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Strukturberichterstattung aus gewerkschaftlicher Sicht | APuZ 24/1980 | bpb.de

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APuZ 24/1980 Strukturpolitik — Zwischen Markt und Lenkung Strukturberichterstattung aus gewerkschaftlicher Sicht Frauenerwerbslosigkeit — nur ein Qualifikationsproblem? Zusammenhänge zwischen psychosozialen Belastungen der Erwerbslosigkeit und Weiterbildungsbarrieren

Strukturberichterstattung aus gewerkschaftlicher Sicht

Dieter Hockel

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die wirtschaftliche Entwicklung der 80er Jahre wird voraussichtlich mit hohen Risiken für die Arbeitnehmer belastet sein: Relativ niedrige Wachstumsraten und hohe Produktivitätssteigerungen, ungesicherte Energie-und Rohstoffversorgung und wachsende außenwirtschaftliche Verflechtung können zu steigender Arbeitslosigkeit und abnehmenden Steigerungen der Realeinkommen führen. Diese Entwicklungen, die sich bereits in der zweiten Hälfte der 70er Jahre ankündigten, haben die Gewerkschaften veranlaßt, zu fordern, daß einer beschäftigungsorientierten Strukturpolitik Vorrang eingeräumt wird. Dieser Strukturpolitik soll mit Hilfe einer umfassenden Strukturberichterstattung eine bessere Basis gegeben werden. Die Strukturberichterstattung soll sich nach gewerkschaftlicher Auffassung vor allem der zutreffenden Beschreibung, Erklärung und Prognose struktureller Entwicklungen widmen. Sie soll helfen, Strukturprobleme rechtzeitig zu erkennen und sie sollte den Wirtschaftspolitikern zuverlässige Informationen für die Bewältigung dieser Probleme liefern. Die von der Bundesregierung beauftragten Wirtschaftsforschungsinstitute haben Vor-und Zwischenberichte zur Strukturberichterstattung vorgelegt, die in Umrissen erkennen lassen, ob die Strukturberichterstattung den Forderungen der Gewerkschaften genügt bzw. in Zukunft genügen könnte. Hauptkritikpunkte sind — die noch mangelnde Berücksichtigung der sozio-ökonomischen Umverteilungsprozesse im Strukturwandel, — die unzureichende theoretische und empirische Kapazität, — die Strukturprobleme zu erkennen, — die politische Unausgewogenheit einiger Ansätze, die auf der Basis vorläufiger Analysen weitreichende strukturpolitische Empfehlungen formulieren. Die Institute sollten sich in erster Linie der Aufgabe stellen, strukturelle Entwicklungslinien theoretisch und empirisch herauszuarbeiten, um wirtschaftspolitische Entscheidungsprobleme zu identifizieren. Die theoretischen Ansätze, die zur Erklärung des Strukturwandels herangezogen werden, überzeugen noch nicht. Die mit der Strukturberichterstattung befaßten Wissenschaftler sollten sich das Ziel setzen, die Theorienvielfalt durch empirische Tests auf die vorläufig am besten bewährten Theorien zu reduzieren und zugleich Grenzen und Möglichkeiten bei der Verwendung dieser Theorien in der Politikberatung aufzuzeigen. Nach den bisherigen Erfahrungen scheint es besonders wichtig, die Verwendung der Ergebnisse der Strukturberichterstattung bei der wirtschaftspolitischen Beratung der strukturpolitischen Entscheidungsträger stärker in den Vordergrund zu rücken. Es kann nicht Aufgabe der Institute sein, eigenständige strukturpolitische Vorstellungen zu entwerfen, die sich zu weit von den in der Bundesrepublik gegebenen gesetzlichen und politischen Vorgaben für die Strukturpolitik entfernen. Die Analyse der Wirkungen der Strukturpolitik, die zum Inhalt der Strukturberichterstattung gehört, sollte von den gesamtwirtschaftlichen, regionalen und sektoralen Zielen ausgehen, die mit diesen Maßnahmen erreicht werden sollen. Nicht notwendig ist hingegen eine abstrakte Prüfung der Vereinbarkeit strukturpolitischer Maßnahmen mit dem marktwirtschaftlichen Prinzip dezentraler Steuerung in rein modelltheoretischen Kategorien. Die Wirtschaftspolitik ist aufgerufen, die strukturpolitische Rolle der Strukturberichterstattung eindeutig zu bestimmen. Sie sollte rechtzeitig einer sachlich und politisch ausufernden Untersuchungs-und Empfehlungspraxis der Institute Einhalt gebieten.

I. Aufgaben der Wirtschaftspolitik in den achtziger Jahren

Die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland beginnt die achtziger Jahre mit Problemen, deren Lösung nur mit großen Anstrengungen zu erreichen sein wird: Nach wie vor besteht hohe Arbeitslosigkeit, die im Jahres-durchschnitt seit 1976 um 1 Million lag und die unter Status-quo-Bedingungen voraussichtlich zumindest bis 1985 auf diesem Niveau verharren wird. Eine weitere Steigerung ist jedoch aufgrund der technischen Entwicklung und der außenwirtschaftlichen Risiken nicht ausgeschlossen.

Der technische und organisatorische Wandel, der sich in Erfindungen, Innovationen und Investitionen sowie in neuen Arbeits-und Unternehmensorganisationen niederschlägt, ist zur fast alleinigen Quelle des wirtschaftlichen Wachstums durch Produktivitätsfortschritt geworden. Die Güter des primären und sekundären Sektors (vor allem Landwirtschaft und verarbeitendes Gewerbe) sowie die Dienstleistungen in einzelnen Bereichen des tertiären Sektors können mit immer weniger Menschen produziert bzw. erbracht werden.

Die Energie-und Rohstoffversorgung der Bundesrepublik Deutschland ist für die achtziger Jahre noch keineswegs gesichert. Zu den externen politischen Risiken bei der Beschaffung treten die innenpolitischen Probleme der Durchsetzung eines Energieprogramms, das gleichzeitig den Ausbau von Kapazitäten für Energieerzeugung und die Energieeinsparung vorantreiben will.

