Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Unsicherheit als Alltagserfahrung in Lateinamerika | APuZ 13/1980 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 13/1980 Die Carter-Administration Probleme einer Präsidentschaft Unsicherheit als Alltagserfahrung in Lateinamerika

Unsicherheit als Alltagserfahrung in Lateinamerika

Peter Waldmann

/ 19 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Aus Politik und Zeitgeschichte, B 13/80, S. 31— 38 Die Vorstellung des Europäers von Lateinamerika ist wesentlich von den Informationen der Massenmedien über gesamtwirtschaftliche und politische Entwicklungen sowie über außergewöhnliche Ereignisse geprägt. Dagegen weiß er nur wenig vom Alltag des Latein-amerikaners. Der folgende Bericht befaßt sich mit dieser Informationslücke. Ihm liegt die Beobachtung zugrunde, daß der lateinamerikanische Alltag in vielerlei Hinsicht risikobehaftet ist und er sich als durchweg unsicher charakterisieren läßt. Dieser Unsicherheit wird hier vor allem in drei Bereichen des öffentlichen Lebens, dem Verkehrs-, Rechts-und Beschäftigungswesen, nachgegangen. Durch zahlreiche Beispiele aus diesen Gebieten werden das Ausmaß der Unberechenbarkeit der Lebensumstände und die verschiedenen Formen der Betroffenheit durch Unsicherheitsfaktoren demonstriert. Abschließend wird die Frage nach den Folgen der verbreiteten Alltagsunsicherheit in Lateinamerika aufgeworfen. Dabei zeigt sich, daß neben vielen negativen Konsequenzen — wie häufiger Orientierungslosigkeit und fehlender Bereitschaft zu materiellen und immateriellen Investitionen — der eine oder andere positive Effekt, wie z. B. eine bemerkenswerte Familiensolidarität, nicht übersehen werden darf.

In der Tageszeitung „El Comercio" (Ekuador) vom 3. März 1978 findet sich folgende Notiz: „Zwei Frauen wegen Protestes gegen einen Autofahrer festgenommen.

Gestern wurden zwei Frauen von der Polizei festgenommen, weil sie protestierten, als sie auf dem Heimweg von ihren Einkäufen in der Straße Mideros fast von einem Autofahrer überfahren worden wären. Die beiden Frauen waren gerade im Begriff, die genannte Straße zu überqueren, als ein Auto mit voller Geschwindigkeit auf sie zufuhr und sie sicher erfaßt und überrollt hätte, wenn sie sich nicht mit einem Sprung in Sicherheit gebracht hätten. Der Fahrer hielt nicht an, sondern setzte die Fahrt unter höhnischem Lachen fort. Die beiden wendeten sich an einen in der Nähe stehenden Polizisten, der die Situation beobachtet hatte, dieser schenkte ihnen aber keine Aufmerksamkeit. In diesem Augenblick kam ein Polizeioffizier mit dem Namen Velasco vorbei und ordnete an, die zwei Frauen festzunehmen. Sie blieben mehrere Stunden lang in einer Zelle eingesperrt, bis man sie wieder freiließ."

Berichte dieser Art sind in lateinamerikanischen Zeitungen nicht selten. Man kann auf sie in Rio de Janeiro stoßen oder in Quito, in Lima ebenso wie in Montevideo. Sie beleuchten eine Seite Lateinamerikas, über die in den primär auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse ausgerichteten Artikeln europäischer Journalisten wenig zu erfahren ist, nämlich die hohe Risikobehaftetheit des lateinamerikanischen Alltags. Der lateinamerikanische Alltag, so lautet unsere These, ist durch eine ausgesprochene Wechselhaftigkeit und Unberechenbarkeit geprägt -er ist in hohem Maß unsicher.

