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Die Grünen vor der Wahl | APuZ 36/1980 | bpb.de

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APuZ 36/1980 Die Grünen vor der Wahl Politik und Wertwandel in den westlichen Demokratien

Die Grünen vor der Wahl

Rolf Meyer/Günter Handlögten

/ 42 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit ihrer Teilnahme an der Bundestagswahl im Oktober dieses Jahres stehen die Grünen als Partei vor einer entscheidenden Prüfung. Nach ersten erfolgreichen Bemühungen auf kommunaler Ebene und den spektakulären Wahlergebnissen in den Ländern Bremen und Baden-Württemberg haben sich die Grünen mit der Europa-Wahl im Juni 1979, der Vereinigungskonferenz von Offenbach (Oktober 1979), dem Gründungskongreß von Karlsruhe (Januar 1980), dem Programmparteitag von Saarbrücken (März 1980), der Bundesversammlung von Dortmund im Juni 1980 sowie der Vorlage eines Bundesprogramms und einer Wahlplattform innerhalb eines Jahres auf die überregionale, die bundesweite Ebene begeben. Diese Aktivitäten haben die junge Bewegung/Partei jedoch nicht zu einem „einheitlichen Ganzen“ zusammenschmieden können; im Gegenteil: noch fehlt die Integrationsfigur— beziehungsweise wurde sie in der Person Herbert Gruhls nicht angenommen. So verfolgt die bundesrepublikanische Öffentlichkeit eher mit einer gewissen Distanz die Auseinandersetzungen der verschiedenen „grünen“ und „bunten" Positionen auf den Parteitagen; und die Medien neigen eher dazu, das publizitätswirksamere Geschehen um die Grünen herum, nämlich die Ein-und Austritte Prominenter oder exotische Vorgänge am Rande, genüßlich zu beschreiben. Daher wird bald vergessen oder bleibt unbekannt, welche Strömungen ihren Weg in die Bundespartei genommen haben und wie die Programmaussagen der Parteiväter und -mütter waren. Mehr noch verhindern Vor-Urteile, sich genauer mit den Vorstellungen und programmatischen Aussagen der Grünen vertraut zu machen und auseinanderzusetzen. Den häufig geäußerten Vorwurf gegenüber den Grünen, sie seien eine „Ein-Punkt-Partei", haben sie mittlerweile pariert und dabei den Spieß schlicht umgedreht: Es seien die etablierten Parteien von rechts bis links allesamt Ein-Punkt-Programm-Parteien, weil sie jeden Gesellschaftsbereich auf den Punkt „Wirtschaftliches Wachstum“ hin orientieren würden. Noch führen die Grünen einen Mehrfrontenkampf: Zum einen suchen sie ihren Platz in einer von etablierten Parteien besetzten Parteienlandschaft; des weiteren ringen sie innerhalb ihrer Reihen um die Einheit der Partei. Zum anderen ist es ein Kampf ums überleben bzw. um die Anerkennung und das Ansehen in der Bevölkerung, die sich weitestgehend von dem Erreichen der 5 %-Linie bei Wahlen in ihrem Urteil bestimmen läßt.

Einleitung

Der Schriftsteller und frühere SPD-Wahlhelfer Günter Grass reagierte Anfang 1978 spöttisch, als er nach der neuen Protestbewegung gefragt wurde: „Aus Rot und Schwarz wird noch lange nicht Grün" (Süddt. Ztg., 17. 5. 1978). Auch auf dem Berliner SPD-Parteitag im Dezember 1979 wurde noch über „das Häufchen Sektierer, das Körnerfutter unter die Leute bringen will", gespottet (Stern, 27. 3. 1980). Doch spätestens seit der Landtagswahl in Baden-Württemberg im März 1980 beobachten die etablierten Parteien CDU, CSU, SPD und FDP mit wachsendem Interesse, was sich bei dem bunt zusammengewürfelten Haufen, der sich „Die Grünen“ nennt, tut Naturschützer und Atomkraftgegner, Heimatverbundene und linke Internationalisten sitzen mittlerweile unter neuer Flagge in etlichen Bezirks-, Kreis-und Stadtparlamenten. In Bremen und Baden-Württemberg bestimmen sie sogar landesweit mit. „Wie ein Magnet", so interpretierte im März 1980 das Hamburger Magazin „Stern", „ziehen sie vor allem jüngere Wähler an und obendrein die vielen freischwebenden Linken, die sich weder von den Bundestags-parteien noch von den K-Gruppen oder der DKP vertreten fühlen" (Stern, 27. 3. 1980).

Daß sich einstige SPD-Genossen wie die . grünen Bremer Abgeordneten Olaf Dinn und Peter Willers oder der baden-württembergische Spitzen-Grüne Wolf-Dieter Hasenclever mit dem DDR-Kritiker Rudolf Bahro und d*en Ex-

Funktionär des Kommunistischen Bundes (KB), Jürgen Reents, und konservativen Grünen wie dem schleswig-holsteinischen ÖkoBauern Baldur Springmann oder dem ehemaligen CDU-Abgeordneten Herbert Gruhl zusammengetan haben, führt die „Neue Zürcher Zeitung" (NZZ) auf einen „inneren" Bewußtseinswandel zurück, der die heutige Krise der bundesrepublikanischen Linken beeinflußt, nämlich „die (sich) in den letzten Jahren... zu-nehmend ausbreitenden Zweifel am Sinn des technischen und materiellen Fortschritts, verbunden mit einem neu erwachten Unbehagen an einer überdimensionierten, verbürokratisierten Sozialbetreuung im modernen Wohlfahrtsstaat" (NZZ, Fernausgabe Nr. 102 v. 4. /5. Mai 1980, S. 5).

Verstärkte Besinnung auf die Natur, Umweltschutzengagement, Bewahrung von historisch Gewachsenem, Rückkehr zu kleineren, überschaubaren Einheiten („small is beautiful") im sozialen und ökonomischen Bereich — das sind, so die NZZ, wesentliche Leitthemen der gesellschaftspolitischen Diskussion gerade auch in den „progressiven“ Kreisen.

Zwar sahen sich auch in der Vergangenheit etablierte politische Vertreter veranlaßt, den Umweltschutz verstärkt zu propagieren. Was aber in der Praxis geschah, offenbarte nicht selten Widersprüche und Halbherzigkeiten. Zunehmend verursachten Planungen das enttäuschende Gefühl, der einzelne Bürger stehe mit seinem Traum von einer heilen Umwelt bloßen Lippenbekenntnissen einer repräsentativen Demokratie gegenüber, in der ein Zusammenhang zwischen Stimmabgabe und Durchsetzung eigener Anliegen nicht mehr bestehe. Das rief Bürgerinitiativen auf den Plan. Inzwischen sind mehr als fünf Millionen Bundesbürger in Umweltschutzgruppierungen organisiert (vgl. Harry Tallert, Protest als Programm, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26/80, S. 19, Fußnote 8).

Für das bislang scheinbar festgefügte Parteiensystem wird eine durchaus kritische Masse sichtbar. Kritisch deswegen, weil hier die Blockade des bislang üblichen und im herkömmlichen politischen Weltbild unabdingbaren Wachstums beginnt, übereinstimmendes Merkmal der parlamentarisch eingeführten Parteien ist ihre ökonomische Grundhaltung. Es geht ihnen um Zuwachs und Verteilung materieller Güter. Sobald der Umweltschutz mit dieser Zielsetzung in Konflikt gerät, wird seine konsequente Durchsetzung für sie hoch-problematisch. Allzusehr drängt sich die Assoziation Umweltschutz — ökologisches Prinzip — Konsumverzicht auf, die sich als Sand im Getriebe der gesellschaftlichen Wohlstands-produktion erweisen muß. Ob punktuelle Protestaktionen gegen Atomkraft, Autobahnen, Lärm und Landschaftszerstörung jedoch gleichzusetzen sind mit einer Bereitschaft der Initiativ-Bürger, ihre Konsumgewohnheiten konsequent in Frage zu stellen, das darf bezweifelt werden. Nicht selten handelt es sich um Bezieher mittlerer und höherer Einkommen, denen es um nichts mehr geht als darum, lästige Erscheinungen vor der Tür des Eigenheims zu bekämpfen.

Sobald der Umweltschutz sich nämlich parteipolitisch organisiert und damit gesellschaftliche Folgen verknüpft werden, läßt besonders unter Angehörigen der Oberschicht das Engagement nach, wie eine Umfrage von Rudolf Wildenmann für die Zeitschrift „Capital“ gezeigt hat. Wem der sichere soziale Status erlaubt, ins Grüne zu ziehen, der braucht die Grünen weniger als derjenige, der zwischen Wohnblock und Fließband pendelt. In Zahlen: Nur 8, 3 % der Oberschicht, aber immerhin 30, 1 % der befragten Arbeiter bekundeten ihre Bereitschaft, eine Umweltpartei zu wählen (nach: Psychologie heute, Nov. 1978). Allerdings: Bei eben dieser Umfrage im Jahre 1978 zeigte sich, daß viele der Beteiligten ihrer eigenen Courage nicht trauten. Hätten sie schon am darauffolgenden Sonntag ihr Kreuz zu einer Bundestagswahl machen müssen, so wären 98 % aller Stimmen den Altparteien zugefallen. Auch aus einem anderen Grund muß bezweifelt werden, daß die Grünen bei einer Bundestagswahl ebenso erfolgreich abschneiden wie bei Kommunal-und Landtagswahlen. Denn zum bundesweiten Auftreten gehört eine straffe Organisation und ein für alle Grünen verbindliches Parteiprogramm. „Damit aber riskieren sie, das zu verlieren, was sie für die Wähler attraktiv macht — die Möglichkeit der direkten Beteiligung und Mitentscheidung ohne zwischengeschaltete, schwerfällige, bürokratische Instanzen. Der durch Bürgerinitiativen geprägte Charakter der grünen Bewe gung ginge verloren." (Stern, 27. 3. 1980 S. 30 f.)

Schon auf Rathausebene haben gewählt« Grüne Probleme, diesen Charakter zu erhal ten. Im schleswig-holsteinischen Wilster bei spielsweise mußten sie sich in der Lokalzeitung vorhalten lassen, nichts gegen eine geplante Mülldeponie nahe dem Atomkraftwerk Brunsbüttel getan und den Kontakt mit dei Bevölkerung nicht genügend gepflegt zu haben. Leser: „Grüne Ihr Frage zweier — seid schon . etabliert'?“ (Wilstersche Zeitung, 24. 5. 1980).

In Erlangen zog der Stadtrat Wolfgang Lederer (Grüne Liste) nur eine dürftige Bilanz: „Meine Funktion als Zünglein an der Waage konnte ich bisher nur einmal , ausnützen', als ich mit der SPD einen zusätzlichen CSU-Bürgermeister — der immerhin 3 000 Mark im Monat einstecken würde — ablehnte“ (Wolfgang Lederer, Stadtrat sein, das ist fein ..., in:

Grüne/Bunte Listen: Höhenflug mit Bauchlandung?, Frankfurt 1978; im folgenden kurz: „Höhenflug").

