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Indochina und das westliche Erbe | APuZ 19/1981 | bpb.de

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APuZ 19/1981 Indochina und das westliche Erbe Singapur — ein Modell für die Dritte Welt? Kapitalismus in der sozialistischen Republik Die Japaner denken und handeln anders

Indochina und das westliche Erbe

Ingeborg Y. Wendt

/ 43 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Um die politische Lage in Kambodscha verstehen zu können, müssen zuvor gewisse soziokulturelle Vorurteile ausgeräumt werden. Zwar ist der absolute Überlegenheitsanspruch Europas gegenüber der Dritten Welt überwunden, aber Elemente dieser Haltung bestimmen, vielleicht oft unbewußt, noch die westliche Politik, so z. B. die Vorstellung von der Undurchsichtigkeit und der Massenhaftigkeit der Asiaten, die Vorstellung von einem „orientalischen Despotismus", von dem die Völker Asiens durch das europäische Administrationssystem befreit worden wären, und damit im Zusammenhang die Überzeugung von der grundsätzlichen Fortschrittlichkeit des westlichen Systems gegenüber älteren, nicht-westlichen Ordnungen. Noch herrscht demgemäß die eurozentristische Betrachtungsweise vor, und es besteht die Gefahr, die Vorgänge in asiatischen Regionen ethnologisch statt politisch zu beurteilen. Das geschieht z. B., wenn man von „traditionellen ethnischen Feindschaften" in Indochina spricht, statt die politischen Gruppierungen zu analysieren, wie man es innerhalb Europas tun würde und dabei vergißt, daß einerseits die verschiedenen ethnischen Gruppen Indochinas gemeinsam das Ziel der Unabhängigkeit von westlicher Kolonialherrschaft angestrebt haben und daß Indochina vor der Kolonialepoche nicht in Nationalstaaten gespalten war, daß andererseits auch politische Gruppen innerhalb einer ethnischen Gemeinschaft gegeneinander gekämpft haben wie während des Bürgerkrieges in Kambodscha 1970— 1975. Die Bevölkerungen der drei Länder Indochinas sind erst durch die westliche Kolonialpolitik gespalten worden, der dann die europäisierten „Eliten“ jener Länder in die Hand gespielt haben. Die Roten Khmer, ursprünglich Feinde des „amerikanischen Imperialismus", mußten sich schließlich in ihrem Kampf gegen Vietnam von den Amerikanern unterstützen lassen — bis zum Sturz des Khmer-Regimes im Januar 1979. Dagegen setzt der gemäßigte und integer gebliebene Heng Sam Rin für Kambodscha den Kampf der Völker Indochinas um politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit fort.

I. Die Greuel in Kambodscha aus zwei Perspektiven

Der westliche Zeitungsleser lernt außereuropäische Regionen meist erst dann näher kennen, wenn sich dort eine Hungersnot oder eine Flutkatastrophe, ein Krieg oder ein Militärputsch ereignen. Einige Zeit lang beherrscht das Gebiet dann die Schlagzeilen; und wenn die Sensation abgeklungen ist, wird das betreffende Land wieder vergessen.

Aus dem Augenblick heraus sind weder die Ursachen einer Katastrophe oder eines Krieges zu verstehen noch die in der Situation angelegten zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen. Und da in den langen Zeitabschnitten, in denen nichts über Guatemala, die Elfenbeinküste oder die Philippinen berichtet wird, das Leben dort nicht stillsteht, ist der Leser genau so überrascht und verständnislos, wenn anläßlich der nächsten Katastrophe die nächsten Nachrichten kommen. Ein skandinavischer Sozialwissenschaftler nennt diese punktuelle Berichterstattung „sensational" im Unterschied zu „contextual". Kambodscha bildet keine Ausnahme. Es hat sich als Thema ungewöhnlich lange Zeit in den Schlagzeilen der westlichen Presse behauptet; den größten Teil der Nachrichten nahm allerdings die bloße Beschreibung der Greuel ein. Selten wurden größere Zusammenhänge analysiert, häufig dagegen spekuliert: über eine angebliche asiatische Mentalität, über ideologische Fixierungen — bis hin zur Heranziehung der (vermeintlichen) politischen Situation Kambodschas vor 500 oder 1000 Jahren. Unberücksichtigt blieben zumeist gerade die näherliegenden Zusammenhänge, nämlich die jüngere Zeitgeschichte, vor allem die Entwicklung der letzten 30 Jahre in Indochina und seine Stellung im internationalen Gefüge.

Die grauenhaften Gewalttaten der letzten Jahre werden übereinstimmend den Roten Khmer unter Führung von Pol Pot zugeschrieben. Sie werden oft als Holocaust bezeichnet, so auch in dem kürzlich erschienenen Buch von Ariane Barth und Tiziano Terzani „Holocaust in Cambodia" Daß die sanften, liebenswürdigen Kambodschaner so brutal werden konnten, ist vielen westlichen Beobachtern unbegreiflich, und sie nehmen ihre Zuflucht zu der diffusen Vorstellung von einer unberechenbaren asiatischen Mentalität. Diese Erklärungsmöglichkeit ist aber eigentlich durch den dem Begriff „Holocaust" impliziten Vergleich schon ausgeschaltet: Der Asiat Pol Pot ist so grausam, wie es der Europäer Hitler war. Ein Unterschied liegt lediglich in den Methoden: Pol Pots Leute töteten einzeln und direkt mit den Händen, Hitlers Anhänger systematisch, „rationalisiert", fast unpersönlich. Und auch die Deutschen waren weder als gesamtes Volk, noch historisch immer grausam; es gab unter ihnen nicht nur einen Hitler, sondern auch einen Hölderlin und die ungezählten deutschen Opfer faschistischer Verbrechen. Die Mentalitätsfrage führt also nicht zu den Ursachen der Aggressivität.

Kann eine Ideologie die Ursache sein? Wenn man an den Vergleich Pol Pot/Hitler denkt, scheint man die Frage bejahen zu müssen. Aber in Kambodscha bekennen sich auch noch andere Gruppen zu einer Ideologie, prinzipiell sogar zu derselben wie die Roten Khmer; und ihnen werden Greueltaten des Pol Pot'schen Ausmaßes nicht zugeschrieben. Es muß demnach im Fall der Roten Khmer noch etwas hinzukommen — ihre Ideologie allein reicht zur Erklärung der Grausamkeit nicht aus.

Auch der Rückgriff auf das alte Khmer-Reich von Angkor bringt so viel Aufklärung für die gegenwärtige Lage in Kambodscha, wie ein Rückgriff auf die politische Lage in Europa zur Zeit Barbarossas an Aufklärung für die Entste-hung des Zweiten Weltkrieges bringen würde. Analoges gilt für die angeblichen „traditionellen Feindschaften zwischen ethnischen Gruppen" in Indochina. Auch zwischen Deutschland und Frankreich gab es ethnisch begründete Animositäten. Wenn die beiden Länder in der Vergangenheit Krieg gegeneinander geführt haben, dann aber nicht aus „ethnischen” Gründen (was ist das?), sondern aus politischen Anlässen.

Wenn für die Bezeichnung der Ereignisse in Kambodscha der Begriff . Holocaust verwendet wird, dann ergibt sich daraus nicht nur eine psychologische, sondern auch eine politische Frage. Pol Pot wird von denselben Mächten, die einen Hitler verdammen, als Regierungschef anerkannt, obwohl seine Taten bekannt sind.

Ostasiens Sicht Für denjenigen, der teils in Ostasien und teils in Europa lebt, ist die unterschiedliche Blickrichtung dieser beiden Weltregionen auffällig. Die Länder Asiens, die frei von europäischer Kolonialherrschaft geworden waren, brachten Amerika, das lange Zeit für Unabhängigkeit und Selbstbestimmung aller Völker eingetreten war, zunächst Sympathie entgegen. Auch Indien, das um seine Unabhängigkeit bis zum Schluß gegen britischen Widerstand zu kämpfen hatte, sah sich von breiten Kreisen in Amerika verstanden, und sogar Japan, das von Amerika besiegt und außerdem politisch gedemütigt worden war (z. B. durch die erzwungene „Mensch-Erklärung" des Tenno 1946 und McArthurs „Diagnose", die Japaner seien psychologisch betrachtet zwölf Jahre alt, mit der daraus folgenden „Behandlung"), öffnete sich für gewisse Aspekte des American Way of Life.

Amerikanische „Kenner" der indochinesischen Szene zitieren manchmal, sozusagen mit Kopfschütteln und als Kuriosum, daß die seltsamen vietnamesischen Kommunisten sich bei ihrer Unabhängigkeitserklärung an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 angelehnt haben. Die Sache ist aber nicht kurios; denn damals, für kurze Zeit, verkörperte Amerika auch in Asien Hoffnung, Freiheit, „unbegrenzte“ Möglichkeiten der Entfaltung eines Volkes, Freiheit gegen Unterdrückung, und zwar im Falle Asiens die Unterdrückung durch europäische Kolonialherrschaft. Amerikas Verhalten in Vietnam brachte für Amerikas Ansehen in der Region die große Wende. Asien erlebte, wie Amerika den Krieg, den die Kolonialmacht Frankreich 1954 in Dien Bien Phu verloren hatte, fortsetzte. Wie die alten europäischen Kolonialmächte stützte es nun solche einheimischen „Fürsten", die sich nicht an den elementaren Bedürfnissen ihrer Völker, sondern zu ihrem persönlichen Vorteil an ausländischen Wünschen politischer und wirtschaftlicher Art orientierten. Das amerikanische „Engagement" in Vietnam war in der Erfahrung Asiens ein Krieg, den eine überlegene westliche Macht, ohne sich der Müha der Kriegserklärung zu unterziehen, gegen ein kleines farbiges Volk führte. Die amerikanische Kriegführung, die Wälder entlauben und Ernten vernichten ließ, über Jahre fortgesetzte, systematische und ausgedehnte Bombardierungen, der Einsatz von Napalm mit seinen ganz besonders grausamen Folgen, bewirkten in der Erfahrung Asiens einen Holocaust, in dem auch Millionen von Menschen umgekommen sein müssen. Die Reaktion war eine namenlose Traurigkeit — über die grauenhaften Vorgänge an sich und zusätzlich darüber, daß die große westliche Nation, die Hoffnung für alle Völker bedeutet hatte, die unabhängige Entfaltung eines Volkes mit den denkbar massivsten Mitteln unterdrückte. Ost-West-Ideologie Im Westen sah man das damals anders. Weil Vietnam in seiner Not sich militärische Hilfe von der Sowjetunion und der Volksrepublik China holte — und was hätte es anderes tun können außer kapitulieren? —, glaubte man, die „politisch unerfahrenen" Asiaten ließen sich vom europäischen Osten für dessen Ziele einspannen. Noch in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre galten in westlichen Ländern Studenten, die gegen die amerikanische Einmischung in Vietnam demonstrierten, allgemein als „links", und diese Deutung wurde auch auf den einer anderen Kultur angehörenden und in einer anderen weltpolitischen Situation stehenden Ho Chi Minh übertragen. Niemand im Westen schien zu wissen, daß Ho Chi Minhs Kampf um Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft schon vor dem Zweiten Weltkrieg, lange vor der Teilung der Welt in zwei Machtblöcke, begonnen hatte und in den dreißiger Jahren parallel mit dem Unabhängigkeitskampf Mahatma Gandhis und Subhas Chandra Boses in Indien verlief. Man muß noch etwas weiter zurückgehen: Daß Ho Chi Minh sich nach „links" orientierte, sich an den Osten anlehnte, lag in der Logik der Situation und der Geschichte: In der Machtkonstellation des Weltgefüges mußte derjenige, der frei von seinem Fremdherrscher werden wollte, sich an dessen Gegenspieler orientieren. Mit anderen Worten, die Links-Orientierung Vietnams war sekundär gegenüber dem Unabhängigkeitsstreben. So wie noch in den vierziger Jahren im Westen die Meinung vorherrschte, die Völker der Dritten Welt seien „noch nicht reif', sich selbst zu regieren, so gibt es heute eine westliche Auffassung, nach der für diese Völker die westliche Demokratie nicht geeignet sei. Gemessen an der asiatischen Realität liegt in dieser Meinung ein ungeheuerlicher Zynismus. Indien hat die Westminster-Demokratie, Indochina die Republik nie erfahren, denn in ihren Kolonien haben die europäischen Kolonialregierungen demokratische oder republikanische Prinzipien nie angewandt. Die asiatischen Länder, die bei der Ankunft der Europäer so wohlhabend waren, daß große Reichtümer aus ihnen abgezogen werden konnten, hatten im Gegenteil ihre Freiheit durch die westlichen Kolonialmächte verloren.