Bevor wir der These durch empirische Beispiele Plausibilität verleihen, müssen wir uns einigen Fragen stellen. Ist Unsicherheit nicht ein Merkmal der Moderne schlechthin, zumindest aber aller beschleunigt sich wandelnder Entwicklungsgesellschaften und folglich untauglich zur Charakterisierung eines einzelnen Subkontinents? Kann man von Lateinamerika im allgemeinen und „dem Lateinamerikaner" sprechen, oder gibt es nicht gewichtige Unterschiede zwischen den verschiedenen Nationen und sozialen Klassen des Subkontinents, die solche Verallgemeinerungen verbieten? Und schließlich: Besteht bei der Behandlung eines so stark subjektive Ängste und Empfindungen berührenden Themas nicht die Gefahr, daß der Beobachter seine eigenen Vorstellungen in den Beobachtungsgegenstand hineinprojiziert? Konkreter: Läßt sich der Eindruck existenzieller Unsicherheit, den der lateinamerikanische Alltag auf den europäischen Beobachter macht, möglicherweise vor allem mit dessem anspruchsvollen Sicherheitsbedürfnis erklären, während der Lateinamerikaner seine Lebensbedingungen nicht als schwierig und „problematisch" empfindet?

Keiner der drei Einwände läßt sich ganz entkräften. Zweifellos ist Unsicherheit ein allgemeines Charakteristikum unserer Zeit und nicht auf Lateinamerika beschränkt. Ebenso-wenig wird man aber in Abrede stellen können, daß es hinsichtlich des Ausmaßes und der Erscheinungsformen der Unsicherheit große Differenzen zwischen verschiedenen Kulturen und geographischen Zonen gibt. Vielleicht sollte man sich in diesem Zusammenhang vergegenwärtigen, daß Unsicherheit keineswegs mit Armut und Rückständigkeit gleichgesetzt werden darf (womit stabile, berechenbare und folglich „sichere" Lebensbedingungen gemeint sein können). Unsicherheit setzt vielmehr voraus, daß gesamtgesellschaftlich ein gewisses Niveau der Arbeitsteilung, infrastrukturellen Entwicklung, der Güterproduktion und Anspruchsbefriedigung erreicht ist, das jedoch — und hier liegt der Grund der Verunsicherung — in vielerlei Hinsicht lückenhaft und gefährdet bleibt. Geht man von dieser engeren Definition aus, so wird man Lateinamerika als Prototyp einer unsicheren Gesellschaft bezeichB nen können. Denn einerseits haben viele lateinamerikanische Länder unter Nachahmung westeuropäischer Vorbilder hochkomplexe Wirtschafts-, Verwaltungs-, Rechts-, Verkehrs-und Ausbildungssysteme geschaffen, deren Rationalität und Effizienz vergleichbare Einrichtungen erst vor kurzem aus dem Kolonialregime entlassener Länder deutlich übertrifft. Auf der anderen Seite weist die Mehrzahl dieser Organisationen aber Fehler und Funktionsschwächen auf, die dazu führen, daß sich der einzelne Bürger nie ganz auf sie verlassen kann. Das alle Lebensbereiche durchziehende Nebeneinander von hohem Leistungsanspruch und defizienter Erfüllung, formaler Perfektion und faktischer Mängellage, von technisch-organisatorischer Komplexität und menschlichem Versagen erzeugt eine Atmosphäre genereller Verunsicherung.

Gewiß treten diese Diskrepanzen und Defizite nicht überall in Lateinamerika mit der gleichen Intensität und in derselben Form zutage. In manchen Ländern ist der Verwaltungs-und Justizapparat besonders unberechenbar, in anderen liegt es mit dem Verkehrs-und Kommunikationsnetz im argen, in dritten wiederum ist der Schutz für Leib und Leben nicht gewährleistet Die niederen sozialen Schichten sind den Folgen von Naturkatastrophen (Erdbeben, Überschwemmungen) und wirtschaftlichen Konjunkturschwankungen ungleich stärker ausgesetzt als die wohlhabenden Schich-ten; diese sind hingegen das bevorzugte Objekt von Entführung und Erpressung. Trotz solch unübersehbarer Abstufungen im Grade der Betroffenheit wird man jedoch sagen können, daß Unsicherheit ein generelles und strukturelles, so gut wie jedermann tangierendes Problem des lateinamerikanischen Alltags ist.

