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Die deutsche Soziologie zwischen Totalitarismus und Demokratie | APuZ 20/1980 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 20/1980 Die deutsche Soziologie zwischen Totalitarismus und Demokratie Sozialismus und Nationalsozialismus. Dargestellt an Hand der Beiträge Willi Eichlers zum demokratischen Sozialismus

Die deutsche Soziologie zwischen Totalitarismus und Demokratie

Sven Papcke

/ 40 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Zu den stiefmütterlich behandelten Arbeitsfeldern der Soziologie gehört — zumal in der Bundesrepublik — ihre eigene Geschichte, über das allgemeine Defizit an historischen Ansätzen hinaus ist dabei besonders der Zeitraum von 1933 bis 1945 weitgehend vernachlässigt worden. Zudem blieb die Frage ausgespart, ob 1933 bzw. 1945 tatsächlich ein fachgeschichtlicher Bruch stattfand oder ob nicht vielmehr auch soziologische Kontinuitäten festzustellen sind. Die seltenen Beiträge zu diesem Fragenkomplex, die wechselweise von einem Verbot oder auch vom Absterben der Soziologie in Deutschland nach 1933 sprechen, vertreten aufgrund dieser Forschungslücke seit langem eher fachgeschichtliche Vorurteile. Diese Einseitigkeit hat ihrerseits historisch-soziologische Ursachen, die dazu geführt haben, daß auch nach 1945 innerfachlich weder das nationalsozialistische „Phänomen" aufgearbeitet wurde noch untersucht werden konnte, welche Rolle die Soziologie vor und nach 1933 gespielt hat. Dieses Versagen hängt wiederum mit der soziologisch relevanten Tatsache zusammen, daß es wissenschaftsgeschichtlich in der „deutschen Soziologie“ offenbar Strömungen inhaltlicher wie methodologischer Einstellungen gibt, die die Soziologen als Zeitgenossen hilflos den Prozessen des politischen Umfeldes auslieferten.

Eine Diskussion können wirnicht führen, solange wir über den Sachen stehen und nicht in ihnen.

Jürgen Habermas (1964)

Wir schreiben das Jahr 1946. Kaum zwölf Monate nach der militärischen Niederlage und der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus, mitten im Chaos unklarer staatlicher Verhältnisse und ungewisser Überlebenschancen, schaffte es die Soziologie als erste akademische Disziplin, wieder einen freien Verband der wissenschaftlichen Fach-arbeit auf die Beine zu stellen. In einer Zeit, als es den meisten Deutschen eher um das tägliche Brot als um das Manna theoretischer Erkenntnisse ging, lud der Kölner Soziologe Leopold von Wiese mit alliierter Hilfe einen — wie er berichtet — „Kreis von erreichbaren Personen" ein, „die an soziologischen Studien Anteil nahmen". Die Schwierigkeiten Einberufung und die Durchführung dieses Treffens waren beträchtlich.

Das lag zum einen an der Tatsache, daß der Dachverband der Soziologen — die „Deutsche Gesellschaft für Soziologie" — überhaupt erst wieder aus der Taufe gehoben werden mußte. Denn nachdem am 29. Dezember 1933 auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung in Berlin, zu der als damaliger 1. Schriftführer auch schon v. Wiese eingeladen hatte, der alte Vorstand abgelöst und die Leitung der Gesellschaft ganz im Sinne der Zeit einem Parteigenossen mit Totalvollmachten übertragen worden war, schlief die Gesellschaft nach und nach ein. Soziologie im althergebrachten Sinn jedenfalls schien in Deutschland überflüssig geworden zu sein.

Zum anderen ergaben sich die Schwierigkeiten dieser ersten Kontaktaufnahme aus den widrigen Umständen der Nachkriegsmonate. Schon eine Nachrichtenverbindung zwischen den vier inzwischen auf deutschem Boden eingerichteten Besatzungszonen war kaum herzustellen, geschweige denn aufrechtzuerhalten. Trotz aller Hindernisse aber kam die Zusammenkunft und damit auch die Neuschöpfung dann doch zustande.

Leopold von Wiese über die damalige Eile: „Besonders auf Anraten unserer amerikanischer Freunde entschlossen wir uns ... zu einer baldigen, noch vor Beginn des Wintersemesters vorzunehmenden Veranstaltung, ... um vor allem zu dokumentieren, daß wir wieder , da sind'. Aufschub schien bei den heutigen Zeitläufen nicht angebracht. Gerade nach außen hin mußte dem Anschein entgegengetreten werden, als ob im heutigen Deutschland eine geistige Erschlaffung eingetreten wäre."

Soziologie in der Schwarzmarktzeit

Am 5. und 6. April 1946 versammelten sich die in Deutschland zu jener Zeit noch anzutreffen•len Gelehrten in Bad Godesberg zur Vorbereitung des ersten Nachkriegs-Soziologentages im Herbst des gleichen Jahres — der zugleich der 8. Soziologentag seit Gründung der Gesellschaft im Jahre 1909 war. Geplant war dieser Soziologenkongreß bereits für den März 1933 in Kiel — zu Ehren Ferdinand Toennies’ —, konnte dann aber nicht mehr stattfinden. Als Thema entschied man sich für die „Gegen-wartsaufgaben der Soziologie". Mit dieser Fragestellung wurde bewußt an das wissenschaftliche Selbstverständnis der eigenen Vergangenheit angeknüpft, wonach die Soziologie immer auch — wenngleich wohltemperierte — Zeitdiagnostik zu betreiben hatte. Vor allem aber sollte mit diesem Motto die theoretische Nützlichkeit des eigenen Faches gerade in Umbruchzeiten demonstriert werden. Auch mit dieser Absicht setzte man eine bewährte Überlieferung fort, denn der auf den Zusammenbruch von 1918 folgende Soziologentag in Jena 1922 hatte sich z. B. mit der . Revolution'als der damals drückendsten Zeitfrage befaßt. „Unter den versammelten Soziologen herrschte bei aller Gemeinsamkeit der Freude des Wiedersehens und ersten Beisammen-seins gleichwohl eine Stimmung geladener Problematik" — so faßte später einer der Anwesenden in Bad Godesberg, der Frankfurter Soziologe Heinz Sauermann 3), — die Atmosphäre der Versammlung zusammen.

Die „Stimmung geladener Problematik“ war freilich weniger tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten zuzuschreiben, sondern betraf vielmehr die schwierigen Fragen der Organisation sowie überhaupt der alltäglichen Lebensbewältigung angesichts des herrschenden Mangels. Große Kontroversen jedenfalls blieben laut Leopold von Wiese bei diesem Planungstreffen im April 1946 aus:

„Ein kleines Häuflein Unverzagter folgte der Einladung nach Godesberg zur Beratung und Beschlußfassung. Die äußeren Bedingungen waren denkbar ungünstig. Es war schwer, bescheidene Unterkunft ... zu finden. Das Festmahl auf der Godesburg bestand in einer nicht leicht beschafften Erbsensuppe, die aber als Delikatesse von den Bankettgästen gewürdigt wurde. In vorbildlicher Harmonie schufen wir unsere knapp gehaltenen Satzungen. Wir fanden Ermutigung und Unterstützung durch den ... amerikanischen Erziehungsoffizier Professor Edward Hartshorne und bereiteten den 8. Soziologentag vor, der dann schon im September 1946 in Frankfurt am Main stattfand. Bei all dem hatten wir das begründete Gefühl, einsame Pioniere in unwegsamem Gelände zu sein. Anfänger auf dem unsicheren Pfade, auf dem wir zunächst weit und breit in Deutschland noch keine Weggenossen hatten."

Die mühevollen Vorarbeiten hatten Erfolg. Im September 1946 tagte tatsächlich als erster wissenschaftlicher Kongreß in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die dreitägige Soziologenversammlung in Frankfurt. Dank amerikanischer Vorkehrungen boten Verpflegung und Unterkunft diesmal keine Probleme mehr. Man konnte sich ganz der Sache widmen, den „Gegenwartsproblemen der Soziologie" nämlich. Diese berührten zum einen innersoziologische Fachfragen, betrafen zum anderen aber auch die Probleme einer Rollen-beschreibung der Soziologie angesichts der zeitgeschichtlichen Anforderungen an die Wissenschaft im Allgemeinen. Beide Themenkreise standen in Frankfurt zur Debatte, und zwar sowohl, wenn über die damals zu verzeichnenden . sozialen Umschichtungen'diskutiert, als auch, wenn wenigstens beiläufig über die Funktion der eigenen Disziplin in Vergangenheit und Gegenwart gesprochen wurde.

Nimmt man das Protokoll dieses ersten Nachkriegs-Sozioiogentages zur Hand, so kann man sich freilich des Eindrucks nicht erwehren, daß die in Frankfurt versammelte sozialwissenschaftliche Intelligenz nicht nur einen arg verkürzten sozialen Problembegriff vertrat sondern auch, daß sie einem sehr verengten Gegenwartsbegriff huldigte. Am Beispiel der Kontroverse über die Rolle der eigenen Zunft in den historischen Umwälzungen der Epoche läßt sich das besonders eindringlich zeigen. Denn eine Rollenbestimmung der Soziologie könnte möglicherweise erhellen, ob — und wenn ja —, wieso dieses Fach den Fehlverlauf der jüngeren deutschen Geschichte mitbeeinflußt hat, und sei es nur in der Weise, daß die Soziologie ihrem oft erhobenen Anspruch auf gesellschaftliche Nützlichkeit nur analytisch blind und wissenschaftspolitisch hilflos nachzukommen wußte.

Bei einer Auslieferung der Soziologie an den Strom der politischen Geschichte stellt sich dann womöglich auch die Frage nach den me thodischen oder auch weltanschaulichen Gründen für das fachspezifische Versagen Und das wiederum führt zu Fragen, welche Stellung und Aufgaben sich Soziologie wie Soziologen eigentlich selbst im Verlauf der Zeit zudachten. In der Übergangsphase von 1946, die zugleich ein Neuanfang war, schien für Leopold von Wiese freilich dieser Fragenbereich ganz unproblematisch zu sein: „Wir können ohne Selbstüberhebung von der unbe lingten Notwendigkeit unserer Arbeit zeu>en, und wir können damit rechnen, daß das Verständnis für die Notwendigkeit dieser Arbeit zu keiner Zeit größer sein konnte als jetzt. Wer eine recht verstandene und deutlich um-renzte Soziologie für überflüssig hält, weiß licht, was die Stunde verlangt, und er versteht nichts von der Mahnung der Geschichte."