Ebenso wie die vier Grünen im Bremer Landtag, die sich erschüttert zeigten über die „Uninformiertheit der meisten Abgeordneten auf den Gebieten der Ökologie und Atomenergie" („Die wissen genau, wie oft wir im Recht sind", Frankfurter Rundschau, 21. März 1980), beklagte sich Wolfgang Lederer: „Parlamentarier beraten und beschließen über Angelegenheiten, von denen sie weder betroffen sind noch von denen sie Ahnung haben, und stellen — meist mit Hilfe der Verwaltung — auch gegen geäußerte Proteste und Interessen das städtische Gesamtinteresse her“ („Höhenflug", a. a. O., S. 65).

Erfolge wie sie die Bielefelder Bunten erlangten, als sie den Haushaltsplan der Stadt erst mit ihren Stimmen passieren ließen, nachdem drei Millionen Mark — statt für Stadtsanierung und Straßenbau — für Fahrradwege, für mehr Personal in den städtischen Jugendzentren und für das Frauenhaus ausgegeben werden, blieben die Ausnahme. Der Bremer Olaf Dinn sagte nach fünf Monaten Landtagsarbeit: „Der parlamentarische Alltag ist noch ernüchternder, als wir gedacht haben“, und: „Unsere Anträge werden oft einfach deshalb abgeB schmettert, weil sie von uns kommen" (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 22. 3. 1980).

Doch Not macht erfinderisch: Die Hausfrau Heide von Bernstorff, die im Oktober 1977 als erste deutsche, Anti-Atomkraft-Abgeordnete" in den Kreistag des niedersächsischen Hameln-Pyrmont gewählt wurde, wollte keine Abstimmungsniederlage erleiden, als sie und ihre Anhänger ein Behinderten-Auto auf Kreiskosten forderten. Sie erschien mit vier Rollstuhlfahrern auf einer Sozialausschußsitzung. Die Abgeordneten mußten die Besucher in den dritten Stock des Kreishauses tragen — und das Spezialfahrzeug wurde bestellt (Stern, a. a. O.; siehe auch „Höhenflug", a. a. O., S. 83— 90).

Die Wählergemeinschaft um Heide von Bernstorff gehört zu den Gruppierungen, die einer bundesweiten Grünen Partei skeptisch gegenüberstehen und bei der Bundestagswahl zur „kritischen Wahl der SPD“ aufrufen wollen. Bedenken äußerten auch eher konservative Grüne wie beispielsweise der Kreisverband Dithmarschen der Grünen Liste Schleswig-Holstein. Ihren Sprecher Hans-Joachim Schlage haben die ermüdenden Geschäftsordnungsdebatten und endlosen Streitigkeiten auf den Bundeskonferenzen enttäuscht: „Wir wollen uns daher in Zukunft darauf beschränken, mehr Umweltbewußtsein in unserer Region zu wecken. Wir werden die Grünen zwar wählen, aber nicht aktiv im Bundestagswahlkampf unterstützen.“

Daß die Grünen nach ihrer Profilierung vor Ort auch bundesweit in Gleichschritt kommen, muß bezweifelt werden. Kaum hatten sie auf dem Bundeskongreß im Juni 1980 in Dortmund die Teilnahme an der Bundestagswahl beschlossen, da kündigte ein Teil der Delegierten die Gefolgschaft auf. Grund: Bei der Vorstandswahl hatte sich der Nürnberger Ingenieur und Gewerkschafter Dieter Burg-mann, der vor allem vom linken Flügel der Partei unterstützt wurde, knapp gegen Herbert Gruhl durchgesetzt. Es ging um das Amt eines von drei gleichberechtigten Vorsitzenden. Es war frei geworden, nachdem der frühere Vorsitzende der aufgelösten Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD), August Haußleiter, nach Angriffen wegen seiner politischen Vergangenheit zurückgetreten war.

Knapp ein Jahr vor dem Eklat hatte August Haußleiter noch die Meinung geäußert, daß die Grünen als selbständige politische Kraft zu einem dauerhaften Faktor in der Bundesrepublik werden könnten. In einem Interview prognostizierte er: „Ich bin der festen Überzeugung, daß im Jahre 1995 die grüne und alternative Bewegung die absolute Mehrheit im Lande haben wird, und sich dann in einen linken sozialistischen, in einen gemäßigten Mittelflügel und in einen konservativen Flügel aufspalten wird." (Zitiert in: Perspektiven der Grünen, Bunten und Alternativen, hrsg. von der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz, Berlin, o. J„ S. 97; im folgenden kurz „Perspektiven".)

Zerreißprobe in Saarbrücken

Schon der Saarbrücker Programmkongreß im März 1980 geriet zu einer Zerreißprobe zwischen der Linken von den Bunten und Alternativen Listen und den konservativeren Teilen. Herbert Gruhl bewertete die Geschehnisse in Saarbrücken so: „Der... Verlauf dieses Tages hat gezeigt, daß hier eine beträchtliche Polarisierung innerhalb unserer noch sehr jungen Partei vorhanden ist. Ich sehe diese Polarisierung gar nicht als so sehr eine Polarisierung zwischen Links und Rechts ..., sondern es ist eine Polarisierung anderer Art.. " Und hinweisend

auf die Gedanken, die Erich Fromm in seinem Buch „Haben oder Sein" zu den zwei grundverschiedenen Existenzmöglichkeiten des Menschen dargelegt hat, sagte Gruhl zu den Parteitagsdelegierten: „Nun, liebe Freunde, was Sie heute morgen hier am laufenden Band beschlossen haben, ist bestimmt worden vom Modus des Habens. Jawohl, Sie führen in dem Programm, besonders im Wirtschaftsteil, der Öffentlichkeit vor, was alles getan werden müsse, um eine in etwa heile Welt — vielleicht vergleichbar, was man früher im Märchen das Schlaraffenland nannte — zu schaffen. Und dies auf eine Weise, die ausgeht weit-5 gehend vom technokratischen Denken, wie es diese Welt bisher beherrscht hat und immer noch beherrscht ... Aber was als Programm hier herauskommt, ist ein Wettbewerb mit Versprechungen, ein Wettbewerb, wie es die alten Parteien viel besser beherrschen ... Ich kann und muß noch einmal den Hinweis geben: Es geht nicht um Links oder Rechts, sondern zu welcher Seinsweise wir uns entschlossen haben. Und die Seinsweise des Seins ist hier noch nicht genügend vertreten in diesem Saal" (Herbert Gruhl: Persönliche Erklärung auf dem Parteitag der GRÜNEN in Saarbrük-ken am 23. März 1980, beigefügt dem Grüne-Aktion-Zukunft-Rundschreiben Nr. 10 v. 31. März 1980).

Der „Grünen" -Gründer Gruhl zog ebenso wie der volkstümliche Bio-Bauer Baldur Springmann seine Kandidatur zum Vorstand zurück. Nur mühsam konnte ein Bruch verhindert werden, den eine „Gruppe Gewaltfreie Ökologie“ unter Führung von Baldur Springmann riskiert hatte. Sie setzte „zum Sturm" auf das Rednerpodium an. Hauptargument: Es sei jetzt höchste Zeit, daß die Versammlung zu ihren Grundsätzen zurückfinde, auch zu einer „Politik des Lebensschutzes" als ihrem ursprünglichen Hauptanliegen (Frankf. Rundsch., 24. 3. 1980). Diese „grünen Grünen" fühlten sich von „linken Eindringlingen" bevormundet, die den Schwerpunkt auf Gesellschaftspolitik statt auf ökologische Probleme legten. Das spiegelte sich auch im Bundesprogramm wider, in dem „Umwelt und Natur“ nur sechs von etwa 43 Seiten einnehmen.

Zu gleichberechtigten Vorsitzenden der etwa 15 000 westdeutschen Grünen wurden in Saarbrücken August Haußleiter, Petra Kelly und Norbert Mann gewählt. Dem fünfköpfigen Geschäftsführenden Bundesvorstand gehörten noch Grete Thomas und Rolf Stolz an. Zur Kritik am Vorstand und der Forderung, er möge sich zwischen Saarbrücken und der Bundes-versammlung in Dortmund nur als kommissarischer Vorstand verstehen, gingen die fünf Betroffenen in einem Papier „Zum Selbstverständnis des Geschäftsführenden Bundesvorstandes" ein. Dieses Papier weist auf einige grundsätzliche Probleme bei der Zusammenarbeit grüner Gruppen hin: „Der Geschäftsführende Bundesvorstand ist in Saarbrücken in einer Zusammensetzung gewählt worden, die dem realen Spektrum der GRÜNEN entspricht und auch die Vorläuferorganisationen berücksichtigt. A Haußleiter kommt aus der AUD, N. Mann und G. Thomas aus der GLU (NRW bzw. Niedersachsen), P. Kelly und R. Stolz sind als freie Grüne 1979 zur SPV (der . Sonstigen Politischen Vereinigung'DIE GRÜNEN, R. M.) gestoßen ... Wir (verstehen) uns weder als frei über der Basis schwebende Funktionäre und Sachwalter des Apparats noch als lediglich ausführende Organe des Kreis-oder Landesverbandes, aus dem wir kommen. Die ständige Rückkopplung und Kritik gerade von denen, mit denen man täglich vor Ort zusammenarbeitet, ist unerläßlich, aber sie setzt zugleich das Bewußtsein voraus, daß der Bundesvorstand ein Mandat der Gesamtorganisation und eine Verantwortung ihr gegenüber besitzt. Nur aus dieser Unabhängigkeit gegenüber Sonderinteressen heraus wird es möglich sein, einen Ausgleich zwischen den Belangen und Wünschen der verschiedenen Landesverbände, Arbeitsgemeinschaften, politischen Richtungen usw. zu schaffen. Ohne diesen ständigen Ausgleich wird es immer wieder zu Majorisierung, Vorherrschaft der jeweils Stärkeren, zentrifugalen Tendenzen und zur Gefahr einer Spaltung kommen."

Kritisch zur Arbeit der Bundesprogrammkommission (PK), die das Saarbrücker Programm vorbereitete, äußerte sich die Vertreterin der GAZ (Grüne Aktion Zukunft) in dieser Kommission, Marie-Luise Taute, Tübingen. Das taktische Vorgehen der verschiedenen Gruppierungen in der PK — der anfangs im wesentlichen nur Vertreter der AUD (Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher), der GAZ (Grüne Aktion Zukunft), der GLSH (Grüne Liste Schleswig-Holstein) und der GLU (Grüne Liste Umweltschutz) angehörten — sieht sie so: . Anstatt auftragsgemäß mit der Programmarbeit zu beginnen, wurden die ersten beiden Termine der PK darauf verwandt, Kontaktgespräche mit Bunten und Alternativen zu führen, die in großer Zahl (bis zu 60) aus Berlin, Hamburg, Hessen und NRW nach Bonn angereist waren. Bei diesen Gesprächen kam mit großer Deutlichkeit zum Ausdruck: das Hauptanliegen der Bunten ist eine linke Gesellschaftspolitik einschließlich gewerkschaftlicher Forderungen wie die 35-B Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich. Sie betrachten alle politischen Probleme, insbesondere auch die ökologischen Probleme, aus der Sicht des Klassenkampfes. — Bei der ersten Sitzung, in der die eigentliche PK in der oben bezeichneten Zusammensetzung tagte, ging es nun darum, ob man den Bunten Sitz und Stimme in der PK einräumen solle. An Warnungen hat es nicht gefehlt, wie etwa die Spannweite der GRÜNEN sei bereits so groß, daß es auch ohne die Bunten schwer genug sein werde, sich auf ein gemeinsames Programm zu einigen. Erst sei die Gründung durchzuziehen, ein klares programmatisches Profil zu erarbeiten. Dann erst könne man sich nach weiteren Bündnispartnern umsehen. Solchen Warnungen zum Trotz beschloß die PK mit nur einer einzigen Gegenstimme, Vertreter der Bunten aufzunehmen."

