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Jüdische Jugend im Untergrund. Eine zionistische Gruppe in Berlin während des Zweiten Weltkrieges | APuZ 15-16/1981 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 15-16/1981 Ansprache an Papst Johannes Paul II. bei der Begegnung mit Vertretern der Juden in Mainz am 17. November 1980 Ansprache an die Vertreter der Juden in Mainz am 17. November 1980 Gedanken zur Papstrede an die Vertreter der Juden in Deutschland Die Begegnung Papst Johannes Paul II. mit Juden in Deutschland Jüdische Jugend im Untergrund. Eine zionistische Gruppe in Berlin während des Zweiten Weltkrieges

Jüdische Jugend im Untergrund. Eine zionistische Gruppe in Berlin während des Zweiten Weltkrieges

Jizchak Schwersenz /Edith Wolff

/ 65 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Dieser Bericht beleuchtet eine bisher wenig bekannte Seite jüdischen Schicksals im „Dritten Reich". Bis 1940 ließen die Nazis die Auswanderung von jungen Juden in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina noch zu, und die . Jüdische Jugendhilfe''durfte die jüdischen Jugendlichen in besonderen Kibbuzim und Instituten auf die Auswanderung vorbereiten. Die mit der Forcierung der „Endlösung der Jugendfrage''einsetzenden Deportationen und das Verbot der jüdischen Schulen brachte auch diese Jugendgruppen in physische Bedrängnis. Jizchak Schwersenz, der Leiter einer solchen Gruppe in Berlin, beschreibt, wie der vernichtende Ring sich immer enger um die ihm anvertrauten Jugendlichen schließt, bis sich im Spätsommer 1942 die noch nicht verhafteten und deportierten Gruppenmitglieder zum „Untertauchen''entschließen. Im Zentrum des Berichts steht die Schilderung der täglichen (und allnächtlichen) Gefährdungen und der unaufhörlichen Mühsal, die die in den Untergrund Gegangenen auf sich nehmen mußten, um die notwendigsten Lebensmittel zu beschaffen, gefälschte Ausweise und Arbeitsgelegenheiten zu besorgen und (häufig wechselnde) Unterkünfte zu finden — bei Halbjuden und in „Mischehen" lebenden Juden, aber auch bei hilfsbereiten „arischen" Familien. Trotz der ständigen Not und Lebensgefahr, trotz des nicht abzusehenden Endes des Schreckens und trotz der mehr und mehr durchsickernden Nachrichten vom Schicksal der nach Osten deportierten Juden setzt die Jugendgruppe ihre Zusammenkünfte — oft genug im Freien, im Schutz der Wälder — fort, begeht die jüdischen Feste und bereitet sich auf ein Leben in Erez Israel vor. Anfang 1944 gelingt Schwersenz die gefahrenreiche Flucht in die Schweiz mit dem Ausweis eines Offiziers der deutschen Luftwaffe. Von hier aus versucht er, den zurückgebliebenen Mitgliedern der Jugendgruppe ebenfalls den Fluchtweg zu ebnen, doch werden diese Bemühungen vereitelt, weil die Nazibehörden von den Fluchtplänen erfahren. Gleichwohl konnten die untergetauchten Gruppenmitglieder das Ende des Krieges lebend erreichen.

Berlin -im Herbst 1941

Der Sommer ist vorüber, das letzte Fest der Herbstfeiertage geht zu Ende, das Fest der Gesetzesfreude. In der Dämmerstunde, bevor zwischen Fest-und Werktag unterschieden wird, versammeln sich die etwa hundert Jungen und Mädels der Jugend-Alijah-Schule in ihrem Zimmer im Schulhaus in der Artilleriestraße. Der Raum ist festlich geschmückt, denn der Feiertag soll durch einen Festgottesdienst verabschiedet werden. Wir sitzen im Halbkreis um einen kleinen Tisch mit Kerzen und beginnen — wie üblich — singend die Feier: „Hineh, hineh mah tow u-mah najim, scheweth achim gam jachad.. (Wie schön und herrlich ist es, wenn wir wie Brüder zusammensitzen). So singen wir glücklich den Vers aus dem Psalmwort. Denn wenn auch schon längst Schweres und Tragisches über diese Kinder und ihre Familien hereingebrochen ist, verursacht durch die Gesetze und Schikanen der Nazi-Herrschaft, eines ist uns doch noch geblieben: Wir können als Brüder und Schwestern zusammensein und zusammen singen... Wie sehr muß sich mir als dem verantwortlichen Leiter dieser Gruppe von jungen Menschen das Herz zusammenkrampfen, wenn ich an meinem Auge vorüberziehen lasse, was ich eine Stunde zuvor erlebte und was eine Stunde später auch diese Menschen, diese Kinder hier, erfahren müssen.

Mit unserer Führerin Lotte Kaiser war ich in dem Büro der Gemeinde gewesen, um mich — wie so häufig — nach dem Stand unserer Dinge zu erkundigen. In den letzten Tagen hatte das Gerücht die Runde gemacht, daß _ nach anderen Gebieten des Reiches — nun auch in Berlin damit begonnen werden sollte-mit Deportationen... Und tatsächlich hatte man uns nun im Büro erklärt, daß in wenigen Tagen dieser Schrecken auch in Berlin seinen Einzug halten würde. Wir sprachen daraufhin mit Dr. Pick vom Palästinaamt alle Möglichkeiten durch, wie wir unsere Kinder retten könnten, und faßten einige vielleicht gangbare Wege dazu ins Auge.

Nach dem Ende der Feier, während die Thora-Rollen noch auf dem Tische liegen und die Kinder und Jugendlichen den Blick auf ihren älteren Freund und Führer gerichtet halten, um wie jedes Mal zu Beginn einer neuen Woche gute, tröstliche und kraftgebende Worte zu vernehmen, beginne ich stockend meine Rede: „Wir haben uns heute unser altes Wort . Seid stark und fest!'zugerufen. Wenn wir jemals diesen gegenseitigen Zuspruch benötigten, so heute ganz besonders. Wir haben in den letzten Jahren schon vieles gemeinsam ertragen und haben immer gemeint, es sei schon das Schwerste. Heute aber muß ich euch Mitteilung machen von einem Beschluß, der jetzt über uns, über alle Juden verhängt wird und der Schwereres bringen wird als alles, was wir uns jemals hätten vorstellen können."

Rückblende

Als ich im zweiten Jahr des Ersten Weltkrieges in Berlin geboren wurde, kämpfte mein Die hier vorgelegte Fassung des Berichtes bietet eine Auswahl aus dem Bulletin des Leo-Baeck-Instituts (Jerusalem) Nr. 45, 12. Jahrgang (1969), sowie einige Auszüge aus dem Manuskript, die in der Veröffentlichung des Instituts nicht enthalten waren. Edith Wolff hat nach dem mündlichen Bericht von Jizchak Schwersenz die Niederschrift besorgt.

Vater „mit Gott für Kaiser und Reich" sowohl an der Ost-wie auch an der Westfront, Seite an Seite mit den deutschen Soldaten. Er kämpfte im Osten auch an der Stelle, wo er 30 Jahre später von deutscher Hand ermordet wurde.

Wie fast das gesamte deutsch-jüdische Bürgertum, so war auch mein Vater, ein Kauf-B mann des guten Mittelstandes, ehrlich überzeugt vom Recht des vaterländischen Kampfes, den Deutschland mit seinen damaligen Gegnern zu führen hatte — jenes Deutschland, in welchem das Judentum ein durchaus freies und geordnetes Leben führte und in dem es besonders der jüdische Kaufmann zu höchsten Erfolgen gebracht hatte. Wie oft erzählte mir der Vater mit Stolz, wenn wir an der Synagoge des Berliner Westens — in der Fasanenstraße _-vorübergingen, daß Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1913 bei der Einweihung dieser Synagoge selber zugegen war. Wohl gab es in der deutschen Bevölkerung einen tiefverwurzelten „gesellschaftlichen" Antisemitismus. Aber der Jude hatte im allgemeinen keine tätlichen Angriffe zu befürchten. Und wenn mein Vater am Frühstückstisch gemütlich rauchend das „Berliner Tageblatt" las, worin von blutigen Pogromen in Polen die Rede war, so pflegte er ebenso wie fast alle anderen deutschen Juden in jener Epoche zu sagen: „Sehr traurig, aber in unserem deutschen Rechtsstaat kann so etwas nie passieren!" So wuchs ich als Kleinkind noch im gesicherten deutschen Kaiserreich auf. Auch die Republik, die nach der November-Revolution von 1918 das deutsche Kaiserreich abgelöst hatte, brachte für die Juden zunächst noch keine Veränderung.

Die Situation des Judentums, das nach der deutschen Verfassung, die von dem Juden Hugo Preuß geschaffen worden war, vollständig gleichberechtigt mit allen deutschen Staatsbürgern sein sollte, verschlechterte sich erst allmählich und fast unmerklich gegenüber der gesicherten Position in der Kaiserzeit. Der bisher „nur" gesellschaftliche Antisemitismus nahm mehr und mehr offene und politische oder gar tätliche und aggressive Formen an. Infolge der politischen Wirren und der schwankenden Wirtschaftslage ging es auch mit der äußeren und materiellen Sicherheit des Judentums abwärts. Vor diesem Hintergrund gewann die zionistische Bewegung und insbesondere die Jugendbewegung des Zionismus mehr und mehr an Boden, während der weit überwiegende Teil der jüdischen Bevölkerung nach wie vor die Augen gegenüber dem Anwachsen des Antisemitismus verschloß. Ich besuchte zunächst, von meinem sechsten bis zum zehnten Lebensjahre, eine allgemeine Volksschule. In der Klasse von 40 Schülern gab es außer mir nur noch einen einzigen jüdischen Jungen. Hier verspürte ich zum ersten Male jüdisches Galuth-Schicksal. Es verging kaum ein Tag, an dem wir von den nichtjüdischen Mitschülern nicht behelligt wurden: Fast täglich wurden wir von ihnen gehänselt oder gar verhöhnt. Es wurden Spottlieder auf uns gesungen, und auf dem Schulhof wurde uns . Jude Itzig“ nachgerufen. Der Nachhauseweg von der Schule wurde manchmal zu einer wahren Pein, denn es kam vor, daß uns beiden auch Steine nachgeworfen wurden. Die an sich redlichen Bemühungen unseres Klassenlehrers, den Schülern zu erklären, daß „alle Deutschen gleich und die Juden ja auch Menschen" seien, hatten nur wenig Erfolg.

Von meinem zehnten bis zum siebzehnten Lebensjahr besuchte ich nach der Volksschule das Schiller-Realgymnasium in Charlottenburg. Hier war ich fast immer der einzige Jude in der Klasse. Aber trotz der Zugehörigkeit vieler Klassenkameraden zu deutschnationalen und antisemitischen Jugendorganisationen erwarb ich mir in der Klasse eine anerkannte Position und sogar freundschaftliche Zuneigungen — gerade auch durch meine gefestigte und bewußt jüdische Einstellung. Diese Haltung wurde im Laufe der Jahre besonders gestützt und gestärkt durch meinen Eintritt in die zionistische Jugendbewegung. Bereits mit neun Jahren war ich auf Wunsch der Eltern, deren einziges Kind ich geblieben war, einer jüdischen Jugendorganisation beigetreten und hatte das Glück, dort zwei hervorragenden Jugendführern zu begegnen. Bis zum 13. Lebensjahr verblieb ich in dem jüdisch-religiösen Jugendbund Esra und ging später zu dem jüdischen Pfadfinderbund „Kadimah" über. Mit dem Anwachsen der Hitler-partei wurden die Angriffe auf Juden in den Zeitungen sowie Pöbeleien und Anrempeleien auf der Straße immer häufiger. Auch in der jüdischen Bundesarbeit und in der Schule wurde dies mehr und mehr spürbar. Wenn wir als jüdischer Jugendbund gemeinsam auf Wanderung gingen, so wurden wir unterwegs nicht selten von einer Nazi-Jugendgruppe überfallen, und Überfälle auf unsere Ferienlager geschahen fast regelmäßig. Wir lernten aber, uns zu wehren und gegen solche Angriffe zu verteidigen. Trotz der zunehmenden Bedrängnis, in der die Juden leben mußten, war der Zionismus in diesen Jahren unter ihnen noch immer nicht „salonfähig“ geworden. Das sogenannte liberale Judentum bekämpfte sogar den Zionismus — unter anderem auch als den vermeintlichen Urheber und Anreger des wachsenden Antisemitismus. Große Teile der jüdischen Jugend waren in „deutsch-jüdischen" Jugendverbänden organisiert oder befanden sich in der internationalen Jugendbewegung: in pazifistischen, in sozialistischen oder auch in kommunistischen Jugendorganisationen. Diese Zersplitterung der jüdischen Jugend mag durch folgendes Beispiel illustriert werden: Als beim Abschluß einer zionistischen Feier in einem der größten Säle von Berlin („Spichernsäle") im Jahre 1930 die „Hatikwah", das Lied der Hoffnung (die jüdische Nationalhymne), angestimmt wurde, machten sich die anwesenden Mitglieder von „deutsch-jüdischen" Jugendgruppen, unter denen sich auch mein eigener

Chdwer, = Freund(in), Genosse Chawerdh Chug = Pionierkreis Chdluzi Galuth = Verbannung; Bezeichnung für die 2000jährige Diaspora des jüdischen Hdchsharah = Vorbereitung; Bezeichnung für die Zeit der praktischen Vorbereitung für die landwirtschaftliche Arbeit in Palästina Hdwddldh = Schabbath-Segen Hechaluz = Pionierbewegung Jugend-Alijdh Organisierte Einwanderung jüdischerJugendlicher in den 30er Jahren aus Deutschland Kadimäh = a) Die erste jüdische Studentenvereinigung, die sich den zionistischen Zielen verschrieben hat; gegründet 1882 in Wien b) Genossenschaftliche Siedlung, 1933 in Israel gegründet Madrich = Leiter einer Jugendgruppe, Instrukteur Makkabi = Jugendorganisation der Makkabi-Bewegung Oneg-Schabbath Wöchentliche religiöse Feier innerhalb der jüdischen Familie Thord = i. w. S. die jüdische Gesetzeslehre i. e. S. die Lehre der fünf Bücher Moses (Pentateuch)

Yad = Name der offiziellen Gedächtnisstätte Washem für die jüdischen Märtyrer und Widerstandskämpfer während des Dritten Reiches, errichtet in Jerusalem 1954;

gleichzeitig Forschungsinstitut Vetter befand, durch Pfiffe und Schmähworte bemerkbar, woraus sich dann eine regelrechte Saalschlacht entwickelte.

Während meine liebe Mutter meiner zionistischen und jüdisch-religiösen Entwicklung durchaus wohlwollend und mithelfend gegenüberstand, sahen der Vater und die meisten Verwandten diese Entwicklung nur sehr ungern. Als ich — inzwischen 14jährig — durch den Einfluß des Bundes dahingelangt war, meinen bisher deutschen Vornamen in einen hebräischen umzuwandeln, nahm dies die Familie meines Vaters teilweise als „Schande" auf, und man weigerte sich beharrlich, meiner Bitte nachzugeben, mich bei dem neuen hebräischen Rufnamen zu nennen. Auch die meisten der anderen Chawerim unseres Bundes hatten zu Hause die größten Schwierigkeiten weil sie sich der zionistischen Jugendbewegung angeschlossen hatten. Viele von ihnen mußten es zu Hause sogar verheimlichen. Der Entschluß gar, nach Palästina zu gehen, um dort das zionistische Ideal zu verwirklichen und am Aufbau des jüdischen Heimatlandes mitzuarbeiten, wurde in vielen jüdischen Häusern als schlimme Fehlhaltung betrachtet und bedeutete in den meisten Fällen einen gänzli. chen Abbruch der Familienbeziehungen. Dje meisten Eltern meiner Chawerim, denen es damals gelang, sich zu Hause durchzusetzen und die heute in Israel leben, wurden später von den Nazis ermordet oder in deutschen Vernichtungslagern umgebracht, wie ja auch meine eigenen Eltern von diesem Schicksal nicht verschont blieben.