Hatte es aber nicht auch im gerade erst unter Aufwendung fast der gesamten Weltkräfte niedergerungenen Dritten Reich eine Art recht verstandene und deutlich umgrenzte Soziologie" gegeben? Und was hatten die Sozialwissenschaftler eigentlich in der Weimarer Republik geleistet? Hatten sie selbst damals die „Mahnung der Geschichte" recht verstanden? Die Suche nach der historischen Rolle und sozialen Leistung der eigenen Wissenschaft — die dem Soziologentag in Frankfurt 1946 gut zu Gesicht gestanden hätte — hat dabei einen biographischen und einen funktionalen Aspekt. Was die Soziologen der unterschiedlichen Richtungen sich und der eigenen Disziplin jeweils zutrauten, ist ja keineswegs mit dem kulturellen Einfluß dieses Faches oder auch nur mit seinen objektiven Aufforderungen deckungsgleich. Der Druck sozialer Probleme, der einst der Soziologie als Wissenschaft ins Leben half, kann in unsicheren Zeiten ganz andere theoretische Vorleistungen verlangen, als die Zunft bei ihren Diadochenkämpfen vielleicht gerade diskutiert Anders formuliert: Eine soziologische Beleuchtung etwa der Schichtzugehörigkeit professioneller Soziologen oder auch ihrer politischen Werthaltungen in kontroversen historischen Momenten kann verdeutlichen, daß selbst die . berufenen'Beobachter gesellschaftlicher Vorgänge trotz aller hier einmal unterstellten wissenschaftlichen Aufgeschlossenheit ihrerseits auch nur die Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit wahrzunehmen pflegen, die sie sich willentlich aussuchen. In einer Untersuchung über die „Soziologie in der Eremitage“ hat die Soziologin Renate Mayntz auf eine wichtige Ursache solcher Engstirnigkeit aufmerksam gemacht: „Die Mittelklassenlage der meisten Soziologen und ihre Berufsrolle ... bedingen, daß sie weder selbst ein großes Maß effektiver Macht besitzen, noch umgekehrt von ihr in bedrückender Abhängigkeit stehen. Sie vernachlässigen das Phänomen der Macht, weil sie mit ihm in seinen krasseren Spielarten selten in enge Berührung kommen."

Auch Selbstverständnis und Rollenzuweisung der Soziologie unterliegen dem historischen Wandel. Sie sind dabei eingebunden in die ideologischen und sozialen Auseinandersetzungen der jeweiligen Epoche, über vielfältige Diffusionsprozesse beeinflussen die Soziologen als intellektuelle Kulturträger ihrerseits aber auch in unterschiedlich großem Ausmaß ihre Gegenwart. Die Soziologie war und ist mithin Ausdruck, oft kritischer Ausdruck, selten aber ausdrückliche Kritik der politisch wechselnden Zeitläufe. Und solche unreflektierte Wertübernahme des tagespolitisch Gängigen durch die Soziologen beziehungsweise durch ihr Fach kann zuweilen soweit gehen, daß auch jede wissenschaftliche Distanz oder Neutralität verloren geht Welche Folgen eine derartige Einvernahme auf die Produktivität der Soziologie als Instanz für die soziale Selbstanalyse einer Gesellschaft haben kann, das führt schlaglichtartig der Diskussionsverlauf des Nachkriegs-Soziologentages von 1946 vor Augen.

Weitermachen wie bisher

Zu den dringlichen Aufgaben einer Gegen-Wartsanalyse, die man sich 1946 vorgenom-men hatte, gehörte in engerem Sinne auch die Aufarbeitung der Rolle, die die eigene Diszi-plin vor und nach 1933 gespielt hatte. Erst aus einer derartigen Bestandsaufnahme ließen Sich vielleicht auch Impulse für das zu pla-ttende Verhalten im demokratischen Neuerungsprozeß nach 1945 gewinnen. Hatte die Soziologie dazu einen spezifischen Beitrag zu leisten? Ergab sich aus dem besonderen Gegenstand der Soziologie möglicherweise auch die spezielle Befähigung oder auch Pflicht, negative, etwa undemokratische Strukturelemente oder Einstellungen aufzudecken und in ihren schädlichen Folgen anzuprangern? Und hatte die Soziologie in der Vergangenheit ihre Befähigung zur innergesellschaftlichen Aufklärung wirklich unter Beweis gestellt? Oder war sie — wie andere Universitätsfächer auch — blind, hilflos oder gar begeistert in den Sog des Totalitarismus geraten?

Fragen über Fragen türmten sich 1946 auf, allerdings keineswegs nur vor den Soziologen. Bedauerlicherweise aber wurde, trotz des Anspruchs, mit dem man angetreten war, keine dieser Fragen in Frankfurt diskutiert, geschweige denn beantwortet Das Dritte Reich schien überhaupt nicht stattgefunden zu haben. Jener Mythos der . Stunde Null'beherrschte den Saal. Als gäbe es keine ursächlichen Zusammenhänge aufzuklären, verbannte der neue Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Leopold von Wiese, die Vergangenheit mit den Worten: „Um nicht... alte Wunden aufzureißen, verzichte ich auf die Schilderung der dramatisch betrübenden Geschehnisse jener Jahre" als emotional bedrückend aus der Tagesordnung.

War diese Haltung aus dem Selbstverständnis des Faches heraus vertretbar, so menschlich verständlich sie war? Wie in allen anderen Disziplinen so auch in der Soziologie „deckte nach 1945 das große Schweigen alles zu“, wie Ernst Topitsch die Lage kennzeichnete. Auch unter den Soziologen in Frankfurt galt stillschweigend die Übereinkunft einer für die Nachkriegszeit üblichen Weißwäscherei. . Alles ist wie ausradiert", kommentierte einst Harry Graf Kessler die Lage in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, „nur nicht der Knick in der Wirbelsäule" Warum sollte es diesmal anders sein? Wie dem auch sein mochte: Für die Soziologie gab es keine . unbewältigte Vergangenheit', so von Wiese, weil es einfach nichts zu bewältigen gäbe, über die Herkunft, den Verlauf und die Wunden, die der Faschismus auch der eigenen Disziplin geschlagen hatte, schwieg man beredt.

Zu pauschal entlastete in diesem Sinne Leopold von Wiese vor versammeltem Forum ein für allemal sein Fach: „Ich glaube nicht, daß es gerecht oder auch nur sinnvoll wäre, von einem Versagen der Soziologie zu sprechen. Platos Traum, daß die Philosophen Könige sein sollten, hat sich nur sehr selten verwirklicht, und Auguste Comtes Traum, daß die Soziologen die Welt regieren möchten, ist fast ein Scherz geblieben."

Gott sei Dank, sollte man hinzufügen, betrachtet man die irreale Welt der späten Sozialtheologie bei Comte oder auch die oft heillose Abgehobenheit heutiger soziologischer System-Phantasien. Gleichwohl aber trifft die bescheidene Einschätzung soziologischer Einflußnahme auf den politischen Raum nicht zu, die von Wiese hier als Entschuldigung anführt Vielmehr hat die Soziologie — wenn auch oft noch unter anderem Namen und über vielerlei Umwege — in der industriellen Neuzeit eine erhebliche Rolle gespielt, was nicht zuletzt gegen den erbitterten Widerstand älterer Universitätsfächer zu ihrer Institutionalisierung geführt hat. Die akademische Welt erkannte schon frühzeitig in der Rahmenabsteckung der Soziologie eine Bedrohung eigener Besitzstände. Auch an der gleichsam kultursoziologischen Wirkung der Sozialwissenschaft als Ausdruck und Interpret der sich rasch wandelnden Industriegesellschaft ist ihr wachsender Einfluß zu erkennen.

Ein Rückblick macht deutlich, wie gründlich die soziologische Sichtweise die wechselnden Gesellschaftsbilder der Neuzeit durchwürzt hat. Großenteils in trivialisierter Form, aber bis in ihre Träume hinein spürbar, hat die industrielle Gegenwart von der Soziologie Erklärungs-und Kontrollhilfen abgeleitet. Die ursprüngliche Nähe von Soziologie und Sozialismus vermag das ebenso anzudeuten wie die für das Gedeihen der konfliktuellen Wirtschaftsgesellschaft so entscheidende sozialpolitische Lernfähigkeit der wechselnden Systemeliten. Ohne soziologische Fingerzeige hätten sich die Industriegesellschaften auf Dauer nicht stabilisieren — und damit nicht entwickeln — lassen, weil sie mutmaßlich ihren selbstproduzierten Problemen nicht beige-kommen wären. So versteht sich die Soziologie auch nicht nur als ureigene Wissenschaftsfrucht der bürgerlichen Neuzeit, sondern wollte zu Zeiten mit einem gewissen Recht auch in Nachfolge von Theologie und Philosophie die Aufgabe einer Orientierungswissenschaft übernehmen. Zwar haben sich Comtes Visionen nicht verwirklicht, die er seinem Vorbild Saint-Simon ablauschte, wonach schleunigst Soziologen an die Schalthebel der Macht gelangen sollten, um alles — selbstredend streng wissenschaftlich — zum Guten zu »enden.