In der nächsten Sitzung, in der die Präambel diskutiert werden sollte, erschienen als Vertreter der Bunten die Alternative Liste Berlin (AL), die Grüne Liste Hessen (GLH), die Bunte Liste Hamburg (BuLi) und die Bunten NRW (später statt ihrer die Gruppe „Grüne NRW"). «Die Bunten und die GLU-Leute arbeiteten eng zusammen, brachten teilweise gleichlautende Formulierungen ein, mit dem eindeutigen

Ziel, einen linkslastigen Programmentwurf durchzusetzen. Sie wurden in allen wesentlichen Fragen von den AUD-Leuten voll unterstützt. Demgegenüber vertraten die GAZund GLSH-Leute gemäßigte Positionen, neigten aber dazu, nicht als Block, sondern eher als Einzelkämpfer aufzutreten. Dies und die Tatsache, daß sich die Mehrheitsverhältnisse durch das Hinzukommen der Bunten ohnedies stark zugunsten der Linken verschoben hatten (9 bis 10 Linke gegenüber 5 Gemäßigten), führte dazu, daß man sich bald gar keine große Mühe mehr gab, einen echten Konsens zu erarbeiten, sondern sich über die Forderungen der Gemäßigten einfach hinwegsetzte und die Entwürfe der Linken zum Programm erklärte... Das Fazit aus dieser Verhandlungsrunde kann nicht nur Kritik an den skrupellosen und jeder partnerschaftlichen Fairness entbehrenden Methoden der Linken enthalten. Es muß auch festgestellt werden, daß eine gemäßigte Fraktion, die nicht bereit ist, solidarisch für ihre Ziele zu kämpfen, unterliegen mußte.“ (Marie-Luise Taute, Wie konnte es zu dem Programm-Desaster in Saarbrücken kommen?, in: agöp-informationen, Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft ökologische Politik bei den Grünen, Ausgabe Nr. 1 v. 15. Mai 1980, S. 8 ff.)

Wahlplattform in Dortmund

Die Kontroversen um das Saarbrücker Programm hielten an. Für den amtierenden Bundesvorstand hatte Petra Karin Kelly auf der Bundesversammlung der Grünen im Juni 1980 in der Dortmunder Westfalenhalle erklärt: «Der Bundesvorstand spricht sich deutlich für das Saarbrücker Programm aus und hat es auch im Sinne einer jetzigen politischen Bestandsaufnahme oder als Protokoll der gegenwärtigen Programmdiskussionen bei der Mehrheit der GRÜNEN und in der Öffentlichkeit verteidigt. Dieses Programm ist aber keine Endstation, sondern es soll weiter entwickelt werden. Die differenzierte Diskussion über das Saarbrücker Programm wird weiter geführt werden müssen — auch nach der Bundestagswahl." (Rechenschaftsbericht des Bundesvorstandes, vorgetragen von P. K. Kelly, 21. Juni 1980, Manuskript)

Unbeschadet der Auseinandersetzungen einigten sich die Delegierten in Dortmund auf eine gemeinsame Wahlplattform, die den Zusammenhalt der Partei sichern sollte und die „nahezu einmütig verabschiedet" wurde, außerdem über die Beschlußfassung zur Teilnahme an der Bundestagswahl. Von über 800 Delegierten stimmten nur 22 mit „Nein“. Und doch konnte nach Dortmund von einem Bruch bei den Grünen gesprochen werden: „Die Spaltung der Grünen Partei in der Bundesrepublik ... ist zwar in den letzten Monaten oft vorausgesagt worden, und immer wieder konnte der Vollzug in letzter Minute mit eilig gezimmerten Kompromissen verhindert werden. Nach dem Dortmunder Parteitag ... dürfte der offene Bruch in der grünen Bewegung nun aber schwerlich mehr zu überkleistern sein. Zuerst sah es auf der Dortmunder, Basisversammlung'... nach verstärkter Geschlossenheit zumindest über das weitere taktische Vorgehen (Wahlplattform, Bundestagswahl, R. M.) aus ... Der eigentliche Eklat passierte erst gegen Ende der Veranstaltung, als ... Herbert Gruhl mit seiner Kandidatur für den Bundesvorstand überraschend gegen einen wenig bekannten Gewerkschafter unterlag, der vor allem von den linken Gruppen unterstützt wurde ... Die Niederlage Gruhls, der Leitfigur für die . Original-Grünen', brachte bei den gemäßigten Strömungen innerhalb der Bewegung das Faß des Unmuts über die zunehmende taktische Majorisierung durch dezidiert linke Kadergruppen und ihre sektiererischen Mitläufer zum überlaufen.“ (Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 144 v. 25. Juni 1980)

Mit Gruhl gingen in Dortmund zwei weitere Galionsfiguren der Grünen unter — August Haußleiter und Baldur Springmann. August Haußleiter, der seine . Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher“ (AUD) in die grüne Bewegung eingebracht hatte, trat von seinem Vorstandsamt zurück, weil „ihm vorgeworfen worden (war), in der Vergangenheit mit rechtsextremistischen Gruppen paktiert und deren Ziele unterstützt zu haben“ (Frankf. Rundsch. Nr. 142 v. 23. 6. 1980, S. 1). Seine Rede, in der er den Rücktritt erklärte, war einer der Höhepunkte der Dortmunder Bundesversammlung. „Vorbildlich im Vergleich zu den . etablierten'Parteien, meinte ein Redner, sei das Verhalten Haußleiters gewesen, denn dort gäbe es Politiker, , die haben noch ganz andere Sachen gemacht und sich nicht davon distanziert'.“ (Frankf. Rundschau, a. a. O., S. 4)

Baldur Springmann, Wortführer der schleswig-holsteinischen Ökologen, gab wenige Tage nach Dortmund sein Parteibuch ab. Begründung: Die Partei sei nicht bereit, ein eindeutiges Bekenntnis zur „absoluten Priorität" der ökologischen Bewegung abzulegen. Annähernd 150 Gesinnungsfreunde Springmanns schlossen sich diesem Schritt an. Die im nördlichen Bundesland noch fortbestehende „Grüne Liste Schleswig-Holstein" (GLSH) beschloß auf einer außerordentlichen Landesversammlung, nicht mit dem Landesverband der Grünen zu fusionieren. Getreu dem Motto: „Lieber kleiner und überzeugt ökologisch grün — als zu bunt und pluralistisch" will sie zunächst allein weitermachen.

Der zeitweilige kommissarische Bundesvorsi zende der Grünen, Herbert Gruhl, nahm seir Niederlage bei den Vorstandswahlen gege den neuen Bundesvorsitzenden Dieter Bur mann zum Anlaß, mitsamt seiner Part« „Grüne Aktion Zukunft" auf Distanz zu dei größeren Verband zu gehen. Sowohl Gruhl a auch Springmann kritisierten die in dem Saa brücker Programm enthaltenen „anti-ökolog sehen Wirtschaftsforderungen". Gruhl macht in einem Gespräch mit der „Frankfurter Rune schau" (Ausgabe v. 1. 7. 1980) seine weiter Mitarbeit in der Umweltschutzpartei von de künftigen Meinungsbildung in den Landesver bänden abhängig: „Mir geht es darum, daß dai in Saarbrücken beschlossene Programm auße: Kraft gesetzt wird.“ Angebote der Grünen ir Niedersachsen und Baden-Württemberg, au Platz eins ihrer Landeslisten für den Bundes, tag zu kandidieren, lehnte Gruhl ab. Gruhl nahm zu den „inhaltlichen Kontrover sen, die in Dortmund nicht überbrückt werdet konnten", und zu seiner mißglückten Vor Stands-Kandidatur in einem Rundschreiber Stellung. Er bedauerte, daß die Wahlplattform durch einige Anträge „in Richtung auf das Saarbrücker Programm“ verschoben worder sei: „Von Stunde zu Stunde wurde deutlicher daß die Mehrheit der Delegierten nicht bereil war, das Saarbrücker Programm zurückzustellen, daß im Gegenteil einige Landesverbände vorwiegend damit in die Bundestagswahl gehen wollen. Dagegen hatten Anträge der Bremer Grünen und unseres Freundes Baldur Springmann auf eindeutige Positionsbestimmung keine Chance ... Meine Kandidatur war ein verzweifelter Versuch, im letzten Moment festzustellen, ob wenigstens über 50 % der Delegierten bereit seien, unsere Richtung wenigstens durch einen von drei Vorsitzenden vertreten zu lassen. Ich bin froh, auch diesen Test noch gemacht und ein deutliches Ergebnis erhalten zu haben. Die zweimalige gleiche Stimmenzahl ist ein zusätzlicher Beweis über die Starrheit der Blöcke, die sich innerhalb der Partei gegenüberstehen. Im jetzigen Vorstand ist kein einziges GAZ-Mitglied zu finden Manche Zuschriften gehen nun von der falschen Annahme aus, ich sei über meine Nicht-wahl enttäuscht. Ich kann nur sagen, daß ich vom persönlichen Standpunkt aus die Nicht-wahl begrüße; denn sie befreit mich von auf reibenden Verpflichtungen in einer aussichtslosen Lage der jetzigen Partei DIE GRÜNEN." (GAZ-Bundesvorstand, Rundschreiben Nr. 13 v. 7. Juli 1980)

Vorläufiger Schlußpunkt der Auseinandersetzungen innerhalb der Grünen, zumindest bis zur Bundestagswahl, bildete die Gründung der „Grünen Föderation" Mitte Juli 1980 in Hannover. Sie will, Auffangbecken für alle diejenigen sein, die bei der Bundespartei der Grünen die Lust verloren haben“ (Stuttgarter Ztg., 22. 7. 1980). Ziel des zunächst lockeren Zusammenschlusses ist es, „eine gemeinsame Position für alle diejenigen aufzubauen, die echte ökologische Ziele politisch vertreten haben wollen".

Gebildet wurde die „Grüne Föderation" von der Grünen Aktion Zukunft, der Grünen Liste Schleswig-Holstein, der Bremer Grünen Liste und der Arbeitsgemeinschaft ökologische Politik (Presseerklärung, Bonn, 16. Juli 1980). Etwa 3 000 Umweltschützer zählen damit zur „Grünen Föderation".

