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Tradition und Geschichtsbewußtsein im sozialen Wandel | APuZ 17/1981 | bpb.de

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APuZ 17/1981 Tradition und Geschichtsbewußtsein im sozialen Wandel Das Verhältnis von Wehrmacht und NS-Staat und die Frage der Traditionsbildung Tradition als Last? Militär und Gesellschaft in Deutschland. Konsequenzen für ein zeitgemäßes Selbstverständnis des Soldaten Militärische Tradition im Spannungsfeld demokratischer Politischer Kultur

Tradition und Geschichtsbewußtsein im sozialen Wandel

Christian Graf von Krockow

/ 18 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In Deutschland gibt es seit langem einen technisch begründeten Modernismus, der das Selbstbewußtsein stützt. Aber es mangelt an politisch-gesellschaftlich profilierten Traditionen, die Identität stiften und im Krisenfalle Orientierung vermitteln könnten. Dieser Mangel läßt sich im Kontrast aus dem internationalen Vergleich anschaulich machen; seine Ursachen findet man in den Bedingungen der neueren Geschichte. Die Suche nach Identität führt in die Irre, wenn sie mit einer exklusiven Bindung — etwa an den Nationalstaat — gleichgesetzt wird. Eine tragfähige und den Bedingungen der Modernität angemessene Identität muß vielmehr auf einer Vielfalt der Zugehörigkeiten aufbauen; Alltagserfahrungen zeigen dies ebenso wie geschichtliche Vergleiche. Es ist eine wichtige Aufgabe politischer Bildung, den Sachverhalt verständlich zu machen und vor den Gefahren zu warnen, die sich auf der Suche nach Identität besonders für junge Menschen aus kurzschlüssig-exklusiver „Gemeinschafts" -Bildung ergeben.

Ich möchte mit einer Beobachtung und mit einer Anekdote beginnen.

Die Beobachtung: Wenn man öfter mit der Bundesbahn fährt, muß man oft auch auf Bahnhöfen warten. Und wenn man die Zeit nutzt, um die Bücherauslagen von Kiosken zu betrachten, entdeckt man, nicht selten opulent aufgemacht mit vielen Bildern und Zeichnungen, Bücher von dem Typus: „Kampfpanzer der Wehrmacht und der Bundeswehr". Sofort stellt sich der Aha-Reflex ein: Kriegsliteratur und Landser-Nostalgie. Ein zweiter Blick führt jedoch zur Korrektur: Am gleichen Ort, in ähnlicher Aufmachung stehen Bücher über friedliches Gerät, über Autos, Motorräder, Schiffe, Lokomotiven. Heimliche Bestseller, sonst würden diese keineswegs billigen Bücher sich ja nicht ausgerechnet in Bahnhofskiosken häufen. Aber ihr gemeinsamer Bezugspunkt ist offenbar nicht der Krieg, sondern die Faszination durch Technik.

Die Anekdote: Als im Sommer des Jahres 1940 das Schicksal der von den Achsenmächten eingeschlossenen Schweiz auf des Messers Schneide zu stehen schien, versammelte der eidgenössische Oberbefehlshaber, General Guisan, seine Kommandanten auf dem Rütli, um hier, am symbolträchtigen Ort, eine feierliche Verpflichtung zur bedingungslosen Verteidigung zu erneuern. — Wo, so fragt man sich unwillkürlich, hätten wohl deutsche Generale bei entsprechendem Anlaß sich versammeln sollen? Wahrscheinlich würden sie sich irgendwo in den Nebeln des Teutoburger Waldes verirren, um nie wieder gesehen zu werden.

Bringt man Beobachtung und Anekdote zusammen, so stößt man, bei einiger Kühnheit zur Verallgemeinerung, auf ein charakteristisches deutsches Problem. Auf der einen Seite ein technisch begründeter Modernismus: Etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts setzt Deutschland zum großen technisch-industriellen Sprung nach vorn an, um in wenigen Jahrzehnten das bis dahin führende Großbritannien nicht nur einzuholen, sondern teilweise sogar zu überholen, besonders in zukunftsweisenden Bereichen wie der Elektroindustrie und der Chemie. Seither gründet sich das nationale Selbstbewußtsein der Deutschen nicht zuletzt auf die technisch-industriellen Produkte „made in Germany" — vom preußischen Zündnadelgewehr und Kruppstahl bis hin zum „Käfer" aus Wolfsburg und dem „guten Stern auf allen Straßen".