Gleichwohl ist es zutreffend, daß spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die leitenden Bürokratien der entwickelten Industriegesellschaften im weitesten Sinne soziologisch’ dachten, ja argumentieren mußten, wenn sie ihr Staatsschiff nicht auf Grund laufen lassen wollten. Soziologische Sensibilität gehört mithin ebenso notwendig zur Moderne wie die Elektrizität. Und genau diese tast symbiotische Verschmelzung wird unterstellt, wenn konservative Stimmen wie der Tübinger Soziologe Friedrich Tenbruck in kulturpessimistischen Tönen vor den sozialwissenschaftlichen Neurosen von heute warnen: . Wie ein gefährlicher Fremdkörper hat sich soziologisches Wissen in die Köpfe der Menschen, in die Einrichtungen der Gesellschaft, in den geistigen Haushalt der Nationen und in unser Weltbild hineingefressen.“

Die Frage nach der politischen Bedeutung der Soziologie im historischen Wandel kann also keineswegs mit dem schlichten Hinweis auf ihre — vielleicht institutionelle — Wirkungslosigkeit abgetan werden. Der Frage muß vielmehr in allen Einzelheiten inhaltlich nachgegangen werden: Welche Gegenwartsanalysen erstellen die Soziologen konkret? Wie haben sie sich jeweils gegenüber den Machtkonstellationen ihrer Zeit verhalten? Untersuchten und deuteten sie politische Fehlentwicklungen? Oder hielten sie beizeiten den Mund? Für den Nachkriegs-Soziologentag, von dem hier die Rede ist, gehörte in diesem Zusammenhang mit Notwendigkeit auch die Frage nach der Haltung der deutschen Soziologen vor 1933, nach 1933 und damit eben dann auch: ^ach 1945 zum Thema! Sollte oder wollte man Wirklich weiterhin — wie Max Graf Solms es 1945 unverzagt verkündete — ohne Rücksicht auf die Voraussetzungen und Wirkungen soziologischer Denkweisen vor sich hin for-schen, nach dem Motto: „Als Denker und For-scher sind wir gegen alle Folgen, alle Folge-Hungen aus unseren Gedanken und Forschun-gen gleichgültig."?

Mit den politischen und sozialen Gegebenheiten haben Soziologen demnach nur praxisabgehoben zu tun. Genau im Sinne dieser Wissenschaft im Elfenbeinturm, die in Frankfurt unwidersprochen blieb, konnte aber Leopold von Wiese im weiteren die „deutsche Soziologie" freisprechen, auch diejenigen Soziologen, die sich nach 1933 durchaus aktiv im „neuen Staat“ eingesetzt hatten. In einer larmoyanten Rechtfertigungsschrift „Ex captivitate salus“ (Köln 1950) hat auch Carl Schmitt — und nicht nur er! — dieser Taktik des Reinwaschens durch Erklärungen der Unzuständigkeit höhere moralische Weihen zu verleihen gesucht Ganz im Sinne dieser Verdrängung wurde damals in Frankfurt dann auch Heinz Maus als Nestbeschmutzer gerügt, da er als einziger Teilnehmer geäußert hatte, die deutsche Soziologie habe schon deswegen versagt, weil sie auch vor 1933 das Phänomen des Faschismus wissenschaftlich vernachlässigt hätte: „Der Prozeß der Faschisierung, der sich längst andeutete und der allerdings zur Versklavung fähig war, ist von der offiziellen Soziologie in Deutschland niemals beachtet, geschweige denn beobachtet worden"

Diese Kritik blieb ohne Widerhall. Der neue Präsident der Soziologengesellschaft, die sich so mutig vorgenommen hatte, über Rolle und Gegenwartsaufgaben der Soziologie zu sprechen, nannte diesen Tadel „unbedacht" und erläuterte dann, daß die damaligen Soziologen mit Absicht „die Terminologie der praktischen Politik vermieden hätten", um der seinerzeitigen Gegenwart auf angemessen akademische Art und Weise entgegentreten zu können Es nimmt daher kaum Wunder, daß man 1946 auch wieder bloß auf solch würdig-verhaltene Weise der Gegenwart nahetreten wollte. In dem über 200 Seiten umfassenden Verhandlungsprotokoll von 1946 wird nur an einer einzigen Stelle überhaupt etwas zum Verhalten gegenüber dem Erbe des Faschismus nach 1945 gesagt. Nur der Münsteraner Rechtssoziologe Jürgen von Kempski forderte, wenn auch keine soziologische Aufarbeitung des politischen Debakels, so doch wenigstens eine handfeste Abrechnung mit dem Nationalsozialismus: „Daß diejenigen, die die Welt und uns ins Unglück gestürzt haben, die als Mord-brenner in Europa hausten, verdienten, an den höchsten Baum gehenkt oder mit einem Mühl-stein um den Hals dort im Meere, wo es am tiefsten ist, ersäuft zu werden, ist klar."

Daß dies aber keineswegs klar war, beweist der erschreckende Mangel eines verantwortungsvollen Problem-und Zeitbewußtseins unter den versammelten Soziologen in Frankfurt. Die meisten werden von solchen offenen Worten eher peinlich berührt gewesen sein. Die allgemeine Stimmung war eben ganz anders. Man hatte sich als Fach nichts zu Schulden kommen lassen — vor und nach 1933. Man hatte nicht versagt, wie böse Zungen meinten. Und nun wollte man unter der dankbar begrüßten amerikanischen Kuratel endlich von neuem mit seinem Glasperlenspiel beginnen. Und weil man ja mit sauberen Händen dastand, konnte es einem doch niemand verdenken, daß man nahtlos an die soziologischen Traditionen und ihre wissenschaftstheoretischen Grundmuster anknüpfen wollte, als gäbe es tatsächlich nichts aufzuarbeiten. So sparte man eben auch die Fehlwege der letzten zwölf Jahre aus, trotz der schreienden Notwendigkeit ihrer Klärung.

Daß die Zeit des Nationalsozialismus weder wissenschaftsgeschichtlich so glatt zu übergehen war, noch ein derartiges Verschweigen wissenschaftspolitisch ohne Folgen bleiben konnte, das zeigte bereits der folgende Soziologentag 1948 in Worms mit aller Deutlichkeit Nach dem übersehen der Ursachen und Folgen des Dritten Reiches erstanden in der Soziologie — wie übrigens im deutschen Alltag allgemein — auf den Trümmern der deutschen Geschichte bald wieder Teile der alten Identität. Das beweist nicht allein die Rückkehr der meisten engagiert-nationalsozialistischen Soziologen auf universitäre Lehrstühle. Das verdeutlichen beispielhaft auch die Auslassungen des Marburger Staatssoziologen Heinrich Herrfahrdt 1948 in Worms. Unwidersprochen erläuterte Herrfahrdt der anwesenden Gelehrtengemeinde, daß der Nationalsozialismus in Wahrheit eine Art Idealismus gewesen sei, der nur durch einige verbrecherische Elemente mißbraucht wurde. Dieser Diskussionsbeitrag aus Worms soll ausführlich wiedergegeben werden. Er verweist nicht nur auf die innersoziologischen Folgen der unterdrückten Vergangenheitsbewältigung. Derartige Argumente sind heute noch auf der Straße zu hören: „Die Zustimmung, die die Gewaltmaßnahmen der NSDAP bei einem großen Teil des deutschen Volkes gefunden haben, ist nur erklärlich, wenn man die idealistischen Grundlagen der Bewegung, die Vorstellungen von geschichtlicher Sendung in Rechnung stellt. Bei Gesprächen mit Nationalsozialisten über Konzentrationslager und dergleichen fand man kaum jemals eine Bejahung brutaler Methoden als solcher. Sehr verbreitet war aber die Antwort: . Unser Ziel ist eine wahre Volksgemeinschaft. Um sie zu erreichen, müssen wir die Hetzer mit Gewalt niederhalten ... Ist einmal das ganze Volk durch die nationalsozialistische Erziehung hindurchgegangen, dann werden wir keine Konzentrationslager mehr brauchen'. Solche Auffassungen waren nicht bloß Phrasen ... Die kleine Schar verbrecherischer oder moralisch minderwertiger Elemente im Nationalsozialismus hätte nicht eine solche Rolle spielen können, wenn die Masse der anständigen Nazis nicht in einer dem religiösen Fanatismus früherer Zeiten vergleichbaren Weise an ihre geschichtliche Sendung geglaubt hätte... Wir können daher auch heute den Nationalsozialisten, der für eine wahre Volksgemeinschaft kämpfen wollte, nicht gewinnen, wenn wir unterschiedslos alle Nazis als Verbrecher oder Verführte behandeln. Wird der idealistische Nationalsozialist heute durch Bedrohung ... genötigt, dem Nationalsozialismus abzuschwören, so bleibt das innerlich unwahr. Wir können ihn nur überzeugen, wenn wir ihm bessere Wege weisen, das Ziel der Volksgemeinschaft zu verwirklichen."

Es sollte fast zwanzig Jahre dauern, bis die Haltung der deutschen Universitäten und damit auch die Rolle der Soziologie zum Gegenstand öffentlicher Debatten wurde. Erst die Studentenbewegung hat auf die Klärung der Zusammenhänge von Machtinteressen, Sozialtheorien und Tendenzen zur Entdemokratisierung gedrängt. Bis dahin waren freilich die bald nach 1945 wieder avancierten Spitzensoziologen des Dritten Reiches wie Hans Freyer, Karl Heinz Pfeffer, Karl Valentin Müller oder auch Arnold Gehlen — um nur einige wenige zu nennen — zumeist längst emeritiert oder gestorben. Das Problem der biographischen Kontinuität hatte sich derart vielleicht erledigt, bestehen blieb aber das der fachlichen Kontinuität Diese zeigte sich in der ungebrochenen gesellschaftspolitischen wie wissenschaftstheoretischen Gleichgültigkeit — mithin auch Anfälligkeit — gegenüber rechts-oder linksradikalen Ideologien und eben auch gegenüber dem Nationalsozialismus, welche die Soziologie noch nach 1945 an den Tag legte. Wie war das möglich?

Soziologie im Faschismus

Wenn schon nach 1945 eine Verarbeitung der eigenen Irrwege zugunsten eines scheinbar unbeschwerten Neubeginns verworfen wurde, so war doch, auf den ersten Blick jedenfalls, der Bruch mit der soziologischen Normalität nach 1933 um so bemerkenswerter. Das drückte etwa der brutale Tatbestand aus, daß ein Großteil der bekannteren deutschen Soziologen der damaligen Zeit, wie Alfred Meusel, Paul Honigsheim, Max Horkheimer, Götz Briefs, Theodor Geiger oder Karl Mannheim, außer Landes getrieben wurden. Von den 55 haupt-und nebenamtlich beschäftigten Vertretern der Soziologie an den deutschen Hochschulen waren — laut bisherigem Kenntnisstand — nach den „Säuberungswellen" und der 1938 abgeschlossenen „Gleichschaltung" der Universitäten nur noch 16 als Dozenten tätig. Und doch: Der in der Literatur einhellig vermittelte Eindruck, dieser Exodus beweise, in Deutschland habe nach 1933 keine Soziologie mehr stattgefunden und dieser Auswanderungsprozeß belege schlagend die Unverträglichkeit von Nationalsozialismus und Soziologie, — dieser Eindruck trügt. Denn weder wurde die Soziologie in Deutschland verboten, noch läßt sich aus den angeführten Vertreibungsziffern ableiten, daß alle Emigranten auch politische Gegner der Entwicklung im Lande gewesen seien, wenngleich sie deren Opfer wurden, da sie zumeist aus sogenannten rassischen" Gründen auswandern mußten.