Und nun, kurz nach ihrer Befreiung aus direkter kolonialer Abhängigkeit, kam wieder ein westliches Land, diesmal eins, das den ehemaligen Kolonien noch einmal „Freiheit" bringen wollte — aber nicht Freiheit, wie sie sie selbst wollten (also die eigentliche) —, sondern eine Freiheit gegen „Kommunismus", d. h. eine aus der innereuropäischen Situation geborene spezifische Version, die nicht allgemeingültig, für die asiatische Situation sogar irrelevant war. „Freiheit" ist kein Sammelruf, mit dem der Westen asiatische Völker für sich gewinnen könne, schrieben damals trotz unterschiedlicher Position im internationalen Gefüge übereinstimmend indische und japanische Journalisten, und: Amerika ist sein eigener ärgster Feind in Asien.

Japan und Indien kritisierten Amerika, das eine Land von innen her, d. h. als ein erstarkendes Mitglied des Westblocks, das andere als blockfreies Land. Die kleineren, schwächeren Länder Ost-und Südostasiens waren nicht in einer Position, offizielle Kritik äußern zu können. Zunächst schienen sich zwar die „Blockfreien" als ein „Block" für sich zu etablieren; aber sie hatten keine wirtschaftliche Basis, die es ihnen ermöglicht hätte, neben den Großmächten unabhängig von beiden zu bestehen. Sie mußten sich, wie Vietnam, an die eine oder andere Seite anlehnen und waren demgemäß in der Richtung ihrer Kritik festgelegt. Thailand gehört zu den Ländern, die früh und unauffällig in den westlichen Bannkreis gerieten. Das malaiische Gebiet wurde zerteilt; nach westlicher Wertung „schuf" England damals das „unabhängige Malaysia", und daneben entstand der Inselstaat Singapore, der — nicht zum Wohle seines natürlichen Hinter-landes — floriert. Das zunächst blockfreie Indonesien trat nach Sukarno auf die Seite des Westens. Die Philippinen, seit 1570 in spanischem „Besitz", waren 1898 gegen 20 Millionen Dollar an die Vereinigten Staaten abgetreten worden und sind seitdem in der einen oder anderen Form mit Amerika liiert. Süd-Korea stand seit dem Ende des Korea-Krieges 1953 unter amerikanischer Schutz„herrschaft" und sandte Truppen für Amerika nach Vietnam.

In Anlehnung an die heutigen westlichen Deutungsversuche der Vorgänge in Kambodscha hätte Asien damals umgekehrt Anlaß gehabt, sich über die amerikanische Mentalität oder Ideologie Gedanken zu machen oder Zusammenhänge mit seiner älteren Historie zu suchen, wobei es allerdings schon nach kurzer Zeit, nach 200 Jahren, auf Europa gestoßen wäre. Asien war aber pragmatischer. Traurig nahm es Abschied von dem westlichen Staat als einem starken Verbündeten, der Menschlichkeit verkörpert und Hoffnung auf Freiheit gebracht hatte, und reihte seine Politik unter die der Großmächte in Vergangenheit und Gegenwart ein.

Wer im Westen ist bereit, diese asiatische Perspektive und ihre Voraussetzungen, ohne deren Kenntnis auch die Entwicklungen in Kambodscha nicht verstanden werden können, näher zu untersuchen? Die Jahrhunderte alte Vorstellung von der eigenen geistigen Überlegenheit über die „farbigen” Völker, denen vermeintlich Selbstverwaltungsfähigkeit fehlt, denen deshalb die Kolonialherrschaft „Gutes

II. Sozio-kulturelle Vorurteile

Als die amerikanische Regierung sich während des Vietnam-Krieges Sorgen um ihre Soldaten an der Dschungelfront machte, um „our boys", fragte in einigen asiatischen Ländern sogar die englischsprachige Presse, ob denn die vietnamesischen Jungen nicht auch Menschen seien, um die man sich Sorgen machen müsse. Die Frage war sehr berechtigt; denn in den späteren Phasen des Krieges lautete eine Kampfparole der amerikanischen Kriegführung „Search and Destroy" (Aufspüren und Zerstören); es ging also nicht mehr um Besiegen, sondern um Vernichten.

Kryptorassismus

Am härtesten haben amerikanische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens selber gewisse Tendenzen der Außenpolitik ihres Landes kritisiert Der Ostasienspezialist des amerikanischen Außenministeriums und des Weißen Hauses zwischen 1961 und 1966 schrieb damals im Zusammenhang mit dem amerikanischen Engagement in Indochina von einem „ungreifbaren Faktor, der sich mit kalter, bürokratischer Gleichgültigkeit verbindet: dem Ingrediens von Kryptorassismus. Ich will damit nicht sagen, daß auf Seiten Washingtoner Beamter der Verlust von Menschenleben dann gering geachtet würde, wenn es sich um Asiaten handelt. Aber ich möchte unumwunden unterstellen, daß bürokratische Gleichgültigkeit sich sehr wohl mit dem traditionellen Gefühl im Westen vermischen mag, daß es doch immerhin sehr viele Asiaten gebe, daß Asiaten Fatalisten sind und sie dem Verlust ihres Lebens mit Gleichmut begegnen ..., daß sie alles in allem doch sehr verschieden von uns sind (und alle sehen gleich aus, nicht wahr?). Und ich will damit sagen, daß man sich als Ergebnis solcher unterschwelligen Auffassung wohl unbewußt die Frage vorlegt, ob nicht Asiaten, und hier insbesondere asiatische Bauern und ganz besonders asiatische gebracht” habe und die ihre politische und wirtschaftliche Lage angeblich nicht selber beurteilen können, wurzelt tief im westlichen Bewußtsein.

Kommunisten, wirklich Menschen sind — wie du und ich... ” Und der Regierungsbeamte und Wissenschaftler ging sogar noch weiter: ..... Würden wir wohl dieselbe Politik verfolgt haben — und genau dieselben militärischen Taktiken —, wenn die Vietnamesen Weiße wären? ”

Eine derartige Frage scheint im Moment in Kambodscha nicht aktuell zu sein; sie war es aber, als Amerika 1969 die lange geheim gehaltenen Bombenangriffe auf Kambodscha begann und 1970 Truppen in Kambodscha einmarschieren ließ, um, wie nachträglich erläutert, das amerikanische „Disengagement" in Vietnam zu erleichtern — all dies wiederum ohne Kriegserklärung und nach Äußerungen der nacheinander betroffenen kambodschanischen Regierungschefs, zuerst Prinz Sihanouk und danach Lon Nol, ohne deren Wissen. In asiatischen Ländern fragte man sich damals durchaus, ob Amerika genauso gehandelt hätte, wenn der Kriegsschauplatz nicht Indochina, sondern Europa gewesen wäre.

Und genau betrachtet spielt jener „Kryptorassismus" auch heute eine Rolle bei der westlichen Annäherung an Kambodscha. Man sucht nach Mentalitäts-und ethnischen Gründen für Krieg und Bürgerkrieg und nicht, wie bei Kriegen oder Spannungen in Europa, nach politischen und wirtschaftlichen Konflikten zwischen Ländern und zwischen verschiedenen parteipolitischen Fraktionen innerhalb einzelner Länder.

Asiatische Entwicklungen und Argumente können nur dann realpolitisch als gleichgewichtig mit westlichen akzeptiert, also ernst genommen werden, wenn man sich der eigenen Vorurteile bewußt wird, die in der Verabsolutierung der eigenen kulturellen Maßstäbe, in Unkenntnis der Kultur und Entwicklungsgeschichte der andern und auch in Vergeßlichkeit bezüglich der eigenen Entwicklungsgeschichte wurzeln. „Agrarvölker" und Industrieländer Die abendländische Entwicklung ist gekennzeichnet von zunehmend rationalistisch-materialistischer Orientierung, deren derzeitiger Endpunkt wirtschaftlich-technischer Erfolg ist Ein zweites Merkmal ist die rational-bewußte „Individuation“, die nach europäischer Beurteilung geradezu als Maßstab für das kulturelle Niveau der Völker gilt, Europa aber von einem nicht-europäischen Standpunkt aus zum Repräsentanten von Individualismus und Egozentrik macht Wenn man zentrale Kennzeichen asiatischer Entwicklungen nennen will, muß man unterscheiden zwischen autochthonen Elementen und Elementen der von den europäischen Kolonialherrschern importierten Strukturen, die die traditionellen Ordnungen der Länder über die Jahrhunderte zersetzt haben.

Die vorkolonialen Völker haben sich aus kleinen, sich selbst verwaltenden Gemeinwesen zusammengesetzt, die natürlicherweise „Dorfgemeinschaften" waren. Die moderne westliche Bezeichnung „Agrarvölker“ für diese alten Gesellschaften verfehlt aber ihren Sinn und erweckt fälschlich den Eindruck von Stagnation, denn „Industrieländer“ im heutigen westlichen Sinne, zu denen sie sich im Gegensatz befunden haben könnten, gab es damals noch nirgends auf der Welt, produzierendes Handwerk und Kunsthandwerk sowie Handel in und zwischen den verschiedenen Regionen Asiens aber schon sehr lange. Zu „Agrarvölkern“ wurden die Völker Asiens erst von den Kolonialherrschern gemacht.