Zu den in Dortmund anstehenden wichtigsten Entscheidungen — die Teilnahme an den Bundestagswahlen und eine möglichst von vielen vertretbare Wahlplattform — hatten bereits im Vorfeld verschiedene Gruppierungen der Grünen ihre Positionen abgesteckt oder Mitglieder in Einzelbetrachtungen ihren Standpunkt dargelegt.

In Sorge um die zukünftige Entwicklung der Grünen war im Mai 1980 eine „Erklärung zur Lage der Grünen" veröffentlicht worden: »Wir, die Unterzeichner, sind der Auffassung, daß die grundsätzlichen Positionen ökologischer Politik bei den Grünen in der letzten Zeit nicht deutlich genug vertreten worden sind. Die Wahlergebnisse in Nordrhein-Westfalen (am 11. 1980 Mai erhielten die Grünen bei den Landtagswahlen 3 % der Stimmen, R M.) haben das sehr deutlich gezeigt. Eine grüne Teilnahme an der Bundestagswahl halten wir nur für sinnvoll, wenn es gelingt:

L Eine Bundestags-Wahlplattform mit ökologischem Schwerpunkt zu verabschieden. 2. Die umstrittenen Teile des (Saarbrücker, R-M.) Bundesprogramms (Wirtschaft und Arbeitswelt, Mensch und Gesellschaft) zur Diskussion an die Basis bis nach den Bundestagswahlen zurückzuverweisen. 3. Daß die Grünen ihre Stellung als Friedens-partei gerade in der jetzigen Weltlage verdeutlichen und sich in ihrem Bekenntnis zur Gewaltfreiheit nachdrücklich von kommunistischer, kapitalistischer und faschistischer Politik distanzieren.

Die jüngsten Wahlergebnisse entsprechen nicht den tatsächlichen Sympathien für die Grünen in der Bevölkerung. Die Grünen bilden nach wie vor die einzige grundsätzliche Alternative zur lebensfeindlichen Politik der etablierten Parteien. Die Grünen haben jetzt die Verpflichtung, die Hoffnungen eines großen Teils der Bevölkerung nicht zu enttäuschen und im Sinne dieser Forderung zu handeln, um die Einheit der ökologischen Bewegung zu erhalten.“

Unterzeichnet war die Erklärung u. a. von Carl Amery, Joseph Beuys, Heinz Brandt, Olaf Din-n, O. K. Flechtheim, Herbert Gruhl, W. Heidt, Willy Hoss, Jürgen Marquardt, Baldur Springmann, Holger Strohm und Jörg Zink.

Punkt 1 und 2 der Erklärung decken sich wörtlich mit dem Beschluß des Bundesparteitages der GAZ (Grüne Aktion Zukunft) vom 15. Mai 1980 in Hannover, sich nur dann aufzulösen, wenn die Durchsetzung eben dieser beiden Punkte in Dortmund gelänge. Drittens sollte für die Wahlplattform der Grünen der „Entwurf eines Kurzprogramms", wie es der Achberger Kreis vorschlug, sowie das GAZ-Papier Grundlage sein (GAZ-Bundesvorstand, Rundschreiben Nr. 11 v. 19. Mai 1980).

Nach der Satzung der GRÜNEN ist vom 30. April 1980 an eine Doppelmitgliedschaft in zwei politischen mehr möglich. Parteien nicht Im Gegensatz aber zur AUD, die auf ihrem Parteikongreß am 27. April 1980 in Gießen mit großer beschlossen hatte, ab Mehrheit sofort ihre Tätigkeit als politische Partei einzustellen und ihren Mitgliedern die vorbehaltlose Mitarbeit bei den GRÜNEN empfahl, hatte die Grüne Aktion Zukunft von Herbert Gruhl einen Auflösungsschritt an die genannten Bedingungen geknüpft (vgl. Der Weg der AUD zu den Grünen, in: Die Grünen, 19. Ausgabe vom 10. Mai 1980).

Teilnahme an der Bundestagswahl — ja oder nein?

Nach wechselhaften Erfolgen der Grünen bei Gemeinde-, Kreis-und Landtagswahlen und einer ersten bundesweiten Wahlprüfung bei den Europa-Wahlen 1979 steht im Oktober 1980 erstmals auch die Teilnahme an einer Bundestagswahl an. Einen Tag bevor die Entscheidung über die Teilnahme fiel, am Eröffnungstag der Bundesversammlung in Dortmund, druckte die Frankfurter Rundschau das „Plädoyer gegen eine grüne Beteiligung bei Bundestagswahlen" des Bremer Bürgerschaftsabgeordneten Peter Willers ab (Peter Willers, Ich bin kein Bundesgrüner, Frankf. Rundschau v. 21. 6. 1980). Willers schildert in „herber Kritik" die Gefahren, die den Grünen drohen, wenn sie den „dritten Schritt vor dem ersten“ machen. Er weist warnend auf die sich bereits jetzt abzeichnenden negativen Veränderungen innerhalb der grünen Bewegung hin, wenn zu sehr mit dem „Umgießen der außer-parlamentarischen Aktivitäten in eine parlamentarische Kraft" geliebäugelt wird: „Viele von Euch kennen mich nicht. Ich bin einer aus der grünen Viererbande in der bremischen Bürgerschaft. Ich bin kein Bundesgrüner. Warum, das möchte ich Euch erklären. Wir Bremer haben einer grünen Bundespartei mit unserem Wahlerfolg Rückenwind gegeben. Viele von Euch können nicht verstehen, warum wir heute als Bremser auftreten. Als Bremser einer Partei, die wir so nicht wollen, wie sie sich jetzt zu etablieren scheint. Die Grünen sind das parlamentarische Kind (viele sagen inzwischen der Wechselbalg) einer vielfältigen außerparlamentarischen sozialen Bewegung, deren wichtigster Teil die Anti-AKW-Bewegung ist. Als wir vor ein paar Jahren unter dem Eindruck des massiven Roll-Back der Herrschenden nach Grohnde überlegten, welche Handlungsspielräume wir im Kampf ums überleben noch nicht genutzt hatten, kam der Gedanke auf, die etablierten Politiker dort anzugreifen, wo sie glaubten, unter sich zu sein: im Parlament. Wir haben dabei versucht, Illusionen zu vermeiden. Unser Anspruch und unsere Erwartungen waren dementsprechend gering. Nicht politisch-parlamentarische Macht sollte errungen werden, sondern eine zusätzliche Ebene der Artikulation. Oberstes Prinzip sollte bleiben: Stärkung der außerparlamentarischen Bewegung, keine Apparatebildung, Dezentralismus, Eigenverantwortlichkeit. Unsere Stärke in den Bien (Bien = Bürgerinitiativen, R. M.) war und ist, nicht zählbar und greifbar zu sein, nicht von den Herrschenden und ihren Apparaten vereinnahmt und befriedet werden zu können.

Schaut Euch um, wie es heute ist: Die Debatte um eine grüne Bundespartei hat alte Bindungen aufgelöst, Arbeitszusammenhänge zerstört, Bien gespalten. Statt problemorientierter, basisnaher und solidarischer Zusammenarbeit werden vielerorts unter dem vermeintlichen Zwang, zu allem etwas sagen zu müssen, ideologische Fronten aufgerissen. Wo es ums Handeln gehen müßte, wird letztlich folgenlos debattiert. Die Etablierten — soweit sie es verstehen — können sich ob solcher parlamentarischen Fixierung ins Fäustchen lachen. Mit fünf Prozent Opposition im Parlament werden sie leicht fertig, und sei's mit einer großen Koalition ...

Willers glaubt, an der Entwicklung der grünen Bundespartei bereits jetzt zu erkennen, daß sie eine falsche Richtung eingeschlagen habe und zu viele und unfähige Köche den grünen Brei verdürben:

„Die . ersten’ Grünen wollten und wollen, daß sich die Ökonomie der Ökologie unterordnet. Das ist ein Programm, das dem aller anderen Parteien und Gruppen diametral entgegensteht. Nicht nur denen der Parlamentsparteien. Und dann sind die Bündnispolitiker gekommen, die ihre Vorstellungen bei uns unterzubringen versuchten. Sie haben uns eine pluralistische, . fortschrittliche'Partei aufzuschwatzen versucht, in der natürlich dann auch ihre alten Inhalte einen — möglichst hervorragenden — Platz haben sollten. Wieviel verschiedene Ärzte doktern an diesem kleinen grünen Baby herum:

— die alten K-Grüppler, die eine neue Heimat suchen und aus taktischen Gründen Zugeständnisse machen, wirklich dazugelernt ohne zu haben, — die Intellektuellen, die die Grünen als interessantes Planspiel begreifen oder ihre politiB sehen Bauchschmerzen abzureagieren versuchen,

_ die ewigen Politiker, die schon alles -ver sucht haben, — Karrieristen, die bei uns eine Chance wittern,

— und die Macher, die den Apparat schon jetzt mißbrauchen.

Irgendwie ist unser Flüßchen in ein falsches noch Bett geraten. Laßt uns den Mut haben, einmal an die Quellen zurückzukehren. Wenn wir die Verhältnisse ändern wollen: Das geht nur von unten. Und unten muß es stimmen. Laßt uns da aufbauen und weitermachen und den Herrschenden Sand ins Getriebe werfen. In Gemeinden, Kommunen und Kreistagen. Nur dort können wir unseren Anspruch auf Basisnähe verwirklichen. Eine Bundeswahlbeteiligung ist der dritte Schritt vor dem ersten. Ich möchte nicht, daß wir ins Stolpern kommen!“ In knapper, übersichtlicher Form hatten die Bremer Grünen ihre Vorstellungen in der „Bremer Linie" vom 19. April 1980 zusammengefaßt. Die Grundsätze lauteten (Auszug): , A-Vorrang: Rettung unserer Lebensgrundlagen Wir GRÜNEN gehen davon aus, daß es 5 Minuten vor 12 ist, um unser aller Lebensgrundlagen zu retten. Diese Überlebensforderung hat für uns Vorrang vor allen anderen Forderungen, mögen sie auch noch so berechtigt erscheinen.

B. Unsere Erfahrungen durch Betroffenheit Wenn wir für Erhalt und/oder Wiederherstellung unserer Lebensgrundlagen eintreten, so wissen wir aufgrund von Betroffenheit nur zu gut, wovon wir reden: 1-Statt Atomkraft und chemischer Industrie (Seveso) Energiesparen, sanfte Technik und natürliche Grundstoffe. 6. Statt weiterer Beschneidung unserer Grundrechte strikte Anwendung bestehenden Rechts gegen die ständige Verschlechterung unserer Lebensgrundlagen und Bürgerfreiheiten. 9. Statt weiterer Aushöhlung unserer Währung durch expansive Haushaltspolitik (Staatsinvestitionen mittels Schulden und inflationären Steuern) weniger Staat und mehr Gerechtigkeit.