Auch die Übergangsphase vor und nach 1933 ist wesentlich vielschichtiger, als sie auf den ersten Blick erscheint. Bei genauerer Betrachtung kann gerade dieses historische Wechselbad die besonderen kulturellen und politischen Schwächen der sozialwissenschaftlichen Intelligenz verdeutlichen. So zeigt sich hier etwa, wie tief das soziologische Fachden-ken in die jeweilige Nationalkultur eingebunden ist Sichtbar wird auch, daß selbst anscheinend hochabstrakte Methodenfragen, die für die Selbstfindung der Soziologie als Wissenschaft durchaus eine beachtliche Rolle gespielt haben mögen, zumeist durch außerwissenschaftliche und umweltbezogene Motive vermittelt sind. Selbst jene einst von Max Weber der deutschen Soziologie mit auf den Weg gegebene „Werturteilsenthaltsamkeit", die Erwin Scheuch noch immer mit den Worten: „Ich bin agnostisch gegenüber dem Charakter der Gesamtgesellschaft!" positivistisch vertritt selbst diese Haltung hatte und hat ja soziale Gründe, ebenso wie auch erhebliche politische Folgen 17a).

Was der deutschen Soziologie 1933 tatsächlich passierte — und darin erging es ihr nur wie allen anderen normativen Disziplinen mit Praxisbezug —, das war der neuerhobene Anspruch des Staates, sie solle sich gefälligst im Sinne der „neuen Zustände" rasch und sichtbar nützlich machen. Die Soziologie war unter dem Hakenkreuz keineswegs als theoretisches Werkzeug verpönt, sie geriet nur in ihrer — wie es damals hieß — „intellektualistischen und individualistischen“ Form unter Ideologieverdacht. Daß die Nationalsozialisten gegen eine parteiliche und praktikable Gesellschaftswissenschaft grundsätzlich nichts einzuwenden hatten, das mag exemplarisch eine historische Kuriosität andeuten:

Als sich Adolf Hitler 1932 gegen Hindenburg um die Reichspräsidentenschaft bewerben wollte, benötigte er rasch die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Einbürgerung Hitlers war bereits einmal 1930 in Thüringen mißlungen, weil der Führer es für unter seiner Würde hielt, als Gendarmerie-Kommissar in Hildburghausen aufzutreten, um Deutscher werden zu dürfen. Nun versuchte es der NS-Minister Dietrich Klagges erneut im kleinen Freistaat Braunschweig, den er mitverwaltete. Diesmal hatten die Nazis einen angeseheneren Posten für ihren Parteichef im Auge. Der Führer sollte zum außerordentlichen Professor für „Organische Gesellschaftslehre und Politik" — mit anderen Worten also für Soziologie — an der TU Braunschweig ernannt werden. In einer amtlichen Aufzeichnung von Mitte Februar 1932 heißt es: „Wie mir mitgeteilt wird, würde Herr Schriftsteller Adolf Hitler, München, Prinzregentenplatz 16/11, bereit sein, einen derartigen Ruf anzunehmen."

Hitler wurde dann am Ende doch kein Soziologe, sondern Regierungsrat im Landeskulturund Vermessungsamt „mit Sonderaufträgen der Regierung“ bei der braunschweigischen Gesandtschaft in Berlin. Aber die Tendenz wird deutlich: Gegen die Gesellschaftswissenschaft als solche bestand keine Animosität, eher umgekehrt, man benötigte sie dringend zur Durchplanung der braunen Gesellschaft, wie es viele Vorhaben der damaligen Zeit verdeutlichen. Freilich wollte man eine hand-zahme Soziologie, eine totalitäre Wissenschaft im Sinne jener Leitdefinition von Josef Goebbels, die für alle Zweige am Baum der Wissenschaft galt: „Die Wissenschaft hat nur das Recht, aus den bestehenden Zuständen eine neue Gesetzlichkeit herauszulesen, und darum ist der durch eine Transponierung unserer nationalsozialistischen Gesetzlichkeit entstandene Zustand — Gesetz. Er stellt einen neuen Normalzustand für das Volk dar und entzieht sich der wissenschaftlichen Kritik.“

Noch deutlicher hat Hitler die beabsichtigte Indienstnahme der Wissenschaften mit einer antiintellektuellen Verwerfung ihrer bisheri gen Formen verbunden, wobei vornehmlich die Geistes-und Sozialwissenschaften betrol fen waren, bei denen sich durch die Verflech tung von Gegenstand und Beobachter von selbst gesellschaftspolitische Wertungen eh stellten: „Der Gedanke einer freien, vorausset zungslosen Wissenschaft konnte nur im Zeit• alter des Liberalismus auftauchen. Er ist absurd. Mit dem Schlagwort von der . objektiv® Wissenschaft'hat sich die Professorenschat nur von der sehr nötigen Beaufsichtigung durch die staatliche Macht befreien wollen.“ Nach 1933 hatte keine Wissenschaft mehr Bestand, die nicht „systemkonform" auftrat. Die „Freiheit der Wissenschaften“ galt als Steckenpferd „akademischer Dunkelmänner", die laut Alfred Rosenberg sowieso nur ihren Privat-anschauungen einen „Anstrich von allgemein-gültigen Leitsätzen" verleihen wollten. Solche Haltung war parasitär und darum politisch riskant, so die Argumente. Wer die „Gleichschal tung" nicht mochte, konnte ja gehen. Derartige Unterwerfungsforderungen mußten dabei in Soziologie härter als etwa in der Byzantinologie durchschlagen, wie der Frankfurtei Soziologe Heinz Marr 1934 durchblicken ließ: „Schwierig ist die heutige Lage besonders für den Soziologen, denn sein geistiges Wirken ist notwendig ... . gegenwartsbezogen’. Man kam ihn nicht, wie den Historiker, auf ein Gesten verweisen, auch nicht auf ein Morgen, das nunmehr ausschließlich dem Politiker überantwortet ist, da des Soziologen besondere Aufgabe gerade darin liegt, das Heute und Hier denkend zu erfassen."

Nicht die Beseitigung der Gesellschaftswissenschaften war also beabsichtigt, wohl aber eine . Ausmerzung" ihrer bisherigen Inhalte und Formen. „Die Wirklichkeit läßt sich nicht erkennen, sie läßt sich nur anerkennen." Diese einprägsame Kurzformel von Ernst Forsthoff aus dem Jahr 1933 bringt die wissenschaftstheoretische Ausgangslage der damaligen Soziologie auf einen Nenner. Für das soziologische Gewissen wirkte dabei die Haus-tradition einer „Werturteilsenthaltsamkeit durchaus entlastend, die etwa Heinz Marr zur gleichen Zeit mit dem Satz umschrieb, der Soziologe müsse derzeit „ein Optimum an Ab-sichtslosigkeit mit einem Maximum an Teilnahme vereinigen lernen. Diese . Urteils-enthaltsamkeit'konnte der soziologischen Lehrmeinung in Deutschland in der Nachfolge von Max Weber auch in garstigen Zeiten nicht so schwerfallen. Hatten sich die deutschen Soziologen nicht einst geradezu geschworen, nur das zu untersuchen, was bestand, und auf keinen Fall das zu erörtern, was sein sollte? Ferdinand Tönnies — der übrigens 1932 aus Protest gegen die irrationale Zeitströmung der SPD beitrat (während zur gleichen Zeit Theodor Geiger sicherheitshalber die Sozialdemokraten wieder verließ) — hatte dem jungen Fach dies wissenschaftstheoretische Programm auf dem 1. Soziologentag 1910 in Frankfurt ausdrücklich mit auf den Weg gegeben:

. Wir wollen als Soziologen uns nur beschäftigen mit dem was ist, und nicht mit dem, was nach irgendwelcher Ansicht, aus irgendwelchen Gründen sein soll. Unser nächstes Objekt ist die gegenwärtige Wirklichkeit des sozialen Lebens in ihrer unausmeßbaren Mannigfaltigkeit.“

Dieses selbstauferlegte Leitpostulat erlaubte nun beides: Einmal die hehre Abstinenz von allen gesellschaftlichen Vorgängen, zum anderen eben aber auch die Anpassung — an die jeweils bestehenden Zustände, auch an die im Dritten Reich herrschenden Voraussetzungen. Eigene, soziologisch tragfähige Kriterien zur Bewertung der gesamtgesellschaftlichen Beschaffenheit hatte die Soziologie in Deutschland sich ja selbst untersagt! Der beschriebene Exodus vieler einflußreicher Soziologen hatte daher zwar oft objektive Gründe, jedoch nicht unbedingt auch subjektive Motive. Immerhin mißfiel vielen, gerade auch konservativ eingestellten Wissenschaftlern der rüde Stil, mit dem nach 1933 an den und mit den Universitäten umgesprungen wurde. Martin Heideggers Berüchtigte Freiburger Rede über „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität" bei der Rektoratsübernahme am 27. Mai 1933 kann solchen Abscheu ebenso einflößen wie — um nur diese Beispiele anzuführen — die „Führung" der Hamburger Universität durch den Historiker Gustav Adolf Rein, für den „dieses Volk in seinen Hochschulen keine Feinde und keine Fremdlinge dulden durfte", wie es in seiner Rektoratsrede vom 5. November 1934 hieß. So hatte man sich „die kommenden Dinge" (Rathenau) nicht vorgestellt, als man in seinen Studierzirkeln über einen charismatischen Zauberlehrling nachsann, der Deutschland aus seiner gegenwärtigen Schmach und inneren Zerrissenheit erlösen sollte. Aus diesem Blickwinkel also täuschen die so häufig ins Feld geführten Emigrantenzahlen ganz einfach. Die Soziologie war keineswegs außer Landes gegangen.