So kam das Jahr 1933. Als ich am Mittag des 30. Januar von der Schule nach Hause ging, traf ich eine Chawerah unseres Bundes, die mit trauriger Miene sagte: „Heute ist Hitler Reichskanzler geworden, die Nazis sind jetzt an der Regierung, wer weiß, was jetzt aus uns werden wird! Ob wir jemals wieder ins Lager ziehen können?" — Am gleichen Tag hatten wir im Bund unseren Heimatabend. Wie üblich gingen wir dorthin in voller Kluft. Als wir am Abend nach Hause gehen wollten, kamen uns zur Feier des Tages, an dem ihr Führer Kanzler wurde, die fackeltragenden SA-Leute mit Johlen und Schreien entgegen und brüllten: „Deutschland erwache, Juda verrecke!'Man riet uns, unsere jüdische Bundeskluft unter dem Mantel zu verbergen. Aufgeregt erwartete mich zu Hause die Mutter, die bereits an jenem ersten Tage der Nazi-Herrschaft das Schlimmste befürchtete. Als dann einige Tage später im großen Saal der Berliner Philharmonie eine jüdische Gedenkfeier für den damals in Palästina ermordeten Juden und zionistischen Führer Arlosoroff stattfand, drangen auch dort SA-Leute ein, so daß ich — zusammen mit anderen Chawerim — nur mit Mühe der Verhaftung entkam, der an jenem Tage alle Mitglieder von jüdischen Bünden, die als Kluft ihre weißen Blusen und Hemden trugen, anheimfielen.

So begann für uns die erste Epoche der nationalsozialistischen Diktatur, die Zeit von 1933 bis zur „Kristallnacht" am 9. November 1938, eine Zeit, in der noch keine eigentliche Lebensbedrohung oder Vernichtungspolitik gegen die Juden als Gesamtheit zu erkennen war, auch wenn sich die Maßnahmen gegen das deutsche Judentum von Jahr zu Jahr wesentlich verschärften und die Juden nach und nach immer mehr von den übrigen Bürgern abgesondert und ins „Ghetto" zurückgetrieben wurden. Sie durften z. B. nicht mehr die allgemeinen Restaurationsbetriebe in Anspruch nehmen, sondern konnten nur noch jüdische Kaffeehäuser und jüdische Gaststätten aufsuchen, die als solche deutlich gekennzeichnet sein mußten. Auf Straßen und Plätzen oder in den städtischen Parkanlagen wurden neben den üblichen grünen Sitzbänken neue, gelb angestrichene Bänke aufgestellt, mit der weithin sichtbaren Aufschrift: „Nur für Juden".

Zahlreiche Juden begannen nun schon auszuwandern, nach Übersee oder Palästina. Der größte Teil aber verblieb in Deutschland — immer noch in der Meinung und Hoffnung, daß es niemals ganz schlimm kommen werde und daß eine „solche Diktatur sich ja nicht lange werde halten können .. Doch erwies sich inzwischen, wie recht Herzl mit seinen düsteren Prophezeiungen gehabt hatte. Daher wurde nun auch die zionistische Bewegung mehr und mehr beachtet; sie vergrößerte sich rasch. Jetzt erlaubten die jüdischen Eltern den meisten Kindern, in die zionistische Jugendbünde einzutreten. Viele von ihnen wurden auch gleich zur Jugend-Alijah nach Palästina angemeldet, und die Organiation der Jugend-Alijah vermochte dieses plötzlichen Ansturms gar nicht mehr Herr zu werden.

Unser Bund arbeitete unverändert — oder vielmehr mit verstärkter Kraft — weiter. Die jüdischen Jugendbünde blieben vorläufig noch erlaubt, nur mußten sie sich eine gewisse polizeiliche Überwachung gefallen lassen. So mußte der monatliche Veranstaltungskalender jetzt für jeden Monat bei der deutschen Behörde eingereicht und von dieser erst genehmigt werden. Doch wie überall, so kam es auch in den Gruppen der jüdischen Jugendbewegung bereits zu ersten Zwischenfällen. Einen Monat nach dem Machtantritt von Hitler riß ein Chawer meiner Gruppe, Jaakow Ehren-freund, eine Hakenkreuzfahne von einem Nazi-Lokal herunter und wälzte sie in den Staub. Er wurde noch am gleichen Tage verhaftet und später in ein KZ gebracht. Das weitere Schicksal von Jaakow blieb unbekannt — für immer. Das Gegenstück zu diesem Vorfall bildete eine ebenso tragische Begebenheit, die sich bei Leipzig zugetragen hatte — im religiösen Jugendlager Bomsdorf. Von dort hörten wir, daß ein Chawer von den Nazis sofort erschossen wurde, nachdem er sich geweigert hatte, der Aufforderung zu folgen, eine Thora-Rolle mit Füßen zu treten.

1935 wurde ich vom Leiter der „Zionistischen Vereinigung in Deutschland" nach Köln geschickt, um dort den Aufbau und die Leitung eines Kinderheims für die Jugend-Alijah zu übernehmen, wo 40 Jungen und Mädchen halbtägig ein Handwerk erlernten und zur anderen Hälfte des Tages unterrichtet wurden, vorwiegend in jüdischen und zionistischen Fächern. Gleichzeitig konnte ich in Köln meinen alten Wunsch durchsetzen, endlich Lehrer zu werden.

Ich besuchte die jüdische Religionslehrer-Akademie unter der Leitung von Dr. David Carlsbach. Nach Auflösung des Jugendheims in Köln und meinem dortigen Studienabschluß ging ich Anfang 1937 als Lehrer nach Herrlingen bei Ulm an die Jüdische Oberrealschule und in das hervorragende Jüdische Landschulheim, beide unter der bewährten Leitung des Pädagogen Hugo Rosenthal stehend. Unter seiner Führung erhielt ich wertvolle Anregungen zur Gestaltung eines jüdisch-traditionellen Lebens auch in Schule und Erziehung. Später übersiedelte ich auf seinen Rat hin wieder nach Berlin, um dort noch zum allgemeinen Volksschullehrer-Studium zu gelangen. Ich trat in die Jüdische Lehrerbildungsanstalt von Dr. Bamberger ein und übernahm in Berlin gleichzeitig eine zentrale Arbeit im Jüdischen Pfadfinderbund des „Makkabi Hazair“.

Nach Abschluß meiner Studien übernahm ich 1939 das Lehramt in einer Volksschule der jüdischen Gemeinde für sämtliche Fächer und wurde später von meinem Bund als Lehrer und Madrich an die Jugend-Alijah-Schule (JualSchule) in Berlin berufen, deren Leitung ich im Herbst gleichen Jahres übernahm. Hier war es dann, wo ich mir zwei Jahre später den Entschluß abzuringen hatte, einer frohgestimmten Jugendgruppe die schreckliche Mitteilung von den bevorstehenden, staatlich angeordneten Deportationen zu machen.

Im Schatten der drohenden Deportation

Auch im Krieg ließen die Nazis die (von der britischen Mandatsregierung als illegal behandelte!) Alijah Jugendlicher zunächst noch zu. So kam es, daß nach Kriegsbeginn die „Jüdische Jugendhilfe''ihr Arbeitsgebiet über die schulentlassene Jugend hinaus auch auf die 1219 bis 14jährigen ausdehnen konnte, für die ein Jugendheim in Hamburg und eine besonders eingerichtete „Nachmittagsgruppe" bei der Jual-Schule Berlin bestand. Als mit dem Verbot der jüdischen Schulen auch diese Einrichtungen aufzulösen waren, blieben nur diejenigen Jugendlichen vor einer Rückweisung in ihre Elternhäuser und somit Deportation bewahrt, die in Hachscharah-Kibbuzim eingeordnet waren. Diese Kibbuzim erreichten mit dem Kriegsjahr 1940 den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit. Insgesamt 560 Jugendliche arbeiteten in Gemeinschaften von 40 bis höchstens 80 Menschen in elf Ausbildungsstätten.

Mit der Schließung der jüdischen Schulen war auch meine Lehrertätigkeit beendet. Ich hatte fortan Dienst als Küchenhelfer in der jüdischen Volksküche zu tun. Doch durch Vermittlung von Alfred Selbiger als dem Verantwortlichen für den jüdischen Arbeitseinsatz konnte ich an zwei Nachmittagen der Woche zu der nach Wannsee geretteten Hauptgruppe der Jual-Schule hinausfahren. Als Mitarbeiter in der Reichsvereinigung stand mir noch freie Fahrerlaubnis in Berlin zu, während im übrigen bereits das allgemeine Fahrverbot für Juden bestand.

In einem Gewächshaus des Grundstücks in Wannsee verbrachte ich mit den Jungen frohe Aussprache-und Lehrstunden, in denen ich Hebräisch, jüdische Geschichte, Palästina-kunde und aktuelle Fragen behandelte. Das war natürlich eine verbotene Tätigkeit. Offiziell war meine Anwesenheit damit begründet worden, daß ich den Jungen „Theorie des Gartenbaus" beizubringen hätte. Tauchte SS-Mann Friedrich auf einem seiner Rundgänge im Gewächshaus auf, mußte sofort das Thema gewechselt werden. Ich konnte nur bewundern, wie schnell sich die Kinder auf diese Situation einzustellen vermochten und „zulässige" Fragen bzw. „passende" Antworten im Augenblick erfanden. Wir mochten beispielsweise gerade die Entwicklung des Aufbauwerkes in Erez Israel besprechen — Friedrich wurde gesichtet, und sogleich fragte micn ein Junge nach der Samenentwicklung der Mohr-rüben. Noch bis in den August 1942 konnte diese letzte Schulgruppe zusammengehalten wer-den. Die nunmehr über uns hereinbrechende Deportationsgefahr ließ mich jedoch den Weg in die Illegalität der Untergrundarbeit suchen.

Der Gedanke an ein Untertauchen in Nazi-Deutschland, um so der Deportation zu entgehen, kam mir erstmalig im Winter 1941. Im Oktober hatten die Judentransporte aus Berlin begonnen Daß sie in den Tod führen würden, konnten wir damals um so weniger ahnen als sie von den Nazis in Formen einer „geregelten" Umsiedlung nach dem Osten organisiert wurden. Welch grausiger Plan dahinter verborgen war, konnten wir uns, bei all den schlimmen Erfahrungen, welche die Juden Deutschlands in den ersten neun Jahren der Nazi-Herrschaft hatten machen müssen, einfach nicht vorstellen. Zwar wußten wir bereits von der sogenannten „Schutzhaft" von Folterungen bei Untersuchungen, längst auch von der Existenz von Konzentrationslagern, aber Massenmord im 20. Jahrhundert überstieg unsere Vorstellungskraft. Wir hielten zunächst die offiziell als „Evakuierung" oder „Abwanderung" bezeichneten Abtransporte für Überführungen der Juden in Arbeitslager des Ostens, in denen sie unter gewiß härtesten Bedingungen für die Kriegsmaschine des Dritten Reiches zu arbeiten hätten, aber wenigstens am Leben bleiben würden.

Doch erreichten uns gegen Jahresende die ersten erschreckenden Gerüchte über das Vorhaben der Nazis, in den von ihnen eroberten Ländern die Ausrottung der europäischen Juden durchzuführen. Unser Bund erhielt Gewißheit darüber erst durch die direkte Nachricht, die uns im Juli 1943 aus den Vernichtungslagern zugespielt wurden. Schon der erste kurze Brief, den wir bekamen, ließ keine Zweifel mehr über die wahre Natur der Konzentrationslager im Osten zu. Die als 17jährige deportierte Chawerah Karla Wagenberg konnte während der Außenarbeit im Lager Birkenau einen der deutschen Wachsoldaten dazu bewegen, einen Brief von ihr nach Berlin mitzunehmen, den er während eines Urlaubs in der Stadt zur Post gab. Sie schrieb u. a.: „Ihr braucht Euch nicht viel Sorge um mich zu machen. Wir sind hier zu zweit und haben unsere Arbeit. Wie gut ist es, daß ich das Flötenspiel gelernt habe, denn das hat mich gerettet). Wir arbeiten in der Küche. Das Leben und die Arbeit wären ganz erträglich, wenn nicht in der Nähe der Kamin wäre (vom Hrsg, hervorgehoben). Täglich kommen Hunderte hinein. Wir verlieren nicht die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Oft singen wir oder unterhalten uns. Wir versuchen auch noch zu lernen. Ich habe nur eine Bitte: Schließt uns immer in Euren Kreis bei Eurer Hawdalah ein und vergeßt uns nie! Eure Karla. N. B. Viele von uns sind schon bei Alfred."

Auch ohne daß uns alle Sätze klar waren, das Wort „Kamin", in hebräischen Buchstaben geschrieben, traf uns in furchtbarer Eindeutigkeit. Und falls es dessen noch bedurft hätte, unterstrich diese entsetzliche Meldung der Nachsatz, wonach „viele schon bei Alfred" seien: unser Bundesleiter Alfred Selbiger war im November 1941 erschossen worden!

Nun begannen auch aus ausländischen Sendern Nachrichten über die Massenvernichtung von Juden und anderen Bevölkerungsgruppen in Polen durchzusickern. Das Abhören nichtdeutscher Radiostationen war unter Androhung schwerster Strafen verboten. Den Juden hatte man zudem schon am Jom Kippur (Versöhnungstag) 1939 die Radioapparate fort-genommen. Dennoch hörten wir längere Zeit zunächst bei nichtjüdischen Familien, die unsere Freunde waren, in der Untergrundzeit bei denen, die uns Obdach gewährten, in den späten Abendstunden die ausländischen, besonders die englischen Nachrichten. Das berühmte Klopfzeichen des BBC erlebten wir stets wie das öffnen eines Fensters zur Freiheit. All die Informationen, die wir so auffingen, oft wohl allzu optimistische oder überhaupt unzutreffende, über alliierte Kriegs-handlungen oder gar Voraussagen über den bevorstehenden Zusammenbruch des HitlerReiches, — uns gaben sie immer wieder Mut. Mit Decken über dem Kopf und Kissen zu beiden Seiten des Apparats, um den Radioton zu dämpfen, folgten wir angespannt — das Ohr dicht am Gerät — den Ansagern aus jener anderen Welt. So erreichte uns dann die erste Kunde von den Massenvernichtungen der Juden im Osten.

Ich kann nicht mehr vergessen, was in einer dieser Sendungen ein geflüchteter deutscher Lokomotivführer über sein anscheinend letztes Erlebnis im Dienst aussagte: wie ein von seiner Maschine gezogener Güterwagen-transport, vollgestopft mit Juden, auf offener Strecke irgendwo zum Halten gezwungen wurde. Dabei habe sich dann herausgestellt, daß zahlreiche „Passagiere" in den Viehwagen bereits während der Fahrt an völliger Entkräftung gestorben waren. Die noch Lebenden seien an Ort und Stelle umgebracht worden ...