Wenn die kolonial beherrscht gewesenen Länder heute . Agrarvölker“ genannt werden, dann kann das nur infolge von Gedankenlosigkeit geschehen. Denn heute sind sie nicht einmal Agrarvölker“, ihre Landwirtschaft liegt vielmehr brach; ihre Strukturen wurden während der Kolonialzeit zerbrochen, und nach der Erlangung der Unabhängigkeit wurde den Völkern keine Zeit zu ihrer Regeneration gelassen.

Der westlichen Vorstellung, daß Europa jenen Ländern Ordnung gebracht habe (vgl. „Sie können sich nicht selbst regieren“!), fehlt jede sachliche Grundlage. Die Völker haben auf der Basis der kleinen Selbstverwaltungseinheiten über größere Zeiträume als den der Kolonial-epoche gelebt, ohne zu verarmen; sie haben nicht in Subsistenzwirtschaft und geistiger Stagnation gelebt, sondern Kunst hervorgebracht und feste Sitten und Bräuche entwikkelt. Und bei der Ankunft der Europäer waren sie wohlhabend genug, um attraktiv für diese zu sein.

Egozentrik und Gemeinschaftsgefühl Die asiatischen Gemeinschaftskulturen haben sich weder zu rationaler Individuierung noch überhaupt zum Vorherrschen von rationalen und materiellen Gesichtspunkten entwickelt. Das weniger starke Hervor-und Auftreten eines Ego in Asien mag mit zu der westlichen Vorstellung der Massenhaftigkeit der Asiaten beigetragen haben, in der das Leben eines einzelnen Menschen keine Rolle spiele. Tatsächlich ist aber der Lebensraum eines einzelnen innerhalb einer von Gemeinschaftsgefühl getragenen Gesellschaft gesicherter; der einzelne genießt mehr Achtung als in individualistischen Gesellschaften: da niemand seinen eigenen „egoistischen“ Vorteil anstrebt, wird unwillkürlich immer Rücksicht auf jeden anderen Menschen genommen, der ja die gleichen Grundbedürfnisse hat wie man selbst. Diese Haltung entspricht dem „Trieb" zu hilfreichem Gruppenverhalten, den Anthropologen als den ältesten Lebenstrieb beschreiben, dank dessen sich die Menschheit über Jahrtausende entfalten konnte

Die neueren Entwicklungen in westlichen Gesellschaften sprechen nicht dafür, daß das rational individuierte Ego dem mitfühlenden Gemeinschafts-Menschen überlegen ist. Zwar gilt ein starkes Ego als eine „starke Persönlichkeit“, und persönliche Ambitionen wie Ehrgeiz werden in einigen Berufsbranchen akzeptiert oder sogar vorausgesetzt. Aber gleichzeitig ist die Egozentrik auch problematisch geworden, denn die Egos, die sich ihrem Wesen gemäß immer in den Vordergrund rücken, stoßen sich an den vielen anderen Egos, in die sie sich nicht einfühlen wollen und aufgrund ihrer Struktur vielleicht auch nicht mehr einfühlen können. Zur Egozentrik gehört Kurzfristigkeit des Denkens. Außerdem liegt in Individualismus und Egozentrik die Möglichkeit der Zuspitzung zu Selbstverliebtheit und Selbstgenüge; der amerikanische Historiker-Psychologe Christopher Lasch gibt unserer gesamten Epoche die Bezeichnung „Kultur des Narzißmus" Einige international bekannte und einflußreiche „starke Persönlichkeiten" aus dem politischen und religiösen Leben werden von ihm zur Veranschaulichung der narzißtischen Selbstherrlichkeit beschrieben und analysiert. Egozentrisch zeigt sich der westliche Narzißmus auch in dem alten Überlegenheitsgefühl und dem extrem geringen Interesse, die nicht-westlichen Partner wirklich kennen und verstehen zu lernen, sowie in der Unfähigkeit, ihnen überhaupt zuzuhören.

Daß die Völker Asiens sich nicht zu Rationalismus und Materialismus entwickelt hätten, scheint im Widerspruch zu gewissen Beobachtungen zu stehen. Aber der Riksha-Mann, der zusammen mit tausend andern Riksha-Männern, zerlumpt, barfuß, schlecht ernährt und vorzeitig gealtert, keinerlei Aussicht hat, bei der gegebenen Sozialstruktur je im Leben aus dieser Situation herauszukommen, ist kein Materialist, wenn er sich nach einem Transistorradio sehnt; das Gerät ist für ihn vielmehr ein ablenkendes Spielzeug und nimmt einen ähnlichen Platz in seinem Leben ein, wie es Alkohol oder das berühmte Opium täten.

Soweit die Beobachtungen sich auf die Regierungen asiatischer Länder und ihre sogenannten wirtschaftlichen und politischen Eliten beziehen, die vielfach durchaus egozentrisch und materialistisch wirken, bringen sie berechtigte Einwände — nur handelt es sich bei den Beobachteten nicht um autochthone asiatische Elemente, sondern um Elemente der importierten Fremdstruktur. Der zentralistische Nationalstaat und eine quasi-industrielle, an der westlichen Wirtschaft orientierte Wohlstandsschicht sind das Erbe der europäischen Kolonialherrschaft. Die Verwaltungsapparate, deren Mitglieder seit Generationen europäisch erzogen wurden, sind in vielen Fällen unmittelbar aus der Kolonialzeit in die Unabhängigkeit mit herübergenommen worden. Sie sind nicht immer die besten Repräsentanten ihrer Völker, denn sie haben sich vielfach, ähnlich wie ihre wirtschaftlich erfolgreichen Landsleute, nur zu ihrem persönlichen Vorteil an europäischen Werten und Wünschen orientiert. Weitgehend hält der Westen diese Kreise aber noch heute für die fortschrittlichen, weil sie seine Sprache sprechen und weil er fälschlich glaubt, die vor-kolonialen Ordnungen Asiens seien — an einem vom Westen gesetzten und von ihm für absolut gehaltenen Maßstab — „rückständig“ gewesen.

Orientalischer Despotismus Die diffuse Vorstellung von Rückständigkeit und Chaos in alten asiatischen Gesellschaften verbindet sich mit der nicht weniger diffusen Projektion eines „orientalischen Despotismus", von dem die europäische Ordnung die Asiaten befreit habe. Der westliche Mythos vom „orientalischen Despotismus" mag mehrere Ursprünge haben, so vielleicht u. a.den glänzenden Reichtum, das differenzierte Zeremoniell und die Farbenpracht an orientalischen Höfen, von denen frühe europäische Besucher, aus grauerer Umgebung kommend und in ihrer Heimat nicht am Hofe lebend, geblendet waren. Es gibt aber Grund für die Annahme, daß der Mythos erst im Laufe der Kolonialzeit entstanden ist, als das europäische Herrschaftselement hinzukam. Man vergißt bei jener Projektion die einfache Tatsache, daß den alten orientalischen Herrschern kein weitverzweigter Verwaltungsapparat zur Verfügung stand. Es mag unter ihnen genau wie unter europäischen Kaisern und Königen Despoten gegeben haben, aber ihre Despotie erreichte damals, zumindest in Friedenszeiten, nicht das ganze Land, sondern nur den Hof„staat" und dessen unmittelbare Umgebung. Erst der übergreifende Verwaltungsapparat, den die Kolonialherrscher organisierten, erreichte das Volk, die kleinen Gemeinwesen, die sich bis dahin selbst verwaltet hatten. Er griff in ihre Strukturen ein, zerbrach sie und überformte sie mit seinem eigenen System. Erst jetzt entstanden — entwurzelt, ihrer traditionellen Tätigkeiten beraubt und, im Fall der Bauern, ex-B trem besteuert — die „armen Massen“, die jedoch nicht dem Kolonialismus sondern einer vermeintlichen Anarchie und „orientalischem Despotismus" zugeschrieben werden.

Tradition und moderne Anarchie

Die heutigen Strukturen asiatischer Länder sind nur noch Fragmente: Die traditionellen Strukturen sind zerstört und wurden von der „fortschrittlichen" Politik der Regierenden nach der Erlangung der Unabhängigkeit nicht wiederhergestellt; sie hätten, das muß zu deren Entlastung gesagt werden, bisher auch bei entsprechendem Wunsch ihrerseits nicht wiederhergestellt werden können, denn die internationale Wirtschaftsstruktur, von der die meisten von ihnen sich nicht abkoppelten, ließ ihnen weder Zeit noch Möglichkeit dazu. Andererseits sind moderne Strukturen im westlichen Sinne nur rudimentär vorhanden. In den meisten asiatischen Ländern ist bisher keine Infrastruktur geschaffen worden, die elementaren Erfordernissen angepaßt ist, also genügend Arbeitsplätze schafft und ausreichende Mittel bereit hält für Straßenbau, Transportmittel, Kanalisation. Auf dem in Anfängen vorhandenen industriellen Sektor gibt es, wie wir gerade aus eng mit dem Westen zusammenarbeitenden asiatischen Ländern wissen, kein modernes Arbeitsrecht; denn wenn die Zahl der Arbeitsstunden pro Person dort nicht so hoch und der Lohn nicht so niedrig sein dürften, könnte es sich für die westlichen Länder nicht rentieren, Teile ihrer Produktion dorthin zu verlagern. Das heißt: Jene Länder befinden sich in einem Ordnungsvakuum, sie leben jetzt in Anarchie: Das alte System funktioniert nicht mehr, und ein neues, eigenständiges zu formen, wird ihnen verwehrt. Aus ihrem Vakuum heraus laufen sie internationalen Forderungen und Entwicklungen hinterher, die Regierungen dabei psychologisch und sozial weit entfernt von ihren Völkern.

Viele der Regierungen scheinen ihre Länder im westlichen Sinne industrialisieren zu wollen; die Völker jedoch, gäbe man ihnen eine Chance, würden ihre traditionelle Gemeinschaftsstruktur mit Dorf und Handwerk regenerieren. Weder verbreiteter Analphabetismus würde sie dabei behindern noch ihr „Traditionalismus“, in dem materielle und rationale Zweckmäßigkeit nicht der zentrale Wert, sondern ein Wert neben anderen ist

Man braucht aber für den Wunsch nach Regeneration eingeborener Ordnungen gar nicht auf die psychologischen Unterschiede zwischen Asien und Europa und zwischen den asiatischen Völkern und ihren europäisierten Regierungen einzugehen. Der Westen vergißt bei seinen Entwicklungstheorien wieder eine einfache geschichtliche Tatsache, nämlich die, daß er selbst seine technische Industrialisierung bei funktionierender Agrarwirtschaft begonnen hat, die Grundnahrung und Steuern lieferte. Ganz offensichtlich ist der Wunsch nach einer tragenden Agrarstruktur nichts spezifisch Asiatisches und nichts „Traditionalistisches", sondern er ist rational angemessen im Süden wie im Norden.