Auf der anderen Seite mangelt es an gesellschaftlich-politisch profilierten Traditionen, die einen nationalen Konsens begründen und tragen könnten. Dies wird ganz deutlich im internationalen Vergleich. Wohin man den Blick auch richtet, nach Westen oder nach Osten, immer wieder stößt man auf bestimmte dramatische Ereignisse — Kämpfe, Revolutionen oder Unabhängigkeitskriege —, die, zum Symbol erhoben und gleichsam mythisiert, dem jeweiligen nationalen Selbstverständnis fortan als Fluchtpunkt dienen: Teil-und Winkelried-Saga der Eidgenossen (s. Rütli-Schwur), der Unabhängigkeitskampf der Niederlande gegen Habsburg-Spanien (zum Symbol erhoben, in diesem so republikanischen Land, im. Hause Oranien), die Entwicklung des Parlamentarismus in England (zum Symbol erhoben in der „glorreichen“ Revolution), die große Revolution in Frankreich (zum Symbol erhoben im Bastillesturm), Unabhängigkeitserklärung, Unabhängigkeitskampf und Verfassungsgebung in den Vereinigten Staaten. Aber auch: die Oktoberrevolution in der Sowjetunion — deren Prinzipien der „Fortschrittlichkeit" mühelos nach rückwärts verlängert werden, etwa zum Zaren Peter hin, der ganz selbstverständlich auch heute als „der Große" verehrt wird; der „lange Marsch" in China, und so fort.

Wesentlich ist bei alledem — und darin liegt der markante Unterschied etwa zum „Sedanstag" des wilhelminischen Reiches —, daß diesen Symbolen zugleich ein gesellschaftlich-politisches Profil zugeordnet ist: Freiheit der Selbstbestimmung gegen feudale Überlagerung, Toleranzprinzip gegen Gewissenszwang und Inquisition, parlamentarische Repräsentation gegen königliche Allmacht und Regierungswillkür, Menschenrechte gegen Standesprivilegien, Gewaltenteilung — oder: das „Vaterland der Werktätigen" gegen den „ausbeuterischen Kapitalismus“. Wie auch immer, stets handelt es sich um Prinzipien, die minde3 stens implizit den Anspruch erheben, nicht nur hier und heute, sondern letztlich universal, menschheitlich gültig zu sein. Paradox und doch folgerichtig gründet sich der Konsens, der Stolz des nationalen Selbstbewußtseins, gerade darauf, daß es sich dem Anspruch nach um solche universalistischen Prinzipien handelt, die nur von dieser einen, auserwählten Nation zuerst entdeckt, erkämpft, verwirklicht worden sind, um seither von ihr in dieser — so weit dahinter zurückbleibenden — Welt gewissermaßen statthalterartig vertreten zu werden.

Etwas anders ausgedrückt: Die Symbole, die zugleich nationale Traditionen bezeichnen, signalisieren Prinzipien der Modernität, auch oder sogar gerade in ihrer teils schon weit zurückliegenden Abkunft; sie verweisen auf das Idealbild einer befreiten, gerechten Gesellschaft, die sich politisch organisiert hat. Darin liegt ein wesentlicher, ja entscheidender Unterschied zu jedem — man möchte sagen: kulinarischen — Historismus. Denn die Beschäftigung mit Geschichte allein besagt noch sehr wenig über die Fähigkeit oder Möglichkeit zu politisch bedeutsamer Traditionsbildung. Um ein noch nahes Beispiel anzuführen: Wenn die Stauferausstellung in Stuttgart ein so überragender Erfolg war, daß man vor Menschen die Exponate kaum mehr sehen konnte, dann folgt daraus noch nichts für die Traditionsbildung des nationalen Selbstbewußtseins: Vom Mittelalter und von den Staufern läßt sich kaum etwas ableiten, was als modernes Prinzip das Ideal einer gerechten, politisch organisierten Gesellschaft bezeichnen könnte. Man könnte vielmehr den kulinarischen Historismus geradezu als Zeichen einer Mangelkrankheit werten: Ersatzfunktion für das, woran es eigentlich fehlt.

Die genannten nationalen Traditionszusammenhänge als ins Symbol gefaßte universalistische Prinzipien leisten einen entscheidenden politischen Dienst: Sie können auch über Krisensituationen hinweg den nationalen Konsens bei allen sonstigen Konflikten tragen, beziehungsweise in Augenblicken der Verwirrung Orientierung ermöglichen. Um auch das an zwei Beispielen anschaulich zu machen:

Als in der bitteren Spätphase des Algerien-krieges Jean Paul Sartre die französichen Soldaten dazu aufrief, aus der Armee zu desertieren, weil es sich um einen ungerechten Krieg handele, wurde de Gaulle nahegelegt, doch nun gegen Sartre vorzugehen, woraufhin dieser entsetzt ausrief: „Aber Sartre — das ist doch auch Frankreich!“ Man stelle sich eine auch nur von ferne vergleichbare deutsche Situation vor — und die öffentliche Reaktion etwa auf einen entsprechenden Aufruf Heinrich Bölls.