Die Emigrantenzahlen lassen sich durch eine nicht minder eindrucksvolle Liste von zurückgebliebenen Soziologen relativieren. Genannt seien hier nur unter anderen Alfred Vierkandt, Johannes Plenge, Hans Freyer, Werner Sombart, Leopold von Wiese, Arnold Gehlen, Carl Brinkmann, Franz Wilhelm Jerusalem, Gunther Ipsen, Max Graf zu Solms oder auch Hans Lorenz Stoltenberg. Bei genauerer Prüfung stellt sich überdies heraus, daß die Soziologie, wenn auch oft unter anderer Bezeichnung, während des Dritten Reiches in vielen Bereichen der gesellschaftlichen Planung, Ordnungssicherung oder auch . Sinnstiftung'voll in das System eingebunden worden ist. Somit traf zu, was der Hamburger Soziologie-professor Andreas Walther rückblickend im Jahre 1939 schrieb: „Das Paradepferd der deutschen Soziologie des letzten Jahrzehnts vor dem Umbruch, das gescheite Theoretisieren, ist mit vielem Entarteten sonst in der nationalsozialistischen Revolution versunken ... Das intellektualistische Theoretisieren hatte besonders viele Juden’ auf das soziologische Feld gezogen. Die dem Nationalsozialismus ablehnend Gesinnten wurden restlos . erfaßt'."

Gleichzeitig erhielt die neue .deutsche Soziologie', die sich theoretisch erst noch genauer bestimmen wollte, umgehend praktische Aufgaben zugewiesen. Das verdeutlicht eine exemplarische Dissertation der damaligen Zeit, die der Rumäne Anton Golopentia 1936 bei Freyer und Gehlen in Leipzig über , Die Information der Staatsführung und die überlieferte Soziologie'anfertigte. In ihr weist der Verfasser seiner Wissenschaft neue Tätigkeitsfelder zu, nachdem er ausführlich ergründet hat, wieso die bis vor kurzem andauernde „Epoche der Liberalität" die traditionelle „Soziologie zum Mittel ohne Zweck" hatte herunterkommen lassen: „Die Aufgabe der Soziologie ... ist es, dem Herrscher im Gang durch jeweils Neues hindurchzuhelfen, die Führung des Staates zu ermöglichen. Sie muß mittels früherer Erfahrungen nach Möglichkeit über das im nächsten Augenblick Fällige orientieren und in diesem Gange ihren Vorrat an Erfahrungen pflegen, das nicht mehr Brauchbare herauskämmen, Neuhinzugekommenes ein-flechten."

Die Soziologie als Obversations-bzw. Informationswissenschaft im Sinne einer praktikablen Führungsberatung war nach 1933 sehr wohl gefragt. Das setzte freilich in der Tat eine gewisse Abkehr von der bevorzugten Distanz der Soziologen zur Gegenwart voraus. Diese — wie es damals hieß — . Umkehr der Wissenschaft’ kam unmißverständlich auf dem nationalsozialistischen Soziologentreffen Anfang Januar 1934 in Jena zum Ausdruck, zu dem mit der erklärten Absicht einer „Zusammenfassung der antiliberalen Kräfte" in einem Rundschreiben vom 23. Dezember 1933 eingeladen worden war.

Unter . Führung'des neuen Frankfurter Universitätsrektors Ernst Krieck, Pädagoge seines Zeichens und zugleich Obmann des . Amtes für nationalsozialistische Wissenschaft und Erziehung'im inzwischen . auf Vordermann'gebrachten . Deutschen Hochschulverband’, wurde die zur Eingreifwissenschaft („der Soziologie stehen ungeheure Aufgaben bevor" frisierte Soziologie in einem Grundsatzreferat von Reinhard Höhn besonders auf den Begriff der . Gemeinschaft'angesetzt: „Man kann nicht verlangen, daß heute eine Wissenschaft entsteht, die in der Lage ist, ein fertiges System, vom Gemeinschaftsboden ausgehend, an die Stelle des bisherigen individualistischen Systems zu setzen ... Jeder, der heute eine endgültige Begriffswelt aufzubauen und das Neue schon endgültig einzuordnen versucht, hindert die Entwicklung... Er ist selbst unbewußt Reaktionär. Wir müssen uns heute bewußt werden, daß wir im Umbruch stehen. In dieser Zeit können wir nur eins tun: Wir müssen uns immer stärker vom Gemeinschaftsgeist unserer Zeit durchdringen lassen, in diesen Gemeinschaften leben, uns über die grundlegenden Gemeinschaften unseres Lebens, die Familie, die Sippe, das Arbeitslager, die SA... klarwerden, dann werden wir ...sehen, wie falsch es war, wenn die Wissenschaft vom Gegensatz zwischen einzelnen und Gemeinschaft'sprach, von ...der Rechtssicherheit des einzelnen gegenüber der Gemeinschaft."

Gemeinschaftsmystik

Mit dem romantischen Kernbegriff der . Gemeinschaft'als . ersehnter Volksordnung'(Rosenstock-Huessy) konnte der Nationalsozialismus auf einen traditionellen Terminus der soziologischen Fachdiskussion zurückgreifen. Dieser Zentralbegriff ist keine Schöpfung des Dritten Reiches. Seine Verwendung nach 1933 politisierte vielmehr nur einen wesentlichen Forschungsgegenstand nicht nur der Zwischenkriegszeit, sondern bereits der Soziologie im Kaiserreich. Jenseits aller ärgerlichen Stilfragen beim Umbau der deutschen Universitäten nach der . Machtübernahme'und damit nun einmal verbundener . Umstellungsschwierigkeiten'offerierte gerade die Festlegung der braunen Herren auf den Begriff der . Gemeinschaft'eigentlich auch der eher traditionell orientierten Soziologie einen Zugang zur neuen Zeit. Gerade dieser Fachterminus also, der seit Erscheinen des ersten soziologischen Lehrbuches im Jahre 1887 — nämlich Ferdinand Tönnies’ . Gemeinschaft und Gesellschaft'— einen Hauptgegenstand der deutschen Soziologie bildete, vermag solche inhaltliche Kontinuität anzudeuten.

Das wird verständlich, wenn man beispielsweise die 1936 von Leopold von Wiese eingeleitete Festschrift . Reine und angewandte So-ziologie‘ zur Hand nimmt, die der Leipziger Buske-Verlag zu Tönnies'achtzigstem Geburtstag herausbrachte. Diese Festgabe hinterläßt beim Leser heute einen sehr gemischten Eindruck, weil sie nicht nur aufschlußreiche Beiträge international bekannter Soziologen versammelt, sondern auch einschlägige, nationalsozialistisch geprägte Artikel wie den von Ernst Jurkat über eine , Soziographie des moralischen Lebens'enthält, in dem klipp und klar „der innere Feind" als „Träger moralischer Unwerte" denunziert wird In seinem Beitrag zu diesem Buch versuchte auch Leopold von Wiese mit Hilfe der Gemeinschaftsvorstellung eine Annäherung an die veränderten Verhältnisse zu begründen:

Die Jahre vor dem großen Umschwung in Deutschland sind der Soziologie günstig gewesen. Daran braucht sich heute nichts zu ändern. Im Gegenteil, befreit man, wie es geschehen ist, den Sozialismus von allen Verbindungen mit dem ökonomischen Materialismus, dem Prinzip des Klassenkampfes und den antinationalen Zutaten, so erhebt sich eine Idee der Gemeinschaft, die eine Sache der Sittlichkeit und des Glaubens ist, die aber wissenschaftlich durch das Studium des zwischenmenschlichen Zusammenhangs gefördert wird ... Mit jedem Tage stellt sich mehr heraus, daß die im Vordergrund des Strebens stehenden biologischen Lehren von der Rasse und der Vererbung sowie die Idee des Volkes und des Volkstums dringend der Ergänzung und vor allem Festigung durch eine Wissenschaft vom kulturellen (nicht bloß natürlichen) Zusammenhang der Menschen bedürfen." Der langjährige Nachkriegspräsident der Gesellschaft für Soziologie — Leopold von Wiese —, der bereits 1948 auf dem Soziologentag in Worms wieder den „Verfall einer wahren Gemeinschaftsgesinnung" beklagen sollte, zeigte schon 1936, durchaus in Überein-stimmung mit der herkömmlichen soziologischen Sprachregelung, großes Verständnis für die Bemühungen um die Begründung einer nationalsozialistischen . Soziallehre': „Als in den letzten zwei Jahren einige Heiß-sporne unter den jüngeren Fachgenossen fast alles entzweischlugen, was wir in den vorausgehenden Jahren aufgebaut hatten, war in der Tat das hauptsächliche Motiv das Mißtrauen, man könnte mit den bisherigen Denkweisen und Arbeitszielen dem neuen Gemeinwesen und Volkstume nicht so dienen, wie es verlangt werden müßte. Der revolutionäre Eifer ergab sich aus einer Begeisterung für die Wiedergeburt des deutschen Volkes, die wir Älteren so respektieren, daß die damit verknüpften Bitternisse persönlicher Art nebensächlich werden. Die einzige Frage, die mit dem Gefühl der Verantwortlichkeit geprüft werden muß, ist, ob dies Mißtrauen sachlich gerechtfertigt ist, und ob es nicht zu großen Schaden anrichtet... Das, was hier mit Schaden gemeint ist, betrifft lediglich die Frage, ob der Aufbau des deutschen nationalen Volks-und Staatslebens die Mitarbeit der allgemeinen Soziologie entbehren kann." 33a)

Soziologie als Lehrfach

Bei aller formellen, personalen und zum Teil auch wissenschaftstheoretischen Umbruch-stimmung im Jahr 1933 läßt sich — wie dann in schwächerem Maße wiederum 1946 — im Bereich der Soziologie eben auf inhaltlichem Gebiet eine gewisse Kontinuität nicht verleugnen. Jener . Hunger nach Ganzheit', der laut Peter Gay die Zwischenkriegszeit prägte, die mit Leopold Schwarzschild ausgedrückte brodelnde metaphysische Libido'dieses Landes, schloß ja die Soziologen als Zeitgenossen ein. Das später von Theodor Geiger verspottete Bedürfnis zum .seelischen Aufgehen in der molligen Kuhstallwärme der Gemeinschaft', die romantische Flucht aus der kalten und deformierten . Gesellschaft'also, all das entsprach in Deutschland seit langem einer . sozialpsychologischen Grundströmung, die nicht zuletzt durch den schmählichen Niedergang des Liberalismus schon unter Bismarck besiegelt wurde. Die von Tönnies frühzeitig zelebrierte soziologische Gegenüberstellung von hier Gemeinschaft und dort Gesellschaft brachte das nur auf einen einprägsamen Nenner. In immer neuen Anläufen und in den unterschiedlichsten Disziplinen entsprach ja der zivilen Unmündigkeit der deutschen Intelligenz ihre Suche nach einer nationalen Voll-identifikation. Das schlug sich zumeist auch in einer mystischen Abgrenzung der deutschen Kultur gegen eine dekadent-westliche Großstadt-Zivilisation nieder. Dazu der Soziologe Max Scheler: „Was dieser geistig sittliche Zerfall anzeigt..., das ist allein die tiefe Demoralisierung, welche die kapitalistischen und bourgeoisen Lebensformen, eine maßlose allgemeine Pleonexie, die damit einhergehende Verweichlichung und Materialisierung des Lebens ... geschaffen hatten."