Schließlich ist die Bundesrepublik als übermäßig export-orientiertes Land auf den internationalen Handel angewiesen. Einerseits profitiert sie von der zunehmenden Industrialisierung einzelner Entwicklungsländer, andererseits müssen die von Importzuwächsen betroffenen Industrien ihre zurücknehmen und Arbeitskräfte entlassen.

Für die Arbeitnehmer bedeuten hohe Arbeitslosigkeit, schwaches Wachstum, gleichblei17 bend hohes Produktivitätswachstum, ungesicherte Energie-und Rohstoffversorgung und noch wachsende internationale Verflechtung, daß — ihr Risiko, in den nächsten Jahren arbeitslos zu werden und es auf längere Zeit zu bleiben, gegenüber den sechziger Jahren außerordentlich gestiegen ist, — das Beschäftigungsrisiko in bestimmten Branchen und davon dominierten Regionen besonders hoch ist, — viele Arbeitnehmer unter ungünstigeren Umständen als früher gezwungen sein könnten, Arbeitsstätte, Arbeitsort und Beruf zu wechseln, — die Steigerungsraten der Einkommen geringer ausfallen werden als gewohnt.

Die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften sehen in einer solchen Entwicklung nicht nur eine massive Bedrohung des sozialen Besitz-standes der abhängig Beschäftigten. Wenn es nicht gelingt, die sozialen Risiken für die Arbeitnehmer auf ein erträgliches und zumutbares Maß zu begrenzen, so steht die innere Legitimation des bestehenden Wirtschaftssystems selbst auf dem Spiel. Langandauernde hohe Arbeitslosigkeit würde letztlich auch das Vertrauen in die demokratische politische Ordnung zerstören.

Vor diesem zugegeben düsteren, aber nicht unrealistischen Hintergrund ergeben sich die Forderungen des DGB und seiner Gewerkschaften nach einer Wirtschaftspolitik, in der der Wiederherstellung der Vollbeschäftigung Vorrang eingeräumt wird. Da global wirkende Maßnahmen nur unzureichende Beiträge zur Erreichung dieses Ziels geleistet haben, sollen insbesondere strukturpolitische Aktivitäten mit beschäftigungspolitischer Zielsetzung zum Schwerpunkt staatlicher Wirtschaftspolitik gemacht werden. Im einzelnen fordert dazu der DGB: — eine Ergänzung und bessere Koordinierung des Instrumentariums der sektoralen Strukturpolitik mit dem Ziel, Fehlentwicklungen vor allem in solchen Wirtschaftszweigen zu vermeiden, die für die Beschäftigungslage der Arbeitnehmer und für die Versorgung der Bevölkerung besonders wichtig sind;

— eine bessere Koordinierung und Ergänzung des Instrumentariums der regionalen Strukturpolitik mit dem Ziel, die Lebensverhältnisse in den Regionen anzugleichen und dauerhafte Arbeitsplätze zu menschengerechten Arbeitsbedingungen zu schaffen;

— eine beschäftigungssichernde Technologie-und Umweltpolitik, deren Schwergewicht auf der Förderung arbeitsplatzschaffender, roh-Stoff-und energiesparender Technologien sowie auf der Humanisierung der Arbeit und Erhaltung der natürlichen Umwelt liegt (Entwurf des Grundsatzprogramms, Abschnitt 11: „Inve-1 stitionslenkung").

Eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine koordinierte und auf das Beschäftigungsziel ausgerichtete Regional-, Sektoral-sowie Technologie-und Umweltpolitik ist ein umfassendes System der Wirtschafts-und Sozialberichterstattung. Unter Wissenschaftlern wie Politikern herrscht Einigkeit darüber, daß innerhalb des vorhandenen Systems sozioökonomischer Gesamtrechnungen Informationslücken bestehen, die für die Strukturpolitik besonders schwerwiegend sind. Auf dieses Defizit hat der DGB Anfang 1976 den damaligen Wirtschaftsminister Friderichs aufmerksam gemacht und gefordert, spezielle Untersuchungen anstellen zu lassen, um herauszufinden, mit welchen Veränderungen der künftigen Beschäftigungsstruktur bei unterschiedlichen Annahmen über das wirtschaftliche Wachstum gerechnet werden kann. Der DGB wünschte vor allem sektoral und regional differenzierte Prognosen eventueller Beschäftigungsrückgänge oder Beschäftigungszunahmen, darauf aufbauend eine Erörterung der wirtschaftspolitischen Möglichkeiten, die Produktions-, Absatz-und Beschäftigungsmöglichkeiten einzelner Regionen und Sektoren zu beeinflussen, schließlich die Überprüfung der öffentlichen Förderungs-und Subventionspolitik unter dem Gesichtspunkt der anzustrebenden Beschäftigungsentwicklung in Sektoren, Regionen und der gesamten Wirtschaft.

Die Bundesregierung erkannte den Bedarf an vertieften Informationen über die strukturelle Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland an, indem sie in der Regierungserklärung vom Dezember 1976 den Aufbau einer regelmäßigen Strukturberichterstattung für die Bundesrepublik Deutschland ankündigte. Zunächst beauftragte die Bundesregierung fünf große wirtschaftswissenschaftliche Forschungsinstitute mit Untersuchungen über die „Konzeption einer Strukturberichterstattung für die Bundesrepublik Deutschland". Die beteiligten Institute waren das Hamburger Weltwirtschaftsarchiv (HWWA), das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IFW), das Essener. Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), das Berliner Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und das Münchener Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung (IFO). Anfang 1978 wurde der Auftrag für die ersten Hauptgutachten zur Strukturberichter-stattungver^eben. Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben im August 1979 Zwischenberichte vorgelegt; die Hauptberichte werden für Ende 1980 erwartet Außerdem wurden zwei Institute aufgefordert, Vorstudien über die Möglichkeiten einer Regionalisierung der sektoralen Strukturberichterstattung anzufertigen. Diese Vorstudien sind inzwischen abgeliefert worden.