In der amerikanischen „Watergate" -Krise der „imperialen“ Präsidentschaft gab es trotz allem eine zuverlässige Orientierung: die geheilig, ten Gründerväter, die Jefferson, Hamilton, Madison, die man sozusagen als unmittelbare Gesprächspartner daraufhin befragen konnte, was denn mit den Verfassungsgrundsätzen, mit den Prinzipien der Gewaltenteilung eigentlich gemeint sei. Und die wenig später folgende Zweihundertjahrfeier der Unabhängig, keitserklärung gab Anlaß, diese fortwirkende Verbindlichkeit der Gründerprinzipien in jedem Sinne wieder ins Bild zu rücken. Natürlich, um Mißverständnissen vorzubeugen: Das auf universalistische Prinzipien gegründete nationale Selbstbewußtsein ist gegenüber Gefährdungen und Verirrungen keineswegs gefeit. Es kann sich unschwer zu einem Missions-und Sendungsbewußtsein entwickeln, das unter bestimmten Umständen Kreuzzugscharakter annehmen kann, um die . Anderen“, die „Unerlösten", der eigenen Segnungen teilhaftig werden zu lassen — auch mit Gewalt. Oder es entsteht im Gegenteil ein Isolationismus, um das Errungene vom Bösen, von der Verderbtheit der Umwelt freizuhalten; und besonders leicht entsteht eine eigentümliche Ambivalenz von Isolationismus und Kreuzzugsstimmung, die blind macht gegenüber den andersartigen historischen Bedingungen der anderen. Die Gefahren solch einer Geschichtsblindheit werden vor allem dort sichtbar, wo zugleich große Macht im Spiele ist, in der jüngeren Geschichte also vor allem im Falle der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion.

Gleichwohl: Was immer die chauvinistischen Gefährdungen einer auf universalistische Prinzipien gegründeten nationalen Traditionsbildung sein mögen, es ergibt sich dennoch ein wesentlicher Unterschied zu einem Typus des Nationalismus, der gleichsam in einem Vakuum solcher Prinzipien sich entwickelt. Dafür ist Deutschland exemplarisch. Warum Deutschland einen Gegentypus darstellt, läßt sich verhältnismäßig leicht erklären, und es sei dies hier nur kurz skizziert: Es mißlingt dem deutschen Bürgertum, siegreich, aus eigener Kraft, eine ihm gemäße gesellschaftlich-politische Lebensform durchzusetzen. Das ist nicht Schuld, sondern Verhängnis: Durch die Verlagerung der großen Handelsströme nach Westen im Zeitalter der Entdeckungen ohne-B hin schon geschwächt, wird das Bürgertum im Dreißigjährigen Krieg so nachhaltig und langfristig ruiniert'— von wenigen, allenfalls regional bedeutsamen Ausnahmen abgesehen—, daß ihm bis tief ins 19. Jahrhundert hinein kaum eine andere Möglichkeit bleibt, um aufzusteigen, zu einigem Ansehen zu gelangen und materiell sich absichern, als der — mittels Bildungspatenten erworbene — Eintritt in den Dienst des fürstlichen Obrigkeitsstaates, dessen entscheidende Kommandoposten jedoch der Adel besetzt hält Eine Bourgeoisie im engeren Wortsinne entsteht erst sehr spät, und sie ist — weil man die für das morderne Bürgertum entscheidenden Jahrhunderte verpaßt hat, weil Humanismus und Aufklärung nicht in die Tiefe wirken, wohl aber Gegenaufklärung, Romantik und Historismus — traditionslos und unsicher.

Zusätzlich wirken in Deutschland bestimmte Weichenstellungen des 19. Jahrhunderts: Der Befreiungskampf, in dem Nationalbewußtsein zum ersten Mal mächtig wird, richtet sich gegen die napoleonische Eroberung — und damit, kaum vermeidbar, zugleich auch gegen Frankreich, gegen „den Westen“ und gegen „ 1789" —, wie man es später, in den sogenannten „Ideen von 1914", ausdrücklich formulierte. Die bürgerliche Revolution von 1848 mißlingt. Und die nationale Einigung stellt sich vor allem anderen als ein Werk der militärischen Schlagkraft des alten Obrigkeitsstaates — zumal Preußens — dar: eines Obrigkeitsstaates, der damit ausgerechnet zu dem Zeitpunkt nachhaltige Wiederaufwertung erfährt, als er eigentlich geschichtlich schon überholt ist. Seither werden der Status des Reserveoffiziers und die Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung auch zu bürgerlichen Renommier-„Standes" -Idealen.