Die Soziologie war zu Anfang der Weimarer Republik als akademisches Lehrfach freilich noch kaum vertreten. Doch wurden immerhin nach 1919 Soziologie-Lehrstühle etwa in Frankfurt, Köln und Hamburg eingerichtet; aber erst 1929 beschloß Preußen als einziges Land, an allen Universitäten Soziologie anbieten zu lassen. Gleichwohl war der wirkliche Einfluß soziologischer Argumente — auch im akademischen Bereich — ungleich größer, als die Anzahl der Lehrstühle vermuten läßt. Denn bedeutende Soziologen wie Max Weber, Georg Simmel, Werner Sombart u. a. saßen Lehrstühlen, die für Nationalökonomie, Philosophie oder auch Staatswissenschaften ausgeschrieben waren. Als junge Disziplin, die sich gegen die fest etablierten Fächer erst einmal abgrenzen und behaupten mußte, hatte die Soziologie wissenschaftsmethodologische Fragen aufgeworfen, die auch in die anderen Fächer hineinstrahlten. Diese Grundsatzdebatten wiederum verhalfen der akademischen Karriere des Faches zum Erfolg, so daß auf dem 7. Soziologentag 1930 in Berlin der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Adolf Grimme — selbst ein Scheler-Schüler —, die anwesenden Gelehrten mit der Versicherung erfreuen konnte, daß nun endlich „die junge Wissenschaft der Soziologie nicht mehr wegzulächeln sei" Gerade diese scheinbar hochabstrakten Methoden-streitigkeiten bestimmten aber auch die zu Zeiten unpolitische, zu Zeiten politisch opportune Haltung der Soziologie und damit ihr Fortkommen in wechselnden Zeiten. Zur Erläuterung dieses Zusammenhangs zwischen wissenschaftstheoretischer Eigenbrödelei und politischer Unmündigkeit ist ein kurzer Rückblick auf die Anfänge der Soziologie in Deutschland geboten.

Aufgaben der Soziologie

Als Lehre von den sozialen Bewegungsabläufen ist die Soziologie eine Wissenschaft der Neuzeit. Mit der Industrialisierung geriet das Schichtgefüge der Gesellschaft in den Strudel unkontrollierter Prozesse. Soziale Großgruppen verloren ihre gewohnte Stellung, andere stiegen auf. Alle überkommenen Wert-und Verhaltensmuster verfielen dem objektiven Druck des raschen Sozialwandels, dessen Richtung völlig unbestimmbar schien. Diese soziale Mobilität ungekannten Ausmaßes mußte beachtet und untersucht werden, wenn das Fundament der neuen Bürgergesellschaft erhalten bleiben sollte. In Deutschland hat zuerst Lorenz von Stein bereits in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit seiner mehrbändigen . Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage'(1842/1850) einer zukünftigen Soziologie weitsichtig vorgeschrieben, worauf es wissen-

Danach war es die Aufgabe der Soziologie, die bestehenden Strukturen aufzudecken, um damit zu ihrer Optimierung beizutragen. Kritik und Konformität waren in diesem Ansatz ebenso unauflöslich verknüpft wie Wissenschaft und Praxis; das eine war ohne das andere nicht möglich. Es galt, die strukturellen Gründe, möglichen Hemmungen und motivationalen Folgen einer dauernden Selbstveränderung aller überkommenen Einrichtungen und Werte aufzuarbeiten. Das verpflichtete zu einer Analyse der industriellen Polarisierungsvorgänge. Und hier war durchaus die radikalste Sicht gefordert, weil nur die umfassende Genauigkeit ohne Scheuklappen z. B auch systemoppositionelle Handlungsmotive abweichender Großgruppen erklären kann Denn konnten diese eingeordnet werden dann sollte der soziale Erkenntnisgewinn in Vorschlägen an die Verwaltung einmünden, wie den gesellschaftlichen Mißständen — im Interesse des Ganzen — konkret so zu begegnen sei, daß nicht immer nur die Symptome, sondern auf Dauer auch die Schadensursachen bearbeitet würden. Dabei erkannte diese frühe Soziologie gerade mit Hilfe des Schlüsselbegriffes Sozialwandel, daß es nie mehr eine . harmonische Gesellschaft'geben werde. Staatliches Handeln konnte hinfort Konflikte wohl noch .depolarisieren', nicht aber verhindern! Ausdruck dieser Lageeinschätzung war die Begründung einer gezielten Sozialpolitik, weil nur sie — in Addition zur Schulung, Stimulierung und Bewachung — den labilen Gleichgewichtszustand der modernen Kultur zugleich in Bewegung halten und dennoch ihr Zerbrechen verhindern könne.

Wichtig an dieser ausgleichenden Position, die schon damals von anderen Auffassungen geradezu erbittert bekämpft wurde, wie Heinrich von Treitschkes Streitschrift , Die Gesellschaftswissenschaft'aus dem Jahre 1859 zeigt, war also die Einsicht, daß die Soziologie den Verhältnissen bis auf den Grund gehen mußte, gerade um einen wirkungsvollen Beitrag zur Stabilisierung des modernen Industriesystems — nicht aber unbedingt seiner jeweiligen Ordnungsformen — leisten zu können. Ohne die Möglichkeit auch zur Sozialkritik mußte die Soziologie praxisblind und damit ineffektiv werden. Und ebenso bedeutsam war die Erkenntnis, daß das eigentliche Feld der Soziologie die sozialpolitische Strukturarbeit zu sein hatte, zur Überbrückung von riskanten Bruch-zonen der gesellschaftlichen Normalität Im Interesse eines sinnvollen Systemschutzes waren Theorie und Praxis daher aufeinander angewiesen. In Verfolg dieser Position schloß sich nach 1872 ein Großteil der deutschen Sozialintelligenz im . Verein für Sozialpolitik'zusammen. Diese Verbindung von Theorie und Praxis, von Kritik und Zustimmung löste erst Max Weber unter dem bereits erwähnten Stichwort einer für Soziologen unabdingbaren wissenschaftlichen . Werturteilsenthaltsamkeit'auf. Allein zur Betonung ihrer praktischen Unverbindlichkeit konstituierte sich 1909 in Berlin eine Gesellschaft für Soziologie — der 1907 die Gründung einer . Soziologischen Gesellschaft in Wien vorangegangen war — unter Federführung von Max Weber, der freilich bereits 1913 wieder austrat, weil für seinen Geschmack unter Soziologen noch immer viel zu viel von Werten und Moral die Rede war. Diese freiwillige Abnabelung von der Alltags-welt hatte wissenschaftspolitische Motive, obschon sie erkenntnistheoretisch begründet wurde. Das Engagement beispielsweise der so-genannten . Kathedersozialisten'aus dem . Verein für Sozialpolitik'schien laut Weber und den 38 weiteren Gelehrten, die die Einladung zur soziologischen Vereinsbildung mitunter-zeichneten, gefährlich in die Nähe sozialdemokratischer Positionen zu driften, obschon Gustav Schmöller mit den Worten: . Jede Revolution ist durch zeitgemäße Reformen zu verhindern; der ganze Fortschritt der Geschichte besteht also darin, an Stelle der Revolution die Reform zu setzen", immer wieder die gegenteilige Absicht deutlich zu machen versuchte.

Alltagsferne

Dieser Rückzug der Weberschen Richtung aus dem Tagesgeschehen hatte aber auch noch andere Gründe. Um die Jahrhundertwende schien die Armen-, Arbeiter-oder auch Revolutionsfrage, die bis dahin derart brisant gewirkt hatte, daß ihr alle Aufmerksamkeit zu schenken war, durch die Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entspannter zu sein als zu Zeiten eines Lorenz von Stein. Die Soziologie vermochte sich nun offenbar spielerisch mehr esoterischen Themen als ausschließlich Revolutionsvermeidung zu der etwa formalsoziologischen Modellen widmen, °der auch kulturellen Tiefendeutungen. Die-ser Rückzug der Schulsoziologie aus der Alltagsweit, der zugleich der elitären Weltenthobenheit der deutschen Mandarinen-Universität entgegenkam, hatte weitreichende Auswirkungen für das Fach. Die Abkehr von der sozialpolitischen Optik zog realitätsferne Fragestellungen und übertriebene Methodendebatten nach sich, die meist jede Aufklärung über die tatsächlich wirkenden Faktoren in der Gesellschaft vermissen ließen.

Da sich die Soziologie aus der Sozialwelt entfernte, geriet ihr der eigene Forschungsgegenstand auch mehr und mehr zum undurch-schaubaren Syndrom. Unbemerkt und unreflektiert konnten persönliche Überzeugungen in ihre Theorien einfließen. Max Weber selbst bietet ein aufschlußreiches Beispiel für die daraus folgende Hilflosigkeit gegenüber den zeitgenössischen Vorurteilen, die bei diesem Ansatz eben doch alle Forschungsvorhaben wie auch deren Ergebnisse einfärben mußten.

So huldigte Weber 1895 ganz im Sinne des damals verbreiteten Sozialdarwinismus einem abgeschmackten Übernationalismus: „Nicht Frieden und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampfum die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art."