II. Strukturberichterstattung als Mittel der Strukturpolitik

In der Bundesrepublik Deutschland wird Strukturpolitik seit dem Beginn ihres Bestehens betrieben. Der DGB legte seine Vorstellungen dazu 1963 im Abschnitt „Investitionslenkung“ des noch geltenden Grundsatzprogramms nieder. Dort heißt es zur Begründung für die Strukturpolitik: „Umfang und Art der Investitionstätigkeit bestimmen maßgeblich die Konjunkturlage und die zukünftige Entwicklung einer Volkswirtschaft. Fehlleitungen von Kapital und Arbeitskraft sind ebenso wie Arbeitslosigkeit und Nichtausschöpfung der wirtschaftlichen Wachstumsmöglichkeiten eine Belastung des Lebensstandards. Deshalb müssen im privatwirtschaftlichen wie im öffentlichen Bereich die Investitionen auf die strukturellen Erfordernisse der Gesamtwirtschaft abgestimmt sein."

Dieser Abschnitt ist gleichlautend in den Entwurf des neuen Grundsatzprogramms des DGB übernommen worden.

Im Jahre 1969 beschloß die Bundesregierung im Kabinett „Grundsätze der sektoralen (und der regionalen) Strukturpolitik“, die als Ziel der strukturpolitischen Maßnahmen postulierten, daß Arbeitskraft und Kapital „dort eingesetzt werden, wo sie den optimalen volkswirtschaftlichen Ertrag bringen“. Dies sollte durch „stärkere Beweglichkeit der Arbeitskräfte und des Kapitals zu gewinnen sein". Entsprechend sind die Maßnahmenkataloge für die sektorale Strukturpolitik konzipiert, zu der auch die Verbreitung von Informationen über die technischen, volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Zusammenhänge gehört, „damit der Unternehmer sich den wechselnden Marktverhältnissen elastisch anpassen kann“.

Eine umfassende Strukturberichterstattung erscheint also zunächst nur als konsequenter Ausbau des bereits vorhandenen Informationsinstrumentariums, um einen möglichst friktionsfreien Ablauf des Wirtschaftsprozesses und der mit ihm verbundenen unausweichlichen strukturellen Anpassungen zu gewährleisten. Die Strukturberichterstattung hat allerdings eine neue Qualität, da ihre Informationen sich nicht nur und nicht einmal in erster Linie an die Unternehmer bzw. Unternehmen richten. Wesentliche Aufgabe der Strukturberichterstattung soll es sein, den Informationsstand des Staates, der Tarifparteien und der anderen Verbände, die über die strukturelle Entwicklung und die Risiken und Chancen wirtschaftspolitischer Eingriffe mit-entscheiden, zu erhöhen. Eine derartige Ausrichtung der Strukturberichterstattung auf den Informationsbedarf des Staates und der organisierten gesellschaftlichen Gruppen hat Kritiker der Strukturberichterstattung veranlaßt, die Vereinbarkeit dieses Informationssystems mit der marktwirtschaftlichen Ordnung zu verneinen. Sie befürchten, daß mit der Strukturberichterstattung der Grundstein für eine staatliche Lenkung aller Investitionen, der privaten wie der öffentlichen, gelegt wird. Dabei unterstellen diese Kritiker insbesondere dem DGB und seinen Gewerkschaften, für eine solche Form der Investitionslenkung einzutreten.

Abgesehen davon, ob die Strukturberichterstattung überhaupt die Informationen für eine direkte Investitionslenkung mit Verwaltungsakten hergeben würde, trifft der Vorwurf, eine totale imperative Investitionslenkung zu fordern, den DGB nicht. Der DGB hat stets die Auffassung vertreten, daß die private Investitionsentscheidung, die bereits heute von mannigfachen, staatlich gesetzten Rahmenbedingungen, teilweise sogar von Genehmigungsverfahren abhängig ist, nicht aus dem Bereich der Unternehmen herausgenommen werden soll.

Von gewerkschaftlicher Seite wird die Hoffnung gehegt, daß die Strukturberichterstattung einen Beitrag zur Aufstellung eines volkswirtschaftlichen Rahmenplans leistet, in dem Regional-und Branchenprojektionen zu einheitlichen Landesentwicklungsplänen und einem Bundesentwicklungsplan zusammengefaßt werden. Zum Rahmenplan wird im Entwurf des neuen Grundsatzprogramms des DGB festgestellt, daß die Planungsrichtlinien nur für die Organe der staatlichen Wirtschaftspolitik verbindlich sein sollen. Demgegenüber sollen die in dem Rahmenplan enthaltenen sektoralen und regionalen Voraussagen und Zielsetzungen nur Orientierungshilfen für die freie Entscheidung von Investoren, Arbeitnehmern, Konsumenten, aber auch für die Tarifvertragsparteien sein. Selbst eine indikative Planung durch den Staat, der die Unternehmer wie die Arbeitnehmer zu kollektivem Fehlverhalten verleiten könnte, soll nicht sattfinden. entsprechende Kritik an den wirtschaftspolitischen Vorstellungen des DGB, die indirekt auch die Strukturberichterstattung erschweren oder ihren Abbruch vorbereiten soll, ist unzutreffend.

Der potentielle Beitrag der Strukturberichterstattung für die Strukturpolitik und die strukturelle Entwicklung der Bundesrepublik sollte nicht in der scheinbar systemverändernden Dynamik gesehen werden, die der Ausbau dieses Informationsinstrumentes vermeintlich auslöst Vielmehr ist die Strukturberichter19 stattung an ihrem Anspruch zu messen, die Wirtschaftspolitik aller Entscheidungsträger (Staat, Verbände, Unternehmen etc.) zu verbessern. Um diese Aufgabe zu erfüllen, muß es den Instituten gelingen: — ein möglichst wirklichkeitsgetreues Strukturbild der Bundesrepublik Deutschland zu entwerfen, — die strukturellen Wandlungen zu erklären und zu prognostizieren, — Strukturprobleme rechtzeitig zu erkennen und — Vorschläge für ihre Bewältigung zu entwikkeln bzw.den Wirtschaftspolitikern die dafür notwendigen Informationen zu liefern.

Anhand der Vorberichte wie der Zwischenberichte ist es nicht möglich, ein abschließendes Urteil darüber abzugeben, ob die Strukturberichterstattung diesen Anforderungen gerecht werden könnte. So vorläufig wie die Vor-und Zwischenberichte sind, so vorsichtig muß auch ihre wirtschaftstheoretische und wirtschaftspolitische Einschätzung vorgenommen werden. Dennoch soll an einigen Beispielen aufgezeigt werden, wo sich positiv bzw. negativ zu bewertende Tendenzen der Strukturberichterstattung bereits jetzt abzeichnen.