Was aus alledem für das deutsche nationale Selbstbewußtsein sich ergibt, ist zweierlei: Einmal ist es der starke Staat, der Staat der „schimmernden Wehr", zu Lande und bald auch zu Wasser, im Glanz also seiner siegreichen Waffen, wie es dann der „Sedanstag" symbolisiert. Aber genau damit bleibt das Symbol — wie übrigens auch die Kaiserproklamation von Versailles — politisch-gesellschaftlich ohne Profil, inhaltsleer. Es demonstriert einzig die Macht „an sich". Zum zweiten gibt es den Gedanken der Sprach-und Kulturnation — auch er eigentlich durch und durch unpolitisch. Was davon zu halten ist, hat der französische Historiker Renan mitten im deutsch-französischen Krieg in seinem Briefwechsel mit David Friedrich Strauß ausgesprochen, als es um die Abtretung des Elsaß und Lothringens ging und er dazu prophetisch genug sagte: „Ihr (die Deutschen) habt an Stelle der liberalen Politik das Banner archäologischer und ethnographischer Politik entfaltet; diese Politik wird euch zum Verhängnis werden. Die vergleichende Philosophie, die ihr geschaffen und zu Unrecht auf das Feld der Politik übertragen habt, wird euch übel mitspielen. Die Slawen werden sich dafür begeistern;... wie könnt ihr glauben, die Slawen würden euch nicht zufügen, was ihr anderen antut? ... Wenn eines Tages die Slawen Anspruch auf das eigentliche Preußen, auf Pommern, Schlesien und Berlin erheben werden, und zwar deswegen, weil alle diese Namen slawischen Ursprungs sind, wenn sie an Elbe und an Oder das tun, was ihr an der Mosel getan habt, wenn sie auf der Karte den Finger auf die wendischen und obotritischen Dörfer legen, was werdet ihr dann zu sagen haben? Nation ist nicht gleich Rasse."

Aber das unvermittelte Gegenüber von starkem Staat und Sprach-und Kulturgemeinschaft, zwischen denen die politisch-gesellschaftlichen Prinzipien der Nation mitten hin-durchfallen, ist eben kein Zufall, sondern ergibt sich aus folgender Konstellation: Das Kunstwerk der Reichseinigung beruht geradezu auf der Ausklammerung, Verdrängung des Grundsatzkonflikts zwischen der bürgerlichen Fortschrittsbewegung und dem alten Staat. Da das Bürgertum nicht stark genug war, um sich aus eigener Kraft durchzusetzen, und der Staat im Zeitalter der beginnenden Industrialisierung das Bürgertum nicht beiseite schieben konnte, blieb nur dieser überhöhendausklammernde Kompromiß.

Der Historiker Friedrich Meinecke hat in seinem Buch „Weltbürgertum und Nationalstaat“ diesen Sachverhalt aus der Sicht des Wilhelminismus sehr anschaulich dargestellt, wenn er sagt, der Streit um einander ausschließende universalistische Prinzipien, wie er noch die Ära der Paulskirche beherrschte, sei gewesen „wie ein Gift“, das den politischen Körper lähmte. Und der heilende „Arzt", der dieses Gift schließlich entfernte, sei Bismarck gewesen — was übrigens prinzipientreue Altkonservative nach der Art der Brüder Gerlach schon frühzeitig zu Differenzen und schließlich zum Bruch mit Bismarck getrieben hat. Aber der Preis der Ausklammerung und Verdrängung ist hoch gewesen, am Ende tödlich. Beide — das Bürgertum wie der alte Staat — werden mehr und mehr um ihre politische Substanz gebracht, über die Folgen hat 1904 schon Ernst Troeltsch in seinem Buch „Politische Ethik und Christentum" gesagt, es sei die allein der Macht verschriebene politische Prinzipienlosigkeit „unter uns zur Theorie geworden, die wir wohl auch mit etwas Nietzescher Herrenmoral oder Darwinistischem Kampf ums Dasein versetzen, und die sich nur allzu leicht mit den Idealen der kurzangebundenen Schneidigkeit oder der bürokratischen Amtshoheit verbinden, von denen der Nachwuchs der regierenden Klasse weithin erfüllt ist".