Oder haben wir es hier mit einer Seite des Subkontinents zu tun, die nur dem sicherheitsverwöhnten europäischen Beobachter ins Auge sticht? Diesen dritten Einwand auszuräumen, fällt deshalb besonders schwer, weil nicht erwiesen ist, daß es quer über die verschiedenen Kulturen und Völker hinweg ein konstantes Sicherheitsbedürfnis und dementsprechend einen jeweils meßbaren Leidensdruck wegen Unsicherheit gibt. Man kann die Frage nur indirekt beantworten, indem man gesellschaftliche Mechanismen und Verhaltensweisen aufzeigt, zu deren Erklärung es der Annahme eines verbreiteten Unsicherheitsgefühls bedarf. Im dritten Abschnitt sollen einige solche Mechanismen zur Sprache kommen, die unsere These bestätigen. Zunächst wollen wir dieser aber etwas mehr empirischen Gehalt geben. Dazu gliedern wir das Globalphänomen Unsicherheit in mehrere Teildimensionen, die uns für den Alltag besonders relevant erscheinen: die Verkehrsunsicherheit, die Rechtsunsicherheit und die Beschäftigungsunsicherheit.

Formen der Unsicherheit

Verkehrsunsicherheit Der Straßenverkehr in lateinamerikanischen Großstädten nimmt sich für den europäischen Beobachter wie ein unüberschaubares Chaos aus. Ist er selbst gezwungen, sich in dieses Chaos zu stürzen, so stellt er bald fest, daß auf Regeln, Ampeln und Verkehrspolizisten nur bedingt Verlaß ist Um Unfälle zu vermeiden — und er tut gut daran, sie um jeden Preis zu vermeiden, da die meisten Kraftfahrzeughalter nicht haftpflichtversichert sind —, kann er nur einer Instanz wirklich vertrauen, die er schnellstens für diese Aufgabe schulen sollte: der eigenen Geistesgegenwart und Reaktionsgeschwindigkeit. Dabei fehlt es nicht an Verkehrsschildern und -ampeln, ihre praktische Bedeutung ist jedoch sehr reduziert, da im Zweifel die Verkehrsteilnehmer selbst die Handlungspriorität bei der Gestaltung der Verkehrsordnung beanspruchen. Sie tun dies oft auf sehr eigenwillige Art und Weise: als Fußgänger begnügen sie sich nicht mit dem Trottoir, sondern springen zuweilen überraschend in die Fahrbahn oder überqueren diese, wann und wo immer ihnen dies in den Sinn kommt; als Autofahrer kennen sie keine bindenden überhol-und Vorfahrtsregeln, lassen sich durch ein Rotlicht nicht unbedingt in ihrer Fahrt beirren und benutzen, falls ihnen dies aus praktischen Gründen angezeigt erscheint, auch Einbahnstraßen in der verkehrten Richtung. Wenngleich durch diese Häufung von Regelwidrigkeiten streckenweise das Verkehrsrecht außer Kraft gesetzt wird, muß man doch gerechterweise hinzufügen, daß deshalb nicht unbedingt mehr Menschen Schaden nehmen als etwa in der Bundesrepublik. Gerade weil sämtliche Verkehrsteilnehmer sich nur begrenzt an allgemeine Regeln halten, ist auch der Autofahrer daran gewöhnt, mehr auf menschliche Reaktionen als auf Verkehrszeichen zu achten. Um dies an einem, zugegebenermaßen extremen, Beispiel zu illustrieren: In Ekuador liegen nachts nicht selten Betrunkene quer auf der Fahrbahn. Es gibt keine Verkehrsschilder, die den Autofahrer vor diesen „natürlichen" Hindernissen warnen. Nur äußerste Konzentration und blitzartige Reaktion können ihn davor schützen, zum unfreiwilligen Mörder zu werden.

Konzentration und Reaktionsschnelligkeit ist nicht nur im Hinblick auf die übrigen Verkehrsteilnehmer, sondern auch wegen des Zustandes der Straßen geboten. Hier hat man in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte erzielt. Die meisten Hauptstädte verfügen heute über ein ansehnliches Netz von asphaltierten Straßen und gepflasterten Gehsteigen; Brükken, Tunnels und Ringstraßen wurden gebaut; ein Großteil der geplanten Verbindungsstraßen zwischen wichtigen Landesstädten wurde fertiggestellt usf. Dennoch muß man stets auf der Hut sein. In den Andenländern (z. B. Kolumbien, Ekuador) ist es immer noch ein zeitraubendes Abenteuer, den Weg zwischen den größeren Städten mit dem PKW zurückzulegen. Zu den Überraschungen, auf die man jederzeit gefaßt sein muß, zählt etwa, daß eine Asphaltstraße übergangslos von einem holprigen Feldweg abgelöst wird oder daß man statt der auf der Karte eingezeichneten Landstraße ein Flußbett vorfindet, in dem man sich seinen Weg suchen muß. Selbst der Fußgänger in der Stadt muß stets mit einem Auge auf die Beschaffenheit des Gehsteigs achten. Sonst kann es ihm passieren, daß er auf eine nur dem Anschein nach feste, tatsächlich jedoch lose, unter Druck nachgebende Fliese tritt und sich den Fuß verstaucht. Oder er kann in eine Grube bzw. ein Bauloch stolpern, wovor ihn Weder ein Hinweisschild noch eine Umzäunung warnt.