III. Beurteilung erster Analyseergebnisse

Der Auftrag zur Strukturberichterstattung umfaßt sowohl die Beschreibung, Erklärung und eventuelle Prognose der wirtschaftsstrukturellen Entwicklung seit den sechziger Jahren als auch die (indirekte) Aufforderung an die Institute, die Bundesregierung und andere Abnehmer des Strukturberichtes in Sachen Strukturpolitik zu beraten.

Im Auftragsschreiben heißt es zum theoretischen Teil, daß insbesondere — die Ursachen des Strukturwandels ermittelt,

zwischen strukturellen — Wechselwirkungen Veränderungen und gesamtwirtschaftlicher Entwicklung aufgedeckt, — intersektorale Zusammenhänge zwischen Expansions-und Schrumpfungsvorgängen aufgezeigt, — strukturelle Entwicklungslinien herausgearbeitet und — die Auswirkungen des Strukturwandels auf den Arbeitsmarkt sichtbar gemacht werden sollen.

Der wirtschaftspolitische Teil wird so eingegrenzt: Der Strukturbericht soll so angelegt sein, daß — Implikationen der Wirtschaftspolitik einschließlich der gesamtwirtschaftlichen Rahmengestaltung auf die Strukturen der Wirtschaft verdeutlicht, — Hemmnisse der Strukturanpassung identifiziert und die gesamtwirtschaftlichen und intersektoralen Wirkungen strukturpolitischer Maßnahmen analysiert werden.

Die Formulierungen des Auftrages lassen den Instituten außerordentlich viel Spielraum bei der Konkretisierung. Entsprechend unterschiedlich sind die ersten Analyseergebnisse ausgefallen.

Am Anfang aller Überlegungen über die Strukturberichterstattung muß geklärt werden, was eigentlich Gegenstand der Untersuchungen sein soll, was also als Struktur der Wirtschaft und strukturelle als Entwicklung anzusehen ist. Aus dem Auftrag ist herauszulesen, daß unter Struktur die sektorale Zusammensetzung von Entstehung und Verwendung des Sozialproduktes sowie die dazugehörigen Faktoreinkommen zu verstehen sein sollen. Diesen statistischen Strukturbegriff legen alle Institute ihren Untersuchungen zugrunde. Auf diese Weise werden die Institute am besten der Auflage gerecht, die Untersuchungen auf der Grundlage der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und der damit verbundenen Statistiken zu entwickeln.

Der statistische Strukturbegriff, der ausschließlich Entstehung und Verwendung des Bruttosozialproduktes in seinen Unteraggregaten umfaßt, hat zwei schwerwiegende Nachteile: Alle Erklärungen und Prognosen des strukturellen Wandels müssen sich letztlich auf die Aggregate bzw. Unteraggregate der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beziehen. Damit werden alle Probleme des strukturellen Wandels, die sich nicht in der Terminologie der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausdrücken lassen, von der Untersuchung ausgeschlossen. Zu Recht haben die Institute in ihren Zwischenberichten bereits diesen Analyserahmen gesprengt. Ein weiterer Nachteil des statistischen Strukturbegriffes ist die Ausklammerung von Fragen, die die Auswirkungen des Strukturwandels und der Strukturpolitik auf die Einkommensverteilung betreffen. Aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung geht nur die funktionale Einkommensverteilung in Einkommen aus unselbständiger Arbeit und aus Unternehmertätigkeit und Vermögen hervor. Diese Einengung vernachlässigt den zentralen Aspekt des strukturellen Wandels: Die davon ausgelösten Veränderungen in der sozioökonomischen Stellung einzelner bzw. ganzer Gruppen von Menschen, die diese entweder hinnehmen oder gegen die sie sich wehren. Im Struktur-wandel werden Einkommen, Aufstiegschancen, Prestige und sozialer Status umverteilt. Aus dem gesellschaftlichen Wandel, der mit dem Strukturwandel einhergeht, ergibt sich dessen politische Brisanz, die politische Eingriffe zugunsten bzw. zu Lasten der einen oder anderen Gruppe, des einen oder des anderen Sektors bzw.der einen oder anderen Region auslöst. Die durch den Strukturwandel bedingten Umverteilungsprozesse sollten deshalb ebenfalls im Rahmen der Strukturberichterstattung untersucht werden.

Das Untersuchungsprogramm, das den Instituten aufgetragen wurde, ist aus wissenschaftlicher Sicht außerordentlich anspruchsvoll: Für Erklärung und Prognose des strukturellen Wandels gibt es zur Zeit noch keine ökonomischen Theorien, die hohen Ansprüchen genügen würden. Dies läßt sich leicht am Theorien-vorrat für die „Herausarbeitung struktureller Entwicklungslinien“ zeigen. Exemplarisch sei die sogenannte Drei-Sektoren-Hypothese herangezogen, über die sich drei Institute, HWWA, IFO und IFW, äußern.

Nach dieser Hypothese — so das HWWA in seinem Zwischenbericht — wird behauptet, „daß es im langfristigen Entwicklungsprozeß zu einer deutlichen Verschiebung (der Nachfrage, der Beschäftigung, der Kapitalinvestitionen) vom primären über den sekundären zum tertiären Sektor kommt. Allerdings erscheint diese Hypothese generell weder theoretisch noch empirisch hinreichend abgesichert"

(HWWA-Zwischenbericht, S. 17). In den Zwischenberichten des Ifo-Instituts wie auch des IFW werden mannigfache Belege angeführt, die das Urteil des HWWA bestätigen.

Beim gegebenen Stand der wissenschaftlichen Forschung läßt sich vermutlich für alle Theorien der wirtschaftlichen Entwicklung nachweisen, daß sie strengen empirischen Tests nicht standhalten. Es handelt sich also allenfalls um unfertige Erklärungsskizzen oder Adhoc-Theorien, die weder zur Erklärung noch zur Prognose des strukturellen Wandels geeignet erscheinen.

Kritiker der Strukturberichterstattung, vor allem aus der Wissenschaft, haben aus dieser Einschätzung der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit der Strukturtheorien den Schluß gezogen, das Unterfangen der Strukturberichterstattung, strukturelle Entwicklungslinien herausarbeiten zu wollen, sei von vornherein zum Scheitern verurteilt und sogar wissenschaftlich unseriös, über eine bloße statistische Ex-post-Beschreibung hinaus werde es keinen wissenschaftlichen Fortschritt in diesem Bereich geben.