Zu dieser Zeit festigte sich meine Bekanntschaft mit Edith Wolff die in der Kulturabteilung der . Jüdischen Jugendhilfe" tätig gewesen war. Sie hatte mir schon Ende 1941, nach Rückkehr von einer Erkundungsfahrt nach Wien, klarzumachen versucht, daß Möglichkeiten gefunden werden müßten, drohender Deportation zu entgehen. Anfang 1942 entwickelte sie mir einen Plan, wie man sich den Transporten entziehen und im Versteck das Ende des „Dritten Reiches" abwarten könne. Der Gedanke an ein Dasein in der Illegalität mit den dazu erforderlichen gefälschten Papieren erschien mir als einem zu preußischer Korrektheit erzogenen Juden Deutschlands zunächst unmöglich. Ewo bestand jedoch hartnäckig auf ihrem Vorschlag, mit der Begründung, es sei zionistische Pflicht, sich für den Aufbau Palästinas und für die jüdische Volksgemeinschaft zu erhalten, statt sich wie Vieh von den Nazis abschlachten zu lassen. Als ich ihre Gedanken im Führungskreis des Bundes vortrug, wurde er von den einen als ausichtslos, von den anderen als unziemlich für einen Chaluz abgelehnt. Alfred Selbiger vertrat den Standpunkt, Mitglieder des „Hechaluz" hätten die Pflicht, auch in der Deportation den jüdischen Massen vorbildlich voranzugehen. Die Mehrheit der Chawerim stimmte ihm zu. Nur eine kleine Minderheit verstand sich dazu, ernsthaft die Flucht in den Untergrund als möglichen Ausweg zu erwägen.

Im Sommer 1942 begann ich, selbst ans „Untertauchen" zu denken. Dazu bewog mich besonders das schockierende Erlebnis des ersten Abtransports meines Vaters, der im Juli 1942 die Aufforderung erhielt, sich im Sammellager in der Synagoge Levetzowstraße einzufinden. Ich versuchte ihn zu überreden, in den Untergrund zu gehen, anstatt sich fortschleppen zu lassen. Doch der Vater, der im Ersten Weltkrieg als deutscher Soldat gedient hatte, wies solche Gedanken weit von sich. In seinem Weltbild war kein Raum für die Vorstellung, daß das „deutsche Vaterland", für das er sein Leben eingesetzt hatte, ihm dies Leben nun nehmen wolle. Solche Haltung war unter den Juden Deutschlands weit verbreitet. Als typisch kann daher auch das Benehmen meiner damaligen Wirtsleute, der Familie des Studienrats Dr. Lewysohn, gelten, eines Mannes, der — allem Zionismus fern — Zeit seines Lebens ein pflichtgetreuer preußischer Beamter gewesen war. Als seine Familie im Februar 1942 die Anweisung zur Deportation erhielt, bereitete sie sich tagelang darauf wie zu einem Wohnungswechsel vor: Die Wäsche wurde ausgebessert, die Koffer wurden gepackt und noch einmal die Wohnung gründlichst reingemacht. Denn — man sollte ihnen doch „nichts Schlechtes nachsagen" können ...

Den Abend des Abschieds unserer Familie vom Vater werde ich niemals vergessen. Die ganze Verwandtschaft hatte sich, wie zu einem Begräbnis, vollzählig eingefunden. Allerdings glaubten alle, die sich da unter Tränen umarmten, noch an ein Wiedersehen nach diesem Scheiden „auf lange Zeit". Besonders qualvoll wirkte auf uns die zwangsläufige Kürze des Abschiednehmens, da jedermann sich dessen bewußt zu sein hatte, wie es oft bei derartigen „Gelegenheiten" geschah, daß die beim Abholen des „auf der Liste" Stehenden in seiner Wohnung vorgefundenen Juden gleichfalls mitgenommen wurden. Der Vater wurde dann allerdings noch einmal zurückgestellt. Vier Tage nach dem Familien-Abschiedstreffen erhielt ich die telefonische Nachricht über das Büro von Alfred Selbiger, mein Vater befände sich wieder daheim. Wir feierten Wiedersehen wie mit einem vom Tode Auferstandenen, diesmal mit Tränen der Freude. Es stellte sich heraus, daß der Chef der Waffenfabrik, in welcher mein Vater zur Arbeit zwangsverpflichtet war, selber in das Sammellager der Synagoge gegangen war und unter Hinweis auf die Tüchtigkeit meines Vaters in dieser Arbeit, vor allem aber auf Kriegswichtigkeit der Munitionsherstellung, den Vater für die Fabrikarbeit wieder freibekommen hatte. Wiederholte Fälle solcher Zurückholung in letzter Stunde waren, wie sich herumsprach, Ergebnis von Auseinandersetzungen zwischen Gestapo und Industrie über die Juden-Deportationen. Vor allem eben die Waffenindustrie, die auf Hochtouren arbeitete, verlangte alle nur irgendwie verfügbaren Arbeitskräfte. Für den so Zurückgestellten bedeutete es neuerwachende Hoffnung, vielleicht nun verschont zu bleiben. Bis dann der 27. Februar 1943 anbrach, der geschichtliche Todestag für die Judenheit Deutschlands, an dem die Großaktion der Massenabholungen aller noch verbliebenen Juden einsetzte, die zur Deportation auch der bislang Zurückgestellten führte. Von dieser Massenaktion ist auch mein Vater nicht mehr zurückgekehrt.

Als mich Mitte August 1942 die Aufforderung erreichte, mich am 28. August, um 6 Uhr abends, zum Abtransport im Sammellager Levetzowstraße einzufinden, hatte ich mich zu entscheiden.

Ich entschloß mich zu einem Besuch im Büro Alfred Selbigers. Dort sagte ich, daß ich gedenke unterzutauchen, aber die Entscheidung nicht ohne Zustimmung des Bundes und des „Hechaluz" treffen wolle, über die Nachricht der mir nun drohenden Deportation waren die Chawerim um so bestürzter, als ich der erste aus der Führungsgruppe des Bundes war, den das traf. Diesmal, nur Monate nach einer Diskussion, in der ein Untertauchen von ihnen noch abgelehnt worden war, stimmten sie meinem Vorhaben zu.

Meinen Wirtsleuten konnte ich selbstverständlich nichts über mein Vorhaben sagen. Ich stellte in mein Zimmer zwei alte, mit Steinen gefüllte Koffer, auf die ich zwei Schlafdekken legte, um den Anschein zu wahren, für den nächsten Morgen meine Deportation vorzubereiten. In der Nacht jedoch schaffte ich mit Unterstützung einiger Chawerim meiner Gruppe, die ich zu völligem Schweigen darüber verpflichtete, heimlich — und in ständiger Gefahr, dabei von einer Polizeistreife angehalten zu werden — andere Koffer mit Wäsche, Büchern, Photos, Briefen und Akten fort. Wir verteilten sie auf Wohnungen verschiedener befreundeter Familien, die zur Verwahrung meiner persönlichen Sachen bereit waren. Für solche Zwecke fanden wir damals einige hilfreichen Familien. Wir bezeichneten sie mit dem freundlichen Spitznamen „Aufbewarier" (also . Arier", Nichtjuden, die sich zum Aufbewahren von Besitztümern verfolgter Juden zur Verfügung hielten).

Mit Rührung denke ich an einige der vielen Abschiedsbriefe, die ich nach Bekanntwerden meines Deportationsdatums bis zum 28. August noch erhielt. Ich kam mir damals vor wie einer, der zur eigenen Beisetzung auch noch selbst die Beileidsschreiben entgegennehmen mußte.

Am Abend des 27. August, meiner letzten „legalen" Nacht, ging ein schwerer Bombenhagel auf Berlin nieder. Doch kam ich mit den Freunden, die mir beim Kofferschleppen halB fen, heil davon. Ich verließ Berlin mit dem Judenstern und kehrte mit dem — Hakenkreuz zurück. Im dichten Forst von Picheisberge ging meine Verwandlung vor sich. Wir trennten den Judenstern von meiner Jacke ab und steckten ihr das vorsorglich beschaffte Abzeichen der „Deutschen Arbeitsfront" an. Nach Anbruch der Dunkelheit fuhr ich allein nach Berlin zurück und machte meinen ersten Versuchsbummel durch die Straßen der Stadt, um mich an die „Rolle“ eines freien Durchschnittsbürgers ohne Judenabzeichen zu gewöhnen.

Damit war ich das erste Mitglied des deutschen „Hechaluz", das untertauchte. Nach wenigen Wochen folgten mir zwei junge Chawerim, Heinz (Zwi) Abrahamson und Poldi (Jehuda) Chones, 14 und 15 Jahre alt, in die Illegalität. Natürlicherweise vermehrte sich mit der Verschärfung der Judenverfolgung die Schar der Illegalen. Aus den Bünden kamen uns vor allem Jugendliche nach. Von etwa vierzig jungen Menschen, die in der Folgezeit durch unseren illegalen Kreis hindurchgingen, gehörten jedoch nur elf vom Anfang bis zum Ende unserer Gruppe an. Für uns alle kam es nun darauf an, unser Untergrunddasein so zu organisieren, daß wir uns nicht nur physisch durchbringen, sondern in der Illegalität weiter gemeinsam arbeiten konnten. Zunächst hatten wir jedem, der untertauchte, die äußeren Erfordernisse illegaler Existenz zu sichern. Dabei stand die Sorge um Unterkunft an erster Stelle. Wer versteckt leben wollte, brauchte einen sicheren Ruheplatz. Wohnungen von Juden kamen dafür nicht mehr in Betracht. Denn waren die Wohnungsinhaber mit ihren Familien erst einmal deportiert, versiegelte die Polizei die Türen. Es gehörte Tollkühnheit dazu, wenn Poldi und Zwi, seit der Verschleppung ihrer Eltern auf der Flucht vor der Gestapo, dennoch wochenlang nachts zur elterlichen Wohnung zurückschlichen — und nicht gefaßt wurden. Da sie noch keine andere Bleibe hatten, wiederholten sie Nacht für Nacht das lebensgefährliche Abenteuer, zu später Stunde behutsam die Siegel von der Wohnungstür abzulösen, unter Meldung jeden Geräusches und im Dunkeln zu übernachten, früh morgens dann die Marken genau an ihren Platz auf die Wohnungstür zurückzuheften und sich unbemerkt davonzumachen!

„Leben" in der Illegalität

Nächst der Quartier-Beschaffung ging die Sorge um die Verpflegung (Mahlzeiten oder Lebensrnittel), die Beschaffung von Personalausweisen zur Legitimierung nach außen und um genügende Geldmittel.

Ohne eine ausreichende Anzahl von Helfern, die bei all diesen riskanten und schwierigen Vorhaben Unterstützung gewährten, war es undenkbar, all das zu besorgen. Wir konnten, um ganz sicher zu gehen, solche Hilfe eigentlich nur bei Nichtjuden suchen. Doch stand uns wenigstens anfangs auch der Weg zu gewissen Adressen von Halbjuden und von Juden, die in Mischehe lebten, offen. Man unterschied in der Nazi-Gesetzgebung diese „Mischlinge" nach ihrer Religionszugehörigkeit bzw. danach, ob Vater oder Mutter der jüdische Elternteil waren. Für uns erwiesen sich diejenigen Mischehen von besonderem Wert, in denen die Frauen christlicher Herkunft, oder auch Christinnen geblieben waren. Diese Frauen und „jüdisch versippten" Mütter retteten, trotz fortgesetzter Belästigung durch die Behörden, mit treuer Beharrlichkeit in den meisten Fällen nicht nur ihre volljüdischen Ehemänner und halbjüdischen Kinder, sondern noch so manchen illegal lebenden Juden dazu. Kinder aus solchen Mischehen hatten den Status eines „Geltungsjuden" oder eines „Mischlings 1. bzw. 2. Grades". Zu den Letzteren fanden wir kaum Kontakte. Sie hielten sich zumeist den Juden fern, brauchten den Stern nicht zu tragen und wurden auch zeitweise zum Heeresdienst herangezogen. Hingegen zwang man „Geltungsjuden" gleich Voll-juden, den Stern zu tragen, ersparte ihnen aber im allgemeinen wenigstens die Deportation. Wir selbst unterschieden unsere Helfer noch nach dem Gesichtspunkt, was sie im einzelnen für uns zu tun imstande und bereit waren, ob sie also als „Quartierleute“ „Mahlzeitenspender", „Lieferanten“ (von Lebensmittelkarten oder wenigstens Markenabschnitten) oder aber Geldgeber fungierten. In der Beschaffung von Ausweispapieren fanden wir zwar gelegentlich die Unterstützung eines Graveurs oder Graphikers, der sich dazu verstand, für uns Personalausweise zu fälschen, blieben aber vorwiegend darauf angewiesen, daß hilfreiche Menschen, die auch sonst den Bedürfnissen unserer Lage Verständnis entgegenbrachten, die Frage der Ausweise für uns ebenfalls lösten.

Als das jederzeit von neuem dringliche und schwierige Problem für uns Illegale erwies sich die Auffindung eines sicheren Unterschlupfes, der nach Möglichkeit ja nicht nur als Nachquartier, sondern als Aufenthaltsort überhaupt, selbst am Tage und besonders im Winter, dienen sollte. Nur wenige Menschen nahmen gern die Gefahr auf sich, einen von uns auch nur bei Nacht in die Wohnung einzulassen. Darin erging es lediglich den jüngeren Mitgliedern unserer Gruppe besser, da doch Kinder weniger Verdacht erweckten. Galt schon irgendeine Handreichung für Juden im Dritten Reich als Vergehen, so riskierten Deutsche, die gar illegal lebende Juden verbargen, bei Entdeckung als . Judenknechte" zusammen mit den bei ihnen vorgefundenen Juden verhaftet zu werden.

Gefährlich wurde es bereits, wenn damit zu rechnen war, daß nicht zur Familie gehörige Personen beim abendlichen Besuch gesehen würden, weit mehr noch, falls man sie dann erst des morgens die Wohnung wieder verlassen sah. Zu den Häusern der bürgerlichen Viertel Berlins gehörte überall der Portier, dessen Wohnung sich zumeist neben dem Hauseingang befand. Daher konnte er sämtliche herein-und hinausgehende Personen beobachten und diente somit vielfach den Nazis als bequemer Spitzel. Mit den normalen Funktionen dieses Wächters am Haustor war die eines „Blockwarts" verbunden, dem z. B. auch die Verteilung der Lebensmittelkarten an die Hausbewohner oblag. Diese Männer bedeuteten für uns eine fortgesetzte potentielle Gefahr, die uns auferlegte, niemals an aufeinanderfolgenden Nächten das gleiche Quartier zu benutzen.