C GRÜNE PARTEI als ein Bein neben andern Wir haben uns neben Bürgerinitiativen, Rechtsfonds, aufklärenden Vereinen usw. zu der Partei der GRÜNEN zusammengeschlossen, um gegen die etablierten Parteien von rechts bis links allgemein, insbesondere aber im parlamentarischen Raum, einzutreten; b) weil die Etablierten sich auf ihrer bislang unangefochtenen parlamentarischen Ebene auch materiell zu sicher fühlen, um uns ernsthaft wichtige Konzessionen zu machen.

D. Strategie zu mehr Gerechtigkeit Wir GRÜNEN übersehen ... keineswegs, daß auch andere als unmittelbar ökologische Forderungen berechtigt und wichtig sind (z. B. mehr Verteilungsgerechtigkeit und die Emanzipation von Frau und Mann). Doch wir wissen,

a) daß ökologische Fragen momentan Vorrang haben: erst weiter atmen können, dann neue Übungen machen!...“

Die Debatten in Saarbrücken und Dortmund sowie die Diskussion um eine Beteiligung bei der Bundestagswahl 1980 bilden den vorläufigen Schlußpunkt einer Entwicklung, die Mitte der siebziger Jahre mit der Gründung einzelner grüner Gruppen begann und heute das Bild einer recht unübersichtlichen Szenerie bietet. Im Sinne des Bremer Bürgerschaftsabgeordneten Peter Willers soll daher der Versuch gemacht werden, „noch einmal an die Quellen zurückzukehren", um einige, auch für die Splittergruppen typische Richtungen mit ihren Programmen zu charakterisieren.

Organisationen und Programme der Grünen

„Grüne Aktion Zukunft" — GAZ 1975 zog Herbert Gruhl eine „Schreckensbilanz unserer Politik" (so der Untertitel seines Buches), 1978 verließ er die CDU und gründete als fraktionsloser Abgeordneter die „Grüne Aktion Zukunft" (GAZ). Die Parteigründung Mitte Juli 1978 geschah gewissermaßen von oben her, nämlich mit nur neun Gesinnungsfreunden: „Außer einem Bundesvorstand war nichts vorhanden. Er verließ sich darauf, daß die Basis schon kommen werde" (Hans Günter Schumacher, Verhältnis des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz zu den Umweltparteien, in: Rudolf Brun (Hrsg.), Der grüne Protest, Frankfurt 1978, S. 72). Nicht nur dieses Vorgehen, sondern auch der Stil seines Programmes brachte ihm Kritik ein. So heißt es im „Grünen Manifest“ der GAZ: „Unser Ziel ist es, allen Menschen ein sinnerfülltes Leben zu ermöglichen. Die Erfüllung findet jeder einzelne vorwiegend in seinen geistig-seelischen, kulturellen und religiösen Erlebnissen sowie in den sozialen Bindungen seiner Familie, der Wohn-und Arbeitsgemeinschaft innerhalb seines Heimatlandes. Gegenseitiges Vertrauen und Helfen muß die ökonomische Rücksichtslosigkeit ablösen. Auch das Opfer kann den Wert unseres Daseins erhöhen."

Manchen Beobachtern erschienen Gruhls Wortschöpfungen reaktionär; das ist vielleicht ein Rückschluß daraus, daß rechtsextreme Kräfte und Parteien wie die NPD bereitwillig bei ihm abschrieben. Die Machtträume gewisser Kreise hatte Gruhl schon in seinem Bestseller reaktiviert, wenn er beispielsweise wie folgt zustimmend zitiert wird: „In dem . Raumschiff Erde'dürfe es , so gut wie keine Freiheit (geben), jede Ration, jeder Griff, jede Handlung ist genau vorgeschrieben. Jeder muß sich anpassen'. Dafür müsse eine . Weltregierung'geschaffen werden, die , mit allen Machtmitteln ausgestattet wäre'... Aber . diese Diktatur müßte unter Umständen härter sein, als die stalinistische es war “ (zitiert nach: Jan Peters, Rechtsextremisten als Umweltschützer, Berlin o. J.). Die „Nationalzeitung" am 28. Juli 1978 in einem Kommentar: „Nur Gruhl ist in der Lage, eine .seriöse'Umweltschutzpartei aufzubauen." (Jan Peters, a. a. O.)

In Rheinland-Pfalz erkannte die NPD die Gunst der Stunde, auf der grünen Welle mitzuschwimmen. Sie bildete dort eine regionale Grüne Liste NPD und nahm an den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz teil. Die „Jungen Nationaldemokraten" und die „NPD Rheinland-Pfalz — Grüne Liste“ erließen ein „Ökologisches Manifest“. Darin heißt es u. a.: „Es geht um die Frage der Zukunftssicherung für kommende Generationen, um den Fortbestand der Menschen und Völker sowie um ein men-sehenswertes Leben ... Der Schutz der Natur und Umwelt ist unerläßliche Vorbedingung für die Erhaltung des menschlichen Lebensraumes und die Volksgesundheit. Volks-und Lebensschutz müssen daher zu einem leitenden Gedanken der Politik erhoben werden... Das Okologieverständnis der NPD ist humanistisch und antimaterialistisch, wir wollen nicht kapitalistisches und marxistisches quantitatives Wachstumsdenken, nicht Zerstörung der Lebensgrundlagen durch rigorose Ausbeutung von Mensch und Natur ... Nationalisten treten ein für die Rettung des Planeten Erde.“

Das Manifest schließt mit der Forderung nach „Einführung des Volksbegehrens und des Volksentscheides“ sowie dem Aufruf und dem Versprechen: „Vorwärts mit der NPD für ein neues Ökologieverständnis — es lebe die ökologische Revolution! NPD — ökologisch zuverlässig" (nach: ökologisches Manifest der . Jungen Nationaldemokraten" und der NPD Rheinland-Pfalz — Grüne Liste, abgedruckt in: Jan Peters [Hrsg. ], Alternativen zum Atom-staat — Das bunte Bild der Grünen, Berlin 1979, S. 405— 409).

Nach Ansicht von Prof. Dr. Otthein Ramm-stedt lassen sich nur schwer Grenzen ziehen zwischen dieser . neuen'NPD und Teilen der ökologischen Bewegung: „Mühelos konnte die NPD in Rheinland-Pfalz Vertreter der GAZ — der Grünen Aktion Zukunft —, der AUD — der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher —, der Grünen Liste Umweltschutz Hessen mit Vertretern der Grünen Liste Rheinland-Pfalz zu Podiumsdiskussionen gewinnen. Also Vertreter der Organisationen, die beim Bundeskongreß der Grünen das Sagen hatten.'(Otthein Rammstedt, Rot plus Braun gleich Grün?, in: Jan Peters, Rechtsextremisten als Umweltschützer, a. a. O.) Über die Prinzipien und Ziele von Gruhls GAZ gibt das „Grüne Manifest“ Auskunft. „GrüneAktion Zukunft": Das„Grüne Manifest“ mit Erläuterungen (Ausschnitte) 1. Unsere Politik ist verantwortlich gegenüber Kindern, Enkeln und künftigen Generationen. Fürihr und unser überleben ist die Bewahrung der ökologischen Grundlagen alles Lebens — Luft, Wasser, Boden, Pflanzen-und Tierwelt — Voraussetzung.

Das Programm der GAZ eröffnet eine neue Dimension in der Politik, die Zeit— und dies in einem langfristigen, auf Generationen bezogenen Sinne. Die Vorsorge für die Zukunft ist das oberste Leitmotiv unserer Politik. Darum ist unser Programm umfassender als das aller anderen bestehenden Parteien. Für diese existiert die Zukunft zwar auch, aber als materielles Märchenland, das besonders vor jeder Wahl dargeboten wird. In Wahrheit wird den nächsten Generationen jede Überlebenschance genommen. 3. Es ist Irrtum, daß die jetzige materialistische Verschwendungswirtschaft noch das Glück und die Lebenserfüllung der Menschen fördere. Der Mensch wirdin diesem materialistischen Frondienst immer gehetzter und unfreier, je länger er dem Götzen dient, den man fälschlich „wirtschaftliches Wachstum“ nennt

Die heutige Ökonomie beruht auf dem Prinzip des ständigen „wirtschaftlichen Wachstums“. Schon dieser Begriff ist falsch, da in der industriellen Welt nichts „wächst“; dort findet vielmehr eine ständige Vernichtung von Grundstoffen statt, die nicht nachwachsen, ebenso eine ständig zunehmende Betonierung fruchtbaren Bodens, auf dem dann gerade nichts mehr wachsen kann. 7. Unser Ziel ist es, allen Menschen ein sinnerfülltes Leben zu ermöglichen. Die Erfüllung findet jeder einzelne vorwiegend in seinen geistig-seelischen, kulturellen und religiösen Erlebnissen sowie in den sozialen Bindungen seinerFamilie, der Wohn-undArbeitsgemeinschaft innerhalb seines Heimatlandes. Gegenseitiges Vertrauen und Helfen muß die ökonomische Rücksichtslosigkeit ablösen. Auch das Opfer kann den Wert unseres Daseins erhöhen. Wenn wir den heute herrschenden ökonomischen Theorien folgen, dann besteht der Sinn des Menschenlebens darin, jährlich eine immer größere Menge wertvoller Bodenschätze in wertlosen Abfall zu verwandeln. Der mit dem Bruttosozialprodukt gesetzte Maßstab bewertet nur materielle Leistungen, die negativen genauso wie die positiven. Indem diese absurde Bewertung zum Maßstab der Politik und der Parteien erhoben wurde, ist das ganze Volk in dessen Dienst gestellt. Parteien, die sich „christlich“ nennen, versuchen selbst liberale und kommunistische bei diesem Tanz um das Goldene Kalb zu überbieten. Alles das, was eigentlich den Menschen ausmacht, muß dabei auf der Strecke bleiben. Im Alltag herrscht das Geld und die nackte Rücksichtslosigkeit — alles Immaterielle ist auf den privaten Bereich zurückgedrängt, der immer kleiner und kleiner wird. 8. Alles muß einfacher werden: der Mensch, die Verwaltung, die Technik, der Verkehr. Nur dann bekommen wir wieder mehr Freiheit, weniger Konsumzwang und Leistungsterror, damit auch weniger Streß, Neurosen und andere Leiden.

Wenn sich das Wirtschaftspotential eines Landes in spätestens 20 Jahren verdoppeln soll, dann bedeutet das nicht nur Zwang zur doppelten Produktion, sondern auch Zwang zum doppelten Konsum, zu doppelter Leistung auf allen Gebieten, der Technik, des Verkehrs, des Erleidens von mehr Lärm, Abgasen und Giften. Dies alles und der Leistungsterror, der schon beim Kind in der Schule beginnt, führt zu Neurosen, Frustrationen und Krankheiten. Das bedeutet aber auch: mehr als doppelte Verwaltung, mehr Staat, mehr Bürokratie, mehr Gesetze, mehr Verbote. 12. Ein jeder Mensch hat Anspruch auf eine sinnvolle Tätigkeit Die derzeitige rationalisierte Massenproduktion verschwendet Energien und Rohstoffe und macht immer mehr Menschen überflüssig. Nur durch Dezentralisation undFörderung derhandwerklichen Berufe bekommen wir dauerhafte Arbeitsplätze, Lehrstellen und einen marktwirtschaftlichen Wettbewerb.