Diese Kritiker verkennen, daß das wissenschaftliche Problem der Erklärung und Prognose des strukturellen Wandels nicht dadurch gelöst wird, daß man das Problem ignoriert und die dazu vorliegenden Ansätze ablehnt. Auch ein Forschungsverbot ist kein Zeichen für wissenschaftliche Seriosität. Zudem — und dies ist der wichtigere Punkt — bedarf die Politik stets der Einschätzung des voraussichtlichen strukturellen Wandels, um ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Stabilität zu sichern. Dies ist in der Bundesrepublik auch der Fall, wenn man an die Fundierung der Energiepolitik denkt. Die Politiker können dabei niemals auf die endgültige Ausarbeitung einer Strukturtheorie warten, sondern sie müssen sich mit den vorhandenen, relativ besten Erklärungsversuchen zufriedengeben. Die Aufgabe der Strukturberichterstattung besteht also darin, die Theorienvielfalt durch empirische Tests auf die vorläufig am besten bewährten Theorien zu reduzieren und zugleich Grenzen und Möglichkeiten bei der Verwendung dieser Theorien in der Politikberatung zu beachten. In einem weiteren Schritt wäre dann auch die Weiterentwicklung der vorhandenen bzw. die Formulierung einer neuen Theorie der strukturellen Entwicklung zu versuchen.

Wie schwierig, zugleich aber auch wie notwendig die Aufgabe ist, die unüberschaubare Theorienvielfalt zu lichten, sei am Beispiel eines Erklärungsansatzes des Ifo-Instituts für den Wandel in der sektoralen Beschäftigungsstruktur gezeigt. Das Ifo-Institut schlägt ein neoklassisches mittelfristiges Modell als „Konkurrenz" zur Drei-Sektoren-Hypothese vor. Dieses Modell beruht u. a. auf folgenden Behauptungen:

— In jedem Wirtschaftszweig steigen (sinken) sowohl die Wachstumsrate der Beschäftigung (Arbeitsvolumen) als auch die Investitionsquote, wenn sich die Absatzerwartungen verbessern (verschlechtern).

— Sind die Absatzerwartungen gegeben, dann erhöhen (verringern) die Unternehmen eines Sektors ihre Nachfrage nach Arbeitskräften und verringern (erhöhen) ihre Investitionen, wenn die Löhne geringer (stärker) steigen als der Kapitalnutzungspreis (Zinsen etc.) (vgl. IFO, Zwischenbericht, S. 192).

Beschäftigung und Kapitalinvestitionen in den einzelnen Sektoren hängen also im einfachsten Fall von der Nachfrage nach den Gütern und Dienstleistungen dieser Sektoren ab sowie von dem relativen Verhältnis der „Preissteigerungen" für Kapital und Arbeit. Damit die Umschichtung von Arbeit und Kapital in den einzelnen Sektoren reibungslos funktioniert, wird unterstellt, daß Arbeit und Kapital beliebig gegeneinander austauschbar sind und daß technische Fortschritte den für die Produktion notwendigen Arbeits-bzw. Kapitaleinsatz gleichermaßen verringern.

Das Ifo-Institut hat erste empirische Überprüfungen dieses Modells vorgenommen. Dabei zeigte sich, daß „das Bündel der getroffenen Annahmen insgesamt ein zu stark vergröbertes Bild der Wirklichkeit ergibt" (IFO, Zwischenbericht, S. 210). Rein statistisch konnte der Einfluß der Entwicklung der Produktion und der Faktorpreisrelationen auf Arbeitsvolumen und Investitionsquote für eine Reihe von Sektoren abgesichert werden. Derartige statistische „Bestätigungen" sind jedoch noch kein Beleg für die theoretische Haltbarkeit der zugrunde liegenden Behauptungen, da es auch eine Reihe von Sektoren gibt, für die das Modell offensichtlich nicht zutrifft Beachtenswert ist die Erkenntnis des Ifo-Insti-tutes, daß Veränderungen in den Lohn-Zins-Relationen alle Sektoren tendenziell in gleichem Maße treffen. Die Unterschiede in den Lohnsteigerungsraten bzw.den Zinserhöhungen zwischen einzelnen Sektoren sind nicht so hoch, daß die Unternehmen bestimmter Sektoren daraus spezielle Vorteile oder Nachteile für ihre Investitionstätigkeit bzw. Personalpolitik haben. Die Veränderungen in der sektoralen Produktionsstruktur und in der sektoralen Nachfrage nach Investitionen bzw. Arbeitskräften hängen also in erster Linie von der Nachfrage nach den Gütern und Diensten dieser Sektoren und vom technischen Fortschritt ab. Uber diese beiden Faktoren der wirtschaftlichen Entwicklung der einzelnen Sektoren gibt das Modell selbst aber keinen Aufschluß.

Trotz der entgegenstehenden Ergebnisse der empirischen Überprüfung könnte aus dem Modell der Schluß gezogen werden, daß die vorhandenen Strukturprobleme durch die Lohnpolitik der Gewerkschaften bzw. die Zinspolitik der Bundesbank mit verursacht sind. Strukturelle Unterbeschäftigung könnte also beseitigt oder gemildert werden, wenn in den Sektoren, die von der Nachfrage begünstigt werden, relativ geringere Löhne gezahlt werden als in anderen Sektoren. Die expandierenden Sektoren würden dann auch zusätzliche Arbeitskräfte anstelle von Investitionen in der Produktion verwenden. Offen bleibt allerdings, ob die zusätzlichen Arbeitskräfte lediglich aus anderen Sektoren abgezogen werden oder ob es tatsächlich zu einer Verringerung der Arbeitslosigkeit kommt.