Nicht bloß das. Weil die Reichseinigung ihr Fundament in einem Verdrängungsprozeß hat, wird jeder, der das; Verdrängte irgendwie zu verkörpern scheint, der noch oder wieder universalistische Prinzipien sichtbar macht, nicht bloß zum Opponenten und politischen Gegner, sondern zum „Reichsfeind". Es ist bezeichnend: Nur wenige Jahre nach der Reichs-gründung bricht der Kulturkampf aus, und seinem Abbruch folgt unmittelbar die Sozialistenverfolgung der „vaterlandslosen Gesellen". Später — im Ersten Weltkrieg — spricht man vom „inneren England" (dies gilt den Liberalen), dann sind die Juden an der Reihe, und so immer weiter: Ein fataler Grundzug von Angst und Aggressivität zieht sich seit der Reichs-gründung durch die deutsche Geschichte. Und der ins Verfolgen umschlagende Verfolgungswahn, der den inneren und äußeren Feind zunehmend wahnhaft miteinander verknüpft, mündet in die Katastrophen, die die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert markieren.

Ich will auf die Sozialistenverfolgung etwas näher eingehen, weil daran ein weiteres Grundproblem unserer neueren Geschichte sichtbar gemacht werden kann. Die Sozialdemokraten sind stets für die nationale Einigung, für den deutschen Einheitsstaat eingetreten. Aber weil sie die Annexion Elsaß-Lothringens ablehnten, erlebten ihre Führer die Reichs-gründung sämtlich im Gefängnis — ein symbolträchtiger Vorgang. Was sie dann aber so sehr zu Feinden stempelte — weit über sozialpolitische Forderungen hinaus, denen teilweise ja sogar Rechnung getragen wurde —, das war die Tatsache, daß sie mit dem Ruf nach Parlamentarisierung der Regierungsverantwortung und allgemein nach Demokratisierung im Grunde gerade die alten, verdrängten Prinzipien der bürgerlichen Fortschrittsbewegung beim Wort nahmen — bis hin gleichsam zur Verkehrung der Fronten, als sie in der Weimarer Republik den endlich erreichten bürgerlichen Verfassungsstaat — anschaulich und verächtlich gemacht in den bürgerlichen Farben von 1848 — gegen das aus seinen einstigen Positionen desertierte Bürgertum verteidigten.

Im Jahre 1896 hat der jugendliche Bertrand Russell ein höchst interessantes Buch über die deutsche Sozialdemokratie veröffentlicht _ das übrigens erst 1978, mit über 80 Jahren Verspätung, endlich ins Deutsche übertragen worden ist. Die Schlußfolgerung, die Russell aus seinen Analysen zog, lautete: „Wenn die Sozialdemokraten ihre kompromißlose Haltung aufgeben können, ohne dabei an Stärke zu verlieren; wenn andere Parteien durch einen solchen Wandel zu einem versöhnlicheren Ton veranlaßt werden; und wenn ein Kaiser oder Kanzler an die Macht gelangte, der dem Fortschritt an Zivilisation oder Freiheit weniger unerbittlich ablehnend gegenüberstünde als Bismarck oder Wilhelm II. — wenn alle diese glücklichen Umstände zusammentreffen würden, dann könnte sich Deutschland, wie England, auf friedlichem Wege zu einer freien und zivilisierten Demokratie entwickeln. Aber wenn nicht, wenn die Regierung und die anderen Parteien mit ihrer bigotten Verfolgung fortfahren, dann gibt es kaum eine Kraft, die einem Machtzuwachs der Sozialdemokraten Einheit gebieten oder ihre kompromißlose Opposition mäßigen könnte ... Für alle, die an Frieden und eine evolutionäre Entwicklung glauben, die eine friedliche Lösung für die gegenwärtig angespannte Gegnerschaft zwischen Arm und Reich in Deutschland wünschen, kann es nur eine einzige Hoffnung geben: daß die herrschende Klasse endlich ein gewisses Maß an politischer Einsicht, an Mut und Entgegenkommen zeigt... Aufhebung der Verfolgung, völlige und uneingeschränkte Demokratie, absolute Koalitions-, Rede-und Pressefreiheit — das allein könnte Deutschland retten, und das, so müssen wir inständig hoffen, werden die Herrscher Deutschlands gewähren, ehe es zu spät ist. Tun sie es nicht, so sind Krieg und eine Auslöschung des nationalen Lebens das nahezu unvermeidliche Schicksal des deutschen Kaiserreichs."

Angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, angesichts zweier Weltkriege und nicht nur der Selbstzerstörung des Kaiserreichs, sondern auch des so spät und so mühevoll erst erkämpften deutschen Nationalstaates erscheint Russells warnende Vorhersage als wahrhaft prophetisch. Aber ich wiederhole: Es handelt sich nicht nur und nicht einmal in erster Linie um Probleme der Sozialpolitik, um die Gegnerschaft von Arm und Reich — die es anderswo ja auch gab, ohne zu katastrophalen Konsequenzen zu führen, und für deren Über-windung oder wenigsten Abmilderung anderswo selten mehr, oft weniger getan wurde als in Deutschland. Sondern im Kern handelt es sich um das nationale Problem: um den Mangel an tragfähigen Traditionen im Sinne eines Ideals der politisch organisierten gerechten Gesellschaft, das über alle Konflikte und Interessengegensätze hinweg einen nationalen Konsens hätte stiften können.

Die vorbewußte Angst vor der Bodenlosigkeit führte zur Erstarrung, zur Blockierung evolutionärer Entwicklungen und Reformen, bis es zu spät war. Ein bezeichnendes Detail: Die längst überfällige Parlamentarisierung der Regierungsverantwortung wird erst vollzogen, als nichts mehr zu retten ist, als der Erste Weltkrieg und die Monarchie bereits hoffnungslos verloren sind: am 28. Oktober 1918.

Wendet man diese unvermeidbar nur skizzenhafte Darstellung auf das Verhältnis Militär und Tradition, so kann die Schlußfolgerung für uns nur bedeuten: Die preußische Heerestradition taugt nicht dazu, ein zeitgemäßes, politisch tragfähiges Verhältnis von Armee, Staat und Gesellschaft zu begründen. Man kann punktuell auf einzelne, herausragende Männer zurückgreifen, wie Scharnhorst oder Boyen. Aber diese Männer bezeichnen nicht die dominierende Linie. Diese Linie führt in die Ausweglosigkeit und schließlich in den Abgrund. In seinem Standwerk „Die preußisch-deutsche Armee 1660— 1945, Staat im Staate" schreibt der amerikanische Historiker Gordon A Craig: „Bis zum allerletzten Ende zeigten die Befehlshaber der deutschen Armee die technische Virtuosität und den physischen Mut, die seit der Wiedererhebung nach Jena und Auerstedt für das preußische Offizierskorps stets charakteristisch gewesen waren. Aber was die meisten von ihnen in diesen letzten verzweifelten Jahren nicht zeigten, war das, was sie auch nicht gezeigt hatten, als Hitler 1933 auf der Schwelle zum Kanzleramt stand, was sie nicht gezeigt hatten, als er im Juni 1934 seine Mordbuben auf das Volk losließ, was sie nicht gezeigt hatten, als Schleicher ermordet und Fritsch degradiert wurde: nämlich eine Spur jenen moralischen Mutes, jener geistigen Unabhängigkeit, jener Vaterlandsliebe, die so große Soldaten der Vergangenheit wie Scharnhorst, Boyen und Gneisenau ausgezeichnet hatte. Ohne diese Eigenschaften waren ihre anderen Befähigungen wertlos und sie selbst machtlos, um die Katastrophe abzuwenden, die in so hohem Maße das Ergebnis ihres mangelnden politischen Verantwortungsgefühls gewesen ist."

Welche Möglichkeiten bleiben nun aber, wenn wir auf gesicherte Traditionen nicht zurückgreifen können? Wie kann man — um einen Modebegriff zu verwenden — Identität stiften, also etwas, wovon sich mit Überzeugung und Selbstbewußtsein sagen läßt: dies sind wir? Das ist natürlich leichter gefragt als beantwortet. Patentrezepte gibt es nicht, und wenn sie angeboten werden, taugen sie nichts. Doch als These formuliert: Beim Versuch, einer Antwort wenigstens näher zu kommen, kann trotz aller unerläßlichen Warnungen die Beschäftigung mit Preußen hilfreich sein. Man muß dazu allerdings eine Frage stellen, die bisher noch kaum diskutiert worden ist.

