. Vgl. Ulrich Rühmland, Nationale Volksarmee der DDR in Stichworten, Bonn 19743, S. 68.

  26. Horst Hofmann, Sowjetunion, in: Reservesysteme des Warschauer Paktes. Ein Weißbuch, hrsg. von Rudolf Woller, München 1978, S. 96.

  27. Ulrich de Maizire, Verteidigung in Europa-Mitte. Studie im Auftrag der Westeuropäischen Union, München 1975, S. 47— 50.

  28. The Military Balance 1976— 77, hrsg. vom IISS, London 1976, S. 99f.

  29. Vgl. die Pressemitteilung der westlichen MBFR-Delegationen vom 21. 12. 1979.

  30. Martin Steiff, Truppenreduzierungen in Mitteleuropa, in: Europäische Wehrkunde, 1/1980, S. 4.

  31. Ebenda.

  32. Näheres bei Gerhard Wettig, Die USA, die UdSSR und das Problem der Rüstungskontrolle, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", B 48/80, 29. 11. 1980, S. 13— 29.

  33. Vgl. Johan Jörgen Holst, Abschreckung und Stabilität im Verhältnis zwischen NATO und War-schauer Pakt, in: Europa-Archiv, 1/1981, S. 10f.

  34. Vgl. Gerhard Wettig, Die Sowjetunion und die Rüstungskontrolle in Europa, in: Europäische Wehrkunde, 10/1977, S. 490— 495.

  35. Martin Steiff, Truppenreduzierungen in Mitteleuropa, in: Europäische Wehrkunde, 1/1980, S. 5.

  36. Vgl. z. B. G. A Trofimenko, S§A: Politika, vojna, ideologija, Moskau 1975, S. 91— 93, 95, 112— 114, 285, 314— 320.

  37. Zum Beispiel ebenda, S. 322— 330; V. Falin, Buduee Evropy — v mirnom sotrudnitestve, in: Prawda, 22. 11. 1979.

  38. SALT and the NATO Allies. A Staff Report to the Subcommittee on Foreign Relations, U. S. Senate, Washington/D. C„ Oktober 1979, S. llf., 29 f.

  39. Hierzu insbesondere: Die nuklearen Mittelstreckenwaffen. Modernisierung und Rüstungskontrolle. Texte, Materialien und Argumente zum Beschluß der NATO vom 12. Dezember 1979, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung/Planungsstab, Bonn, April 1980; Lothar Ruehl, Der Beschluß der NATO zur Einführung der nuklearen Mittelstrekkenraketen, in: Europa-Archiv, 4/1980, S. 99— 110.

  40. Text: Prawda, 7. 10. 1979.

  41. Die Untersuchung erscheint voraussichtlich in der Zeitschrift „Europäische Wehrkunde". Eine gekürzte Teilanalyse, die in Zusammenarbeit mit Hannes Adomeit entstanden ist, wird in das vom Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien herausgegebene Sammelwerk „Die Sowjetunion 1980/81” Eingang finden.

  42. Vgl. Radi bezopasnosti narodov, in: Prawda, 15. 7. 1980; ebenso die in: Die Welt, 7. 7. 1980, veröffentlichten nicht-amtlichen Protokollnotizen.

  43. Schon jetzt besitzt die UdSSR weit mehr euro-strategische Sprengköpfe, als die NATO in dem Beschluß vom 12. 12. 1979 vorgesehen hat (Beginn der Dislozierung nicht vor Ende 19831).

  44. So V. Falin, Buduee Evropy — v mirnom sotrudniCestve, in: Pravda, 22. 11. 1979.

  45. Carl Friedrich von Weizsäcker, Gefahren der Rüstung in den achtziger Jahren, in: Die Zeit, 16. 11. 1979.

  46. Robert Jervis, Why Nuclear Superiority Doesn't Matter, in: Political Science Quarterly, Winter 1979/80, S. 631— 633; John Steinbrunner, Beyond Rational Deterrence: The Struggle For New Conceptions, in: World Politics, Januar 1976, S. 223— 245. In gleichem Sinne urteilt Gert Krell, Das militärische Kräfteverhältnis bei den nuklearstrategischen Waffen, in: Gert Krell/Dieter S. Lutz, Nuklearrüstung im Ost-West-Konflikt, Baden-Baden 1980, S. 140— 150.

  47. Vgl. K. -Peter Stratmann, NATO-Strategie in der Krise? Baden-Baden 1981, S. 158— 171; für eine Reihe von Informationen über den Entscheidungshintergrund des NATO-Beschlusses vom 12. 12. 1979 ist der Verfasser Uwe Nerlich zu Dank verpflichtet.