Die Möglichkeit des Mißbrauches des IFO-Ansatzes für eine Neuauflage der Empfehlungen an die Gewerkschaften, „zurückhaltende Lohnpolitik zu betreiben", liegt nahe. Von Seiten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist für die anhaltende Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik das Argument eines zu hohen gesamtwirtschaftlichen Lohnniveaus in die Diskussion gebracht worden. Neoklassisch orientierte Kritiker der Gewerkschaften haben diese Behauptung auch auf die Lohnstruktur ausgedehnt, die zwischen bestimmten Qualifikationsstufen der Arbeit nicht mehr ausreichend differenziere. Annähernd gleichmäßige Lohnsteigerungsraten in allen Sektoren stützen anscheinend diesen neoklassischen Diskussionsstrang auch für die Beschäftigungsprobleme, die in bestimmten Sektoren seit Jahren besonders ausgeprägt sind. Gegen Empfehlungen für eine allgemein „zurückhaltende" Lohnpolitik, die die Lohnsteigerungen hinter den Produktivitätszuwachs zurück-nimmt, bzw. gegen Angriffe auf eine „nivellierende" Lohnpolitik haben sich die Gewerkschaften stets sowohl mit ökonomisch-theoretischen wie mit gewerkschaftlich-tarifpolitischen Überlegungen gewandt. So muß z. B. bezweifelt werden, ob sich durch eine Veränderung in der Lohn-Zins-Relation in einzelnen Sektoren überhaupt eine Steigerung des gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungsgrades erreichen läßt. Es ist eher wahrscheinlich, daß eine Verbesserung der Lohn-Zins-Relation zugunsten der Kapitalkosten die Investitionsquote erhöht und zugleich aufgrund des technischen Fortschrittes, der durch die Investitionen realisiert wird, die Nachfrage nach Arbeitskräften weiter sinkt. Hinzu kämen die negativen Nachfrage-Effekte aufgrund unterdurchschnittlicher Lohnsteigerungen, die zusätzliche Arbeitslosigkeit induzieren würden.

Schließlich sollte für die wirtschaftspolitische Diskussion dieses Modells von vornherein klargestellt sein, daß für die Gewerkschaften der Lohnsatz kein strukturpolitischer Aktionsparameter ist. Um Strukturveränderungen überhaupt in Gang setzen, beschleunigen oder verlangsamen 'zu können, wären Lohnvariationen in einem Umfang notwendig, die dem Grundpostulat sozialer Gerechtigkeit widersprechen würden. Für eine wirksame Strukturpolitik ist gerade umgekehrt die relativ geringe intersektorale Differenzierung der Lohnerhöhungen eine Voraussetzung ihres Erfolges. Strukturpolitisch motivierte Veränderungen der Löhne stellen die soziale Legitimation des Wirtschaftssystems insgesamt in Frage, da die Einkommensgerechtigkeit nicht gewährleistet wäre.

IV. Verwendbarkeit der Strukturberichterstattung in der Strukturpolitik

Die Strukturberichterstattung steht erst am Anfang, so daß Aussagen über ihre Verwendbarkeit bei der wirtschaftspolitischen Beratung der strukturpolitischen Entscheidungsträger noch nicht gemacht werden können. Auf der Grundlage der Hauptberichte wie der Zwischenberichte ist es jedoch möglich, begründete Vermutungen über sich abzeichnende Tendenzen der Strukturberichterstattung anzustellen. Hierbei ist vor allem auf die Auslegung des Auftrages durch die Institute zu achten.

Zusätzlich ist zu fragen, ob die Institute die wirtschaftspolitische Verpflichtung des Bundes, strukturpolitische Maßnahmen in Gang zu setzen bzw. sie auch zu unterlassen, richtig interpretieren. Die Bundesregierung ist auf dreifache Weise gehalten, Strukturpolitik zu betreiben:

1. Die Gesetzeskompetenz des Bundes besteht zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechts-undWirtschaftseinheit, insbesondere der Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus (Artikel 72 Abs. 2, 3. GG). Daraus ergibt sich, daß Eingriffe in die Wirtschaftsstruktur notwendig werden, wenn sich in einzelnen Regionen die wirtschaftliche Entwicklung uneinheitlich entwickelt. Dann sind auch Interventionen in die Sektorstruktur gerechtfertigt, da diese die Regionalstruktur bestimmen.

2. Der Bund hat sich im Stabilitäts-und Wachstumsgesetz verpflichtet, die wirtschaftspolitischen Maßnahmen so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen (§ 1 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft). Wenn eines dieser Ziele verletzt ist, so sind auch strukturpolitische Maßnahmen zur Erreichung eines zumindest angemessenen Zielerreichungsgrades einzusetzen, solange sie sich im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung halten. Dabei hat für die Politik das jeweils am meisten beeinträchtigte Ziel Vorrang. 3. Deutliche Hinweise auf die strukturpolitischen Pflichten des Bundes enthält auch das Bundesraumordnungsgesetz, in dem es heißt, daß das Bundesgebiet in seiner räumlichen Struktur einer Entwicklung zuzuführen sei, die der freien Entfaltung der Persönlichkeit in der Gemeinschaft am besten diene (§ 1). Nach § 2 des gleichen Gesetzes soll die räumliche Struktur der Gebiete mit gesunden Lebens-und Arbeitsbedingungen sowie ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen gesichert und weiterentwickelt werden. In Gebieten, in denen eine solche Struktur nicht besteht, sollen Maßnahmen zur Strukturverbesserung ergriffen werden. 4. Schließlich existiert die Selbstbindung der Bundesregierung in Form des Kabinettsbeschlusses über die Grundsätze der sektoralen und regionalen Strukturpolitik aus dem Jahre 1969. In diesem Kabinettsbeschluß wird für die Strukturpolitik einseitig die Aufgabe vorgesehen, für befriedigendes Wachstum durch Mobilisierung der Produktionsfaktoren zu sorgen. Die soziale Absicherung des strukturellen Wandels wird als Aufgabe der Sozialpolitik übertragen. Nur in Ausnahmefällen soll bei sich überstürzendem wirtschaftlichem Wandel in einzelnen Sektoren dieser Wandel zeitweilig verzögert werden.

Alle Institute beziehen sich entweder im Vorbericht oder im Zwischenbericht auf die am wenigsten rechts-und politikfesten Vorgaben für die Strukturpolitik: den Kabinettsbeschluß zur sektoralen Strukturpolitik.