Nicht allein das Vermeiden heikler Themen, deren Behandlung vielleicht in irgendeinem Sinne Parteinahme oder Wertung hätte bedeuten können, hat die Soziologie laut Christian von Ferber 37a) in entscheidenden gesellschaftlichen Fragen funktionslos gemacht oder sie zur bloßen Auftragsforschung degradiert. Folge der vermeintlichen Enthaltsamkeit war vielmehr, daß die Forscher dem national-kulturellen Entwicklungsweg ihrer Umwelt ständig nachliefen, über den man ja angeblich anders als durch den Austausch von Vorurteilen oder Gemeinplätzen nicht reden konnte, durfte oder sollte: „Die letzten Stellungnahmen des Wollens können mit den Mitteln der Wissenschaft nicht entschieden werden", so Max Weber dazu kategorisch Waren sie deswegen auch nicht einmal zu problematisieren? Was wunder, wenn der politische Raum, der sich mit . diabolischen Kräften'einließ, für Weber die Gelehrtengemeinde irgendwie schmutzig und unfein wirkte; daß er etwas blieb, was man verachtete und in das man sich tunlichst nicht einmischte.

Taten Kollegen das dennoch, dann wurden sie geächtet. Das zeigte z. B.der Fall des Heidelberger Sozialwissenschaftlers Emil Julius Gumbel, der 1925 öffentlich die Kriegsbegeisterung von einst zu kritisieren und vom Schlachtfeld als vom . Feld der Unehre'zu sprechen gewagt hatte und darüber fast seine Lehrbefugnis verlor, nachdem (bei einer Gegenstimme) die philosophische Fakultät in Heidelberg am 16. Mai 1925 Gumbel für untragbar erklärt hatte. Eine gleichzeitige Anklage wegen Hochverrats konnte nur abgewendet werden, weil sich Gumbel öffentlich entschuldigte Im sozialwissenschaftlichen Bereich fanden sich in der Weimarer Republik kaum zehn sozialdemokratisch organisierte Hochschullehrer. Obwohl die deutschen Universitäten den Tagesereignissen gegenüber scheinbar neutral blieben, waren sie in ihrer— wie Max Weber sich ausgedrückt hatte — . Kathederprophetie'zugleich hochpolitisch, da durchgängig erzkonservativ und elitär eingestellt, wie unzählige Zeugnisse aus allen Fächern belegen. Politisch aktiv betätigte man sich zwar nicht — weder so, noch so —, da das die erstrebte Distanz von der Objektwelt in Mitleidenschaft gezogen hätte, doch waren die Stellungnahmen in ihrer Tendenz zumeist beredt genug.

Diese Ferne prägte auch die Haltung der damaligen Sozialwissenschaften. Das zeigt sich an den auf den Soziologentagen behandelten Themen ebenso wie an den ausgesparten Fragestellungen. Auf dem letzten Treffen vor der . Machtergreifung'Ende 1930 in Berlin wurden z. B. neben Forschungsfragen zur Presse und einigen Problemen der soziologischen Begriffsbildung nur noch die Soziologie der Kunst sowie die schwierige Frage der .deutschen Stämme'erörtert. Enthaltsamkeit gegenüber drängenden Tagesproblemen, die möglicherweise auch den wissenschaftlichen Spielraum des eigenen Faches betreffen konnten, wurde übrigens auch von der in Frankfurt versammelten . kritischen Soziologie'geübt Von den Mitgliedern des dortigen . Instituts für Sozialforschung'hat sich nur Karl Wittfogel mit dem Faschismus befaßt, von allen sonstigen zeitgenössischen Soziologie-Beamten eigentlich nur noch Theodor Geiger in Braunschweig. Der emigrierte Soziologe Adolph Lowe versucht diese Blindheit zu erklären: „Die Haltung der führenden Mitglieder des Frankfurter Institutes war vor 1933 so doktrinär-marxistisch, daß sie sozusagen auf die konkreten Dinge gar nicht mehr eingehen zu müssen glaubten. Die Idee war, daß sich alles apriorisch aus der Entwicklung des Spätkapitalismus ableiten ließe.

Mit ihrer Abwertung des praktischen Sozial-engagements als eines . instrumentellen Denkens'lagen die Frankfurter also nolens volens voll auf der Linie von Max Weber — wenngleich auch aus anderen Gründen. Auch hier war in den Worten von Hans Gerth eine . absolute Traumtänzerei’ zu verzeichnen, welche die irrationalen Kräfte der Zeit entweder für unerheblich hielt oder auch völlig falsch einschätzte. Die Intelligenz, auch die soziologische Intelligenz, hatte also kaum etwas getan, um die Weimarer Republik zu stabilisieren. Erschreckend deutlich zeigt das der 5. Soziologentag im September 1926 in Wien, wo eigentlich nur der Sozialphilosoph Leonard Nelson aktiv zur Verteidigung der Demokratie aufrief. Ansonsten unterhielt man sich über die Demokratie als technische Gegebenheit der politischen Gegenwart, nicht aber als mit Händen und Füßen zu verteidigende Lebensweise.

Noch 1932 hat Hans Kelsen diese demokratische Apathie angeprangert: „In den Kreisen der Staatsrechtler und Soziologen versteht es sich beinahe von selbst, von Demokratie nur mit verächtlichen Worten zu reden, gilt es als modern, die Diktatur — direkt oder indirekt — als das Morgenrot einer neuen Zeit zu begrüßen."

Das politische wie das kulturelle Versagen der soziologischen Intelligenz hatte vielfältige Ursachen, aber letzten Endes ergänzten sie sich alle wechselseitig. Die wissenschaftstheore-tisch begründbare Wertabstinenz führte im rechten wie im linken Lager zu einer Art theoretischen Rückzugs aus der Weimarer Realität. Entweder betrieb man wie das-Frankfurter Institut schon ab 1931 —als noch kein Mensch daran dachte — eine planvolle Politik der Emigration, wie Leo Löwenthal berichtet hat, weil man über die politischen Zeitströmungen zutiefst erschrocken war, ohne ihnen deswegen aber entschieden und lauthals entgegenzutreten. Oder aber — auf der anderen Seite — diese Emigration aus Weimar nahm die Form des brennenden Wunsches nach einer neuen Gemeinschaft jenseits der System-zeit' an, wie Weimar damals genannt wurde. Zwar fehlte es — auch im Fach — nicht an mahnenden Stimmen, die vor den Konsequenzen einer derartigen Haltung warnten. So etwa 1924 Helmuth Plessner mit seinem Buch . Grenzen der Gemeinschaft'oder noch 1929 Karl Mannheims . Ideologie und Utopie'. Aber die Gegenstimmen blieben nicht nur rar, sie suchten vor allem nur eine inneruniversitäre Klärung und predigten dabei vor tauben Ohren. Jenes „tiefe Verlangen nach innerer Einheit und Harmonie“, das laut Friedrich Meinecke auch nach 1918 „im deutschen Geiste mächtig erhalten geblieben war“, übertönte alle vernunftsrepublikanischen Appelle. Am Ende behielt dann doch Max Weber mit seiner Warnung aus dem Jahr 1919 vor den . politischen Dämonen'Recht: „Je nach der letzten Stellungnahme ist für den Einzelnen das eine der Teufel und das andere der Gott, und der Einzelne hat sich zu entscheiden, welches für ihn der Gott und welches der Teufel ist... Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“

Anforderungen an das Fach

Angesichts der demokratischen Möglichkeiten in der Neuzeit hat die deutsche Soziologie in solch irrationalem Umfeld politisch fraglos versagt. Das hat ihre Rolle als sozialtechnologisches Werkzeug nicht notwendig geschmälert. Die Gründe für ein derartiges Versagen lagen während der Weimarer Republik nicht zuletzt in der emotionalen Einbindung auch der Soziologen in die nationale Kultur. Die selbstverordnete . Werturteilsenthaltsamkeit'verlieh dabei diesem demokratischen Versagen die wissenschaftstheoretischen Weihen; man konnte gleichsam mit theoretisch gutem Gewissen versagen. Erstaunlicherweise findet sich dieses reine Gewissen dann auch noch auf dem Nachkriegssoziologentag von 1946, wo die deutsche Soziologie mir nichts dir nichts zur Tagesordnung überging, so als wäre der vergangene Holocaust kein sozialwissenschaftlicher Gegenstand.

Ein Großteil der Soziologen, die sich im Nationalsozialismus in den Dienst der Sache gestellt hatten, machten in der Bundesrepublik erneut Karriere, während es den Emigranten nur selten gelang, wieder Fuß zu fassen. Vor allem unter amerikanischem Einfluß arbeitete die deutsche Nachkriegssoziologie bald betont empirisch. Sie forschte methodisch akkurat und enthielt sich aller inhaltlichen Abenteuer. Auch diese konsequente Nüchternheit kann die Soziologie freilich nicht davor bewahren, ihrer kulturellen und politischen Rolle zu werden, trotz aller eingedenk die sie gegenteiligen Selbstdarstellungen spielt. Immerhin ist die Diskussion die Werturteils-freiheit wenngleich wieder neu belebt worden, ein Gutteil der Streitigkeiten, die um so heftiger gerieten, je rascher Soziologie in der die Bundesrepublik expandierte, um das eher akademische Problem ging, ob die Soziologie auch sozialtechnologisch auftreten dürfe. Ende der sechziger Jahre spitzte sich der Hader auch zur nach politischen Rolle des Frage der Faches zu. allein schon Absicht, -Denn die sozi altechnologisch aufzutreten, bedingt in einem weiteren Schritt die Frage nach der ändernden beziehungsweise beruhigenden Funktion eines solchen Eingreifens.

Im Grunde blieben die vielen innersoziologischen Auseinandersetzungen aber abstrakte Schaukämpfe, gerade weil die Erfahrungen mit der zugehörigen Fachgeschichte — etwa im Nationalsozialismus — bis heute nicht ausgewertet worden sind. Nur dieser Rückblick auf die eigene Leidensgeschichte mit dem Leviathan kann aber unmißverständlich verdeutlichen, daß es offenbar politisch-strukturelle Voraussetzungen für eine gedeihliche Entfaltung des Faches gibt, so zum Beispiel die demokratisch-komplexe Verfaßtheit des politischen Raumes. Fehlen derartige Bedingungen, dann kann die Soziologie jederzeit wie damals im Dritten Reich oder heute in der DDB auf reine Auftragsforschung und -arbeit ohne jedes Wenn und Aber reduziert werden. Sie ist dann nützlich, aber ignorant. Die paradigmatische Vorgabe für die Soziologie heißt dann . Zustandsschutz', ohne die geringste Möglichkeit zu einer Rollendistanz der Wissenschaft beziehungsweise ihrer Träger. Sogar die Möglichkeit der innerfachlichen Zieldiskussion hängt mithin von politischen Vorgaben ab, so daß einzig das inhaltliche sowie aktive Bekenntnis zu Pluralismus und Demokratie die sinnvolle Bezugsgröße aller System-oder Methodenentscheidungen sein konnte und sein kann.