Wir suchten daher unsere Gruppe dadurch vor jedem Auffallen zu schützen, daß wir einen „Zyklus" organisierten, der jedem von uns für jeden Wochentag eine andere Ubernachtungsadresse verschaffte. Des weiteren mußten wir darauf bedacht sein, unser Logis erst so spät abends aufzusuchen, daß die Mehrzahl der Bewohner mit Gewißheit bereits schlief, hatten außerdem jegliches Geräusch beim Betreten der Häuser zu vermeiden und des morgens so früh fortzugehen, daß wir den Anwohnern nicht begegneten. Wenn unter solchen Bedingungen selbst an sich recht hilfsbereite Menschen aus Furcht vor den Nachbarn, in manchen Fällen den eigenen Familienangehörigen, es nicht wagten, uns Quartier zu geben, war das nur allzu verständlich. So verweigerte mir beispielsweise einer meiner ehemaligen Lehrer, der mir immer freundlich zugetan war, zu meiner Enttäuschung jede Unterkunft. Doch gab er die begreifliche Begründung, seiner Familie wegen könne er die Verantwortung für das Wagnis nicht auf sich nehmen. Auch die Familie eines meiner ehemaligen Mitschüler wies mich aus Angst vor Nachbarn ab, getraute sich ebenso wenig, einen von uns an Mahlzeiten teilnehmen zu lassen, versah mich aber mit Lebensmitteln zum Mitnehmen. Auf der ständigen Suche nach geeigneten Nachtquartieren bereitete uns die andauernde Gefahr nächtlicher Bombenangriffe zusätzliche Sorge. Denn im Falle solch eines Angriffs konnte ein Illegaler nie aus seinem Unterschlupf heraus, da er weder von anderen Hausbewohnern gesehen werden, gewiß aber keinen Luftschutzkeller aufsuchen durfte. Er befand sich somit in solchen Situationen in noch vergrößerter Gefahr. Mit der Zunahme dieser Angriffe auf Berlin verloren viele unserer Freunde und Helfer ihre Wohnungen und wir damit so manches Quartier. Immer öfter hatten wir dann eine Nacht oder mehrere Nächte im Freien zu verbringen, was doch nur in warmen Sommernächten erträglich war, oder aber, wenn an Rast nicht zu denken war, uns in einer „Straßennacht" auf den Füßen zu halten.

Herzliche Erinnerung bewahre ich unter den wechselnden Quartierleuten der Familie Fleischmann, entfernten Verwandten von mir, die in Moabit wohnten. Schon früher einmal, in der „Kristallnacht" des 9. November 1938 mit ihren ersten Massenverhaftungen, flüchtete ich mit anderen Freunden zu Fleischmanns. Sie nahmen mich dann auch in meiner Illegalität für Übernachtungen auf. Julius Fleischmanns Wohnung bot schon deshalb eine gewisse Sicherheit vor polizeilichen Nachforschungen, weil der Hausherr als völlig gelähmter Schwerkriegsbeschädigter des Ersten Weltkrieges von den Nazis zunächst verschont blieb. Seine tapfere Frau Sophie pflegte ihn hingebungsvoll, versorgte und erzog dabei noch ihre zwei Kinder. Dauernde materielle Not — die Familie lebte ausschließlich von Wohlfahrtsunterstützungen — hinderte die Fleischmanns nicht, einen strenggläubigen Haushalt zu führen. Allmorgendlich legte die Frau dem körperlich hilflosen Manne die Gebetsriemen an. In ihrer frommen Güte boten die selbst so kläglich bedrückt lebenden Menschen jedem, der in Not zu ihnen kam, Mahl-B zeit und Quartier. Meine Mutter sprach von ihnen als „von jüdischem Adel". Am Ende blieb auch ihnen die Deportation nicht erspart. Nur wenige Tage nach der großen Juden-Liquidierung vom 27. Februar 1943 — ich befand mich gerade in der Wohnung — erschien der Transportwagen vor ihrer Türe. Frau Fleischmann half mir noch, über den nach hinten hinausführenden Balkon aus der Wohnung zu flüchten, bevor sie den Transportbeamten Einlaß gab. Im gegenüberliegenden Hauseingang versteckt, wurde ich Zeuge des tragischen Ab-transports. Julius Fleischmann trug man in seinem Krankenstuhl hinaus und auf den Wagen. Die Frau folgte ihm in heroischer Fassung. Beide schickte man nach Theresienstadt, angeblich in „Vorzugsbehandlung''. Sie kamen jedoch beide dort um. Ihren Sohn Arno konnte vorher die Jugend-Alijah nach Schweden bringen, die Tochter Eva schloß sich nach der Deportation der Eltern unserer illegalen Gruppe an und blieb ebenfalls am Leben.

Nachtquartier und Arbeitsplatz an ein und demselben Orte zu haben, so erleichternd dies vorübergehend für einzelne von uns auch sein mochte, war immer zugleich besonders gefahrvoll. Unser vierzehnjähriger Chawer Alfred (Abraham) Bernstein fand Arbeit in einer kleinen Werkstatt, in der er mit Einverständnis des Inhabers auch übernachten durfte. Der Handwerker kannte die Lage des illegal lebenden Jungen, dessen Eltern deportiert worden waren, hielt es jedoch aus Sicherheitsgründen für zweckmäßig, seinen Vorarbeiter einzuweihen. Das ging eine ganze Weile gut. Alfred hatte Arbeit, Auskommen und Quartier. Eines Tages jedoch geriet der Vorarbeiter mit seinem Chef in Streit und erstattete bei der Polizei Anzeige, daß in der Werkstatt ein jüdischer Junge beschäftigt und versteckt gehalten würde. Das endete mit sofortiger Verhaftung des Werkstattinhabers und Alfreds Deportation. Später wurde die einzige überlebende der Familie, Alfreds jüngere Schwester, Mitglied unserer illegalen Gruppe.

Neben einigen Adressen, wo uns — soweit wir davon Gebrauch machen konnten — dauernd Quartier gesichert war, gab es einzelne Unterkunftsplätze, die wir nur in Abständen aufsuchen durften. Solch eine Stelle fanden wir in der Jägerstraße, im Zentrum Berlins, bei Julius Gladenbeck, einem ehemaligen kleinen Beamten des Unterrichtsministeriums. Er lebte mit seiner alten Mutter zusammen und erwies sich gleich ihr von der selbstverständlichen Hilfsbereitschaft zutiefst religiöser Menschen. Zwar lag die Wohnung zu exponiert für uns, um sie öfter als unbedingt nötig aufzusuchen, wann immer aber ich dorthin gelangen konnte, erwartete mich rührende Gastlichkeit. Das ging solange gut, bis eines nachts im Herbst 1943 zum wiederholten Male in der Wohnung das Telefon läutete, ohne daß sich dann eine Stimme am Apparat vernehmen ließ. Damit reihte sich auch dieser Unterschlupf in die Reihe derer ein, die wir von da ab zu meiden hatten. Herr Gladenbeck vermittelte mir noch die Bekanntschaft mit einem seiner Freunde, mit Namen Kühn, der ein Wochenendhäuschen in Berlins Gartenvorstadt Werder besaß. Dieses Haus, weitab von allem Straßenverkehr, hätte völlige Geborgenheit bedeuten können. Doch bekam Herr Kühn es bald mit der Angst zu tun, daß das häufigere Auftauchen Unbekannter schließlich auffallen müsse. Einen Koffer mit meinen Sachen bei sich aufzuheben, war er bereit. Ich habe das Gepäck-stück nicht wiedergesehen.

Wie schon angedeutet, hatten wir uns in der Anfangszeit unserer Illegalität noch in Wohnungen von „Mischlingen", wie den Brüdern Wiener, oder „Mischehen" sicher fühlen können. Zur letzteren Kategorie gehörten Edith Wolffs Eltern, die als „privilegierte Mischehe" günstiger gestellt waren als die „Geltungsjuden''. Wenn dennoch Anfang 1943 (für mich wiederum mit knappem Entkommen bei einem zufälligen Besuch verbunden) erst Ewos Vater, Dr. Theodor Wolff, abgeholt, ein halbes Jahr später Ewo selbst verhaftet wurde, so lag das nicht zum wenigsten daran, daß sich die Familie in der Unterstützung von Illegalen zu sehr exponiert hatte, immer unter aktiver Beihilfe ihrer treuen Hausgehilfin Jenny.

Die zunehmende Knappheit von Unterschlupf-Orten, die uns zwang, auch Quartiere in Anspruch zu nehmen, die vom Standpunkt der Sicherheit ungünstig lagen, wurde schließlich einem unserer Chawerim zum Verhängnis. Die immer nach neuen Schlafplätzen für uns ausschauende Ewo hatte uns durch die Vermittlung von Jenny die Adresse einer Frau Lange in der Taunusstraße gegeben. Die schlichte Frau bot uns das Zimmer ihres an der Front dienenden Sohnes gegen ein Entgelt von einer Mark pro Nacht an, und wir machten davon längere Zeit abwechselnd und auch gemeinschaftlichen Gebrauch. Dabei wußten wir, daß diese Behausung, trotz der Abgelegenheit der Straße, für uns ein Risiko bedeutete. Denn sie befand sich in einem Hinterhaus, welches nur durch den Eingang des Haupthauses und über einen offenen Hof zu erreichen war. Daß wir uns dorthin auch nach Ewos Verhaftung noch begaben, war gewiß falsch, da wir die Spuren ihrer Tätigkeit hätten verwischen müssen.

An diesem Ort erreichte den Chawer Poldi das Unheil am Vorabend des Rosch-Haschanah 1943. Er hatte mehrere Tage bei Frau Lange gewohnt und war an diesem Tag dorthin zurückgekehrt, um sich für die zwischen uns verabredete Feier-Andacht bei den Becks umzuziehen. Als er am Abend nicht erschien, verrichteten wir nach einigem Warten die Gebete ohne ihn. Erst als er auch am nächsten Tage nicht auftauchte, ahnten wir Schlimmes, denn wir waren an die Gruppen-Regel gewöhnt, niemals Zusammenkünfte zu versäumen. Am darauf folgenden Sonntag paßte ich Frau Lange, deren fromme Gewohnheit, nie einen Gottesdienst auszulassen, mir bekannt war, vor ihrer Kirche ab. Die Frau berichtete mir dort von dem schrecklichen Vorgang mit Poldi. Die Gestapo habe sich bereits am Tage davor bei ihr nach einem von Nachbarn beobachteten jüdischen Flüchtling erkundigt, dann an dem Schicksalsabend darauf bestanden, in ihrer Wohnung auf ihn zu warten. Beim öffnen der Wohnungstür packten sie den Jungen. Der Fünfzehnjährige wehrte sich so wild, daß er in dem Handgemenge einen der Gestapoleute schwer verletzte, bevor sie ihn niederschlagen und fortschleppen konnten. Man transportierte den übel Zugerichteten zunächst in das Juden-Sammellager in der Großen Hamburger Straße, dann aber unter Bewachung in ein Lazarett. Nach Ausheilung seiner Wunden in das Sammellager zurückgeschafft, setzte man ihn dort wochenlangen Verhören aus. Denn die Gestapo wußte zu diesem Zeitpunkt bereits von der Existenz unserer illegalen Gruppe und wollte den Jungen durch Folterung zwingen, unsere Verstecke, Treffpunkte, Mitglieder und Helfer preiszugeben. Als nichts aus ihm herauszubringen war, deportierte man ihn. In sinnloser Hoffnung, dem Jungen irgendwie helfen zu können, strich ich oft um das Haus, dessen Scheinwerferbestrahlung jeden Fluchtversuch der Insassen aussichtslos machte. Ein als Aufseher im Sammellager verpflichteter „Mischling" berichtete uns von dem heldenhaften Durchhalten des Jungen. Durch diesen Mittelsmann erreichte mich nach einiger Zeit Poldis letzter, handschriftlicher Gruß, datiert vom 21. Oktober 1943, mit den wenigen Zeilen: „Ich habe mich gewehrt und geschwiegen. Sucht keinen Platz mehr auf, den Hallermann kennt! Macht Euch um mich keine Sorgen ... wir werden uns, so Gott will, Wiedersehen. Dir, mein Lieber, danke ich für alles, was Du mir gegeben hast." So ging er von uns, ohne, allen Quälereien zum Trotz, über uns etwas ausgesagt zu haben. Er ging ohne Klage und gab uns die letzte Warnung noch, die wir auch beherzigten.

Straßennächte und Razzien

Der fatale Schwund zuverlässiger Verstecke trieb uns nicht selten nun dazu, es darauf ankommen zu lassen, beim Klopfen an eine Tür abgewiesen zu werden. Wir hatten gelernt, auch mit Nachtlagern auf Dachböden zufrieden zu sein. Das wurde uns bei der zunehmenden Angst der Bevölkerung vor den Folgen von solchen Hilfsleistungen noch am ehesten gestattet. Denn bei eventueller Entdeckung auf den meist unverschlossenen Böden ließ sich immer behaupten, man sei ohne Wissen der Hausbewohner hinaufgeschlichen. Glückte es aber einem von uns — was nun immer häufiger geschah — bis in den späten Abend nicht, einen Schlafplatz zu entdecken, blieb nichts anderes übrig, als eine „Straßennacht" zu planen, d. h. danach zu trachten, wie man schlaflos, aber auch gefahrlos die Nacht im Freien zubrächte.

In Sommernächten gelang das noch relativ leicht, sogar mehreren von uns gemeinsam. Grimmig wurde die Situation bei Schneefall, Frost und eisigem Winde. Scheußlich war es, sich in menschenleeren Straßen stundenlang auf den Füßen zu halten und die Schläge der Kirchturm-Uhren zu zählen. Am schwersten erträglich erschienen uns immer die vier Stunden zwischen 1 Uhr und 5 Uhr morgens, die Zeit ohne alle Verkehrsmittel zwischen dem letzten Stadtbahn-Zug und der frühesten Untergrundbahn-Verbindung. Zu unserem Glück unterhielt die Berliner Straßenbahn in den Kriegsjahren einige sogenannte „Nachtlinien", die in einstündigen Abständen bis in den Morgen von einem Stadtende zum anderen verkehrten. Damals arbeiteten Munitions-und andere kriegswichtige Betriebe in drei Schichten zu jeweils acht Stunden, also auch die Nacht hindurch. Die Arbeiter solcher Betriebe waren dementsprechend des nachts vom und zum Schichtwechsel zu befördern. Die dauernden Bewegungen von Nachtarbeiter-Kolonnen verhinderten das Auffallen von uns illegalen Nachtwandlern. Da das jedoch nur für ganz bestimmte Stadtviertel zutraf, mußten wir sehr genau Bescheid wissen, wo wir uns sehen lassen durften. Manches, was wir einst als Pfadfinder gelernt hatten, wurde uns nun nützlich. Eine typische „Straßennacht" gestaltete sich etwa folgendermaßen: Bis Mitternacht fuhren wir auf den Stadt-und Untergrundbahnen hin und her, stiegen dann an einer Endstation in die „Nachtlinie" der Straßenbahn um und fuhren — erneut — von Norden nach Süden. Dabei vermieden wir, nach der ungefähr anderthalbstündigen Fahrt einfach mit dem gleichen Wagen die Strecke zurückzufahren, liefen vielmehr zu einer anderen Endstation und fuhren von dort zum Ausgangspunkt zurück. Kam endlich der sehnlich erwartete Morgen, hieß es, Gelegenheit zu finden, sich etwas frischzumachen, wohl auch in einem der frühzeitig öffnenden Caföhäuser den warmen Kaffee-Ersatz zu bekommen. Ich hatte mir zur Gewohnheit gemacht, nach Art der Arbeiter eine Aktentasche mit Brot bei mir zu führen, um wie ein „stilechter" Nachtarbeiter auftreten zu können, öffentliche Parks, Bahnhofshallen und Warteräume umgingen wir nach Möglichkeit, da in den einen oft Polizisten stationiert waren, in den anderen Razzien drohen konnten. Zwar fahndeten sie vor allem nach Deserteuren, Fremdarbeitern oder Verbrechern, doch durften wir uns ja nie unnötig den Identifizierungs-Forderungen aussetzen. Weniger gefährlich war dann schon — besonders im Sommer —, irgendwo weit draußen im Walde von Tegel oder Grunewald zu nächtigen. Als im Verlauf des Krieges immer mehr Menschen ausgebombt wurden, machte das jedenfalls unser Übernachten im Freien unauffälliger. Wir trauten uns allerdings nicht, um „Notquartier“ nachzusuchen, als diese Einrichtung für obdachlos gewordene Berliner aufkam. Zwar häuften sich bald die Fälle, in denen Bürger auf der Flucht aus der Stadt völlig vertrauenswürdig angeben konnten, ihre Ausweise beim Bombardement eingebüßt zu haben. Für uns war jedoch kein Verlaß darauf, den dann einsetzenden Befragungen standhalten zu können.