Das IFW und das HWWA interpretieren ihn in stark verzerrter Weise. Sie unterstellen, daß das oberste Ziel der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung einer Marktwirtschaft mit funktionierendem Wettbewerb sei und daß also strukturpolitische Maßnahmen auf jeden Fall zweite Wahl nach den wettbewerbspolitischen Maßnahmen seien. In einer ideal gebauten Wettbewerbswirtschaft sei Strukturpolitik überhaupt überflüssig.

Hier liegt eine Fehlinterpretation der politischen/rechtlichen Grundlagen der Struktur-politik vor: Strukturpolitik ist unabhängig von der Wettbewerbspolitik immer geboten, wenn sich sektorale und regionale Strukturen so entwickeln, daß die Ziele der Rechts-und Wirtschaftseinheit, der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, der räumlich ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Strukturen sowie der Beschäftigung, des Wachstums und der Preisstabilität verletzt oder gefährdet sind.

Seit Jahren ist in der Bundesrepublik Deutschland das Ziel „hoher Beschäftigungsstand" nicht erreicht. Niemand kann ernsthaft behaupten, daß wettbewerbspolitische Maßnahmen einen wesentlichen Beitrag zur Wiederherstellung der Vollbeschäftigung erbringen könnten. Die Globalpolitik hat ebenfalls nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Also ist der Einsatz strukturpolitischer Maßnahmen, die an einzelnen Sektoren und Regionen ansetzen, solange unbedingt erforderlich, als von ihnen positive Beiträge zur Erreichung dieses Zieles zu erwarten sind. Ausgenommen sind lediglich Maßnahmen, die die marktwirtschaftliche Ordnung sprengen würden. Derartige Maßnahmen werden aber von keiner politisch verantwortlichen Stelle gefordert.

Neben der extrem marktwirtschaftlichen Position des HWWA und des IFW erscheint die wirtschaftspolitische Grundhaltung des RWI vorsichtiger und abwägender, indem die tatsächlichen politischen Gegebenheiten in der Bundesrepublik berücksichtigt werden. Das RWI orientiert nach eigener Aussage seine wirtschaftspolitischen Wertungen des strukturellen Wandels an den aus der „geltenden Wirtschaftsordnung hervorgehenden Beurteilungsmaßstäben", was immer diese sein sollen (RWI, Zwischenbericht, S. 10). Im Vorbericht weist das Institut zwar auch auf den § 1 des Stabilitäts-und Wachstumsgesetzes hin, zitiert daraus aber nur die Nebenbedingung, daß alle Maßnahmen sich im „Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung" zu halten hätten. Daraus wird dann wiederum der grundsätzlich subsidiäre Charakter der Strukturpolitik im Verhältnis zur Wettbewerbspolitik abgeleitet Auf den Beitrag der einzelnen wettbewerbspoB litischen oder strukturpolitischen Maßnahmen zur Erreichung gesamtwirtschaftlicher Ziele kommt es dabei auch dem RWI nicht an.

Das Ifo-Institut erörtert zwar im Vorbericht u. a. die Grundsätze der sektoralen Struktur-politik, enthält sich im Zwischenbericht jedoch noch jeglicher wirtschaftspolitischen Wertung struktureller Tatbestände. Es bleibt abzuwarten, welche Linie das Institut im Hauptbericht verfolgen wird.

Das DIW bezieht seine Position klar und deutlich: Es stellt fest, daß das wirtschaftspolitische Problem der achtziger Jahre die weiter andauernde Unterbeschäftigung sein wird und daß die Strukturberichterstattung sich deshalb der Untersuchung der strukturellen Bestimmungsgründe der Unterbeschäftigung vorrangig zu widmen habe. Welcher Art die wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vollbeschäftigung sein könnten, läßt das DIW im Zwischenbericht offen. Das DIW konzentriert sich aber zu Recht auf das Problem, das laut Stabilitäts-und Wachstumsgesetz im Mittelpunkt aller wirtschaftspolitischen Bemühungen zu stehen hat. Es wird damit den politischen und rechtlichen Voraussetzungen des Auftrags zum Aufbau einer Strukturberichterstattung am ehesten gerecht. Bei HWWA und IFW steht hingegen zu befürchten, daß sie in ihren Analysen an den rechtlichen Rahmenbedingungen der Strukturpolitik und der strukturpolitischen Realität vorbeiforschen werden. Dies zeigt sich z. B. an den von ihnen angekündigten Untersuchungen für den Hauptbericht.

Das IFW beabsichtigt z. B. die Entwicklung eines wohlfahrtstheoretisch fundierten Konzepts zur Beurteilung strukturpolitischer oder strukturell wirksamer Maßnahmen. Die Brauchbarkeit dieses Konzeptes sei anhand der wichtigsten strukturpolitischen Maßnahmen empirisch zu überprüfen (IFW, Zwischenbericht, S. 167). Wird diese Ankündigung im Hauptbericht durchgehalten, so manövriert sich das IFW ins wirtschaftspolitische Abseits. Weder liegen der aktuellen Wirtschaftspolitik die Grundprämissen der Wohlfahrtstheorie zugrunde, noch kann es Sinn des Auftrages für die Strukturberichterstattung sein, die wirtschaftspolitischen Maßnahmen an einem derartigen politischen Nirwana-Konzept messen zu lassen.

Anerkannte Aufgabe der Strukturpolitik ist es, Hemmnisse des Strukturwandels zu beseitigen oder zu verringern. Begünstigende Faktoren könnten hingegen gefördert werden. Eine offene Frage ist es, was als ein derartiges Hemmnis anzusehen ist. Das HWWA schlägt vor, Hemmnisse des Strukturwandels zu vermuten, wenn die wirtschaftliche Realität vom Modell der Marktwirtschaft mit funktionierendem Wettbewerb abweicht (HWWA Zwischenbericht, S. 5). Allerdings sei „damit noch kein Urteil gefällt, ob die Hemmnisse aus wirtschafts-oder sozialpolitischen Erwägungen hinzunehmen sind oder durch wirtschaftspolitische Maßnahmen beseitigt oder korrigiert werden sollen'1 (a. a. O.).