Die Risikofaktoren, die am Beispiel des Straßenverkehrs aufgezeigt wurden, sind mit Ab-wandlungen auch in anderen Verkehrsbereichen wie Flugzeug und Schiene zu beobach-ten, ja sie prägen das gesamte Kommunikationswesen. Greifen wir zwei zentrale Einrichtungen wie den Brief-und Telephondienst heraus. Bei beiden handelt es sich um Dienstleistungsinstitutionen, die bereits frühzeitig entstanden, über beachtliche Erfahrung und eine hochkomplexe Organisation verfügen und ihre Leistungen dem Bürger im allgemeinen zu erschwinglichen Preisen anbieten. Dennoch fiel mir bei meiner Reise auf, daß man über sie wiederholt lebhaft Klage führte. So beglückwünschte mich etwa in Quito ein Freund, den ich telegraphisch von meinem Kommen verständigt hatte, zum Eintreffen meines Telegrammes. Er behauptete, Telegramme erreichten in Ekuador ihre Adressaten meistens gar nicht oder allenfalls mit wochenlanger Verspätung. Von Caracas ließ ich mir berichten, die Unzuverlässigkeit der Post habe zur Entstehung eines neuen Gewerbes der „Botenfahrer" geführt, die sich mit Mopeds geschickt durch die Autoreihen schlängelten. In Buenos Aires beauftragen größere Firmen einen Angestellten damit, Telegramme und wichtige Schreiben direkt zur Hauptpost zu bringen, um Verluste und Verzöz gerungen zu vermeiden. Sowohl in Buenos Aires als auch in Caracas ist auch auf den Telephondienst nur bedingt Verlaß. Manchmal bricht das Telephonnetz im Stadtbereich wegen Überlastung tagelang völlig zusammen. — Es kostet keine große Mühe, sich die katastrophalen Folgen derartiger technischer Pannen auszumalen.

Rechtsunsicherheit Im Bereich des Rechts ist das Auseinander-klaffen von anspruchsvollen Prinzipien und defizienter Praxisumsetzung besonders augenfällig. Lateinamerika kann auf eine große Tradition der Rechtsgelehrsamkeit verweisen; in den meisten Ländern gibt es ein ausgefeiltes Privat-, Straf-, Verwaltungs-und Sozialrecht. Leider halten sich jedoch die praktischen Auswirkungen all dieser verdienstvollen theoretischen Leistungen in bescheidenen Grenzen. Denn die Geltungskraft der Rechtsvorschriften ist in vielerlei Hinsicht beschränkt, im Extremfall können sie sich sogar gegen den Rechtssuchenden wenden.

Die Grenzen der Reichweite des Rechts sind zunächst einmal teilweise äußerlich-geographischer Natur, wofür etwa Kolumbien als Beispiel anzuführen ist. Die Hoheitsgewalt des kolumbianischen Staates, verkörpert vor allem in der Polizeigewalt, erstreckt sich keines-33 wegs auf das gesamte Staatsgebiet. In einigen Rückzugszonen konnten sich bis heute Indio-Stämme behaupten, die gegen Eindringlinge nach eigenem Recht vorgehen. Andere Gegenden werden von Guerilla-Gruppen unsicher gemacht. Schließlich herrscht in einem nicht kleinen Gebiet die „Mafia" — eine sehr mächtige Organisation, die in ihren Händen die Herstellung von und den Handel mit Rauschgift konzentriert (inoffiziellen Quellen zufolge fließen durch den Verkauf von Kokain mehr Devisen ins Land als durch den Verkauf von Kaffee, dem offiziell wichtigsten Export-gut). Wer mit der „Mafia" in Konflikt gerät, etwa weil er sich der „Zwangsenteignung" eines von dieser Organisation begehrten Grundstücks widersetzt, kann auf keinerlei staatlichen Schutz rechnen.