In einem bestimmten Sinne leben die Völker Asiens noch immer in struktureller Despotie, auch wenn nicht aktiv in ihr Leben eingegriffen wird. Jetzt kommt sie zustande durch die Passivität ihrer Regierungen, wo es darum geht, den Bauern und Handwerkern wieder eine Basis zu geben, auf der sie ihre traditionellen, derzeit brachliegenden Kräfte entfalten können. Ohne ein Stückchen Land und ausreichende Werkzeuge kann auch der begabteste Landwirt keine Früchte ziehen. Und einheimische handwerkliche Produkte finden nur schwer einen Käufer: Die armen Schichten sind nicht kaufkräftig; und die Kaufkräftigen benutzen Erzeugnisse der technischen Industrie. Die armen Massen Asiens haben in Staaten, die keine ausreichende Infrastruktur besitzen, aber doch zentral verwaltet werden, keinen Bewegungsraum und keine Startbasis.

Der Westen sollte gerade solchen Vertretern asiatischer Länder zuhören, die es wagen, ihm nicht nach dem Munde zu reden. Es sind diejenigen, die den elementaren und sachlich gerechtfertigten Bedürfnissen ihrer Völker näher stehen, so wie in der Vergangenheit Ho Chi Minh in Vietman, Mahatma Gandhi in In-dien und auch, anderen Temperaments, zumindest in seinen früheren Jahren Sukarno in Indonesien. Denn ohne Kenntnis sozio-kultureller Voraussetzungen der hier umrissenen

III. Indochinas Gegenwart und jüngste Vergangenheit

Kambodscha ist noch nicht einmal ansatzweise bis zur Entwicklung einer eigenen Landesstruktur gelangt; es ist vielmehr zwischen nicht beendetem Kampf um Unabhängigkeit von europäischer Kolonialherrschaft und modernem „Nord-Süd-Konflikt", zwischen Ost-West-Konfrontation und Spaltung des „Ostens“ zerrieben worden. Die Ratlosigkeit, mit der ein Teil des Westens den Ereignissen in Kambodscha zusieht, zeigt, daß nicht nur sozio-kulturelle Voraussetzungen, sondern auch politische Zusammenhänge unbekannt geblieben oder vergessen worden sind; wer heute Pol Pot oder Khieu Samphan interviewt, muß nicht nur mit Notwendigkeit zu wenig erfahren, sondern sich auch im jetzigen Chaos der politischen Zersetzung Kambodschas verlieren. Die augenblickliche Feindschaft zwischen verschiedenen kambodschanisch-vietnamesischen Gruppierungen — nicht „zwischen Kambodscha und Vietnam"! — ist ein Ergebnis der lang anhaltenden Kämpfe in Indochina, deren Ursprünge in den internationalen politischen Entwicklungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges liegen.

Indochina stand nach 1945 ebenso wie Indien, Indonesien und andere Regionen der Welt vor der Erlangung der Unabhängigkeit von europäischer Kolonialherrschaft. Die Bevölkerung Indochinas wird auf 30 Millionen geschätzt davon entfiel der größte Teil auf die Provinzen Amman und Cochin-China, die heute Vietnam bilden, knapp 3 Millionen auf Laos und Millionen auf Kambodscha 7). Die Bevölkerungen sind einander verwandt und leben in den verschiedenen Gebieten vermischt, auch im heutigen Kambodscha. Khmer bilden hier die Mehrheit neben Vietnamesen, Laoten, Chinesen und Angehörigen von Bergstämmen

Auch die französische Kolonialverwaltung hatte zur Vermischung der Bevölkerung beigetragen, indem sie sie je nach ihrem kolonial-wirtschaftlichen Bedarf umsiedelte und z. B. Vietnamesen in die dünner besiedelten Gebiete von Kambodscha und Laos zur Arbeit auf den Gummiplantagen und in den Minen schickte. Frankreich hat, so zitiert Schlesinger Präsident Roosevelt, „das Land" — Indochina — „fast hundert Jahre gehabt und gemolken Was immer an ethnischen Animositäten vorhanden gewesen sein mag, hat also bis zur Ankunft der Europäer weder zur Teilung und Zersetzung noch zu Armut und Hunger in Indochina geführt; „das Land" war vielmehr im 19. Jahrhundert reich genug, um, wie US-Präsident Roosevelt es formulierte, von Frankreich dann 100 Jahre lang „gemolken" werden zu können.

Indochina ist bis zum vietnamesischen Sieg von Dien Bien Phu 1954 zwar kein Nationalstaat im westlichen Sinne, aber auch nicht in drei oder vier Nationalstaaten zerspalten gewesen. Alle Probleme, die danach in Vietnam, Laos und Kambodscha entstanden, sind nur im Kontext internationaler Politik zu verstehen.

Vietnam US-Präsident Roosevelt betrachtete die japanische Südostasien-Strategie in den dreißiger Jahren als eine Bedrohung „vitaler" amerikanischer Interessen, denn sie gefährdete die Versorgung der amerikanischen Industrie mit Gummi — ein westliches Bedürfnis, das nicht neu war! Als Japan schließlich die süd-ostasiatischen Länder überrollte und damit den europäischen Kolonialmächten in Asien und auch Amerika auf den Philippinen die erste Niederlage in ihrer Geschichte zufügte, sah Präsident Roosevelt voraus, daß die durch die temporären militärischen Siege Japans geschaffene Situation sich auch später nicht wieder rückgängig machen lassen würde. Er trug deshalb seinen Gedanken, Indochina, „eines der schwächsten Glieder in der Kette des westlichen Imperiums", einer internationalen Kommission zu unterstellen, es „für die Selbstverwaltung zu erziehen" (!) und auf die Unabhängigkeit vorzubereiten, auch Chiang Kaishek und Stalin vor, die ihn im Unterschied zu England akzeptabel fanden

Präsident Roosevelt, der nach diesen Worten weniger auf der Grundlage von Verständnis für Indochinas Unabhängigkeitsstreben dachte und plante, sondern primär westliche Wirtschaftsinteressen im Auge hatte, sollte Recht behalten; nur hatte er offenbar den Widerstand der alten Kolonialmächte gegen jegliche Veränderung des vor-japanischen kolonialen Status quo nicht richtig eingeschätzt. Zunächst nahmen die Ereignisse einen unkomplizierten Lauf. Ho Chi Minh, so schreibt Reischauer, der 1945/46 im amerikanischen Außenministerium tätig war, „hatte schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine äußerst aktive nationalistische Oppositionsbewegung gegen die französische Kolonialherrschaft in Indochina gegründet. In den letzten Jahren des Krieges ... konnte Ho Chi Minhs Vietminh-Bewegung mit der Unterstützung bedeutender nicht-kommunistischer Gruppen festen Fuß in Nordvietnam fassen. Ho arbeitete unter dem Schutze von Chiang Kai-sheks Nationalregierung in China und erhielt sogar Unterstützung von den Vereinigten Staaten. Als dann die Japaner im März 1945 die Franzosen vertrieben und im August selber kapitulieren mußten, . brachte die Vietminh fast ganz Vietnam unter ihre Kontrolle'— so lautete die offizielle Formulierung; anders und zutreffender gesagt: der eingeborene Widerstand gegen die Fremdherrschaft setzte sich durch. Chiang Kai-sheks Truppen, die im Norden die japanische Übergabe entgegennahmen, erkannten die Vietminh als die vietnamesische , de facto-Regierung'in dem von ihr kontrollierten Gebiet an .. .“ Bao Dai, unter der französischen und der kurzen japanischen Herrschaft nominell . Kaiser', dankte zugunsten der Vietminh ab.

Diese Regelung wurde jedoch nicht allgemein akzeptiert: „Die Briten ..., die die japanische Kapitulation in Südvietnam entgegennahmen, verhinderten unter Einsatz französischer, japanischer und eigener Streitkräfte bis zur Rückkehr der französischen Kolonialbehörden eine Übernahme des von ihnen besetzten Gebietes durch die Vietminh..." Schlesinger kommentiert die britische Haltung kurz als der Besorgnis entspringend, daß — sinngemäß — das indonesische Beispiel Schule machen könnte er widerlegt mit diesen Worten eine ganze langlebige westlich-sozialwissenschaftliche Annahme, nach der England seine Kolonien auf die Unabhängigkeit vorbereitet habe.

Während dieser Zeit gab es ständige Unruhen, die aus dem Unabhängigkeitsstreben der einheimischen Bevölkerung und Übergriffen französischer Kolonialbeamter sowie Uneinigkeit unter den beteiligten internationalen Kräften resultierten. Diese Entwicklungen gingen in den „Ersten Indochina-Krieg", Untertitel „Die Franzosen" über, der „offiziell" mit einem französischen Marineangriff auf den nordvietnamesischen Hafen Haiphong im November 1946 begann und acht Jahre dauerte, länger also als der Zweite Weltkrieg, der Europa verwüstete. Er endete mit der französischen Niederlage von Dien Bien Phu 1954.

Die vor dem Fall von Dien Bien Phu geplante Indochina-Konferenz in Genf hätte danach eigentlich nicht mehr stattzufinden brauchen; aber über Vietnam wurde, obwohl es den Krieg gewonnen hatte, verfügt. Das Genfer Abkommen von 1954 sah einen „Waffenstillstand“ zwischen der europäischen und der asiatischen Partei, eine „provisorische Demarkationslinie" am 17. Breitengrad mit Hanoi als nördlicher und Saigon als südlicher Hauptstadt und allgemeine Wahlen in ganz Vietnam für 1956 vor.

Amerika war inzwischen von seinem von Roosevelt vertretenen Standpunkt abgerückt. Die Weltlage hatte sich seit 1945 verändert: In China hatte sich Mao Tse-tung gegenüber Chiang Kai-shek durchgesetzt, und in Europa war der . Kalte Krieg'entstanden. „ 1949 begannen" deshalb „die USA, die mit Besorgnis ...den anscheinend steigenden Einfluß des Kommunismus überall in der Welt sahen, die Franzosen tatkräftig zu unterstützen: 1954 trugen die USA schließlich 80 Prozent der französischen Kriegskosten." Mittlerweile war also aus dem Unabhängigkeitskampf der Vietnamesen in der westlichen Interpretation ein Krieg im Rahmen der Ost-West-Konfrontation geworden. Von Asien aus gesehen dagegen hatte Amerika die Nachfolge der Kolonialmacht Frankreich angetreten.