  48. Carl Friedrich von Weizsäckers Abschreckungspessimismus ist um so depremierender, als zugleich die sowjetischen Möglichkeiten und Absichten außerordentlich negativ eingeschätzt werden. Die UdSSR, so heißt es, könnte heute „einen auf konventionelle Waffen beschränkten Krieg in Europa“, „wenn sie wollte, gewinnen". „Der Streit der Fachleute geht nur darum, ob ihre Panzer beim Fehlen nuklearer Gegenwehr in wenigen Tagen zum Atlantik durchfahren können oder ob sie dazu einige Wochen Kampf brauchen würden.“ überdies brauche „die Sowjetunion bei politischer Schwäche und Uneinigkeit Europas den Schlag gar nicht auszuführen. Es kann ihr politisch genügen, ihn ... nur gegen einen einzelnen ... NATO-Staat anzudrohen. Ihre politische Macht beruht weitgehend auf den unausgeführten Drohungen, über die sie verfügt“ (Carl Friedrich von Weizsäcker, Gefahren der Rüstung in den achtziger Jahren, in: Die Zeit, 16. 11. 1979). Carl Friedrich von Weizsäcker erwartet zudem, daß die UdSSR, nachdem sie für eine gewisse Zeit einen Höhepunkt ihrer militärischen Macht zu erreichen begonnen habe, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit während der achtziger Jahre aggressiv werde (Carl Friedrich von Weizsäcker, Die neuen Raketen gehören auf See, in: Die Zeit, 22. 5. 1981).

  49. Vgl. Carl Friedrich von Weizsäcker, Gefahren der Rüstung in den achtiger Jahren, in: Die Zeit, 16. 11. 1979; Hermann Scheer, „Landgestützte Raketen gehören nach Alaska", in: Die Zeit, 29. 5. 1981; Rudolf Augstein, „Raketen zu Lande ausgesprochen bedenklich“, in: Der Spiegel, 22. 5. 1981, S. 30.

  50. Besonders deutlich bei Carl Friedrich von Weizsäcker, Gefahren der Rüstung in den achtziger Jahren, in: Die Zeit, 16. 11. 1979. Allerdings ist zugleich von einer „moralischen Grenze" die Rede, welche die Strategie der gegenseitigen Abschreckung mit ihrer „Verkehrung der klassischen Kriegsethik''überschreite. Aus diesem moralischen Protest nährt sich die grundsätzliche Ansicht, daß eine derartig pervertierte Kriegsverhütungsstrategie letztlich nicht wirksam sein könne (vgl. die Ausführungen dazu in meinem Buch „Konflikt und Kooperation zwischen Ost und West. Entspannung in Theorie und Praxis", das Anfang der Sommers in Bonn erscheinen wird).

  51. Carl Friedrich von Weizsäcker, Die neuen Raketen gehören auf See, in: Die Zeit, 22. 5. 1981.

  52. So auch ebenda.

  53. Hermann Scheer, „Landgestützte Raketen gehören nach Alaska", in: Die Zeit, 29. 5. 1981.

  54. Carl Friedrich von Weizsäcker, Gefahren der Rüstung in den achtziger Jahren, in: Die Zeit, 16. 11. 1979.

  55. Carl Friedrich von Weizsäcker, Die neuen Raketen gehören aud See, in: Die Zeit, 22. 5. 1981.

Weitere Inhalte

Gerhard Wettig, Dr. phil., geb. 1934; Wissenschaftlicher Referent und stellv. Leiter des Forschungsbereichs Außenpolitik am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Die Rolle der russischen Armee im revolutionären Machtkampf 1917 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 12), Berlin 1967; Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland 1943— 1955. Internationale Auseinandersetzungen um die Rolle der Deutschen in Europa, München 1967; Politik im Rampenlicht, Frankfurt 1967; [zus. mit Ernst Deuerlein, Alexander Fischer und Eberhard Menzel: ] Potsdam und die deutsche Frage, Köln 1970; Europäische Sicherheit. Das europäische Staatensystem in der sowjetischen Außenpolitik 1966— 1972, Düsseldorf 1972; Frieden und Sicherheit in Europa. KSZE und MBFR, Stuttgart 1975; Die Sowjetunion, die DDR und die Deutschland-Frage 1965— 1976, Stuttgart 19772; Der Kampf um die freie Nachricht [in der UNO und auf der KSZE], Zürich 1977; Broadcasting and Dtente, London 1977; Die sowjetischen Sicherheitsvorstellungen und die Möglichkeiten eines Ost-West-Einvernehmens, Baden-Baden 1981; Das Vier-Mächte-Abkommen in der Bewährungsprobe. Berlin im Spannungsfeld zwischen Ost und West, Berlin (West) 1981; Konflikt und Kooperation zwischen Ost und West. Entspannung in Theorie und Praxis. Außen-und sicherheitspolitische Analyse, Bonn (erscheint im Frühsommer 1981).