Die Frage lautet: Hat uns die Nachkriegsentwicklung nicht in gewissem Sinne auf eine Situation wie vor der Reichsgründung von 1871 zurückgeworfen? Ist damit nicht so etwas wie eine „preußische“ Konstellation neu geschaffen worden? Für die Bundesrepublik und für die DDR gilt — wie einst für Preußen —, daß sie gewichtige Staaten auf deutschem Boden, aber keine Nationalstaaten sind. Teils verdeckt, teils sichtbar tragen zwar beide einen nationalen Anspruch mit sich, aber ob und wie er eingelöst werden kann, bleibt offen. überdenkt man Glanz und Katastrophe des deutschen Nationalstaates in den kaum fünfundsiebzig Jahren seines Bestehens, so läßt sich eigentlich der Frage gar nicht mehr ausweichen, ob nicht das deutsche Geschick, wie es nun einmal in der Mitte Europas und zwischen den Weltmächten angesiedelt ist, in einer solchen verdoppelten „preußischen“ Ordnung besser aufgehoben sein könnte. Dabei könnte in diesem Aufheben durchaus auch etwas von jener Dreisinnigkeit mitschwingen, die Hegel dem Begriff gegeben hat und die das Abschaffen, das Bewahren und das Hinaufheben auf eine neue, höhere Stufe zugleich meint. In der Perspektive unserer Nachbarn nimmt es sich ohnehin so aus. Dennoch sehen sie uns selbstverständlich als die Deutschen, die wir auch vor der Reichsgründung schon waren und die wir bleiben werden. Müßten wir nicht lernen, es ähnlich zu sehen?

Daß Fragen in solcher Perspektive bisher kaum gestellt worden sind und daß man sie vielleicht als anstößig empfindet, hängt wohl damit zusammen, daß wir gewohnt sind, in Alternativen, in Ausschließungen zu denken: „Identität" wird angeblich dadurch gestiftet, daß wir uns mit einer gesellschaftlich-politi7 sehen Einheit völlig identifizieren. Für diese Einheit muß dann — gleichsam im geschichtlichen Wartestand — ein entsprechend umfassender nationaler Anspruch konstruiert werden. Aber damit durchkreuzt die Bundesrepublik ständig ihr eigenes Bemühen um Identitätsfindung; sarkastisch ausgedrückt: Dem Bürger, der sich mit der Bundesrepublik identifiziert, wird der nationale Auftrag als schlechtes Gewissen angemahnt.

Auch in einem anderen Sinne kann der Versuch, Identität durch das Ausschließliche einer einzigen, umfassenden Zugehörigkeit zu stiften, nicht gelingen. Sogar oder gerade pädagogisch bleibt er unfruchtbar, weil er schlicht den Alltagserfahrungen widerstreitet. Wir leben ja in einer Vielfalt der Bindungen und Zugehörigkeiten. Wir gehören zu einer Familie, einem Freundeskreis, einer Nachbarschaft, haben einen Beruf, sind Mitglieder in einem Verein, einer Partei, einer Kirche, sind Bürger einer Stadt und der Bundesrepublik, sind Deutsche, Europäer — und hoffentlich sogar: Weltbürger. Jede dieser Zugehörigkeiten und Bindungen fordert ein Stück Identifikation, Hingabe und Treue, schafft Verpflichtungen. Oft mag es zu Spannungen zwischen den verschiedenartigen Anforderungen kommen, nicht selten sogar zu Konflikten. Doch darin, wie wir die Spannungen wahrnehmen, austragen und ausgleichen, besteht unsere Verantwortung. Und indem wir vor dem Konflikt nicht in eine exklusive Bindung ausweichen, sondern ihn bewußt auf uns nehmen, entwikkelt sich als Prozeß, als Biographie, unser Selbstbewußtsein, unser Charakter, das Profil unserer je eigenen Identität.

Wie fast immer läßt sich der Sachverhalt am besten in der Negation anschaulich machen. Wo die Bindung an eine „Gemeinschaft" absolut gesetzt wird, da muß alles, was „anders" ist, als feindselig erscheinen und Angst erwecken. Toleranz schlägt um in Intoleranz. Und weil die Realität der Vielfalt die überhöhte Gemeinschaft immer mit Auflösung bedroht, übt die Gruppe auf ihre Mitglieder einen massiven Konformitätsdruck aus. So schlägt ausgerechnet das ganze persönliche und totale Engagement in die Uniformierung und autoritäre Disziplinierung um; im Extremfall entsteht — was Jean Paul Sartre die fraternit^ terreur genannt hat — ein Terrorismus der Gruppe nach innen, der in der Aggressivität nach außen sein konsequentes Gegenstück findet. Man denkt nur noch in den Kategorien von Freund und Feind, und oft genug wird das Freund-Feind-Verhältnis geradezu wahnhaft erfunden, unter Umständen herbeiprovoziert, weil der Druck von außen als Bindemittel und Disziplinierungsinstrument nach innen gebraucht wird.