Bedrohlicher als diese äußerliche Limitierung der Rechtsordnung ist jedoch ihre Aushöhlung „von innen heraus" durch Behördenmißbrauch und Verletzung elementarer Rechts-grundsätze. Die Beispiele für die willkürliche Handhabung von Rechtsvorschriften sind Legion. Wir zählen nur einige besonders typische Fälle auf: unbefristete Untersuchungshaft, unterschiedliche Strafen für gleiche Delikte bzw. gleiche Strafen für unterschiedliche Delikte, Manipulation von Zöllen und Gebühren, Festnahme ohne richterlichen Befehl, schikanöse Behandlung aus kleinen Anlässen, Verweigerung erforderlicher Unterschriften und Dokumente. In den meisten Fällen steht die behördliche Willkür in engem Zusammenhang mit zwei in Lateinamerika verbreiteten Verhaltensmustern, die der Feind jeder Rechtsordnung sind, der Gewaltanwendung und der Korruption.

Ein besonders extremes Anschauungsfeld für die-Verdrängung des Rechts durch die Gewalt bietet wiederum Kolumbien. Wenngleich die Straßenkriminalität in den Großstädten in den letzten Jahren angeblich zurückging, tut der Fremde noch heute gut daran, das Hotel zu Fuß nur in Begleitung und abends am besten gar nicht zu verlassen. Je mehr man sich von den zentralen Geschäftsvierteln entfernt, um so größer wird die Gefahr, überfallen und ausgeraubt zu werden. Selbst die Pilger auf dem Weg zum Kloster Montserrat, das auf einem Hügel am Rande von Bogota liegt, sind nicht sicher vor Wegelagerern. Die jeweiligen Montagsausgaben der Tageszeitungen enthalten eine beeindruckende Bilanz der Messerstechereien, blutigen Racheakte, Entführungen und Morde, die sich innerhalb nur eines Wochenendes zugetragen haben. Die Polizei, kaum im Straßenbild kolumbianischer Städte präsent, steht der Gewaltkriminalität ziemlich passiv gegenüber. Hingegen floriert das Geschäft von Unternehmen, die Leibwächter und Schutzpersonal auf privatwirtschaftlicher Basis anbieten.

Kolumbien ist sicher ein Extremfall. Andererseits handelt es sich hier um eines der wenigen dauerhaft „demokratischen" Länder des Subkontinents, wo der einzelne zumindest nicht wehrlos dem Zugriff des Staates ausgesetzt ist. Unter Militärdiktaturen nimmt zwar im allgemeinen die Straßenkriminalität weniger bedrohliche Ausmaße an. Dafür sind dort jedoch politisch bedingte Willkürmaßnahmen und Rechtsverletzungen an der Tagesordnung (vgl. dazu die sorgfältig dokumentierten Berichte von Amnesty International). Bestechung und Korruption, der zweite Ursachenkomplex für die Aufweichung des Rechts, sind in fast allen lateinamerikanischen Ländern anzutreffen. Zu einem geradezu beherrschenden Zug des öffentlichen Lebens haben sie sich jedoch in Bolivien (teilweise auch in Ekuador) entwickelt. Hier hat jede Amtshandlung ihren Preis. Ob man eine Importlizenz beantragt oder einen Kraftfahrzeugschein, ob man einen Gerichtsgutachter bestellen oder ein Schadensersatzurteil erstreiten will, eine Autoplakette oder einen Stempel im Personalausweis benötigt, Voraussetzung ist in jedem Fall die Entrichtung eines manchmal diskret verlangten, oft aber ganz offen und ungeniert eingeforderten Geldbetrags. Ein Blick auf die Einkommenssituation des öffentlichen Dienstes zeigt, daß oft nicht Bereicherungsgier sondern der reine Selbsterhaltungstrieb die Quelle der verbreiteten Bestechlichkeit ist Die Beamtengehälter sind im allgemeinen so knapp bemessen, daß ihre Empfänger praktisch darauf angewiesen sind, sich auf eigene Faust und am Rande des Gesetzes ein „Zusatzeinkommen" zu verschaffen.