Eine einzige Chance fanden wir damals, gefahrlos Nächte ohne Quartier zu verbringen: Das Anstehen um Eintrittskarten an den Kassenschaltern der „Staatsoper Unter den Linden". Diese Gelegenheit bot sich aber nur in Nächten vom Sonnabend auf den Sonntag, da jeden Sonntag früh die Karten für alle Aufführungen der Woche verkauft wurden. Die Opern-Kassen öffneten um 8 Uhr morgens. Eine in steigendem Maße nach Ablenkung und Entspannung in zunehmend bedrohter Lage suchende Bevölkerung drängte bald in solchen Zahlen ins Theater, daß sich bereits ab 10 Uhr des Vorabends Schlangen von Wartenden zu bilden begannen. Die gingen oft in die Hunderte, ausgerüstet für die Nacht mit Schemeln und Decken. Unter diesen Kunsthungrigen waren wir geborgen! Der Polizei ist niemals eingefallen, in diesen Publikums-Ansammlungen die Anwesenheit von Illegalen zu vermuten, denen sie offensichtlich alles andere, nur das nicht zutraute: in ihrer Not noch Bedürfnis nach Opern zu empfinden. Da wir uns früh, eben abends schon, anzustellen pflegten, waren wir morgens nach Kassenöffnung bald an der Reihe und erwarben, zugleich froh, wieder eine Nacht ungeschoren überstanden zu haben, eine Anzahl von Karten für unsere illegale Gruppe zu verschiedenen Opernabenden. — Ewo sagte mir später einmal, niemals wieder in solcher Intensität musikalische Erlebnisse genossen zu haben.

Nach dergestalt schlaflos verbrachten Nächten konnten wir uns in der Sommerzeit wie Ausflügler in den Wäldern der Umgebung ausschlafen, wohl auch auf einer Park-Bank einnicken. Bei Regen und im Winter suchten wir kleine Cafhäuser auf, um in deren Winkeln auszuruhen, gingen auch hin und wieder zum gleichen Zweck in ein Tages-Kino. Doch fanden wir mitunter noch Helfer, die sich bereit erklärten, uns bei Tage, wenn sie selbst zur Arbeit gingen, einen Schlafraum zu überlassen, und auch erlaubten, uns dann dort zu waschen und unsere Kleider in Ordnung zu bringen. Natürlich verlangte auch dieser Tagesaufenthalt große Vorsicht von uns, wie z. B. die, daß wir uns niemals an den Fenstern der Wohnungen zeigen durften. Es versteht sich von selbst, daß wir, sobald nur einigermaßen erfrischt, bei Tage unsere verbotene Gruppenarbeit so geordnet wie möglich durchzuführen suchten.

Um sich während der Kriegsjahre im Nazi-Polizeistaat als Illegaler überhaupt mit einiger Freiheit bewegen zu können, kam es, bei Zunahme der Razzien in Zügen, Bahnhöfen und Verkehrsknotenpunkten, entscheidend auf die Qualität der ohnehin gefälschten Ausweispapiere an. Man brauchte einen Personalaus27 weis und einen Arbeitsausweis. Von den zweien war die Arbeitsbescheinigung immer noch leichter zu fabrizieren. Ich selbst führte beispielsweise eine von uns abgefaßte maschinengeschriebene und mit Unterschriftsschnörkeln versehene „Beglaubigung" der chemischen Fabrik „Temmler Werke AG" bei mir, für deren Herstellung mir Ewo eine Anzahl der Firmen-Briefbögen besorgen konnte. Jede Nachfrage in dieser Fabrik hätte allerdings den Schwindel aufgedeckt. Doch sollte mir dies Papier — neben meinem falschen Paß — einmal wenigstens einen großen Dienst erweisen. An jenem Septembertag 1943, dem Vorabend des Rosch-Haschanah, der unseren Poldi Freiheit und Leben kostete, trieb es mich nach einer ungemütlichen „Straßennacht" um 6 Uhr früh in den Wartesaal des Lehrter Bahn-, hofes zum Wärmen. Während ich dort Zeitung lesend sitze, klopft mir plötzlich jemand energisch auf die Schulter: „Ihre Papiere!" Ich sprang mit einem längst zur Gewohnheit gewordenen „Heil Hitler!" auf und wies zunächst meinen falschen Paß vor, an dem der Beamte auch nach Bildvergleich nichts auszusetzen fand. „Wo arbeiten Sie?", wollte er dann wissen. Als ich ihm nun die „Bescheinigung" der Temmler-Werke vorzeigte, schnauzte er mich an, ob mir unbekannt sei, daß sich in Warteräumen von Bahnhöfen nur Reisende mit Fahrkarten aufhalten dürften. Zu meinem Glück vermochte ich ohne Zögern vorzubringen, daß ich ja auf dem Wege zur Fabrik sei, mein Wecker mich aber eine Stunde zu früh geweckt hätte und ich hier nur die Zeit bei einem Kaffee verbringen wollte. Mit einem barschen „Lassen Sie das künftig, Heil Hitler!" wandte mir, zu meiner unendlichen Erleichterung, der Mann den Rücken. Als ob es noch einer besonderen Illustration der Gefahr bedurft hätte, der ich da entronnen war, konnte ich wenige Augenblicke danach beobachten, wie der gleiche Beamte von einem anderen Tisch einen Warteraum-Passanten abführte. Ungleich schwieriger als die Beschaffung von Arbeitspapieren war die der Personalausweise. Für die Jüngeren aus der Gruppe, die noch nicht in militärpflichtigem Alter standen, ließ sich das Problem vergleichsweise leicht lösen. Manche von ihnen besaßen noch ihre Ausweispapiere von Siemens. Solche Ausweise enthielten ein Lichtbild ihres Besitzers und reichten daher auch als Personalausweise aus. Anfänglich besaß auch ich solch einen Ausweis mit Photo, der auf den Namen „Heinz Joachim" ausgestellt war. Eine Weile genügten auch Bildausweise der Post, mit denen man sich an jedem Postamt Sendungen abholen konnte. Diese Papiere ließen sich ziemlich mühelos besorgen. Ähnliches galt für Monatskarten der Bahnen. Doch wurden all solche Ausweise bald nicht mehr anerkannt. Nichts ging natürlich über den Besitz eines Reisepasses, der jedoch ebenso schwer zu beschaffen wie kostspielig war. Durch Ewos Vermittlung kam ich für 50 Mark an den abgelaufenen Reisepaß eines „Halbariers", Ernst Hallermann, der uns noch manches Mal in praktischen Fragen illegaler Lebensführung gute Ratschläge gab. Ein als „Mischling" getarnt lebender jüdischer Graphiker, Samson Schönhaus, arbeitete in Ewos Wohnung mein Bild in diesen Paß ein. Wie gut er seine Arbeit gemacht hat, zeigt der erwähnte Vorfall am Lehrter Bahnhof. Von da ab nannte ich mich in einem bestimmten Kreis meiner „Helfer” nun also Ernst Hallermann. Als ich gegen Ende meiner Illegalität einen der besonders teuren und begehrten Wehrmacht-Pässe erhielt, wurde ich zum „Ingenieur Werner Obst“. Illegal konnte man überhaupt nur mit angenommenen Namen existieren; mehrere Namen abwechselnd führen zu können, bedeutete eine zusätzliche Absicherung. Doch erforderte das von einem ständig angespannte Wachsamkeit, da man sich jederzeit genau zu erinnern hatte, unter welchem Namen man jeweils bekannt war. Gefährlich blieben für uns immer die von der Gestapo zur Fahndung nach Untergetauchten eingesetzten halbjüdischen Spitzel. Zusätzlich trieben sich genug Nazis herum, die es sich aus Überzeugung zur persönlichen „Aufgabe“ gemacht hatten, Illegale zu fangen. So hatten wir uns in gleichem Maße vor denen zu hüten, die die Jagd auf uns für Geld betrieben — oder dies als „Jäger vom Dienst" beruflich taten. Der Schnurrbart, den ich mir hatte wachsen lassen, wie auch die Veränderung der Brillenform dienten ebenso meiner Tarnung wie das Tragen des Parteiabzeichens und anderer Nazi-Vereinszeichen. Es empfahl sich, eine Nazi-Zeitung sichtbar bei sich zu tragen, Leuten, die einen ansprachen, sogleich mit dem Hitler-Gruß zu antworten, überhaupt sich forsch zu geben und bei gewissen Begegnungen stramme Grußhaltung einzunehmen. Den primitiven Typus unter den Deutschen beeindruckte das. Es kam uns anfangs schwer genug an, die Symbole und Ausdrucksweise der Verfolger und Mörder anzunehmen. Die Todesgefahr jedoch, in der wir fortdauernd lebten, ließ uns rasch solche Hemmungen überwinden.

Die Beschaffung von Lebensmitteln wurde für uns — wie dann auch für die ganze Bevölkerung — in den letzten Kriegsjahren immer problematischer. Gab es anfänglich noch Helfer, die uns zum Essen einluden — und wie froh empfand man die rare Gelegenheit einer rechten Mahlzeit am Familientisch! — oder uns etwas Eßbares zusteckten (was wir immer unter uns aufteilten), die Kriegsverhältnisse engten diese Möglichkeiten mehr und mehr ein. Furcht wie zunehmende eigene Beschränkungen deutscher Helfer ließen die Zuwendungen an uns immer seltener werden. Hierbei ist mitzubedenken, daß unter Einwirkung der Bombardements eine wachsende Zahl der Bewohner Berlin verließ. Die zum Einkauf von Nahrungsmitteln unumgänglichen Lebensmittelkarten, die seit Oktober 1942 den Juden für Milch, Eier und Fleisch entzogen waren, konnten wir bis zur Judenliquidierung vom Februar 1943 immer noch irgendwie auftreiben. Zu späterem Zeitpunkt gab es sie nur noch auf dem Schwarzen Markt. Dafür fehlte es mir selbst immer an Geld. Solange Ewo noch in Freiheit war, besaß sie den Mut, meine „offizielle" Lebensmittelkarten-Serie an der zuständigen Ausgabestelle abzuholen. Da ich mich der Deportation entzogen hatte, erschien mein Name dort weiter in den Listen. Doch lebten wir in ständiger Furcht, daß mir da eine Falle gestellt werden könnte, um mich zu erwischen. Bis zur endgültigen Liquidierung konnten die Gruppenmitglieder noch gelegentlich bei Verwandten essen, obschon der Aufenthalt von Illegalen bei Juden für die Gastgeber besonders gefahrvoll war. Ich habe zeitweilig zweimal in der Woche abends bei meinem Vater eine warme Mahlzeit einnehmen können — illegal beim eigenen Vater! —, der noch „legal" blieb, solange er die Zwangsarbeit in der Fabrik leistete. Da ich jedoch den Judenstern nicht mehr trug, hatte ich beim Hinaufsteigen in seine Wohnung jedesmal meine Aktentasche so vor dem Körper zu halten, daß die Anwohner bei diesem Anstieg zur 4. Etage nicht etwa das Fehlen des Sterns bemerken könnten. Denn wie durfte ein Jude ohne Judenstern die Wohnung eines Juden aufsuchen! Niemals getraute ich mich beim Vater länger zu bleiben als die für das Speisen erforderliche Zeitspanne. Und jeder Abschied erschien uns wie der letzte. Die große Schlußdeportation nahm uns mit meinem Vater auch viele andere Freunde und Versorger. Essen reduzierte sich oft auf Brot oder auf das minderwertige Zeug, das es noch ohne Karten in Restaurants gab. Wer Nachtquartier hatte, suchte Mahlzeiten zu verschlafen.

So eingeschränkt wir auch lebten, Geld war selbst für diese Lebensführung vonnöten. Wir mußten etwas zum Essen kaufen, Kleidungsreparaturen vornehmen, auch den Cafhausaufenthalt zum Wärmen bezahlen können. Dazu kamen Ausgaben für Zeitungen, Fahrgelder, Wäsche und Friseur. Da wir zudem nicht gänzlich auf die Erfüllung kultureller Wünsche verzichten mochten, erforderten auch die Opern-und Theaterkarten für die Gruppe Geldmittel. Zu Beginn der Illegalität besaßen wir noch gewisse Reserven. Schließlich lebten wir, als auch kaum noch Helfer für uns etwas zu tun vermochten, von Gelegenheitsarbeiten, vorwiegend in Haushalten, da das mit geringerem Risiko verbunden war. An Beschäftigung in Betrieben, für die wir uns nicht hätten ausweisen können, war natürlich gar nicht zu denken. Wie gefährlich Beschäftigung selbst in einer kleinen Werkstatt war, zeigt das von mir gegebene Beispiel unseres armen Alfred. Zu meinen Gelegenheitsverdiensten, die unsere Gruppe nun über Wasser halten mußten, gehörte u. a. auch der im Büro eines Adressen-verlags, in dem Ewo Arbeit hatte und wo sie mich als ihren Bruder einführte, aus Furcht vor dem Betriebs-Portier, einem überzeugten Nazi. Andere kurzfristige Zufallstätigkeiten aus dem letzten Abschnitt meines ruhelosen Wanderlebens sind meinem Gedächtnis entfallen. Keine von all unseren Helfern in der Not hat sich meinem Gedächtnis so tief eingeprägt wie die evangelische Theologin Berta Gerhardt, wohl die bedeutendste Persönlichkeit aus dem Kreise derer, denen wir Unterstützung und Zuspruch in gefahrvoller Existenz verdanken. Die von Herzen fromme und kluge Frau hatte aus Widerwillen gegen das Naziregime ihr Amt als Direktorin eines Berliner Mädchen-Gymnasiums niedergelegt und lebte fortan zurückgezogen in ihrem Häuschen in Zepernick bei Berlin. Ich kam in körperlich sehr geschwächtem Zustand zu ihr, was sie nicht nur veranlaßte, mich für längere Zeit in Pflege zu nehmen, sie brachte sogar einen befreundeten Arzt zu meiner gründlichen Untersuchung herbei. Zu der mir verordneten „Kur“ gehörten lange Waldspaziergänge in Oranienburg, begleitet von meiner Wirtin. Nicht so sehr der Zauber stiller Herbsttage wie die einzigartige Gabe dieser Frau, durch ihren Zuspruch mich die Widerwärtigkeiten des Lebens vergessen zu lassen, erhalten mir diese Friedensstunden in fortdauernder Erinnerung. Zu den unvergeßlichen Eindrücken gehört ein Freitagabend, an dem meine Betreuerin mich damit überraschte und erschütterte, als sie in ihrem Wohnzimmer zwei Schabbath-Kerzen für mich entzündete, um dann, nach Anhören meiner hebräischen Gebete, zu ihrem Gesangbuch zu greifen, mir einige von den frommen Gesängen Paul Gerhardts, ihres Vorfahren, vorzulesen. Eine von den mit dessen Versen bedruckte Karte aus ihrem Besitz, die sie mir schließlich zum Abschied gab, wurde zum stärkenden Begleiter für mich in der Schlußphase meiner Illegalität. Noch heute ziert diese Karte — neben den Worten des „Schma'Jisrael" — meine häusliche Zimmerwand: „Nun weiß ich und glaub ich's feste Und rühm's auch ohne Scheu: Daß Gott der Höchste-Beste Mein Freund und Vater sei.