Wir sprechen wohlbedacht von einem „Anspruch auf eine sinnvolle Tätigkeit“, nicht von einem „Recht auf Arbeit“. Denn Arbeitsplätze für jeden und jederzeit kann nur eine Befehls-wirtschaft garantieren — und auch diese nur, wenn sie auf die Effektivität der verordneten Arbeit keine Rücksicht nimmt. Wir wollen jedem die Freiheit lassen, gar nicht, wenig oder viel zu arbeiten, wenn er seine Bedürfnisse in freier Entscheidung mit dem entsprechenden Einkommen in Übereinstimmung bringt. Nicht nur die organisierte und zugewiesene Arbeit hat ihren Wert, sondern auch die Eigenarbeit, die bei geringerem Verdienst ein größeres Maß von Befriedigung oder ein höheres Erfolgserlebnis in sich birgt. Diese Eigen-arbeiten sind wohl nicht zuletzt darum in Verruf gebracht worden, weil der Staat und auch die Verbände befürchten, daß davon nicht so viel an Steuern und Beiträgen abgezapft werden kann. 14. In unserem Energie-und Wirtschaftskonzept ist die Atomenergie überflüssig. Die Nutzung der natürlichen regenerierbaren Energiequellen wie Sonne, Wind, Wasser (auch Gezeiten) sowie die Wärme-Kraft-Koppelung sindzu fördern — ebenso dersparsame Einsatz von Energie durch entsprechende Preisgestaltung. 15. Neue technische Projekte sind vor ihrem Beginn daraufhin zu überprüfen, ob der Aufwandan Rohstoffen und Energie sowie die unvermeidlichen Umweltschäden noch in einem sinnvollen Verhältnis zum Nutzen für den Menschen stehen. Die Werbung für unnötige oder gesundheitsschädliche Artikel ist einzustellen. Wahrheitsgemäße Informationen über Wirkung und Inhalt zu verkaufender Waren sind vorzuschreiben.

Eine ökologische Buchhaltung könnte schon eine Entscheidungshilfe bei der Bewertung neuer Produktionen sein. Auf der Negativ-seite sind nicht nur die verbrauchten Bodenschätze und die Umweltschäden zu verbuchen, sondern auch die Kosten für Werbung, Verpackung, Transport, Versicherung Verwaltung, und Kredit. Darum ist auch die Erwirtschaftung eines hohen Bruttosozialprodukts — etwa um der Vollbeschäftigung willen—, „wenn nichts Sinnvolleres produziert wird, schlechter als ein geringeres Sozialprodukt bei mehr Freizeit, aber höherer Lebensqualität". Heute wird der Käufer durch gehirnwäscheartige Werbung mit staatlicher Duldung, ja steuerrechlicher Förderung dahin gehend manipuliert, auch unnütze, gesundheitsschädliche und umweltzerstörende Produkte zu kaufen. Wir fordern die Aufklärung der Bevölkerung durch eine Verbraucherorganisation, welche von einem Gremium von staatspartei-und wirtschaftsunabhängigen Wissenschaftlern beraten wird. Wir fordern die staatliche Förderung der Forschung für Produkte, die den Prinzipien der Nützlichkeit, Notwendigkeit, Gesundheitsförderung und Umwelt-freundlichkeit entsprechen, dagegen die Steigerung der steuerlichen Belastung für Luxusartikel. Grundsätzlich darf nicht mehr der erhoffte finanzielle Gewinn allein darüber entscheiden, ob etwas produziert wird oder nicht. 19. Der Wasservorrat unterliegt im Bereich der Bundesrepublik einer besorgniserregenden Verschlechterung. Eine vorsorgliche Wasserwirtschaft erfordert den umgehenden Schutz des Grundwassers und der Oberflächengewässer vor Verunreinigungen und Entnahmen, die über der örtlichen Ergiebigkeit liegen. 20. Wirfordern die Beendigung der Stadt und Landfressenden Straßen-Neubauten, die nicht mehr nötig sind, sondern die verkehrstechnische Verbesserung bestehender Straßen, den Bau von RadundFußwegen und damit derSicherheit von Leib und Leben. Nötig ist der Ausbau des energiesparenden öffentlichen Verkehrsnetzes, besonders der Bundesbahn. „Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher“ — AUD „Die AUD war die älteste der grünen, der Lebensschutzparteien. Im Jahre 1965 gegründet, sprach sie nicht nur jene Forderungen aus, die dann später der neuen Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland zugrunde lagen. Sie verkündete nach eingehender Diskussion mit Vorkämpfern der Bürgerinitiativen und der Lebensschutzbünde 1972 das . Manifest des Lebensschutzes'; von ihr ging die Anregung zur Bildung der . Demokratischen Lebensschutzbewegung’ und zum Troisdorfer Umweltschutzkongreß 1976 aus, dessen Koordinierungsausschuß später eine sehr wichtige Rolle spielte: Die breite Basis von links bis rechts, auf der sich die grüne Bewegung heute aufbaut, verdankt jenen ersten Entscheidungen ihre Entstehung. Das Programm der AUD gliederte sich in vier Teile: Reale Demokratie, humaner . Sozialismus der Zukunft', . Neutralität und Frieden mit einem entschiedenen Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit und eben jenes . Manifest des Lebensschutzes'; es mag als . linkes Programm'von den Politologen eingestuft wer-B den, aber schon auf ihrem Parteitag 1971 hatte die AUD das große Abzeichen getragen . Weder Links, noch Rechts, sondern Vorne'. Sie empfand sich als politische Schrittmacher-gruppe auf vielen Gebieten."

So stellte die Zeitung „Die GRÜNEN" den Werdegang einer jener nach verstärktem Einfluß suchenden Gruppierungen innerhalb der „Lebensschutzbewegung" vor, die eine neue Heimstatt bei den Grünen gefunden haben. (Die Grünen, Der Weg der AUD zu den Grünen, 10. Mai 1980, 19. Ausg.).

Zur Bundestagswahl 1976 verkündete sie innerhalb ihres Wahlprogramms u. a. folgende Thesen: „Schutz des Lebens — Wir treten ein für ein radikales Atomschutzgesetz, das die wissenschaftliche, politische und industrielle Urheberschaft von atomaren Katastrophen auf die gleiche Ebene stellt wie Mord aus niedrigen Beweggründen.

Jede Werbung, die den Menschen zu verantwortungslosem Wegwerf-Konsum anreizt oder zum Verbrauch von Genußgiften, insbesondere von Alkohol und Nikotin, zu verführen sucht, ist zu verbieten.

Wir treten ein für die Schaffung eines Bürgerinitiativen-Rechts, das den Bürgerinitiativen und Lebensschutzorganisationen Antrags-möglichkeiten vor den zuständigen Parlamenten und das Recht zur gerichtlichen Vertretung ihrer Anlagen einschließlich der Popularklage einräumt.

Sicherung des Friedens — Wir fordern die Schaffung eines Ministeriums für Frieden, das die Strategie friedlichen der Sicherung Deutschlands anstelle einer nicht möglichen militärischen Sicherung der heute bestehenden deutschen Staaten zu entwickeln hat. Wir verlangen das Verbot des Waffenhandels und der Ausfuhr von Atomkraftwerken.

Die Wirtschaft muß dem Menschen dienen — Wir setzen uns ein für die Erzeugung biologisch einwandfreier Nahrungsmittel. Um ihretwillen fördern wir die Rückkehr der Bauern auf ihre Höfe.

Volksherrschaft statt der Herrschaft des Geldes— Wir fordern die Aufstellung aller Wahl-kandidaten durch die Bevölkerung selbst.

Volkskandidaten müssen an die Stelle von Parteikandidaten treten.

Für echte Gleichberechtigung der Frau — Die Doppelbelastung der Frau als Berufstätige einerseits und als Hausfrau und Mutter andererseits muß überwunden werden. Der Mann muß für den Zustand und die Führung des Haushalts genauso verantwortlich gemacht werden wie die Hausfrau. Die echte Emanzipation der Frau muß ergänzt werden durch die notwendige Emanzipation des Mannes. Erst ein menschenwürdiges Berufsleben für beide wird eine echte Partnerschaft beider ermöglichen.

Mit diesen Zielen, auf die wir uns verpflichten, sind wir die demokratische Alternative zu den drei Bonner Parteien. Uns geht es um die ko-pernikanische Wende, die angesichts der Grenzen des Wachstums lebenswichtig geworden ist. Wir wollen die Erde vor der Verwüstung und die Menschheit vor der Selbst-zerstörung bewahren." (Quelle: Was die AUD will, Kurzfassung des Wahlprogramms der AUD, AUD-Landesverband Nordrhein-Westfalen). Vorsitzender der AUD bis zu ihrer Auflösung im April/Mai 1980 war August Haußleiter, von Saarbrücken bis Dortmund auch einer der Vorsitzenden der Partei „Die Grünen". Die AUD beschrieb Haußleiters Lebenslauf so: „Haußleiter ist von Beruf Journalist und Schriftsteller; er bewahrte sich auch während des Dritten Reiches seine Unabhängigkeit, verzichtete aber auch nach dem Kriege darauf, sich als Widerstandskämpfer darzustellen, obwohl Auftreten für Kritik freie mutiges 1935 durch die ganze Weltpresse ging. Unmittelbar nach 1945 gründete Haußleiter eine unabhängige Arbeiter-, Bauern-und Bürgervereinigung. Als sich diese der CSU anschloß, wurde er Sprecher des linken, gesamtdeutschen CSU-Flügels und deren stellvertretender Vorsitzender. Er brach mit ihr 1949, als die allerersten Remilitarisierungsgespräche begannen und als der Prozeß der Restauration angesichts der Macht des Großkapitals, der Kirche und der Geheimdienste der Besatzungsmächte nicht mehr aufzuhalten war.“ (Programm der AUD, S. 46 f.: Einiges über die AUD.) Haußleiter brauchte sich in letzter Zeit nicht über mangelndes Interesse der bundes-15 republikanischen Presse an seiner Person beklagen — aber nicht alle Medien gingen so scharf und unverblümt mit ihm um wie der . Vorwärts', der ihn als eine „mehr braun als grün schillernde Persönlichkeit" befand, die „ihren Weg aus dem nationalistischen Dunstkreis zur . alternativen'Partei" gemacht hätte (Jens Fischer, Vom Braunen zum Grünen, in: Vorwärts, 17. 4. 1980; vgl. ferner Herbert Riehl-Heyse, August Haußleiter — Viele Fahnen getragen, in: Süddeutsche Zeitung, 3. 4. 1980; Michael Schwelien, Die fünfte Partei des 75jähri-gen — Eine Welle, die jeden umschmeißt, in: Stuttgarter Zeitung, 15. 4. 1980; Gespräch mit August Haußleiter: , Angst vor der Wiederkehr des Dritten Reiches', in: Die Neue, 11. 4. 1980).