Die USA hatten das Genfer Abkommen nicht unterzeichnet: im Kontext der Ost-West-Konfrontation gründeten sie 1954 zusammen mit sieben befreundeten Ländern die SEATO und stützten mittels Wirtschafts-und Militärhilfe Saigon unter dem noch von den Franzosen wieder eingesetzten Bao Dai und später das Regime Ngo Dinh Diems. Wohl alle Kenner der indochinesischen Szene wußten damals, daß aus allgemeinen Wahlen, für 1956 vorgesehen, Ho Chi Minh als Sieger hervorgehen würde. „Diem war daher fest entschlossen, die Wahlen zu verhindern; er weigerte sich, im Juli 1955 an den in Genf beschlossenen Vorgesprächen teilzunehmen, und im Sommer 1956 ignorierte er, von den Amerikanern offen unterstützt, den Wahltermin. Die ursprünglich nur provisorische Demarkationslinie zwischen Nord-und Südvietnam wurde zu einer festen Einrichtung." Wieder, oder immer noch, hatte ein asiatisches Volk keine Stimme, unterdrückt, sei es direkt oder indirekt, von einer westlichen, nicht von einer östlichen Macht. Denn Diem allein wäre gegen Ho Chi Minh und den vietnamesischen Volkswillen niemals angekommen.

Daß Ho Chi Minh diese Regelung nicht akzeptieren würde, hätte vorausgesehen werden können. Die USA hatten erlebt, daß, wie Reischauer schreibt, die Franzosen selbst mit massiver amerikanischer Unterstützung den Vietminh nicht gewachsen waren, „die bedeutend weniger Unterstützung vom Ausland erhielten, dafür aber den vietnamesischen Nationalismus weitgehend auf ihrer Seite hatten" So ging der Krieg nach dem vietnamesischen Sieg von Dien Bien Phu weiter — der „Zweite Indochina-Krieg", Untertitel: „Die Amerikaner"

Spaltung, Kommunismus, Nationalismus Zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde nach 1954 Vietnam, wurde Indochina in feindliche „National" einheiten zerspalten, und gleichzeitig begann auch jene politische Zersetzung der Region, die heute in Kambodscha sichtbar ist. Denn die volkstümlich-politischen Strömungen entsprachen der offiziell-politischen Teilung Vietnams nicht. Das Unabhängigkeitsstreben bestand in der Provinz Cochin-China im Süden genau wie in der Provinz Annam im Norden und wie in Laos und Kambodscha; von nun an überschnitt sich die formal-politische Teilung Vietnams mit einer anderen Art von Spaltung, die durch ganz Indochina ging: die zwischen dem Volk und der westlich orientierten administrativen und wirtschaftlichen „Elite" der drei Länder (vier, wenn man für den betreffenden Zeitraum Nord-und Südvietnam gesondert zählt). — Alle noch folgenden Genfer Indochina-Konferenzen waren von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn das Volk Indochinas, dessen Sache 1954 in Dien Bien Phu gesiegt hatte und 1956 in allgemeinen Wahlen vertreten worden wäre, bekam in der Weltpolitik keine Stimme.

Es gab damals zwei westliche Deutungen der Ereignisse. Die verbreitetste war die west-ostideologische, aber sogar innerhalb dieser Konzeption gab es Kritik an der offiziellen amerikanischen Indochina-Politik. Ostasien-Experte Reischauer, Harvard-Professor und Regierungsbeamter in wechselnden hohen Ämtern, begann schon vor der französischen Niederlage von Dien Bien Phu seine Arbeit für das Buch, das 1955 unter dem provozierenden Titel „Wanted: An Asian Policy" in New York erschien. Enttäuscht konstatiert er in seinem oben zitierten Buch „Was kommt nach Vietnam?“, daß das frühere Buch zum gleichen Thema in die Bibliotheksregale ein-und dort untergegangen sei. Der Idealist Reischauer hatte erwartet, daß seine Expertenmeinung von der durchführenden Politik berücksichtigt werden würde. Er vertrat einen Standpunkt, den damals niemand im öffentlichen Leben des Westens einschließlich des größten Teils der westlichen Ländervertretungen in Asien akzeptiert oder auch nur gekannt hat, der heute aber nicht mehr außergewöhnlich erscheint. Reischauer schrieb damals, daß Ho Chi Minh China gegenüber so frei gewesen wäre wie Tito gegenüber der Sowjetunion: „Die Tatsache, daß Hanoi seine Unabhängigkeit sowohl von Peking als auch von Moskau zu wahren gesucht hat, und zwar trotz der militärischen Abhängigkeit von beiden, in die es durch den Krieg gegen die USA gedrängt wurde, läßt erkennen, daß ein kommunistisches Vietnam ohne diesen militärischen Druck recht unabhängig gewesen wäre." Unabhängig davon weist Schlesinger darauf hin, daß durch den Bruch zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China der Kommunismus als eine monolithische Ideologie aufgelöst und allen kommunistischen Staaten die Möglichkeit offen war, auch nationale Politik zu verfolgen Beide Autoren deuten an, wieviel unproblematischer die Entwicklungen in Asien verlaufen wären, wenn Amerika eine sachgerechtere, verständnisvollere Asien-Politik verfolgt hätte.

Bei seinem Versuch, die Umwälzungen in Asien zu verstehen, zog der Westen neben „kommunistischer Unterwanderung" noch eine andere Erklärung heran, nämlich den „erwachenden Nationalismus" der „jungen Völker". Auch Reischauer und Schlesinger wenden dieses Konzept an in ihrem Bemühen, dem Westen die Vorgänge in Indochina verständlich zu machen. Aber diese westliche Projektion war zwiespältig.

Die einen meinten es positiv. Der Nationalstaat und das Nationalbewußtsein gehörten für sie zu dem „Guten", das die europäische Kolonialherrschaft den außereuropäischen Völkern gebracht habe, und in einem gedanklichen Kurzschluß glaubte Europa, im Zusammenhang mit seiner Vorstellung von einem „orientalischen Despotismus" den von ihm beherrschten Völkern zugleich mit dem Nationalstaat auch die Freiheit gebracht zu haben, die jene vorher nicht gekannt und, mangels gedanklicher Kenntnis, auch nicht angestrebt hätten.

Den westlichen Kreisen, die in dieser Vorstellung lebten, ist das Wort „Erwachen" der Völker Asiens zuzuschreiben. Die Geschichte der Unabhängigkeitsbewegung der kolonial beherrscht gewesenen Völker, der Aufstände gegen die Fremdherrschaft und ihrer Niederschlagung durch die Kolonialregierungen, war nicht bekannt, und die Vorstellung von einem individuellen, spontan-menschlichen Verlangen nach natürlicher Freiheit in einer nicht zentral verwalteten Welt gab es im Westen damals offenbar nicht. Auf diesem Hintergrund erschien die bisher unbekannte „nationale" Dynamik in Asien als etwas Neues, vom Westen Gelerntes, Positives — während sie in Wirklichkeit nur eine Reaktion war, ein Versuch, sich mit den Mitteln des Feindes von ihm zu befreien, da die eigenen Mittel nicht ausgereicht hatten.

Andere Kreise im Westen gingen offenbar von negativen Aspekten des Nationalstaates aus, aber weniger von innerstaatlichen, wie Totalitarismus, als von außenpolitischen. Wenn sie von Nationalismus in Asien sprachen, meinten sie eine ihrer Meinung nach unvernünftige Isolierung und stellten außerdem den aus der Defensive geborenen asiatischen „Nationalismus" den aggressiven Nationalismen Europas gleich. Mit dieser Interpretation verschlossen sie ihre Augen vor der geschichtlichen Tatsache, daß die Länder Asiens während der Kolonialepoche in Unfreiheit gelebt hatten.

Die Projektion vom asiatischen Nationalismus machte es möglich, die Länder Asiens gegeneinander auszuspielen, d. h. zu unterstellen, daß z. B. Vietnam, Laos und Kambodscha gegeneinander gerichtete „nationale" Interessen hätten. In Wirklichkeit ist der größte Teil der internen „Interessen-" oder Machtkämpfe ein Erbe des kolonialherrschaftlichen divide and rule und damit das Ergebnis der machtpolitischen Einmischung seitens der Großmächte in der Gegenwart.

Kambodscha: Prinz Sihanouk

In den sechziger Jahren eskalierten die USA ihr „Engagement" in Indochina. Ende 1950 wa13 ren nur 800 amerikanische Soldaten in Vietnam, drei Jahre später 15 000, und deren Zahl wuchs auf über 550 000 an Spätestens 1964 begannen nach einem „Zwischenfall" im Golf von Tonking die amerikanischen Luftangriffe auf Nordvietnam, die ab Februar 1965 planmäßig und offiziell durchgeführt und erweitert wurden. Es ereignete sich der „Holocaust", der damals nicht als solcher bezeichnet wurde. Und während die USA in Vietnam, auch im von ihnen gehaltenen Süden, mit immer härteren Mitteln kämpften, dehnten sie ihre Kampfhandlungen auf Laos und Kambodscha aus. Daran erinnern Namen wie „Ebene der Tonkrüge" (im Norden von Laos), durch die 1969 „die CIA-unterstützte Clandestine Army" zog, Ho Chi Minh-Pfad und Begriffe wie „verbrannte Erde". Laos wurde mit denselben Mitteln verwüstet wie Vietnam — nur wurde darüber im Westen noch weniger berichtet. Am 26. Februar 1970 schreibt die in Hongkong erscheinende Far Eastern Februar 1970 schreibt die in Hongkong erscheinende Far Eastern Economic Review über die amerikanischen Kriegshandlungen in Laos: „... An manchen Stellen haben die jahraus, jahrein, Tag und Nacht geflogenen Bombenangriffe die Konturen der Landschaft verändert; kleine Flußläufe haben, indem sie Kilometer auf Kilometer die Krater mit Wasser auffüllten, Seen gebildet ... 24).

Oft wurden amerikanische Kriegshandlungen erst nachträglich bekannt, z. B. durch zufällige Besuche amerikanischer Journalisten an Stätten, die kurz zuvor Opfer eines amerikanischen Luftangriffes geworden waren; viele weitere amerikanische Aktionen sind der westlichen Öffentlichkeit wahrscheinlich bis heute verborgen. Jedenfalls beträgt nach Chomsky, der sich auf Angaben des Pentagon stützt, die allein schon zwischen 1965 und 1969 über Indochina abgeworfene Bombenlast das Neunfache der Bombentonnage, die während des Zweiten Weltkrieges insgesamt über dem pazifischen Kriegsschauplatz einschl. Hiroshima und Nagasaki niedergegangen ist 25).

Daß der Ho Chi Minh-Pfad eine ungerechtfertigte („ausländische"!) „Einmischung" Vietnams in Laos darstelle, war eine westliche Verzerrung der geschichtlichen Gegebenheiten.