Und daß in allen Fällen Er mir zur Seite steh.

Er lindert Sturm und Wellen Und was mir bringet Weh."

Die illegale Jugendgruppe — der letzte Halt

Zurückblickend erscheint mir heute meine Tätigkeit als Lehrer und Jugendführer zwischen 1939 und 1941 als die fruchtbarste Periode, als die Zeit dankbarster Aufgabe jedoch die anderthalb Jahre, in denen ich für meine illegale Jugendgruppe lebte. Das abgeriegelte Dasein der Juden in feindlicher Umgebung seit Beginn der Naziherrschaft wirkte sich bei der jüdischen Jugend dahin aus, daß die Schule — solange sie noch zugelassen war — und der Jugendbund ihr die einzig ertragbare Welt wurden. Mit Zunahme der Verfolgungen, gewiß aber in den Jahren der Illegalität wurde die Gemeinschaft im Bund überhaupt das Einzige, was ihnen Lebensfreude, ihrem Dasein noch Sinn geben konnte. In ihren Elternhäusern herrschte meist nur noch Verzweiflung. Diese Jugendlichen, oft doch noch Kinder, schufen, als sie durch Deportation der Angehörigen schließlich jedes gesicherte und vertraute Heim verloren, in verstohlenen Zusammenkünften unter den Bäumen des Grunewalds eine frohe Welt für sich allein, aus dem gemeinsamen Studium der Bibel, der jüdischen Geschichte oder der Geographie und Sprache des fernen Heimatlandes der Freiheit, das sie zu erreichen hofften.

Von Anfang an, als im März 1943 in der Wohnung von Ewo sich erstmals die kleine illegale Gruppe versammelte, die bis zum Ende zusammenhielt, stellten wir alles darauf ab, neben der physischen Versorgung diesen jungen Menschen geistige Schulung und das Bewußtsein, Teil einer lebendigen jüdischen Gesamtheit zu sein, zu vermitteln. Wir halfen ihnen, miterlittenes Judenleid in den Willen zu verwandeln, eine glückliche jüdische Zukunft vorzubereiten. Die kleine Schicksalsgemeinde, die wir bildeten, nannten wir „Chug Chaluzi" (Pioniergruppe), zum Ausdruck des Zieles, uns für den Aufbau eines freien jüdischen Staates zu erhalten und vorzubereiten.

Von besonderem Wert für Inhalt wie Form der Arbeitszusammenkünfte unseres illegalen „Chug Chaluzi" erwies sich unsere hündische Tradition vergangener „normaler" Jahre. Der Bund hatte in der Jugendbewegung nie einen Selbstzweck gesehen, sondern eine Vorbereitung auf das Leben. Diese Erziehung bewährte sich nun im Untergrund-Dasein der Jugendlichen. Selbst wenn man jedoch sagen könnte, wir hätten damals in längst vertrautem Rahmen, mit gleichem Programm und gleichen Formen, die „gewohnte Arbeit" des Bundes fortgesetzt — und unter welch schweren Bedingungen hatte das nun zu geschehen! Für jede Woche war das Aktionsprogramm im voraus bis ins Kleinste genau festzulegen, wobei neben das Lernpensum, einschließlich pfadfinderischer Übungen als Erfordernis der prekären Lebenslage jedes einzelnen von uns, eine detaillierte Planung der Quartiere und Regelung der physischen Versorgung zu treten hatte. Die Zusammenkünfte waren zu fest verabredeten Zeiten an vorausbestimmten Plätzen abzuhalten, denn nur durch präzise Festlegung im vorherein bot sich dem Gruppenmitglied die Gewähr, den Anschluß an die nächste Veranstaltung zu finden, falls es irgendwann einmal zu einem Treffen nicht erscheinen konnte. Pünktliche Teilnahme an diesen Gruppen-Begegnungen wurde schon deshalb jedem zur Pflicht gemacht, weil Ausbleiben ohne Nachricht über seine Ursache uns ja zu Nachforschungen veranlassen mußte, die unter den gegebenen Verhältnissen immer riskant blieB ben. Es hat aber nie jemand ohne guten Grund eine Zusammenkunft versäumt, die doch für jeden Teilnehmer die Erholung von der Isoliertheit und Ermutigung angesichts eines immer ungewissen Morgen bedeutete. Die zunehmende Intensität der Luftangriffe auf Berlin und die Verkehrsunterbrechungen durch Fliegeralarme erschwerten unsere Verabredungen. So machten wir miteinander aus, daß bei eventuellem Zusammenfallen eines Alarms mit einem unserer Verabredungstermine automatisch unser Treffen eine Stunde nach der Entwarnung am vorbestimmten Orte stattfinden sollte.

So verhältnismäßig einfach es für uns war, den jeweiligen Plan für den Inhalt unserer Kurse und Schabbath-Feiern oder ein Wanderungsziel, ein Theater-oder Opernprogramm zu bestimmen, so schwierig erwies sich jedesmal die Festlegung des Verabredungsortes. Sommerliches Wetter erleichterte das: dann konnten wir irgendwohin ins Freie hinausgehen. So trafen wir uns zu Wanderungen an Sonntagen auf Vorortbahnhöfen, da in der Völkerwanderung eines Berliner Wochenendes eine so kleine Gruppe wie die unsere nicht auffiel. Bei gutem Wetter hielten wir auch die Lernveranstaltungen am liebsten im Walde ab, zumeist im Grunewald oder in Picheisberge. Die Höchst-entfaltung unserer illegalen Gruppenarbeit war in die Sommerzeit des Jahres 1943 gefallen, so daß uns erst später im Jahr bewußt wurde, welch erschwerender Faktor für gemeinsames Lernen das Klima sein würde. Auch im Sommer noch störten Regentage das Programm, der Herbst ließ diese Sorge belastender werden. Und als der Winter kam, trat zu dem Raumproblem die bedrückende Erfahrung des langsamen Zusammenschmelzens der Stammgruppe durch Verhaftungen. Neu hinzukommende Chawerim waren oft nicht in der Lage, mehr als vorübergehenden Kontakt mit uns aufrechtzuerhalten. Versammlungen in Wohnungen, zu denen das Wetter uns zwang, wenn wir denn doch auf die Gemeinschaft nicht verzichten wollten und konnten, nötigten uns strikte Verhaltensregeln auf. Selbstverständlich hatte zur Zeit des Beisammenseins äußerste Ruhe zu herrschen, so wie immer darauf zu achten war, daß die Fenster verhängt blieben. Lieder durften nur verhalten gesummt werden, unter Verzicht auf ihre Texte.

Mit Strenge regelten wir das Betreten und Verlassen dieser Wohnungen. Der „Fahrplan“ sah vor, daß jeweils nur zwei Personen innerhalb einer Viertelstunde ein Haus betreten und verlassen durften. Für Konzert-und Theaterverabredungen galt die Vorsichtsmaßregel, daß höchstens zwei Chawerim nebeneinander zu sitzen erlaubt war. Ergab sich einmal, daß uns beim Kartenkauf nichts übrig blieb, als für eine bestimmte Veranstaltung mehrere Sitze für den gleichen Abend und in geschlossener Reihe zu erwerben — weil uns völliger Verzicht auf das Kunsterlebnis zu hart ankam —, verbot sich jedes Gespräch untereinander für die Dauer der Vorführung!

Nicht daß etwa die Verabredungen im Freien ohne beständige Beachtung von Sicherheitserfordernissen hätten ablaufen können. Wir trafen uns immer erst außerhalb der Stadt. Hatten wir einen ausreichend stillen Waldwinkel entdeckt, hockten wir im Kreise auf Baumstümpfen nieder und ergaben uns unseren Studien, zu denen auch Präparation künftiger Arbeitsgemeinschaften gehörte. Für die Mit-beförderung der unerläßlichen Bücher galt die allgemeine „Vorschrift“, sie nur in Aktentaschen zu tragen, für hebräische Lehrbücher noch die besondere Sicherungsanweisung, sie in eine Nazi-Zeitung einzuwickeln. Wir kehrten vo diesen Exkursionen gewöhnlich erst nach Anbruch der Dunkelheit in die Stadt zurück, durften uns daher, noch besonders geschützt durch die im Kriege geltende Verdunkelung aller Straßen und Häuser, die seltene Wohltat gestatten, die Heimfahrt gemeinsam anzutreten. Da all unsere Verabredungen zugleich der Nachrichtenübermittlung zu dienen hatten, gingen wir bald dazu über, die verräterischen Helfer-Adressen, Quartierangaben und ähnlich wichtige Meldungen in Vorbereitung zum Treffen auf (in eigens für solche Zwecke von uns abgewandeltem Morse-Code geschriebene) Zettelchen einzutragen, die wir uns dann während der Begegnung zusteckten. Die uns wiederholt gelungenen ungestörten Wanderungen in der freien Natur erlaubten uns, in frohem Verein für halbe Tage zu vergessen, was der einzelne an Nöten während einer grauen Woche durchzustehen hatte. Selbst unsere früher erlernten Pfadfinder-spiele kamen in diesen Waldgängen zu ihrem Recht. Zu den Wettbewerben, die wir veranstalteten, gehörte regelmäßige Fortführung des Erlernens hebräischer Vokabeln, ebenso wie die'Pfadsuche anhand der von mir vorbereiteten Wegskizzen, die dann von den erfolgreichen Findern vorbestimmter Plätze zu ergänzen oder zu korrigieren waren. Auf diesen Ausflügen durften wir uns gar den Luxus des Badens und Schwimmens gestatten, konnten endlich wieder einmal ungehemmt miteinander reden und Lieder mit ihrem Text singen. Dies allerdings hatte auch hier gedämpft zu geschehen, da wir auf den Wegen immer anderen Wandergruppen begegnen konnten. — Im Nachhinein erscheint mir unfaßbar, woher wir damals den Mut nahmen, uns so oft regelmäßig zu treffen, die Lernpläne zu verwirklichen, Theaterabende und Feiertage gemeinschaftlich zu genießen, wenn ich das fortgesetzte Risiko bedenke, dem wir uns immer erneut dabei aussetzten. Es bleibt für mich auch ein Wunder, daß uns auf diesen Gruppentreffen niemals etwas zustieß. Dabei war doch jeder einzelne von uns dauernd bedroht von Denunziation, Razzia oder Haussuchung, denen ja auch mancher erlag.

Unser Gruppen-Wochenprogramm sah folgendermaßen aus: Für jeden Sonntag war eine Wanderung in Berlins Umgebung, mit Sport und Spiel verbunden, vorgesehen. An Montag-abenden besuchten wir Konzerte und Theater. Jeden Dienstag fand der Hebräisch-Kursus statt, für die darin Fortgeschrittenen auch einer im Englischen. Mittwochs lernten wir Palästinakunde und zionistische Geschichte. Der Donnerstag galt dem Studium der Bibel und der Besprechung laufender Angelegenheiten. Der Freitag, einschließlich des Abends, blieb persönlichen Verabredungen vorbehalten. Am Schabbath bereiteten wir zunächst in gemeinsamer Lektüre den Montag-Besuch der künstlerischen Veranstaltungen vor. Dem folgte die Beschäftigung mit Kapiteln jüdischer Geschichte sowie eine Aussprache über „das interessanteste Thema der Woche". Abschluß und Höhepunkt erreichte dieser Tag dann — wie in alten Bundestreffen — mit dem Oneg-Schabbath und der Hawdalah. Unsere Vorzugsbeschäftigung im Rahmen des Bibelstudiums galt dem Propheten Jeremia, dessen Aussage unseren Mut stärkte. Dazu lasen wir gern Teile aus Stefan Zweigs Drama „Jeremias“. In der jüdischen Geschichte versuchte ich, bei den Erzvätern beginnend, mit der Zeit einen Überblick über die ganze Geschichte unseres Volkes zu vermitteln. Im Lehrfach Zionistische Geschichte beschäftigten wir uns vornehmlich mit den bedeutenden führenden Persönlichkeiten, in der Palästinakunde mit Geographie und Siedlungsgeschichte, hiervor allem auch der Kibbuzim. Der Unterricht im Hebräischen erwies sich dadurch als schwierig, weil die Sprachkenntnisse der Chawerim nach Alter und Bildung so verschieden waren. Wir teilten uns daher in zwei Gruppen auf und brachten es zu wirklichen Fortschritten in beiden. Für den Englisch-Unterricht, den teilweise Ewo gab, verfügten wir zum Glück über ausreichendes Lehrmaterial.

Zu unseren Schabbath-Veranstaltungen trafen wir uns, solange das anging, in den Wohnungen der Chawerim aus Mischehen, zumeist bei der Familie von Gad und Miriam Beck. Das Programm, von den Chawerim sorgsam vorbereitet, bestand aus Vorlesungen, Deklamationen und Liedern. Abschließend erzählte ich dann aus der Bundesarbeit früherer Zeit und bemühte mich sehr, den jungen Menschen ein Zukunftsbild der Freiheit zu übermitteln, um in ihnen den Mut zum Durchhalten zu stärken. In diesen Gesprächen mit den Jungen mieden wir selbst aktuelle Themen wie „Falsches und wahres Führertum" nicht und erhellten sie durch Beispiele aus der jüdischen Geschichte. Nichts blieb unversucht, zugleich auch die Allgemeinbildung des Kreises zu fördern. So referierte Ewo einmal über das Esperanto als einem internationalen Verständigungsmittel, andere Chawerim trugen aus ihren Studien über Sozialismus und materialistische Geschichtsauffassung vor. Den Abschluß bildete immer die Hawdalah im Stehen. Die zum Teil doch aus ganz assimilierten Häusern stammenden Jungen wetteiferten darin, es so weit zu bringen, diese Segnung des Schabbath-Ausganges frei vortragen zu können. Unser unglücklicher Poldi schaffte das, da ihm das Hebräische wie das Lernen überhaupt besonders schwerfiel, erst wenige Tage vor seiner Verhaftung. Er war dann derart beglückt darüber, daß Gebet zu beherrschen, daß er mir danach ein Briefchen übergab, in dem er sich bei mir für seine Förderung bedanken wollte und zugleich darum bat, ihm doch noch Extrastunden im Hebräischen zu geben, damit er rascher vorwärts käme. Wenige Tage danach wurde ihm, und uns, die Hoffnung zerschlagen.