Aktion Dritter Weg Zur AUD und der „Grünen Aktion Zukunft" gesellte sich bald die „Aktion Dritter Weg", auch „Achberger Kreis" genannt. Ihr maßgeblicher Ideologe, Wilfried Heidt, „bemüht sich um einen dritten Weg, zwischen Kapitalismus und Kommunismus, wie die Gebildetenbewegung seit der Jahrhundertwende" (Ernst Hop-litschek: Ökologie, Wachstum, Sozialismus, in: „Perspektiven“, a. a. O., S. 49). Der Entwurf für ein „Grünes Grundlagenprogramm" des Achberger Kreises, das sich, nach grüner Meinung, „im wesentlichen als eine Sammlung von esoterischen Grundsätzen darstellt" (vgl. Grüne Information, 11/80, S. 5), enthält in der Einleitung die Forderung, sich „mit größerem Ernst, größerer Nüchternheit und verstärktem Engagement ... zu beteiligen am gemeinsamen Bedenken und Entscheiden unserer gemeinsamen Zukunft".

Das Programm will die „Grundrichtung der grünen Alternative" aufzeigen und entwickelt dazu sechs Grundzüge:

I. Crundzüge der wirtschaftspolitischen Alternative — Solidarität statt Konkurrenz — Lebens-schutz statt Lebensvernichtung., Private Verfügungsmacht im Produktionsbereich und auf Profiterzielung gerichtetes ökonomisches Handeln stehen dieser solidarischen Alternative ebenso im Weg wie staats-bürokratischer Planungsdirigismus...

Zur Erfüllung der Aufgaben einer „Solidarischen Wirtschaft" kommen nur drei grundlegende Gesichtspunkte in Betracht:

1. Die Naturgrundlagen müssen gesund erhalten werden ...

2. Die Menschen müssen ihre Fähigkeiten und Initiativen in der Arbeit frei entfalten können und als Betroffene selbst die Entscheidungen darüber treffen, was, wie und wo produziert wird.

3. Die Tätigen müssen gemeinschaftlich die Verantwortung für ihre Arbeitsstätten haben und die zur Leitung der Unternehmen Befähigten für die Wahrnehmung ihrer Funktionen demokratisch bevollmächtigen.

II. Grundzüge der geld-und steuerpolitischen Alternative — Demokratisierung statt Monopolisierung des Geldes.

... Der Grundgedanke einer alternativen Geldordnung, wie sie bei den Grünen vertreten wird, ist, daß sich die Geldschöpfung an der Wertschöpfung zu orientieren hat.

III. Grundzüge der sozialpolitischen Alternative — Sicherheit der Existenz statt Almosen und Barmherzigkeit...

Das Einkommen muß als elementares Menschenrecht angesehen werden. Von der heutigen Gesamtproduktion wird nur ein Drittel real für die Deckung unseres Bedarfs gebraucht. Zwei Drittel aller eingesetzten Leistungen, Rohstoffe und Energien sind sinnloser Aufwand — Werbung, Vergeudung, programmierter Verschleiß und Belastungen durch Zins und Zinseszins ... Es erscheint nicht mehr utopisch, wenn wir als Leitidee ... fordern: Ein Grundeinkommen, das jedem Menschen in jeder Lebenslage — unabhängig von seiner Leistungsfähigkeit — ausreichende Nahrung, Kleidung, Behausung, Bildung und Fürsorge bei Alter und Krankheit garantiert.

IV. Crundzüge der kulturpolitischen Alternative — Freiheit statt Fremdbestimmung ... Wirtschaft und Staat sollen sich so entwickeln, wie es sich aus den menschlichen Impulsen, aus der moralischen Phantasie und individuellen Kreativität ergibt — nicht umgekehrt an den „Erfordernissen" von Wirtschaft und Staat.

V. Grundzüge der staatlich-politischen Alternative — Reduzierung des Staates statt Verstaatlichung der Gesellschaft.

In der Gesamttendenz wird es sich darum handeln müssen, alles Staatliche soweit wie möglichabzubauen zugunsten des selbstverantwortlichen Handelns der jeweiligen Initiativen in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht VI. Grundzüge der parlamentarischen Alternative. — Basisdemokratie statt Formaldemokratie.

Ein Ableger des Achberger Kreises ist die FIU — Freie Internationale Universität —, zu deren prominenten Vertretern der Düsseldorfer Kunstprofessor Joseph Beuys gehört. In einem Aufruf zur Alternative", deren Verfasser Joseph Beuys, Wilfried Heidt und Peter Schata waren, wurde unter der Rubrik „Werkzeuge des Wandels" (Was können wir für die Verwirklichung der Alternative jetzt tun?) die „Free International University" vorgestellt (vgl. Frankfurter Rundschau, Nr. 288, v. 23. Dez. 1978):

„Der Prozeß des Umschmelzens verhärteter Begrifflichkeiten und Theorieansätze ist in vollem Gange. Er muß zum Großen Dialog, zur interfraktionellen, interdisziplinären und internationalen Kommunikation zwischen den alternativen Lösungsmodellen führen. Die Free International University (Freie Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung) ist das ständige Angebot, diese Kommunikation zu organisieren und zu entwickeln. . Gegen die geballten Interessen der Mächtigen hat nur eine mitreißende Idee eine Chance, die wenigstens so stark ist wie die humanistische in den letzten und die christliche in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung' (Gruhl). Um von den verschiedenen Ansätzen, die in der neuen sozialen Bewegung leben, zu dieser . mitreißenden Idee'durchzustoßen, brauchen wir den ständigen und umfassenden Dialog. Freie Internationale Universität als ein organisatorischer Ort dieses Forschens, Arbeitens und Kommunizierens meint also alle die Gruppen und Keimzellen in unserer Gesellschaft, zu denen Menschen sich zusammengeschlossen haben, um gemeinsam die Fragen der sozialen Zukunft zu durchdenken.

Je mehr Menschen sich mit diesen Arbeiten verbinden, desto kraftvoller und durchgreifender werden die alternativen Ideen zur Geltung kommen. Darum sei aufgerufen:

Gründet Arbeitsplätze der Ireien Internationalen Universität, der Universität des Volkes."

Wahlkampf — Strategie und Taktik

Welche Möglichkeiten die Grünen sehen, um Wähler bei der Bundestagswahl zu gewinnen, haben Vertreter der Landesgeschäftsstellen am 14. Juni in Frankfurt — also eine Woche vor Dortmund — diskutiert. Georg Otto, der 2 Z. in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen arbeitet, hat die „Gedanken zur Führung der Wahlauseinandersetzung 1980" zusammengefaßt und in Dortmund vorgelegt. Veröffentlicht wurden die Argumente in der Frankfurter Rundschau (2. Juli 1980, Nr. 150, S. 14). Wir zitieren Auszüge:

„Unter der Voraussetzung, daß Dortmund die Einheit der Grünen stabilisiert, wird eine Wahlauseinandersetzung unter folgenden Gesichtspunkten als sinnvoll angesehen:

1. Der feste Wählerstamm der Grünen ist bundesweit mit ca. 3 bis 4 Prozent anzusetzen. Sie rekrutieren sich aus dem Protestwählerreservoir und aus den traditionell Grünen (Umweltschutz — Naturschutzverbände).

2. Eine wesentlich größere Gruppe von Sympathisanten, die unsere allgemeine politische Richtung zwar für gut befinden, glaubt noch, diese Ziele durch Wahl der Altparteien besser durchsetzen zu können. 3. Die Mehrheit der Wähler hat den Ernst der Lage noch nicht erkannt und will im Prinzip keine Änderung der Verhältnisse, die ihr keineswegs als besonders schlimm erscheinen. Dennoch gibt es auch in dieser breiten Gruppierung Unzufriedenheit , mit denen da oben', die aber nur in Stimmen für grün umgelenkt werden kann, wenn a) eine besondere Betroffenheit vorliegt, etwa Gefährdung der eigenen Lebensqualität durch Straßenbau, Industrieanlagen u. ä. und b) wenn eine allgemeine Unzufriedenheit zum Beispiel über die ständig steigenden Preise für Mobilisierungen genutzt werden kann.

I. Überlegungen für die grüne Wahlauseinandersetzung 1. Unsere Stammwählerschaft (Gruppe zu 1.) kann durch eine klar auf Gruppe zu 2. zielende Strategie erweitert werden: In Richtung auf 5 Prozent. Diesen Gruppen ist klarzumachen, daß die Grünen eben keine Luxuspartei sind, zwar gut als Mahner, aber überflüssig zum Durchsetzen grüner Ziele sind. Hier ist deutlich zu machen, daß auf die etablierten Parteien doch kein Verlaß ist, besonders wenn nach einem evtl. Abebben der grünen Wahlbewegung sich herausstellen würde, daß die Umweltbekenntnisse der Parlamentsparteien überwiegend Lippenbekenntnisse sind, um den Grünen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Grünen sind als die absolut notwendige politische Kraft darzustellen, ohne die alles beim alten bleibt.

II. Sind solche inhaltlichen Ansatzpunkte 1980 vorhanden, so daß eine allgemeinere, über die Zielgruppe zu 2 hinausgehende Mobilisierung zu erreichen ist?

In unseren Gesprächen schälten sich mehrere solcher allgemein bewußter gewordenen politischen Inhalte heraus: 1. Die . Alternative'Strauß — Schmidt.

2. Droht Krieg — läßt sich der Frieden sichern? 3. Wird es künftig, als Folge weiterer Rationa lisierung, noch mehr Arbeitslose geben?

4. Wird wieder alles teurer, ist die Sicherheit der Ersparnisse erneut bedroht?

IV. Mobilisierung besonderer Zielgruppen Hier kommen vor allem in Frage die Gruppen der Ökologiebewegung (Naturschutzbewegung) insgesamt, der Anti-AKW-Bewegung und Alternativbewegung im besonderen. Daß bei den letzten beiden Gruppen auch Vorbehalte gegen die Grünen bestehen, ist eigentlich nur ein Grund, sie zu überwinden zu versuchen. Eine weitere wichtige Zielgruppe sind die Christen, dritte Weltgruppen und pazifistische Gruppen.

Andere Zielgruppen könnten der Mittelstand, Handwerker, Landwirte sein. Auch die Probleme der Behinderten und psychisch Erkrankten könnten von uns zielgruppenmäßig angesprochen werden. Dies sollen nur Beispiele möglicher Zielgruppenarbeit (nicht nur für die Wahl) sein.

Bürgerinitiativen und Grüne

„Wie immer interne Querelen ausgehen: Die Protestler können auch in den nächsten Jahren mit Sicherheit aufbauen auf einer zunächst unpolitischen Sammlungsbewegung, die lediglich der Zorn über Umweltzerstörungen durch Autobahntrassen und Industrieansiedlungen einte: dem 1972 gegründeten Bundesverband der Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), einem eingetragenen Verein mit Sitz in Karlsruhe ... Anders als die herkömmlichen Mini-Protestparteien verfügten die Grünen mit dem BBU über das gesellschaftliche Vorfeld von rund tausend Bürgerinitiativen, den Umweltschützern ähnlich zugetan wie die Gewerkschaften der SPD.“ (Der Spiegel, Nr. 13 v. 24. 3. 1980, S. 23) Doch diese eher positive Einschätzung des Hamburger Nachrichtenmagazins über das Verhältnis der Grünen zu den Bürgerinitiativen (und umgekehrt) muß relativiert werden.