Prinz Sihanouk sagte in einer Rede auf der „Gipfelkonferenz der Völker Indochinas", die er 1970 nach seinem Sturz von seinem chinesischen Exil aus einberief: „Der Zynismus der US-Führung erreichte seinen Höhepunkt, als sie verlangte, daß die Widerstandskräfte unserer drei Völker ... als Gegenleistung für den teilweisen Abzug amerikanischer Streitkräfte ihre Länder verlassen, und insbesondere, indem unser Widerstand auf eigenem Boden kurzerhand zur . Intervention durch das Ausland'erklärt wurde .. " 26).

Sihanouks Bemühung um Neutralität Kambodschas wurde von späteren amerikanischen Indochina-Experten hoch eingeschätzt. Bis 1965 stand er mit Frankreich und auch mit Amerika nicht allzu schlecht, wenn auch wohl besser mit China. Der linken Opposition in seinem Land war er nicht sozial und konsequent genug, aber das Landvolk scheint ihn verehrt zu haben. Die rechte Opposition war schillernd; sie versuchte, ihm zur Last zu legen, daß er ausländischen Einflüssen gegenüber nicht unabhängig genug war. Die späteren Entwicklungen legen nahe, daß diese Vorwürfe sich auf seine Beziehungen zum chinesischen, nicht zum amerikanischen Ausland richteten. Letztlich stand Sihanouk für amerikanische Vorstellungen zu weit links. Als er 1970 während einer Abwesenheit von Pnom Penh gestürzt wurde, erklärte sich Amerika schnell mit Sihanouks ehemaligem Ministerpräsidenten Lon Nol als Nachfolger einverstanden, der die Neutralität aufgab und sich eindeutig zum westlichen Lager bekannte. Es spricht vieles dafür, daß Amerika den Sturz Sihanouks mit vorbereitet hat; aber man kann diese Frage ruhig offenlassen. Amerika hat jedenfalls, und zwar von Anfang an, mit Lon Nol besser zusammengearbeitet als je vorher mit Prinz Sihanouk.

Im nachhinein muß gesagt werden, daß Sihanouks Neutralitätsbemühen nicht so positiv zu bewerten ist. Er hat die Neutralität mit sehr gefährlichen und oft schädlichen Mitteln aufrechtzuerhalten versucht, und zwar im Innern des Landes unter Anwendung von Gewalt. Die Opposition mußte in den Untergrund gehen, wenn sie überleben wollte. Sihanouks Armee werden Massaker zugeschrieben, deren Grausamkeit den heute gemeldeten kaum nach-stand, so z. B. bei der Niederschlagung des Bauernaufstandes in der Provinz Battambang 1967. Und während er mit den „linken" Kräften Indochinas, d. h.denen, die um Unabhängigkeit vom Ausland, geschichtslogischerweise speziell dem westlichen, und für eine asiatisch-sozialistische Wirtschaft kämpften, von einem neutralen Standpunkt aus zusammenzuarbeiten versuchte, gleichzeitig aber in seinem Land soziale Aufstände brutal unterdrückte, wurde seine Regierung von rechts her unterwandert. Eine rechtsstehende Untergrundbewegung bildeten die Khmer Serei („Freie Khmer”), zu der von den amerikanischen Special Forces in Südvietnam ausgebildete und von Stützpunkten in Südvietnam und Thailand aus operierende Kambodschaner gehörten; eine ihrer führenden Persönlichkeiten war Son Ngoc Thanh, der während des Zweiten Weltkrieges eng mit Japan zusammengearbeitet hatte und sich später in den Dienst der CIA stellte

Sihanouks Neutralität war keine Position, die sich zwischen zwei — wenn auch nicht gleich starken, so doch gleich entschlossenen — Gegnern in Indochina auf die Dauer behaupten konnte. Sie schuf vielmehr ein politisches Vakuum, das Kambodscha schwächer machte, als es Vietnam und Laos je gewesen waren.

Ein Jahr vor dem Sturz Sihanouks im März 1970 begannen die umstrittenen und lange geheimgehaltenen regelmäßigen amerikanischen Luftangriffe auf sogenannte vietnamesische Zufluchtstätten in Kambodscha

Obwohl mit der Machtübernahme durch Lon Nol 1970 die offizielle Neutralität Kambodschas beendet war — und zwar zugunsten des Anschlusses an die westliche Politik —, wurde Kambodscha für westliche Besucher zunehmend unzugänglicher. Bis zum Jahre 1969 konnten westliche Touristen noch die Tempelruinen von Angkor Vat im Dschungel um Siem Reap besuchen; dann wurde dies unmöglich, weil Kambodscha voll in den Krieg einbezogen und die Region Siem Reap/Angkor Vat von den Roten Khmer eingenommen wurde. Das politische Vakuum, das Sihanouks Neutralität hinterlassen hatte, wurde vom Bürgerkrieg ausgefüllt. Wer heute von „ethnischen Feindschaften" zwischen Kambodschanern und Vietnamesen spricht, erinnere sich daran, daß zwischen 1970 und 1975 Kambodschaner gegen Kambodschaner kämpften, die Truppen der Roten Khmer gegen die Armee Lon Nols.

Es war ja nur die europäisierte „Elite", die Lon Nols Politik unterstützte, und was infolgedessen geschah, hätte vorausgesehen werden können: Der innere Widerstand in Kambodscha wuchs und konsolidierte sich, und zwar nun einhellig zugunsten der linken Kräfte. Soweit die Landbevölkerung Prinz Sihanouk verehrt hatte, war sie von Beginn gegen Lon Nol, der ihn gestürzt hatte; wer wie Sihanouk gern neutral geblieben wäre, aber — im Unterschied zu ihm — für die sozialen Erfordernisse des Landes offen war und unabhängig sein wollte, hatte keine andere Wahl, als sich auf die Seite der Linken zu schlagen; und je brutaler die Polizei und das Militär Lon Nols jeden Widerstand unterdrückten, desto mehr Anhänger fanden die Roten Khmer im Volk. Erst jetzt wuchsen sie zu der Kraft heran, die in der Lage war, 1975 Pnom Penh einzunehmen.

Die westliche Unterschätzung bzw.der geringe Bekanntheitsgrad der Roten Khmer selbst ist einer der Gründe dafür, daß sie stärker wurden und sich die Lage in Kambodscha verschlechterte. Als Kissinger 1972 in seiner Funktion als „Berater des Präsidenten für Angelegenheiten der Nationalen Sicherheit" Bedingungen formulierte, die zur Einstellung der Kampfhandlungen in Kambodscha führen sollten, wandte er sich damit an die nordvietnamesische Regierung, unter der falschen Voraussetzung, daß diese für die Roten Khmer sprechen könnte Die Folge davon war, daß die Nichtbeachtung der amerikanischen Bedingungen in Kambodscha eine Fortsetzung der Kampfhandlungen zu rechtfertigen schien und für das Scheitern der Friedenspläne die Kambodschaner verantwortlich machte.

Khmer Rouge

Die Roten Khmer sind, verglichen mit den Vietminh, eine junge Organisation. Sie ent-standen zu einer Zeit, in der die ehemals kolonialbeherrschten Völker zum größten Teil ihre formal-politische Unabhängigkeit erlangt hatten und die Welt von zwei deutlich umrissenen Machtblöcken beherrscht wurde. Demgemäß war ihre politische Überzeugung und ihre Kampfbasis enger gefaßt als es die der Vietminh gewesen waren: sie nannten sich „rot“ und bekannten sich damit zu einer der herrschenden Ideologien. Anders als die durch ihren Sieg auch über die USA — fast zwei Jahrzehnte nach dem in Dien Bien Phu schon einmal errungenen Sieg über den Westen — stabilisierte Regierung des geeinten Vietnam waren die Roten Khmer noch immer eine Partisanen-Bewegung, eine Widerstandsgruppe, deren Labilität durch jede vorübergehende Niederlage und jeden Positionswechsel offenbar wurde. Sie hatten sich in dem langanhaltenden Inferno, aus dem sie geboren waren, auch nicht auf die Regierung eines Landes vorbereiten können, schon gar nicht eines Landes, das von Fremdeinmischung und Bürgerkrieg zerrissen war.

Damit sind aber noch nicht alle Schwächen der Roten Khmer genannt. Als ihre Truppen 1975 Pnom Penh einnahmen — Lon Nol hatte sich mit seiner Regierung rechtzeitig abzusetzen gewußt —, war „das Auffallendste an ihnen ... ihre Jugend und ihre Erschöpfung .. "

Schon während des Vietnam-Krieges fiel bei der Berichterstattung auf, daß die Soldaten immer jünger wurden. Es sind aber nie Zusammenhänge mit den hohen Verlusten an Menschenleben hergestellt und Schlußfolgerungen gezogen worden. Es wurde vielmehr stets von dem unerschöpflichen asiatischen Reservoir an Menschen gesprochen -Man schaue auf eine Weltkarte und vergleiche die Ausdehnung Indochinas mit der Westdeutschlands, wo heute mehr als 60 Millionen Menschen leben: wenn in ganz Indochina vor dem jahrzehntelangen Krieg 30 Millionen Menschen gelebt haben sollten, so waren das keine „unerschöpflichen Menschenmassen“. Und die keineswegs exzessiv hohe Bevölkerung wurde durch den Krieg sowohl mit mechanischen Mitteln, die mit einem Hebeldruck viele Mens 31chen töten, als auch zusätzlich mit den Mit-teln des Guerilla-Dschungel-Krieges dezimiert. Dazu kommt noch, daß die durchschnittliche Lebenserwartung auch unter normalen, friedlichen Umständen in den soge-nannten Entwicklungsländern wesentlich geringer ist als in den westlichen Industrieländern und in Japan. (Im speziellen Fall Indochinas können schwerlich Statistiken über die Lebenserwartung unter „normalen, friedlichen" Umständen vorliegen!) Die bloße Tatsache der Jugendlichkeit, der Kindlichkeit der Soldaten in Kambodscha, das länger als Vietnam und Laos immer noch kämpft, ist ein Anzeichen für das Aussterben eines Volkes.

Was können die Kinder-Soldaten an Ausbildung besitzen? Es kann unter ihnen keine Ärzte, Ingenieure, Verwaltungsfachleute geben. Die Grunderziehung der „Tschlop“, der „jungen Garden der Roten Khmer“ muß hauptsächlich in einer Indoktrination bestanden haben, deren Fanatismus seinerseits bereits aus Angst, Elend und dem Erleiden von Ungerechtigkeit über lange Zeit geboren war. Die in Pnom Penh einrückenden, erschöpften, jugendlichen Truppen können dem Chaos und dem Elend, das sie nach fünf Jahren Krieg und Bürgerkrieg in der Stadt und in den Krankenhäusern vorfanden, unmöglich gewachsen gewesen sein. Allein aus diesem Grund setzten sich Chaos und Elend fort Und zu ihrer sachlichen Inkompetenz kam die absichtliche Grausamkeit. Skrupel irgendwelcher Art haben sie in ihrem bisherigen kurzen Leben nicht zu entwickeln gelernt. „Die Gefährlichsten waren die Neun-und Zehnjährigen“, sagte eine Frau. „Pol Pot hatte ihnen dieses Spiel beigebracht“ (Gespräche abhören, denunzieren, töten). „Für sie war es das gleiche wie eine Eidechse zu töten oder einen Schmetterling zu fangen."