Die sich rapide verändernde industrielle Zivilisation ist nicht mehr in Richtung auf eine harmonische Gemeinschaft zu stabilisieren. Wer das will oder verspricht, kann das nur mit zwangsweise vereinheitlichenden Ordnungsmustern versuchen. Die Gesellschaft ist in Bewegung, ist Bewegung, ist Produkt und Produzent eines für die Individuen erheblichen Lerndrucks, dem diese sich nicht durch die Flucht politische in Ursprungsmythen entziehen können, sondern deren Richtung und Inhalt noch sie durch Mitdenken und Mitarbeit zu beeinflussen vermögen. Als angemessener Ausdruck dieser wissenschaftlicher Wechselseitigkeit erfüllt die Soziologie aber nur dann eine sinnvolle im Aufgabe, wenn sie Sinne von Karl Mannheim als . soziologische Lebensorientierung'in der demokratischen Moderne Entscheidungshilfen anbietet, indem sie also mit wissenschaftlicher Kompetenz die schier erdrückende Komplexität der Gesellschaft durchleuchtet und so herabmindert Die Reduzierung von Soziologie auf pharaonisehe Wasserträgerdienste für jedes beliebige System hingegen hat Ralf Dahrendorf 1958 in seinem Buch Homo Sociologicus'in einer hierzulande unüblichen offenen Kritik an den Pranger gestellt. Er mahnt daß die Soziologie etwa die Exaktheit ihrer Sozialvermessungen mit der Unmenschlichkeit ihrer Absichten bezahlen könnte, sollte sie an ihrer Rolle als blindes Werkzeug festhalten. Unter Aufarbeitung der zwiespältigen historischen Funktion der deutschen Soziologie nimmt Dahrendorf die Warnung von Max Weber endlich ernst, der bereits im Jahre 1904 in seiner Untersuchung über die . Protestantische Ethik'vor den Gefahren einer sozialwissenschaftlich gut geschmierten . mechanischen Versteinerung'der westeuropäischen Kulturen gewarnt hat. „Soll die Soziologie nicht zum Instrument der Unfreiheit und Unmenschlichkeit werden", schreibt Dahrendorf, „so ist mehr vom Soziologen verlangt. Das Bewußtsein des ganzen Menschen und seines Anspruchs auf Freiheit muß als Hintergrund jeden Satz, den er spricht oder schreibt, bestimmen; die Gesellschaft muß ihm stets nicht nur als Tatsache, sondern als Ärgernis gegenwärtig sein; das moralische Ungenügen seiner Disziplin muß als leidenschaftlicher Unterklang sein Tun an jedem Punkt begleiten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Verhandlungen des 8. Deutschen 8e 8 (Frankfurt 1946), Tübingen 1948, S. 4 f.

  2. A a. O„ S. 5.

  3. A. a. O., S. 7.

  4. Verhandlungen des 10. Deutschen Soziologentages (Detmold 1950), Köln/Opladen 1951, S. 3.

  5. Verhandlungen 1946 (Anm. 1), S. 10.

  6. Renate Mayntz, Soziologie in der Eremitage? Kritische Bemerkungen zum Vorwurf des Konservativismus der Soziologie (1961), in: Ernst Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln/Berlin 1966, S. 526— 541, hier S. 529.

  7. Verhandlungen 1946 (Anm. 1), S. 3.

  8. Ernst Topitsch. Demokratie ohne metapysische Begründung, in: Die Zeit, 13. September 1963, S. 20.

  9. Tagebücher 1918- 1937, hrsg. v. Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt am Main 1961, S. 27.

  10. Verhandlungen 1946 (Anm. 1), S. 11.

  11. Friedrich Tenbruck, Die Gesellschaftswissen-Ehaften stürzen die Gesellschaft ins Abenteuer, in: frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. März 1979, >, 6.

  12. Verhandlungen 1946 (Anm. 1). S. 82.

  13. A a. O., S. 43.

  14. Aa. O„ S. 55.

  15. A. a. O„ S. 147.

  16. Verhandlungen des 9. Deutschen Soziologentages (Worms 1948), Tübingen 1949, S. 134.

  17. Zit Die Zeit vom 26. April 1968, S. 18. 17a) Da die Alternative eine unreflektierte „Parteilichkeit" wäre, ist das methodische Bemühen um „Wertungsfreiheit" (Max Weber) als Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Leistung evident. Wird dies methodologische Prinzip aber überdehnt, indem es beispielsweise das Theorie-Praxis-Verhältnis bestimmen soll, dann gedeiht es oft selbst zu positivistischer Parteilichkeit. Wissenschaftsgeschichtlich wurde daher der Begriff der Werturteilsfreiheit oft zur Apologie jeweils herrschender Gegebenheiten oder aber zur Begründung für Handlungsabstinenz mißbraucht So hat die „Werturteilsenthaltsamkeit''auch in der Soziologie eine durchaus zwiespältige Rolle gespielt. Der 1909 ausbrechende „Werturteilsstreit" richtete sich gegen das praktische Sozialengagement und damit auch gegen die Integrationsaufgabe der Soziologie, wie sie von der älteren Tradition vertreten worden war (vgl. Ludwig Stein, Wesen und Aufgabe der Sociologie, Berlin 1898, S. 33 f.). Das Ausscheiden der Sozialpolitik aus dem Problembewußtsein einer „soziologischen Kulturwissenschaft“ (Weber) war eine notwendige Folge, überdies zog die Absage an das „Hineinmengen des Seinsollens in wissenschaftliche Fragen" (Weber) geradezu einen „Wertnihilismus" nach sich, da angesichts des von Max Weber unterstellten Polytheismus „letzter Werte“ nicht wissenschaftlich über die Zusammenhänge von „Erkenntnis und Interesse" zu diskutieren war.

  18. Vgl. Dokument Nr. 6 bei Rudolf Morsey, Hitler als Braunschweigischer Regierungsrat, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 8, 1960, S. 419 ff., hier S. 431.

  19. Wesen und Gestaltung des Nationalsozialismus, Berlin 1934, S. 12.

  20. Der Mythos des 20. Jahrhunderts. Eine Wertunf der seelisch-geistigen Gestaltkämpfe unserer Zell (1930), München 1942, S. 119.

  21. Heinz Marr. Die Massenwelt im Kampf um ihre Form, Hamburg 1934, S. 537.

  22. Ernst Forsthoff, Das Ende der humanistischen Illusion, Hamburg 1933, S. 25.

  23. Heinz Marr, Die Massenwelt, a. a. O., S. 537.

  24. Verhandlungen des 1. Deutschen Soziologentaes (Frankfurt 1910), Tübingen 1911, S. 23.

  25. Ein fachhistorischer Schwerpunkt am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster beschäftigt sich mit dieser sozialtechnologischen Rolle der Soziologie im Dritten Reich. Die neuen Aufgaben der Sozialwissenschaften, Hamburg 1939, S. 34 und 35.

  26. Anton Golopentia, Die Information der Staats-führung und die überlieferte Soziologie (Phil. Diss), Leipzig 1937, S. 66.

  27. Ebd. S. 65.

  28. Reinhard Höhn, Volksgemeinschaft und Wissenschaft, Süddeutsche Monatshefte, Band 32 (1934/1935), S. 2 ff.; hier S. 7.

  29. Ders., Die Wandlung in der Soziologie, a. a. 0. Band 31 (1933/1934), S. 642 ff., hier S. 644.

  30. Reine und angewandte Soziologie. Eine Festgabe für F. Tönnies zu seinem achtzigsten Geburtstag am 26. Juli 1935, hrsg. v. Ernst Jurkat, Leipzig 1936.

  31. Aa. O„ S. 119.

  32. A. a. O„ S. 16.

  33. Verhandlungen 1948 (Anm. 16), S. 25 f. 33a) Reine und angewandte Soziologie, a. a. O., S. 17.

  34. Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, Leipzig 1915, S. 327.

  35. Verhandlungen des 7. Deutschen Soziologentages (Berlin 1930), Tübingen 1931, S. 5.

  36. über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft, Jena 1875, S. 91.

  37. Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik (Akademische Antrittsrede, Freiburg 1895), Gesammelte Politische Schriften, München 1921, S. 20. 37a) Der Werturteilsstreit 1909/1959; Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Interpretation, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Bd. 11 (1959), S. 21 ff.

  38. Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1917), in: Nationalstaat und Volkswirtschaft ... (Anmerkung 37), S. 126.

  39. Vgl. Willy Hellpach, Wirken in Wirren. Lebens-erinnerungen, 2 Bde., Hamburg 1948/1949, Band 2, S. 171 ff. Gumbel hatte sich freilich bereits vorher durch Veröffentlichungen über politischen Morde und Verschwörungen (Vier Jahre politischer Mord, Berlin 1922; Verschwörer. Beiträge zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde seit 1918, Berlin [1923]) sowie über Verletzungen des Versailler Vertrages durch die Reichswehr (Gumbel u. a. Hrsg.), Deutschlands geheime Rüstungen? Berlin 1925) unbeliebt gemacht

  40. Mathias Greffrath (Hrsg.), Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern, Reinbek 1979, Gespräch mit A. Lowe Ä 145 ff.), hier S. 161.

  41. Verteidigung der Demokratie, Blätter der Deutschen Staatspartei, 2. Jahrgang (1932), S. 92.

  42. In Greffrath (Anm. 40), S. 195 ff., hier S. 207 ff.

  43. Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, München/Berlin 1924, S. 490.

  44. Wissenschaft als Beruf (1919), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 546 f.

  45. Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Opladen 197715, S. 95.

Weitere Inhalte

Swen Papcke, Dr. rer. soc., geb. 1939, Professor für Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Buchveröffentlichungen u. a.: Progressive Gewalt. Studien zum sozialen Widerstandsrecht, Frankfurt 1973; Revolution und Theorie (mit Urs Jaeggi), Frankfurt 1974; Der Revisionismusstreit und die politische Theorie der Reform, Stuttgart 1979.