Folgerichtig heißt es dann an anderer Stelle des Zwischenberichtes (S. 118): „Die Herstellung eines funktionsfähigen Wettbewerbs sei eine der wichtigsten Aufgaben der Wirtschaftspolitik, und je besser der Wettbewerb funktioniere, um so mehr könne der Staat auf Strukturpolitik verzichten." Auch das HWWA geht mit dieser wirtschaftspolitischen Grund-position an den tatsächlichen Aufgaben der Strukturpolitik vorbei. Für die praktische Wirtschaftspolitik, die die Vollbeschäftigung wieder erreichen muß, ist der Streit über die theoretisch optimale Aufgabenteilung zwischen Struktur-und Wettbewerbspolitik müßig. Hier kommt es allein auf die Ziel-Mittel-Effizienz der jeweils eingesetzten Instrumente an. Die abstrakte Behauptung des Vorrangs der Wettbewerbs-vor der Strukturpolitik ist da wenig hilfreich.

Wenn die Identifikation der Hemmnisse der strukturellen Anpassung mit Behinderungen des Wettbewerbes verfehlt ist, so muß ein neuer Weg gefunden werden, die wirtschaftspolitisch relevanten Probleme des Struktur-wandels zu diagnostizieren, sie in eine politische Rangfolge zu bringen und aus dieser Rangfolge Prioritäten für ihre wirtschaftstheoretische Bearbeitung abzuleiten.

Strukturelle Anpassung ist wie funktionierender Wettbewerb oder koordinierte Staatstätigkeit kein Ziel an sich, sondern immer Zwischenziel zu den gesetzlich oder politisch übergeordneten Zielen wie z. B.der Wiedererlangung der Vollbeschäftigung. Von den Zielen her ist also zu prüfen, wo es hemmende bzw. begünstigende Faktoren für den Strukturwandel gibt und welche Zielbeiträge von struktureller Anpassung für die Erreichung dieser Ziele zu erwarten sind.

Eine Strukturpolitik, die sich ausschließlich als Politik zur Erhöhung der Mobilität der Arbeitskräfte bzw.des Kapitals verstehen würde, also mangelnde Mobilität als das wesentliche Hemmnis struktureller Anpassung begreift, könnte dazu führen, daß zwar Arbeitskräfte mobilisiert werden, aber aus bestimmten Gründen nicht in anderen Sektoren Arbeit finden. Eine solche Form der Struktur-politik, die die Arbeitslosigkeit erhöhen würde, wäre eindeutig negativ zu beurteilen. Die Analyse der gesamtwirtschaftlichen und intersektoralen strukturpolitischen Maßnahmen, die von der Bundesregierung gefordert wird, sollte ebenfalls von den Zielen ausgehen, die mit diesen Maßnahmen erreicht werden sollen. Eine abstrakte Prüfung der Vereinbarkeit strukturpolitischer Maßnahmen mit dem marktwirtschaftlichen Prinzip dezentraler Steuerung ist demgegenüber nachgeordnet und zweitrangig.

Es bleibt abzuwarten, ob die Institute sich einer derart anspruchsvollen Aufgabe gewachsen zeigen.

Von der Wirtschaftspolitik kann ihnen hierbei geholfen werden, wenn die Wirtschaftspolitik bereit ist, den Instituten einen Katalog der zu beurteilenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen und damit zugleich auch der strukturpolitischen Probleme, die mit diesen Maßnahmen angegangen werden sollen, an die Hand zu geben.

Zu den strukturpolitisch umstrittenen Maßnahmen zählen z. B. die Subventionen des Bundes und der Länder. Zwei Institute, das HWWA und das RWI, haben in den Zwischenberichten angekündigt, daß sie sich den Subventionen im Hauptbericht besonders widmen wollen. Eine solche Analyse kann zunächst versuchen, die Effizienz des Einsatzes von Subventionen für die damit speziell verfolgten Ziele zu untersuchen. Im Hinblick auf das Vollbeschäftigungsziel muß aber auch geklärt werden, welche positiven oder negativen Beiträge Subventionen zu diesem Ziel geleistet haben. Eine Untersuchung der grundsätzlichen Vereinbarkeit von Subventionen mit der Marktwirtschaft und ihrer allgemeinen soge-nannten strukturverzerrenden Wirkungen ist hingegen entbehrlich.

Das RWI, HWWA und IFW haben über die Subventionsanalyse hinausgehend angekündigt, daß sie sich einer Reihe von struktur-beeinflussenden Politiken in ihrem Hauptbericht annehmen wollen. Das IFW bekundet z. B.sein Interesse an der Forschungsund Energiepolitik, das RWI befaßt sich bereits im Zwischenbericht mit staatlich administrierten Preisen und das HWWA hat die sektoralen Wirkungen arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen im Visier.

Hier deutet sich eine weitere und vielleicht verhängnisvolle Entwicklung für die Struktur-berichterstattung an: Die Institute wählen die zu behandelnden politischen Probleme selbst aus. Dies kann aber nicht den Instituten überlassen bleiben. Sie haben sich in diesem Bereich nach Vorgaben ihres Auftraggebers zu richten, der diese mit den Entscheidungsträgern zu diskutieren und eventuell abzustimmen hätte, die von der Strukturpolitik betroffen werden bzw. an ihr mitwirken. Nur die Wirtschaftspolitik ist in der Lage, die struktur-politische Rolle der Strukturberichterstattung zu bestimmen. Einer sachlich und politisch ausufernden Untersuchungs-und Empfehlungspraxis der Institute muß deshalb rechtzeitig Einhalt geboten werden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dieter Hockel, Dr. rer. pol., Referatsleiter in der Abteilung Wirtschaftspolitik der Bundesvorstandsverwaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Veröffentlichungen u. a.: Gefährdung und Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im Grundgesetz und im Stabilitätsgesetz, in: Der Betriebsberater, 25. Jg„ 1970, S. 1032ff.; Grundlagen forschungspolitischer Entscheidungen, in: Wirtschaftsdienst, 53. Jg., 1973, S. 317 ff.; Die Möglichkeiten einer Beurteilung von Forschungsprojekten mit Kosten-Nutzen-Analysen, Köln 1975; Strukturberichterstattung als Mittel der Strukturpolitik, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 29. Jg., 1978, S. 477 ff.; Innovationsorientierte Regionalpolitik, in: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 7, 1978, S. 485 ff.; Forschungspolitik und Arbeitnehmerinteressen, in: Wirtschaft und Wissenschaft, 26. Jg., Heft 3, 1978, S. 14 ff.