Die Roten Khmer setzten die grauenhaften „Säuberungen" fort; es wurden jetzt rechte und rechtsverdächtige Menschen umgebracht oder „exekutiert", so wie vorher von den Kräften Lon Nols linke und linksverdächtige. In die Zeit nach 1975 fallen auch Maßnahmen, die im Westen nur vereinzelt bekanntgeworden und, aus ihrem Kontext herausgelöst, mystifiziert worden sind. Zu diesen gehört die Räumung der Städte aufgrund der angeblichen Städtefeindlichkeit der Roten Khmer.

Man muß dazu wissen, daß es zu den Methoden der amerikanischen Kriegführung in Vietnam, Laos und Kambodscha gehört hatte, die Bevölkerung in überschaubaren Siedlungen oder Lagern zusammenzufassen, um sie besser kontrollieren zu können und ihnen die Unterstützung „linker" indochinesischer Befreiungsgruppen, seien es Vietcong, Pathet Lao oder Rote Khmer, unmöglich zu machen. Diesem Ziel hatte auch die Aktion „Verbrannte Erde“ gedient, die die Landbevölkerung der betroffenen Gebiete zwang, ihre Dörfer zu verlassen. Von offizieller amerikanischer Seite wurde diese Aktion auch „Urbanisierung" genannt, womit „Modernisierung" suggeriert wurde.

Die „Städtefeindlichkeit" der Roten Khmer war also nicht nur sehr verständlich, sondern zudem praktisch naheliegend, weil in Kambodscha totales Chaos herrschte und es keinerlei städtische Infrastruktur mehr gab (kein Geld, keinen Postverkehr, keine Lebensmittelversorgung). Die Rückkehr aufs Land bot unter diesen Umständen die einzige, wenn auch extrem vage Überlebensmöglichkeit. Und drittens hatte in den Städten die europäisierte „Elite" gelebt.

Zur Pathologie der Grausamkeit Die von den Roten Khmer begangenen Gewalttaten müssen auf dem Hintergrund des 30jährigen Krieges in Indochina gesehen werden. Schon in Vietnam und Laos hatte der Krieg extrem grausame Dimensionen angenommen. Je stärker die Zwänge von außen wurden, um so empfindlicher und gleichzeitig fanatischer wurde man gegenüber ausländischen Forderungen und Maßnahmen und gegenüber Gruppen und Personen in den eigenen Reihen, die vermeintlich oder tatsächlich mit dem äußeren Feind kollaborierten. Zeitlich parallel mit den schlimmsten Grausamkeiten der Roten Khmer muß ihre Unterwanderung durch Amerika und ihr innerer Zerfall stattgefunden haben, d. h. zur Frustration kamen in zunehmendem Maße Mißtrauen und eigene Ohnmacht. Wahrscheinlich gilt für den kollektiven Amoklauf der Roten Khmer prinzipiell dieselbe Erklärung, die Manfred von Conta im „Stern" Nr. 43/1980 für ein von Indianern in Brasilien angerichtetes Massaker gibt: „... Jahrelang aufgestauter, ohnmächtiger Zorn hatte sie rasend gemacht." Dazu kommen, wie in allen Lagern, noch psychisch abnorme Zustände einzelner Soldaten und einzelner militärischer und politischer Führer und im Fall der Roten Khmer speziell die abnorme Jugendlichkeit ihrer Soldaten.

Das ist aber erst die eine Seite: Wenn heute von massenhaften menschlichen Skeletten in den Feldern Kambodschas geschrieben wird, so kann bisher niemand beweisen, wie lange sie sich dort befinden und ob es Überreste von Opfern Pol Pots sind. Es ist eine einfache Schlußfolgerung der Logik, daß auch die Über-reste der Opfer der amerikanischen Bomben-angriffe in der Erde Kambodschas geblieben sein müssen. Gewalttaten auf allen Seiten sind wahrscheinlich genausowenig typisch für Amerikaner wie für Asiaten, sondern charakteristisch für Menschen gleich welcher Rasse und Kultur, die lange in ständiger Spannung und Todesangst leben, oder auch für solche, die zu abnormen psychischen Reaktionen neigen.

Pol Pot, Khieu Samphan, Heng Samrin Nach dem Sturz Lon Nols ging der Krieg nach außen weiter. Die kambodschanische Marine kaperte im Mai 1975 das US-Container-Schiff Mayagüez, und als „Vergeltung" ordneten Präsident Ford und Außenminister Kissinger die Bombardierung des kambodschanischen Fest-landes an

Die Jahre zwischen 1975 und 1978 sind bis heute sehr dunkel. Es sind die Jahre der Schreckensherrschaft der Roten Khmer mit Pol Pot an der Spitze — nach einem Zwischenspiel vom September 1975 bis April 1976, in welchem Prinz Sihanouk, der sich nach seinem Sturz vom Exil aus mit den linken Kräften Indochinas verbündet hatte, noch einmal als zumindest nominelles Staatsoberhaupt Kambodschas fungierte —, in denen aber auch bemer-kenswerte Veränderungen stattgefunden haben müssen. Dafür sprechen z. B. die folgenden Indizien: Die International Herald Tribune berichtet am 14. August 1980 (spät!), daß 1978 die wirtschaftliche und soziale Politik Kambodschas etwas liberalisiert war. Ausländische Touristen besuchten (wieder) die Ruinen von Angkor, und eine große Zahl von technischem Personal kehrte auf seinen früheren Posten in Pnom Penh zurück.

In der westlichen Berichterstattung über die Roten Khmer nimmt Pol Pot den ersten Platz ein; Khieu Samphans Name ist erst seit kürzerer Zeit im Westen bekannt. Die Meldungen über Pol Pot sind etwas mysteriös. Im Newsweek-Artikel vom 21. Juli 1980 schreibt der Reporter am Schluß seines Berichts über den „unheimlichen" Besuch im verregneten Dschungel-Camp. Während seines Gesprächs mit Khieu Samphan hätte Pol Pot wenige Meter entfernt, entmachtet, in einem Gefängnis-käfig kauern, aber genau so gut als Graue Eminenz noch immer der Führer der Roten Khmer sein können. Für die Greueltaten der Roten Khmer werden Pol Pot und seine engste Clique verantwortlich gemacht, zu der Khieu Samphan offensichtlich nicht gehört. Khieu Samphan hat unter Eingeweihten den Ruf der Integrität genossen, und man fragt sich, wie dieser integre und intellektuelle Politiker der Roten Khmer sich mit den von ihnen verübten Grausamkeiten in Verbindung bringen läßt.

Pol Pot, 1928 geboren, erhielt eine Ausbildung in einer buddhistischen Pagode, am College Technique in Pnom Penh und in Paris, wo er Radioelektronik studierte. Er fiel dreimal durch die Abschlußprüfungen, weil er eigenen Erklärungen zufolge hauptsächlich an revolutionärer Arbeit interessiert war Nach Pnom Penh zurückgekehrt, wurde er als Journalist bekannt und gehörte, zunächst insgeheim, der Kommunistischen Partei Kambodschas an, deren Generalsekretär er später wurde. 1963 floh er aus Pnom Penh und schloß sich dem Untergrund an. Dieser Werdegang ähnelt dem auch anderer späterer Führer der Roten Khmer. Pol Pot bildete seine Regierung (1976— 1978) mit Genossen des Widerstandes aus den frühen sechziger Jahren. leng Sary war Außen-und Son Sen Verteidigungsminister, ihre Ehefrauen, die außerdem Schwestern waren, hatten die Ministerposten für soziale Maßnahmen und für Erziehung, Kultur und Information inne. Diese persönlich-familiär-politische Verquickung bot Gegnern eine Angriffsfläche. Am 3. Dezember 1979 veröffentlichte der „Spiegel" ein Interview mit leng Thirith; dem Photo nach ist die Sozialministerin und Schwägerin Pol Pots jedenfalls nicht unterernährt wie Hunderttausende ihrer Landsleute, und dem Inhalt ihrer Antworten nach, in Beziehung gesetzt zu dem, was man über die Lage der Roten Khmer fast ein Jahr nach ihrem Sturz sonst hörte, könnte man annehmen, sie befinde sich in schizophrener Realitätsferne. Khieu Samphan hat ein völlig anderes Profil. Er hatte unter Sihanouk trotz erlittener Demütigungen versucht, einen gemäßigten Kurs zu steuern und gewann 1962 sogar einen Sitz im Parlament, verlor seinen Posten als „Staatssekretär für Handel" aber, als er es ablehnte, als Bestechungsgeschenk einen Mercedes anzunehmen und dafür eine Handelslizenz zu gewähren Er stieß erst 1967 zum Untergrund. Während der Jahre des wachsenden Bürgerkrieges 1970— 1975 hat er eine führende Rolle in Armee und Organisation der Roten Khmer gespielt; in Pol Pots späterer Regierung war er jedoch in einer untergeordneten Position.

Auch Khieu Samphan hat in Paris studiert, im Gegensatz zu Pol Pot aber sein Studium 1959 mit einer Dissertation über „Kambodschas Wirtschaft und Industrialisierung" abgeschlossen. In dieser Doktorarbeit sind Analysen und Thesen formuliert worden, die die Notwendigkeit struktureller Veränderungen im Land zeigen. Auf die kürzestmögliche Formel gebracht, sagt die Arbeit, daß industrielle Entwicklung in Kambodscha nur möglich ist nach vorangegangener Wiederherstellung gesunder landwirtschaftlicher Strukturen und daß eine vorzeitige Eingliederung Kambodschas in die internationale Wirtschaftsstruktur, die nach den Bedürfnissen der industriell etablierten Länder geformt ist, die Eigenentwicklung des Landes verhindert

Heng Samrin, dessen Gruppe im Januar 1979 mit Hilfe Vietnams die Roten Khmer stürzte, hat sich öffenbar zu dem Zeitpunkt von den Roten Khmer abgesetzt, zu dem diese sich von Amerika unterstützen zu lassen begannen. Was der Politiker in einem Terzani gegebenen Interview sagt, klingt wirklichkeitsnaher als die Angaben der übergewichtigen Ministerin leng Thirith, daß nämlich die Streitkräfte der „Pol Pot-Ieng Sary-Clique" nur noch in jenem thai-kambodschanischen Grenzgebiet existieren, nicht mehr im Innern Kambodschas, und zwar nur dank des Einverständnisses und der Unterstützung von Bangkok und der hinter Bangkok stehenden Mächte.