Der Dachverband der rund 1000 Einzelinitiativen mit weit über 300 000 Mitgliedern sieht in der Partei „Die Grünen“ noch keine Sammlungsbewegung aller Bürgerinitiativen, die es mit einer klaren Wahlempfehlung zu unterstützen gilt. Auf einer Mitgliederversammlung im Dezember 1979 in Mainz machte Jo Leinen, Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes, die Position des Bundesverbandes im Bundestagswahlkampf klar: „Wir werden einen Forderungskatalog und einen Vergleich der Parteiprogramme erstellen. Danach bleibt es jedem selbst überlassen, ob und wen er wählen will.“ (Vgl. „die Tageszeitung", taz-Journal No. 1 Ökologie, S. 166: BBU unterstreicht Überparteilichkeit, 2. 12. 1979.)

Sein Vorstandskollege Hans Günter Schumacher, wie Leinen auch SPD-Mitglied, zieht einen Trennungsstrich zu den Grünen, weil „eine starke, unabhängige und zugleich überparteiliche Bürgerinitiativbewegung im vor-politischen und außerparlamentarischen Raum“ erhalten bleiben müsse: „Hier finden auch diejenigen Bürger ihre Bestätigungsmöglichkeiten, die ihre parteipolitischen Bindungen nicht aufgeben möchten. Und dies ist ein ganz beträchtliches Potential, das man nicht enttäuschen sollte. Gerade dieser Faktor hat ja euch unübersehbar dazu geführt, daß große

Teile der Basis von SPD und F. D. P., die Jugendorganisationen dieser Parteien, manche Gliederung des Deutschen Gewerkschaftsbundes und auch beachtlich viele CDU/CSU-Mitglie-der mit der Umweltschutzpolitik ihrer Organisationen nicht mehr einverstanden sind, insbesondere aber die Energie-und Atompolitik vehement ablehnen. Die Bürgerinitiativen wären schlecht beraten, wollten sie wegen möglicher kurzfristiger Erfolge diese parteipolitisch auch engagierten Mitglieder vor den Kopf stoßen und aufgeben." (Hans Günter Schumacher, Verhältnis des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz zu den Umweltparteien, in: Rudolf Brun (Hrsg.), Der grüne Protest, Herausforderung durch die Umweltparteien, Frankfurt 1978)

Auch gewählte Grüne, die wie die Bremer Bürgerschaftsabgeordnete Delphine Brox jahrelang in Bürgerinitiativen aktiv gewesen sind, setzen lieber auf ein ergänzendes Nebeneinander von Parteien und Basisgruppen: „Ich sehe die Bürgerinitiativen als eine überparteiliche Sache an. Dort diskutieren Leute aus SPD, CDU, FDP und den Grünen über Sachfragen, und sie lernen dort Bündnispolitik ... (Es wäre) tödlich, wenn die Grünen die Arbeit der Bürgerinitiativen ersticken würden." (Graswurzelrevolution, Nr. 46, Feb. /März 1980, S. 6.) Die „Gewaltfreie Aktion Freiburg" (GAF) befürchtet bereits in der Existenz der Grünen Partei eine „Schwächung der Basisbewegung": „Damit entfällt ein wesentlicher Faktor zur Mobilisierung neuer BI-Mitglieder, denn wozu soll man selbst aktiv werden, wenn man doch nur das Kreuz an der richtigen Stelle machen braucht. Auch werden Menschen, die gerade erst angefangen haben, ihre Interessen selbst in die Hand zu nehmen und Erscheinungen unseres Systems zu hinterfragen, dadurch wieder in den Schlaf gewiegt." (Graswurzelrevolution, Nr. 45, Dez. 1979/Jan. 1980, S. 6.)

Umgekehrt bezogen auch „Die Grünen" offiziell als Bundespartei Stellung gegenüber den Bürgerinitiativen. In dem Papier „DIE GRÜNEN zur Bundestagswahl 1980“ heißt es: „Im ganzen Land sind in den letzten zehn Jahren Bürger-und Basisinitiativen entstanden, die sich gegen Mißstände, Ungerechtigkeiten und verantwortungslose Fehlplanungen der etablierten Parteien zur Wehr setzten. Sie haben begonnen, den aufrechten Gang der Betroffenen gegen Duckmäusertum und Anpassung zu setzen, über den breiten und aktiven Protest gegen die Atomenergie können die etablierten Parteien bereits nicht mehr völlig hin-weggehen. Die grünen und bunten Listen, die seit Ende 1977 zunächst zu Kommunal-und dann auch zu Landeswahlen angetreten sind, sind ein Teil dieser neuen demokratischen und sozialen Bewegung. Ihre Mitglieder haben begonnen, ihre Forderungen und Ideen aus den Bürger-und Basisinitiativen auch in die Parlamente zu tragen und Alternativen sichtbarzu machen. Dies ist eines der Anliegen der GRÜNEN bei ihrer Kandidatur zum Bundestag ... Die Grüne Partei versteht sich als parlamentarischer Arm der grün/alternativen Bewegung; sie hat die hauptsächlichen Forderungen und Ziele dieser Bewegung in ihrem Programm zusammengefaßt

Abgeordneten Neben grünen und bunten in mehreren Kommunalparlamenten arbeiten Abgeordnete der GRÜNEN mittlerweile auch in den Landesparlamenten von Bremen und Baden-Württemberg. Erfolge grüner Politik in den Parlamenten sind vor allem in dem Maße möglich, wie sie sich auf Aktivitäten in der außerparlamentarischen Öffentlichkeit stützen können. DIE GRÜNEN legen deswegen einen ihrer Schwerpunkte auf die Unterstützung und die Teilnahme an der vielgestaltigen außerparlamentarischen Bewegung: der Natur-und Umweltschutzbewegung, der Frauen-bewegung, der Anti-Atom-Bewegung, der Bewegung sozialen Minderheiten, Friedensbewegung, der christlicher Initiativen, der Anti-Repressionsbewegung und den auf ein besseres Leben verweisenden Tendenzen der Arbeiter-und Gewerkschaftsbewegung. Darum bemühen DIE GRÜNEN, auch -sich ihr par lamentarisches Auftreten in die Einflußnahme dieser Bewegungen und in die Einflußnahme stel von Bürger-und Basisbewegungen zu -len."

Wiederholt zum Thema „Grüne und/oder Bürgerinitiativen" hat sich Roland Vogt, früher einer der Vorsitzenden des „Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz" (BBU), geäußert: „DIE GRÜNEN'hätten ohne die Vorarbeit ökologischer Bürgerinitiativen nicht zu einer Wahlbewegung werden können, wie sie nun seit 1978 die Parlamentsparteien zunehmend irritiert ... Nach wie vor gilt, daß die außerparlamentarische Arbeit das Standbein, die parlamentarische Arbeit das Spielbein der Ökologiebewegung in Deutschland ist. Im Laufe der nächsten Jahre könnte sich zwischen den . GRÜNEN'und dem Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), dem wichtigsten Zusammenschluß von ökologischen Initiativgruppen, vielleicht eine ähnliche Beziehung entwickeln, wie sie zwischen SPD und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) besteht. DIE GRÜNEN und der BBU haben weitgehend identische Zielsetzungen. Sie bekämpfen beide das exponentielle, industrielle Wirtschaftswachstum, sind kompromißlos für den Stopp des Atomprogramms, sind skeptisch gegenüber großtechnologischen Anlagen und befürworten das Wirtschaften in kleinen, überschaubaren Einheiten." (Roland Vogt, Der BBU und die Grünen— fährt „Man zweigleisig", in: anders leben — Das Grüne Monatsmagazin, Nr. 0 12/79, S. 20).

Oberflächlich betrachtet liegt der Unterschied zwischen „GRÜNEN" und Bürgerinitiativen (BBU) darin, daß die einen den parlamentarischen, die anderen aber den außerparlamentarischen Weg gehen. Bei genauerem Hinsehen geht es jedoch um ein unterschiedliches Institutionenverständnis bei den beiden Zweigen der bundesdeutschen Ökologiebewegung.

Bürgerinitiativen sind u. a. auch deshalb entstanden, weil die „alten“ Organisationen (Parteien, Verbände etc.) die katastrophalen Belastungen und Gefährdungen der industriellen Wachstumsgesellschaft nicht erkannt haben. Nun argwöhnen einige Bürgerinitiativen, die grüne Wahlbewegung würde „der Bewegung" vorschnell den kulturrevolutionären Schwung nehmen, indem sie sich selbst und andere wieder an die „alten“ Institutionen bindet. Demgegenüber argumentieren DIE GRÜNEN, mit der Wahlbeteiligung wollten sie in erster Linie einen Demonstrationseffekt erzielen (ca. eine Million Wähler bei den Europawahlen) und den „alten“ Institutionen, was die gemeinsamen ökologischen Forderungen angeht, auf die Sprünge helfen. Eine Politik des ökologischen Vorrangs könne nur durchgesetzt werden, wenn es „grüne" Parlamentarier gebe, die für das Umgießen des von den Bürgerinitiativen geweckten kritisch-ökologischen Bewußtseins in Gesetze sorgten.

Wie so oft in Deutschland wird aus diesem feinen Meinungsunterschied von einigen „Ideologen" der „Bewegung" ein Dogma gemacht, werden Unvereinbarkeiten festgestellt und Sanktionen gegen solche verhängt, die das jeweils „reine" Prinzip verlassen. Dies wird sich aber auf lange Sicht abschleifen. Schon jetzt zeichnet sich eine Annäherung zwischen der parlamentarischen und der rein außerparlamentarischen Fraktion ab. Es wird interessant sein zu beobachten, inwieweit bei den Bundestagswahlen Bürgerinitiativen aus der Reserve gehen und offen DIE GRÜNEN unterstützen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Rolf Meyer, Dr. rer. pol., Dipl. -Volkswirt, geb. 1940; Studium der Volkswirtschaft in Hamburg und Southampton; bis 1973 Dokumentationsjournalist im SPIEGEL-Verlag, anschließend Mitarbeiter am Forschungsprojekt „Sozio-ökonomische Konsequenzen der Entsorgungsprobleme einer Wirtschaftsregion"; Dissertation über die Sonderabfall-Entsorgungswirtschaft der Hamburger Wirtschaftsregion; beruflich tätig auf dem Entsorgungssektor; Mitglied des Rates einer niedersächsischen Kleinstadt und einer Samtgemeinde. Günter Handlögten, geb. 1943; von 1965 bis 1979 bei verschiedenen Tageszeitungen und dem Hamburger Magazin STERN als Redakteur tätig; seither freier Journalist, der sich vor allem sozial-und gesellschaftspolitischen Themen widmet.