Viele Erscheinungsformen der Gegenwart, vom Rückzug junger Menschen in irgendwelche Gruppen von „Ausgeflippten" über Jugendsekten bis hin zum Terrorismus, demonstrieren die pathologischen Prozesse, in denen mit der totalen Abgrenzung und Identifikation die wirkliche, positiv tragfähige, die weltof. fene Identitätsbildung gerade mißlingt. Aber unsere neuere Geschichte hat im großen vorgeführt, was schon Heinrich Heine ahnungsvoll beschrieb: „Der Patriotismus des Deutschen besteht darin, daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will. Da sahen wir nun das idealistische Flegeltum, das Herr Jahn in System gebracht; es begann die schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschenverbrüderung, gegen Kosmopolitismus, dem unsere großen Geister, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.“ Jedenfalls im Rückblick kann man in dieser Beschreibung schon etwas von der Pathologie der schließlich versuchten totalen „Volksgemeinschaft" erkennen, die in der „Endlösung" ihre nur zu folgerichtige Ergänzung fand. Es ging und es geht immer und offensichtlich, im großen wie im kleinen, um die Flucht vor den Schwierigkeiten, den Spannungen und Konflikten offener Vielfalt. Daher ist das deutsche Unheil von Erich Fromm als „Flucht vor der Freiheit" analysiert worden, von Eva Reich-mann als „Flucht in den Haß"; Karl Popper schilderte „die offene Gesellschaft und ihre Feinde". Und daher ist es eine zentrale Aufgabe der politischen Bildung, ja der Bildung schlechthin, die Realität der Vielfalt positiv erfahrbar zu machen, so also, daß sie nicht als Bedrohung erscheint, die Angst und Aggressivität weckt, sondern als ein Reichtum der Bindungen und Beziehungen, der durch Spannungen und Konflikte hindurch eine Identitätsentwicklung der Liberalität, der Toleranz, der Weltoffenheit möglich macht.

Hierzu kann die Beschäftigung auch mit Preußen hilfreich sein, zu der das bevorstehende „Preußenjahr" Anstoß und Anschauungsmate-B rial liefert. Schon die Erkenntnis, daß die Situation eines. Staates auf deutschem Boden, der nicht Nationalstaat ist, keineswegs etwas Neues, sondern im Gegenteil eine geradezu „klassische" Situation unserer Geschichte darstellt, lädt zu Vergleichen ein, läßt nach den Gefährdungen, aber auch nach den Chancen fragen, die in dieser Situation angelegt sind. Die kritische Beschäftigung mit unserer Geschichte kann so zu unserer eigenen Identitätsfindung beitragen.

Um zu wiederholen und zusammenzufassen: Es mangelte — und es mangelt wohl noch immer — an tragfähigen Traditionen, die über Krisen hinweghelfen und die gelassene Austragung von Konflikten möglich machen, indem sie jenseits aller Krisen und Konflikte einen Konsens begründen. Aus dem Mangel an Traditionen folgt zugleich der Mangel an substantieller Liberalität, „rechts" wie „links" gleichermaßen. Traditionsbewußtsein und Reformbereitschaft sind keine Gegensätze, sondern stehen in Wechselwirkung; sie bedingen einander. Nur wo es Bestände des Vertrauens und der Vertrautheit gibt — das gilt für einzelne wie für Nationen —, kann man sich ohne Angst einer offenen Zukunft zuwenden und den fatalen Zirkel von Panik und Erstarrung vermeiden. In den Worten eines großen deutschen Reformers, des Freiherrn vom Stein: „Allein dadurch, daß man das Gegenwärtige aus dem Vergangenen entwickelt, kann man ihm eine Dauer in die Zukunft versichern; sonst erhält die neue Institution ein abenteuerliches Dasein ohne Vergangenheit und ohne Bürgschaft für die Zukunft."

Fussnoten

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Christian Graf von Krockow, Dr. phil., geb. 1927 in Ostpommern; 1961— 1969 Professor für Politikwissenschaft in Göttingen, Saarbrücken und Frankfurt a. M.; seither freier Wissenschaftler und Publizist. Neuere Veröffentlichungen u. a.: Nationalismus als deutsches Problem, 19742; Reform als politisches Prinzip, 1976; Herrschaft und Freiheit — Politische Grundpositionen der bürgerlichen Gesellschaft, 1977; Ethik und Demokratie, in: R. v. Voss (Hrsg.), Ethik und Politik, 1980; Warnung vor Preußen, 1981.