Konnte uns schließlich keine der befreundeten Familien mehr zu Schabbath aufnehmen und fand sich dann auch gar kein schützender Raum mehr für unsere Feier, suchten wir uns ein einsames Plätzchen in einem Park oder einen abgelegenen Ort an den Ufern der Spree. So gut es gehen wollte, wurde das „Pensum" des Tages unter allen Bedingungen erfüllt. Die Hawdalah durfte niemals dabei fehlen. Sie mit der gebotenen Vorsicht auch im Freien durchzuführen, stellte ein Problem dar. Daß es uns dafür zumeist an den herkömmlichen Utensilien und Gewürzen für die Zeremonie mangelte, ließ sich durch Kräuter, die wir am Wege fanden und zerrieben, ausgleichen. Den Wein für den Segen hatte Kognak zu ersetzen, von dem immer ein Fläschchen als Stärkungsmittel für Erschöpfte mitgeführt wurde. Aber wir durften die Hawdalah-Kerze nicht entzünden. Es vertrat sie eine Taschenlampe, die der Verdunkelung der Stadt wegen zu jedermanns notwendigen Begleiter gehörte. Eng im Kreise um sie gedrängt, ließen wir sie kurz aufleuchten und sprachen den Segen für Gott, der das Licht erschuf. Einen gewichtigen Bestandteil der planmäßigen Zusammenkünfte des „Chug" bildeten die Gottesdienste. Mir erschien von unverzichtbarer erzieherischer Bedeutung, das, was einst gemeinsames Gebet hündischem Leben und der Atmosphäre der Jual-Schule einzuflößen vermocht hatte, gerade in der illegalen Notgemeinde fortzuführen. An den hergebrachten wöchentlichen Gottesdiensten am Freitagabend und Schabbath festzuhalten, verboten die gefährlichen Umstände. Um so intensiver begingen wir die jüdischen Feiertage, die unter den gegebenen Verhältnissen auch den aus assimilierten Familien stammenden Chawerim zu aufrichtendem Erleben wurden. Den Rosch Haschanah 1943 verbrachten wir gemeinsam bei der Familie Beck, den anschließenden Jom Kippur in der kleinen Wohnung von Ursel Littmann. Bei den Becks bildete ein Tisch mit Kerzen darauf die feierliche Mitte unseres betenden Kreises. In der Kellerwohnung der Littmanns umstanden wir den ganzen Versöhnungstag ein rundes Tischchen. Die Andacht dieser Stunden stiller Konfrontation unseres Häufleins mit seinem Gott und jedermanns Geschick vertiefte sich noch durch das Gedenken an die uns genommenen Angehörigen und Freunde. Für die unserer eigenen Gruppe entrissenen Chawerim sprachen wir vor jeder Hawdalah und an jedem Feiertage Gebete, für jeden verlorenen Freund gesondert, zu unserem Schmerz in ständig wachsender Anzahl.

Das Netz droht sich zuzuziehen

Schon wenige Monate nach dem definitiven Ende alles „legalen" jüdischen Daseins im Dritten Reich verdichtete sich um unsere kleine Gemeinde der Schatten physischer Bedrohung immer rascher. Ohnehin hatten wir stets gewärtig zu sein, daß, bei unabsehbarer Fortdauer des Naziregimes und zunehmender Verschlimmerung der Kriegsauswirkungen, das Netz der Gefahr sich dichter und dichter um uns ziehen würde. Und wenn schon manche illegal lebenden jungen Einzelgänger, die kaum eine Möglichkeit fanden, Kontakt mit uns zu halten, schwerlich die Chance besaßen, für längere Zeit der Entdeckung zu entgehen — für uns, die wir uns durch alle nur ausdenkbaren Regeln der Gruppendisziplin und der gegenseitigen Hilfe zu erhalten mühten, lief die Uhr zähe verteidigter Freizügigkeit immer hörbarer ab. Die im Juni erfolgte Verhaftung von Edith Wolff wirkte sich für Wochen auf unsere Gemeinschaftsarbeit und die Gemütsverfassung der einzelnen fast lähmend aus. Die Selbstverständlichkeit, mit der Ewo von Anfang an, ohne jede Rücksicht auf ihre Selbsterhaltung, sich für die Nöte und Bedürfnisse eines jeden, der sie um Hilfe anging, waghalsigen Manövern ausgesetzt hatte, wurde zum unmittelbaren Anlaß ihrer Festnahme. Monate hindurch hatte sie für unsere Chawerah Hilde Laubhardt-Rosenthal, die mit ihrem Manne mit gefälschten Papieren im Rheinland Unterschlupf fand, weiterhin in

Berlin Lebensmittelkarten besorgt, bis es der Gestapo auffiel, daß da jemand, weit weg von Berlin, Karten mit dem Aufdruck „Ernährungsamt Berlin" verwendete. Die Laubhardts wurden festgenommen und gaben, gewiß infolge wochenlanger Folterungen, schließlich den Absender der Karten an.

Ich konnte nun Ewo in stundenlanger Nacht-debatte nicht dazu bewegen, sich gleich uns durch Untertauchen der Vorladung zu entziehen. Rücksichten auf ihre Mutter wie auch ihre persönliche Aversion gegen die dann notwendige Tarnung als „echte" Nazi ließen sie den Vorschlag abweisen. Ernst Hallermann, dem ich eines meiner Ausweispapiere verdankte, und ich begleiteten Ewo bis zum Bahnhof Börse in die Nähe des gefürchteten Gestapo-Hauses „Burgstraße". Für eben diesen 19. Juni war eine unserer Studien-Verabredüngen im Grunewald angesetzt, die ich nicht absagen wollte. Doch bedurften wir, auf den warmen Waldboden gelagert, längerer Zeit, um aus unserem wortlosen Kummer zu der programmäßigen Arbeit zurückzufinden. — Wir konnten damals nicht ahnen, daß Ewo ein zweijähriger Leidensweg durch siebzehn Konzentrationslager und Strafanstalten, bis fast nach Ausschwitz, bevorstand. Durch ihre Mutter (der Vater befand sich damals bereits in Auschwitz), die sogar wiederholte Besuche bei der Gestapo nicht scheute, erhielten wir noch gelegentliche Nachrichten aus Arbeitslagern, die uns wenigstens wissen ließen, daß Ewo lebte. Ihre Verhaftung und die anschließende Haussuchung der Nazis in der Wolffschen Wohnung zwang uns, dies vertraute Heim fortan zu meiden.

Nach meiner geglückten Flucht in die Schweiz, dreiviertel Jahr später, erwirkte ich für Ewo mit Unterstützung von Nathan Schwalb, dem Leiter des Europa-Büros des „Hechaluz" in Genf, die Ausfertigung eines Ausländerpasses. Schwalb konnte ein mit ihrem Bild versehenes Staatsbürgerpapier von der Gesandtschaft von El Salvador beschaffen, das dann auf Umwegen richtig in die Hände von Ewos Mutter gelangte. Erst viel später wurde mir bekannt, daß die Mutter ihrer Tochter den Ausweis nicht zuzustellen wagte, aus Furcht, die Gestapo würde sie dann nur noch grausamer behandeln.

Ende dieses gefahrvollen und entbehrungsreichen Jahres 1943 war mit selbst noch eine kurze Erholungspause vergönnt, als ich mich entschloß, der in wiederholten Briefen ausgesprochenen Einladung zweier ehemaliger Schüler zu folgen. Eva und Herbert Warburg, 14 und 16 Jahre alt, lebten sozusagen als auswärtige Mitglieder des „Chug" mit ihrer Mutter in Nordhausen am Harz. Ihr Vater war schon in Auschwitz umgekommen, während Frau Warburg, zum Judentum übergetreten, als „jüdisch Versippte" mit ihren zwei Kindern ein prekäres Dasein in dieser Kleinstadt weiterführen konnte. Die Kinder, als „Geltungsjuden" eingetragen, hatten den Judenstern zu tragen. Das Mädchen traute sich mit dem Abzeichen überhaupt nicht aus der Wohnung. Der Bruder hingegen wurde gezwungen, mit dem Stern auf der Jacke die Straßen von Nord-hausen zu kehren. Die Drei lebten in so erbärmlicher Isolierung, daß ich ihnen den Wunsch nicht abschlagen mochte, ihnen, sei es auch nur für einige Tage, Gesellschaft zu leisten. Als Termin für die Hinreise erschien mit die Zeit des starken Weihnachtsverkehrs auf den Eisenbahnen am geeignetsten. Damals besaß ich bereits, in Vorbereitung der Flucht ins Ausland, einen Militärpaß und einen Reiseausweis unter neuem Namen, Papiere, ohne die das Bahnfahren gar nicht mehr statthaft war. Der zehntägige Aufenthalt in Freundes-haus, mit festem Schlafplatz anstelle nächtlichen Quartierwechsels und mit regelmäßiger Verpflegung, erbrachten mir die Kräftigung, die ich für das mir bevorstehende Abenteuer so dringend benötigte. Denn für Januar 1944 plante ich die Flucht. Mit Frau Warburg, die gelegentlich in Berlin zu tun hatte, fuhr ich dorthin zurück, was sich bald als eine Unvorsichtigkeit herausstellte, die mich zwang, andere Papiere zu nehmen. Vier Tage nach meiner Rückkehr erreichte mich bei den Quartierleuten Szimke eine Botschaft aus Nord-hausen mit der Warnung: „Benutze die alten Bücher nicht mehr und besuche Tante Berta!“ — „Bücher" war unser Code-Wort für Ausweispapiere, „Berta" — das hieß Frau Gerhardt. Als ich zu ihr kam, setzte sie mich davon in Kenntnis, daß Frau Warburg bei der Heimkehr ihre beiden Kinder in heller Aufregung vorgefunden habe. Sie waren nach meiner und der Mutter Abfahrt zur Gestapo geholt und dort befragt worden, wer der Jude sei, der bei ihnen gewohnt habe. Auf ihre Aussage hin, der Mann sei kein Jude, sondern ein ihnen sonst unbekannter Freund ihres verstorbenen Vaters, wurden die Kinder zwar auf freien Fuß gesetzt, jedoch begannen die Nazis nun nach mir zu fahnden.

Flucht in die Schweiz

Der Gedanke der Flucht aus Deutschland war schon bald nach Kriegsausbruch in Bundes-kreisen diskutiert worden. Man war aber in Berlin bis zum Beginn unserer Illegalität zu keinerlei praktischen Schlüssen gelangt. Nach der Besetzung der größten Teile des europäischen Festlandes durch die Deutschen blieben eigentlich nur zwei Länder für eine Flucht übrig: Schweden und die Schweiz. Als mit dem Jahre 1943 die Hoffnungen auf ein baldiges Ende der Schreckensherrschaft zu schwinden begannen, unsere Lage sich zugleich immer unerträglicher gestaltete, erwog der „Chug" in Gesprächen mit den ihm verbliebenen Helfern zunächst ein Entkommen nach Schweden, als dem näher gelegenen Lande. Unsere Jungen zeigten sich durchaus bereit, auf den kleinen Fischerbooten, die angeblich für solche Zwecke zu finden waren, die Flucht über das offene Meer zu riskieren. Als über diese Möglichkeit ebenso wenig Greifbares festzustellen war wie über einen Landweg nach Norden (durch Schleswig und das besetzte Dänemark, dann über den Sund), gaben wir die Planung in dieser Richtung auf.

Den aus verschiedenen Gründen wesentlich schwierigeren, auch gefährlicheren Fluchtweg in die Schweiz begannen wir erst im Oktober ernsthaft ins Auge zu fassen, als sich uns, durch Verwendung der gütigen Frau Gerhardt, seine tatsächliche Durchführbarkeit zeigte. Sie verwies uns an eine Frau Meyer, eine strenggläubige Katholikin, Villenbesitzerin im Grunewald. Wir erfuhren, daß sie schon an die dreißig Juden in die Schweiz hatte retten können. Die Frau empfing mich in schwarzer Trauerkleidung. Nach den Motiven für ihre Hilfsbereitschaft von mir befragt, erklärte sie in schlichter Würde, sie habe beide Söhne als Offiziere an der Ostfront verloren. Zugleich mit dem tiefen Schmerz um diesen Verlust verfolge sie nun ständig die Vorstellung, die beiden seien womöglich irgendwie in die Judenmorde verwickelt gewesen. Für das Seelenheil der gefallenen Söhne, aber auch zur Linderung der eigenen Bedrücktheit über das furchtbare Geschehen habe sie sich entschlossen, jeden ihr möglichen Beitrag zur Rettung von Juden zu leisten. Es war ihr gelungen, als geeignete Grenzübergangshelfer einige Bauern zu gewinnen, welche Ländereien im badischen Singen am Hohentwiel, dem Schweizer Kanton Schaffhausen gegenüber, besaßen. Verschlüsselte Telegramme, die sie mit jenen vereinbart hatte, meldeten jeweils das Eintreffen von Flüchtlingen, die dann von den Bauern zur Grenze geleitet wurden.

Nur gab es für den, der diese Rettungsmöglichkeit nutzen wollte, zwei ernsthafte Schwierigkeiten: Die Bauern ließen sich jede „Grenzüberführung''mit 6 000 Mark bezahlen, und außerdem brauchte man besondere Papiere, wie sie zu der Zeit für Bahnfahrten unerläßlich waren, deren Beschaffung auch eine Menge Geld kostete. Auf diese Eröffnung hin erklärte ich Frau Meyer, daß die Forderung der Bauern irgendwie erfüllbar sein dürfte. Jedoch sei mir schleierhaft, wie wir an die für eine Flucht erforderlichen Ausweispapiere kommen sollten. Auf dem Heimweg noch wurde mir jene Hilfe von oben zuteil, die in letzter Not kaum jemals ausblieb. Auf der stillen Vorortstraße höre ich mich plötzlich mit „Jizchak!" angerufen und sehe mich gänzlich verblüfft alten Freunden aus der Zeit meiner Tätigkeit im Lehrlingsheim der Reichsvertretung gegenüber: Heinz und Lucie Schacher. Das Paar berichtete mir vom eigenen Untergrundleben, aber auch über ihren festen Vorsatz zur Flucht, für deren Vorbereitung sie immerhin schon den Lieferanten von Pässen gefunden hätten. Es handelte sich um einen auf dem Militärflugplatz Staaken dienenden Unteroffizier Strunck, dessen Aufgabe darin bestand, Offizieren der Wehrmacht Dienstpapiere auszustellen. Für 4 000 Mark zeigte er sich aber auch gewillt, derlei Legitimationen für illegale Zwecke zu fabrizieren, wobei er so überlegt verfuhr, die falschen Ausweise immer auf die Personalien wirklich existierender Offiziere auszustellen, so daß sie dem Empfänger, selbst für den Fall von Rückfragen, weitgehende Sicherheit versprachen! — Ich könne mich bei den Schachers für diese wertvolle Information durch die Mitteilung der Adresse von Frau Meyer revanchieren, mit deren Unterstützung die beiden nach wenigen Wochen wohlbehalten in die Schweiz gelangten.

Noch keineswegs sicher, wie ich mich in der Sache zu verhalten hätte, machte ich mich in die Augsburger Straße zu der mir bezeichneten Wohnung des Unteroffiziers Strunck auf, der mich in Uniform empfing. Meinem Hinweis, der von ihm geforderte Preis sei für Menschen in meiner Lage unerschwinglich, begegnete er recht überzeugend, daß er bei diesem halsbrecherischen Handwerk jederzeit seine Verhaftung zu gewärtigen habe. Dann sollte wenigsten für Frau und Kinder vorgesorgt sein. Er wisse übrigens, daß bisher all seine „Flucht-Kandidaten" mit seinen Militärpässen durchgekommen seien, denn als besondere Rückendeckung habe er jedem auferlegt, bei Erreichung der Grenzposten den Ausweis per Post an ihn zurückzuschicken, was auch stets geschehen sei. Er riet, gleich Frau Meyer, aus Erfahrung dazu, immer zwei Personen zusammen auf die Fahrt zu schicken. Mir stellte er eine Partnerin schon nach wenigen Tagen vor, eine Frau Herta Wachsmann. Es erschien mir nahezu unglaubwürdig, wie es dieser korpulenten, typisch jüdisch aussehenden und jiddisch sprechenden Frau aus Polen seit der Verschleppung ihres Mannes und der Söhne im Jahre 1938 möglich gewesen war, jahrelang unbelästigt in Berlin weiterzuexistieren. Sie hatte die ganze Zeit unter Decknamen als „christliche“ Haushälterin eines Schneiders leben können. Es spricht für den Mut der einfachen Frau, geduldig dem Tage der Befreiung entgegenzusehen. Strunck führte sie als „Herta Müller" ein. Er hatte ihr ein Militärpapier auf diesen Namen einer Funkerin bei der deutschen Luftwaffe zurecht gemacht. Nur der damals schon so akute Mangel an militärischem Hilfspersonal im Hinterlande, der zur Anstellung aller nur irgendwie brauchbaren Menschen führte, ermöglichte einer Frau vom Typ Herta Wachsmanns, sich mit Erfolg dieses Passes zu bedienen!