Die Roten Khmer, im Grunde nicht über eine militärische Widerstandsbewegung hinausgekommen, waren nach ihrem Sieg 1975 total überfordert. Sie konnten weder das zerrüttete Land aufbauen noch den Kampf gegen Amerika fortsetzen.

Ein anderer Teil, von Khieu Samphan repräsentiert, glaubte vielleicht in der Erkenntnis der eigenen Schwäche, den einzigen Ausweg in der Versöhnung mit dem überstarken westlichen Gegner zu sehen, mit einem Anflug jener Neutralitätsneigung, deren Vertreter Prinz Sihanouk gewesen war. Die Rückkehr beider, Sihanouks und Khieu Samphans, in die Regierung Kambodschas scheint immer noch diskutabel zu sein, und zwar nicht im Sinne der Konfrontation, sondern eher der Versöhnung mit Vietnam. Aber Sihanouk stößt auf allen Seiten auf skeptische Reserve — der Lohn seiner Neutralitätspolitik, die niemandem genützt hatte —, und Khieu Samphan ist schließlich auch unglaubwürdig geworden. Er ist die tragischste Gestalt von allen; in ihm ist der gebrochene Wille der Roten Khmer personifiziert. Für die einen scheint auch er sich mit den amerikanischen . Imperialisten verbündet zu haben, für die anderen ist er als ein führendes Mitglied der Roten Khmer schwerlich von deren Greueltaten abzuheben.

Heng Samrin ist es heute, der die Tradition des Unabhängigkeitskampfes der Völker Indochinas für Kambodscha fortsetzt. Allein wäre ihm das gegen die übermächtigen Kräfte, die die Reste der Roten Khmer stützen, nicht möglich. Die einzige indochinesische Kraft, die das von Sihanouks Neutralitätspolitik hinterlassene politische Vakuum in Kambodscha auffüllen kann, ist Vietnam. Und Vietnams Unterstützung für Kambodscha ist legitim; denn Vietnam repräsentiert die Völker Indochinas, nicht seine europäisierten „Eliten".

Es ist seltsam, daß der Westen gerade Pol Pot, den Grausamen, anerkennt. Amerika scheint selbst zu sehen, daß die Roten Khmer nicht mehr repräsentabel sind. Am 20. Oktober 1980 veröffentlichte die Newsweek wieder ein Interview mit einem neuen bzw. einem alten kambodschanischen Politiker, das in Paris stattfand. Dieser Mann, Son Sann, 69 Jahre alt und unter Sihanouk Kabinettsminister, führt demnach seit einem Jahr fünf Gruppen an, die eine gemeinsame Front sowohl gegen Pol Pot (immer noch!) als auch gegen Heng Sam Rin bilden wollen, die „Khmer Serika“. Ist sie eine Neuauflage der alten rechtsgerichteten Khmer Serei? Von wo aus er plant und handelt (Paris?) und woher er die Mittel hat, geht aus dem Interview nicht hervor.

Am 16. Februar 1981 meldete der „Kölner Stadtanzeiger''die Bereitschaft Prinz Sihanouks, auf der Seite Khieu Samphans in die „Regierung Kambodschas" zurückzukehren. Das scheint ein Sieg für den Westen zu sein, denn Sihanouk, der Neutrale, und Khieu Samphan, der Gemäßigte, wollen gemeinsam gegen Heng Samrin Front machen.

IV. Schlußbemerkung

Aus der Bewußtseinsverengung Westeuropas und Amerikas, die nur in den innerabendländischen Ost-West-Kategorien denken können, kommt natürlich der drohende Hinweis auf den Osten und damit im Zusammenhang auf die „Naivität" und „politische Unerfahrenheit" der Völker der Dritten Welt. Aber in dieser Einschätzung steckt viel Ignoranz. Angesichts der Tatsache, daß es in fast allen mit dem Westen kooperierenden „Entwicklungsländern" Armut, Hunger und eine „wachsende Kluft zwischen Arm und Reich" gibt, ist die Kritik an Vietnams nach „sowjetischem Modell" funktionierenden Wirtschaftssystem etwas pharisäisch. Inwiefern war oder ist die abendländisch-östliche Domination wirtschaftlich und politisch schlimmer für die Völker der Dritten Welt als die abendländisch-westliche? Auch der abendländische Osten leidet an Bewußtseinsverengung. Er vertritt genau wie der Westen Materialismus und Rationalismus, zwei Wertsysteme, die für die geo-und demographisch größere außerabendländische Welt mit Ausnahme ihrer „Elite" -Minoritäten, der europäischen Enklaven, nicht gelten. Für Marxisten ist der Mensch in erster Linie „Arbeitnehmer" — ein Begriff, der sich kaum in außer-europäische Sprachen übersetzen läßt; genau wie der Westen denkt auch der Osten nur in Kategorien zentralisierter technisch-industrieller Weiterentwicklung und betrachtet religiöse oder human-ethische „Traditionalismen" als „rückständig". Für die Völker der Dritten Welt ist die Differenz zwischen dem Osten und dem Westen des Abendlandes nicht so groß wie die beiden Blöcke glauben.

Die asiatisch-soziale Entwicklungstendenz, die auch von den Roten Khmer vertreten wurde, ist zunächst und im Grunde auf technische Industrialisierung, sei es nach westlich-kapitalistischem oder osteuropäisch-sozialistischem Vorbild, überhaupt nicht eingestellt. Die ehemals kolonialbeherrschten Länder sind aber noch immer gezwungen, sich nach der einen oder anderen Seite am herrschenden Welt-wirtschaftssystem zu orientieren.

Als Nachhut des alten Europa hält das junge Amerika heute an seinen „Interessen" in der Welt so krampfhaft fest wie ehemals England, Frankreich, Holland, Belgien. Und etwa Kambodscha kämpft nicht allein, aber an vorderster Front der asiatischen Entwicklungsländer um die wirtschaftliche Unabhängigkeit und die Durchsetzung einer asiatisch-sozialen Entwicklung gegen die postkoloniale Fremddomination, d. h. gegen die Ausläufer der internationalen Strukturen, die in der Kolonialepoche geschaffen wurden.

Es ist auch für den Westen ein Kampf ums überleben — aber nicht um das physische überleben der westlichen Menschheit, sondern nur um das der augenblicklichen Industriestruktur.

Die Aufgabe der Revision bisheriger Gewohnheiten und die Anpassung an die realen Gegebenheiten unter Verzicht auf irrationale Wünsche nach Macht und Sonderprivilegien liegen beim Westen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Holocaust in Combodia, Reinbek 1980.

  2. Zitiert nach Noam Chomsky, Indochina und die amerikanische Krise. Kambodscha, Laos, Nordvietnam, Frankfurt 1972. Hier Band II, S. 220/221. (Prof. Chomsky lehrt am Massachusetts Institute of Technology.)

  3. Richard E. Leakey und Roger Lewin, Origins, London 1978.

  4. Christopher Lasch, The Culture of Narcism, New York 1980.

  5. Ingeborg Y. Wendt, Japanische Dynamik und indische Stagnation? Eine Antwort auf theoretische Entwicklungsmodelle, Darmstadt 1978, und: Indien und Japan — Erwachen aus Traditionalismus und konfuzianischer Erstarrung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 3/80.

  6. Arthur M. Schlesinger jr„ The Bitter Heritage. Vietnam and American Democracy 1941— 1966, London 1966.

  7. Chomsky, a. a. O., Bd. II, S. 21.

  8. Chomsky, a. a. O., Bd. II, S. 21.

  9. Schlesinger, a. a. O., S. 20.

  10. Ebd., S. 191.

  11. Ebd., S. 20/21.

  12. Edwin O. Reischauer, Was kommt nach Vietnam? Stuttgart 1970. Original Amerikanisch: Beyond Vietnam. The United States and Asia, New York 1967, hier S. 16.

  13. Reischauer, a. a. O., S. 17.

  14. Schlesinger, a. a. O., S. 21.

  15. Peter Scholl-Latour, Der Tod im Reisfeld. Dreißig Jahre Krieg in Indochina, Stuttgart 1980.

  16. Reischauer, a. a. O., S. 17.

  17. Ebd., S. 19.

  18. Ebd., S. 17.

  19. Scholl-Latour, a. a. O.

  20. Reischauer, a. a. O., S. 23.

  21. Schlesinger, a. a. O., S. 10 und S. 75.

  22. Reischauer, a. a. O., S. 21.

  23. Chomsky, a. a. O., Bd. II, S. 7.

  24. Ebd., S. 19.

  25. Ebd., S. 14.

  26. William Shawcross, Schattenkrieg. Kissinger, Nixon und die Zerstörung Kambodschas, Berlin 1980. — Obwohl flüssig geschrieben, hat das Buch den Charakter einer Dokumentation.

  27. Ebd., S. 285 ff.

  28. Ebd., S. 396.

  29. Wendt, a. a. O.

  30. Tiziano Terzani, Ich höre noch Schreie in der Nacht, in: Der Spiegel Nr. 16— 18, April 1980. Hier Teil I, S. 169.

  31. Siehe die dürre Schilderung der weitgehend unbekannt gebliebenen grauenhaften Methoden und Folgen der Räumung der Krankenhäuser von Kriegsverletzten durch die Kinder-Soldaten in Pnom Penh bei Shawcross, a. a. O., S. 396/7.

  32. Terzani, a. a. O., Teil II, S. 166.

  33. Shawcross, a. a. O., S. 435.

  34. Ebd., S. 262.

  35. Ebd., S. 267.

  36. Ebd., S. 263.

  37. „Der Spiegel" Nr. 17 vom 21. 4. 80.

Weitere Inhalte

Ingeborg Y. Wendt, Dr. phil.; Studium der Psychologie, Philosophie und Psychopathologie in Berlin und Tübingen; 1960— 1963 Lehr-und Forschungstätigkeit an der Gakushuin-Universität in Tokio; 1964— 1966 Mitarbeiterin am Hamburger Weltwirtschaftsarchiv; 1966— 1969 Forschungsauftrag der DFG zum Thema „Japans Beitrag zur Lösung der internationalen Entwicklungsprobleme''; 1970— 1978 Wiss. Mitarbeiterin an der FU Berlin; Gastvorlesungen in Japan; Übernahme eines Lehrstuhls an der Meiyo-Universität in Tokio; z. Zt.freie Forschungstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Veröffentlichungen u. a.: Zen, Japan und der Westen, München 1961; Die „unheimlichen" Japaner, Stuttgart 1970; Japanische Dynamik und indische Stagnation, Darmstadt 1978; Tiefenpsychologie und Zen-Buddhismus: Kritische Überlegungen zu Systematik und Sinn des Vergleichs. Beitrag zur Enzyklopädie der Psychologie des XX. Jahrhunderts, Zürich 1979; Autozentrierte Entwicklung aus ethno-soziologischer Sicht, in: Verfassung und Recht in Übersee, Hamburg 1979, IV. Quartal.