In der nun folgenden Beratung der weiteren Schritte im „Chug” kamen die Chawerim über-35 ein, daß ich als der Älteste unter ihnen, und meines militärpflichtigen Jahrgangs wegen in dauernder Gefahr schwebend, als „Deserteur" gestellt zu werden, als erster den Fluchtversuch machen müsse. Sollte er mir glücken, hätte ich sogleich den „Hechaluz" draußen zu mobilisieren, die für die verbleibenden Berliner Freunde erforderlichen Mittel zur Flucht aufzubringen. Frau Meyer überredete die Bauern in Singen dazu, die als Bahnfracht voraus-gesandten vier Koffer mit meinen Anzügen und meiner Wäsche anstelle Barzahlung zu akzeptieren. Die Kosten für meinen Paß brachten verschiedene Helfer auf. Strunck präparierte für mich einen Militärpaß auf den Namen Werner Obst, eines Ingenieurs bei der Luftwaffe. Die Vorkehrungen von Frau Meyer für Herta Wachsmann und mich legten den 12. Februar 1944 für die . Ausreise" nach Singen fest. Am vorausbestimmten Abend bestieg ich den D-Zug nach Augsburg. Frau Wachsmann war nach Singen allein abgereist, wo wir uns am folgenden Morgen zu treffen hatten.

Dem glücklichen Zufall der Überfüllung dieses Zuges verdankte ich, daß die Kontrollbeamten nicht bis zu mir gelangten. Doch ganz ohne Schrecken kam ich dennoch schon in dieser Nacht nicht davon, da der Zug auf offener Strecke wegen eines schweren Luftangriffs in der Gegend plötzlich zum Stehen gebracht wurde. Wir hörten das Brausen der Bomber und sahen das Aufleuchten der Abwehrgeschütze durch die Wagenfenster. Im Anschlußzug Augsburg-Ulm folgte die nächste Bedrohung in Gestalt eines durch die Abteile gehenden Zivilbeamten, der die Ausweise kontrollierte. Doch da mich mein Paß als „Offizier der Luftwaffe" auswies, ging er höflich grüßend davon. Im dritten Zuge, zwischen Ulm und Singen, schreckte mich noch einmal ein Beamter mit seinem „Heil Hitler — Ihre Papiere!" auf. Ich vermochte mich gelassen zu geben, und auch er ließ mich in Ruhe.

Die ganze Nachtfahrt hindurch verfolgten mich die Besorgnisse um meine Flucht-Partnerin: ob sie Singen erreicht habe, und falls nicht, wie ich allein weiter kommen würde. Doch befreite mich ihr Anblick am Bahnsteig von Singen von diesen Zweifeln. Die nächste unangenehme Überraschung erwartete uns hier gemeinsam. Unvorhergesehenes heftiges Schneetreiben erschien den Bauern, die wir dort antrafen, als triftiger Grund zu einer Verschiebung des für sofort geplanten Abmarsches. Sie mochten sich nicht der Gefahr aussetzen, daß ihre Spuren bei der Rückkehr von der Grenze im Schnee sichtbar würden. Sie verlangten vierundzwanzig Stunden Aufschub. Mit höchst gemischten Gefühlen richteten wir zwei uns also auf die so gefährliche lange Pause im Grenzort ein, vertrieben uns den Tag teils auf der Straße, teils in einem Cafhaus. Von dem Abend im Kino blieb mir gar nichts im Gedächtnis haften, wahrscheinlich habe ich einfach nichts „gesehen". Für die Nacht beschlossen wir, zur Sicherheit an verschiedenen Plätzen Quartier zu nehmen. Ich brachte die Frau in ein Singener Hotel und fuhr dann die kurze Strecke nach Radolfzell zurück, in das Hotel „Zur Sonne".

Die tragikomische Wirkung meines Betretens des Hotelspeisesaals hat sich in meiner Erinnerung eingegraben: Alle anwesenden Gäste verstummten, als sie da einen Mann im Militärmantel mit Wehrmachtrevers eintreten sahen, dem noch dazu das „Schwarze Corps“, die offizielle Zeitung der SS, sichtbar aus der Manteltasche hervorschaute! In dem letzten Kriegsjahr war die einstige Begeisterung der deutschen Bevölkerung für das Regime zu ängstlicher Bedrücktheit herabgesunken. Wenn man sich von Repräsentanten der Macht unbeobachtet glaubte, wagte man selbst in Gaststätten schon, offene Kritik zu äußern.

In diesem Saal aß ich mit meinen letzten Lebensmittel-Sondermarken für Wehrmachtsangehörige ein solides Abendessen, keineswegs überzeugt, es wäre das nicht meine Henkersmahlzeit. Nach langer Zeit mich wieder in eigenem Raum und warmem Bett befindend, schlief ich dann in meinem Zimmer bald ein. Um 4 Uhr früh riß mich jäh ein hartes Klopfen und der scharfe Befehl „Gestapo, sofort öffnen!“ aus tiefem Schlaf. Um für alles Erdenkliche Zeit und Kraft zu sammeln, rief ich forsch zurück: „Sofort — warten Sie, ich ziehe mich nur an!" Ich warf die Kleider um, schob rasch die Aktentasche unter das Bett und zog mit einem zackigen „Heil Hitler!" die Tür auf. Die Bestimmtheit, mit der ich da den „deutschen Offizier“ markierte, dessen Paß sich als „in Ordnung" erwies und der sogar die Frage, was ihn nach Radolfzell brächte, ohne Zaudern mit der (vorher von Frau Meyer angeratenen) Auskunft beantwortete, er käme zur Regelung der Unterkunft seiner ausgebombten Familie zu einem Bauern im Nachbardorf — sogar die Adresse nannte ich —, all dies genügte der Gestapo vollauf. Wieder war die drohende Gefahr gebannt. Einschlafen konnte ich dann allerdings nicht mehr, und es kostete mich größte Selbstbeherrschung, den späten Morgen abzuwarten und dann, wie selbstverständlich, im Hotel noch meinen Kaffee einzunehmen, ehe ich nach Singen fuhr.

Frau Wachsmann hatte eine ereignislos ruhige Nacht verbringen können, und wir ertrugen nun zu zweit die elend langsam dahin-schleichenden Stunden bis zur Abendverabredung mit den Bauern. Die holten uns, wie zur Wanderschaft mit Rucksäcken und Stöcken ausgerüstet, ab, und zu viert legten wir die letzte nun notwendige Personenzug-Fahrt nach Beuren-Büsslingen zurück. Vom Wagen-fenster aus zeigten die Bauern auf den hellen Lichtstreifen wenige hundert Meter von der Bahnstrecke entfernt: die Schweiz! Das Land mußte erst später, laut Vertrag mit Deutschland, die völlige Verdunkelung einführen, damit nicht etwa einfliegende alliierte Bomber sich an dem erleuchteten Grenzstreifen orientieren könnten. Bei unserem Eintreffen im Bahnhof Beuren erklärten die Bauern uns, wir hätten nunmehr lediglich noch einen Kilometer Fußmarsch auf der Chaussee nach Büsslingen vor uns. Da sie wußten, daß auf dieser Endstrecke immer Kontrollbeamte erschienen, galt als Erklärung für unsere Anwesenheit der Besuch bei einem Bauern, der unserer ausgebombten Familie Unterkunft versprochen hätte. Außerdem sollte ich, falls wir angehalten werden würden, Frau Wachsmann als „meine Tante Herta" vorstellen. Der starke Schneefall mag der Grund dafür gewesen sein, daß diese Nacht die Kontrolle ausblieb.

Im Dorfe angelangt, führten die beiden Bauern uns in eine offene Scheune, in der wir nach ihrer Anweisung unter Vermeidung jeden Geräusches zu warten hatten, da sie sich zunächst vergewissern mußten, ob die Gegend sicher sei. Die halbe Stunde, die bis zu ihrer Rückkehr verging, erlebten wir als halbe Ewigkeit, voll quälender Zweifel, ob wir nicht etwa hier im Stiche gelassen seien, und voller Erschrecken über jedes Stapfen in dem Schnee vorüberziehenden Dörfler. Unsere Grenzführer bedeuteten uns, ihnen nun schweigend zu folgen. Nach kurzem Marsch nahmen sie Uns in einem tiefverschneiten Obstgarten die Pässe zur Rücksendung nach Berlin ab, ließen uns zur besseren Tarnung weiße Leinentücher Überwerfen und beschrieben uns, mit der Erklärung, hier sei ihre Aufgabe abgeschlossen, den Weg, der uns nach ihrer Schätzung in etwa einer halben Stunde über die Grenze bringen würde. Der nun folgende Schlußmarsch in tiefer Dunkelheit über einen steilen Bergrücken, und anfänglich auch noch in Sicht-und Hörweite des letzten deutschen Grenzpostens, forderte unseren Nerven das Letzte ab. Nicht nur wußten wir beide, daß die Grenze in dieser Gegend ganz unregelmäßig verlief, so daß des öfteren hier Flüchtende irrtümlich auf deutsches Gebiet zurück geraten und den Nazis in die Hände gelaufen waren. Wir wußten außerdem von Tausenden, die in der Vergangenheit von den Schweizer Grenzposten an die Deutschen ausgeliefert worden waren, weil nach den Worten der Schweizer Regierung „das Rettungsboot schon überfüllt" sei. Was wir allerdings nicht wußten, war, daß seither die Empörung der Schweizer Öffentlichkeit die Einstellung dieser Maßnahme, die ja einem Todesurteil gleichkam, bewirkt hatte. Frau Wachsmann sank, am Ende ihrer Kräfte, bei diesem mühseligen Aufwärtstapsen im Finstern einmal tief in den Schnee ein. Es kostete mich alle Überredungskunst und Anstrengung, die fast Verzweifelte und ihr Gepäck bis zu dem fern vom deutschen Zollhaus gelegenen Abstieg weiterzuschleppen. Vor uns sahen wir ein Dorf. Am ersten Haus ließ ich die Frau hinter einem Baum warten und schlich vorsichtig vorwärts. Zu meiner unendlichen Erleichterung stand ich vor einem Plakatanschlag mit der Ankündigung eines Festes des Turnvereins „HELVETIA". Ich lief zu Herta zurück und rief: „Wir sind in der Schweiz!" In unserem Glück umarmten und küßten wir uns. Aus vollem Herzen sprach ich den altjüdischen Segen: „Gelobt sei Gott, der uns leben ließ, uns erhielt und uns diese Zeit erreichen ließ."

Endlich in Freiheit, setzte ich alle Kraft für die Rettung der in Berlin zurückgebliebenen Chawerim ein. Der umsichtige Nathan Schwalb vom „Hechaluz" tat sein Bestes. Er nahm durch Kurier den Kontakt zu Gad Beck auf und Strahlte vor Freude, als er mir die ersten Antworten von dort zeigen konnte. Die Berliner meldeten den Empfang der ihnen zugesandten Geldmittel für die Vorbereitung zur Flucht. Voller Ungeduld erwarteten wir nun das für den August angekündigte Eintreffen der ersten zwei Chawerim. Wir warteten einen ganzen Monat — sie kamen nicht. Sehr verzögert erreichte uns danach eine erste Nachricht aus Berlin, die zwar beinhaltete, daß alle Mitglieder des „Chug" am Leben seien, zu unserem Entsetzen zugleich jedoch aussagte, daß jeder Fluchtversuch aufgegeben werden mußte. Es ergab sich, daß Beck entsprechend den Anweisungen von Schwalb weitere Untergetauchte in die Fluchtpläne eingeweiht hatte. Von diesen wurden zwei Frauen als erstes Paar für die Reise ausgewählt, die beide kurz vor Basel aus dem Zug heraus verhaftet wurden. Strunck war ebenfalls gefaßt worden und wurde hingerichtet. Kurz danach brachte man Frau Meyer ins Gefängnis. Doch überlebte sie das Kriegs-'ende und wurde befreit. Etwa zur gleichen Zeit erlöste der Einmarsch der Alliierten auch Ewo aus der letzten Station zweijähriger Gefangenschaft, einem Zuchthaus in Lippstadt. Schwalbs Verbindungen zu den Freunden in Berlin brachen nicht mehr ab. Für die so besonders harten Existenzbedingungen gegen Kriegsende vermochte er sie mit ausreichenden Geldmitteln zu versorgen, die ihnen das Durchhalten erleichterten. In der konfusen Schlußphase immer heftigeren Bombardements und zugleich nachlassender Macht der Nazis mußten die Geschwister Beck zeitweilig noch Gefängnisstrafen ertragen, waren aber nicht mehr in Lebensgefahr.

So sind am Ende alle Gruppenmitglieder, die ich in Berlin verlassen mußte, in die Freiheit gelangt. Die meisten von ihnen leben heute glücklich in Israel.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die jüdischen Schulen Deutschlands und Österreichs wurden am 30. Juni 1942 aufgrund einer Anordnung des Büros Eichmann vom 20. Juni geschlossen.

  2. Der erste Transport verließ Berlin am 10. Oktober 1941 und wurde in das Ghetto Lodz (Litzmannstadt) geschickt. Er umfaßte 1013 Personen.

  3. Gemeint ist die „Schulungshaft''in sog. Schulungslagern, die in Wirklichkeit Konzentrationslager waren. Sie traf ab Frühjahr 1935 diejenigen Juden, die nach ihrer Auswanderung sich in Deutschland nur besuchsweise aufhielten.

  4. In der weiteren Erzählung zumeist kurz „Ewo" genannt, der Name, unter dem sie allein im Untergrund bekannt war.

  5. Die „Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden“, die zum Tragen des Sterns verpflichtete, wurde am 1. 9. 1941 veröffentlicht. Eichmanns Büro versandte entsprechende Anweisungen am 15. 9. an alle Polizei-und Regierungsämter.

  6. Als solche, auf die die Judengesetze keine Anwendung fanden, galten: 1. Mischehen mit Kindern, welche „nicht als Juden galten", 2. Kinderlose Mischehen, wenn der Ehemann Deutscher war. Der Begriff erscheint bereits in Görings „Einige grundsätzliche Entscheidungen Hitlers in jüdischen Angelegenheiten" vom 28. 12. 1938.

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Jizchak Schwersenz, geb. 1915 in Berlin; 1937 Lehrer am Landschulheim der jüdischen Oberrealschule in Herrlingen bei Ulm; 1938 Übersiedlung nach Berlin; hier führend tätig im „Mäkkabi Hazair“ und Lehrer an der Volksschule der Jüdischen Gemeinde; gleichzeitig Instruktor (Madrich) seines Bundes an der . Jugend-Alijah-Schule“. In Zürich Studium der Geschichte, Geographie und Pädagogik und Gründung des Bundes Jüdischer Pfadfinder; 1953 Auswanderung nach Israel; dort Lehrer an einem Gymnasium.