Die Unterfütterung des Rechts mit wirtschaftlichen Tauschgeschäften stellt nicht nur eine Erschwernis für den Rechtssuchenden dar. sondern kann den Sinn der Normen geradezu pervertieren. Als Beispiel sei etwa der in Bolivien alltäglich vorkommende Fall erwähnt daß Verkehrspolizisten einem Autofahrer ein von diesem nie begangenes Verkehrsdelikt aufhalsen, um ihn zu erpressen, oder daß Richter mit demselben Motiv gegen einen Unschuldigen Untersuchungshaft anordnen. Auch in der eingangs gebrachten Zeitungsnotiz wurde ja nicht der Rechtsbrecher von der Polizei festgenommen, sondern die sich gegen die Rechtsverletzung zur Wehr setzenden Frauen. Derartige Proteste richten gegen einen Behördenapparat, der solidarisch hinter dem seine Befugnisse mißbrauchenden Beamten steht, in der Regel wenig aus. Im schlimmsten Fall muß der hartnäckig auf seinem Recht Bestehende sogar damit rechnen, daß man ihm mit einer Anklage wegen „Behördenverleumdung“ oder „Beamtenbeleidigung" droht.

Die Verhältnisse in Bolivien dürfen nicht verallgemeinert werden. Nicht alle Beamten in Lateinamerika sind käuflich, vielleicht nicht einmal die überwiegende Mehrheit. Die Zahl der korrupten oder dem Recht gleichgültig gegenüberstehendem Hoheitsträger reicht aber aus, um dem durchschnittlichen Bürger dieser Länder ein tiefes Mißtrauen gegenüber Justiz und öffentlicher Verwaltung einzuflößen. Wenn irgendmöglich, sieht er von der Inanspruchnahme öffentlicher Stellen ab und versucht, etwa im Falle privatrechtlicher Auseinandersetzungen, sich unmittelbar mit seinem Kontrahenten zu verständigen. Läßt sich die Einschaltung einer Behörde nicht mehr umgehen, so entrichtet er mit einer Mischung aus Ergebenheit und unterdrückter Wut die ihm abgeforderten „Gebühren", hat allerdings auch keinerlei Hemmungen, den seiner Legitimität entkleideten Staat nach Kräften zu schröpfen und zu hintergehen. Die Verbreitung der „doppelten Buchführung" und ähnlicher Praktiken der Steuerhinterziehung sind ein beredter Beweis für die geringe Loyalität des Lateinamerikaners gegenüber seinem Staat.

Beschäftigungsunsicherheit Wenn man als Europäer den Subkontinent im Abstand von jeweils mehreren Jahren besucht, ist man stets darüber erstaunt, wie we-nige Freunde und Bekannte man noch in ihrer dlten Berufsposition vorfindet. Einige verloren hre Stelle, da das Unternehmen, für das sie arbeiteten, in Konkurs ging, die Institution, an der sie tätig waren, aufgelöst wurde; andere wurden ins Ausland versetzt oder flohen aus Politischen Motiven dorthin, wieder andere " aren vom Niedergang eines ganzen Berufs-feiges betroffen und mußten sich nach einer anderen Beschäftigung umsehen. Nach dem äußeren Bild zu schließen, ist die berufliche Mobilität in Lateinamerika wesentlich höher als etwa in der Bundesrepublik. Allerdings ist dabei in Rechnung zu stellen, daß der Wechsel einer Position nicht immer mit einem beruflichen und sozialen Aufstieg verbunden ist. Nicht selten bleibt er als letzte Möglichkeit, um einen Abstieg zu vermeiden und den erreichten Lebensstandard zu halten. Aus demselben Grund gehen in Lateinamerika, insbesondere in den Großstädten, relativ viele Männer zwei Beschäftigungen gleichzeitig nach, sind morgens Taxifahrer, abends Schreiner, Regierungsberater und Unternehmer, Bankangestellter und Fliesenleger. Der eine Beruf dient primär dem Sozialprestige, der andere verschafft die notwendige materielle Existenzgrundlage, beide zusammen stellen ein Mittel des Risikoausgleichs dar, da bei Ausfall einer Verdienstmöglichkeit die andere, fortbestehende, die Familie vor Elend und Hunger schützt.

Der häufige Arbeitsplatzwechsel steht in engem Zusammenhang mit einem weiteren charakteristischen Zug des lateinamerikanischen Beschäftigungssystems: der unzulänglichen sozialen Absicherung der abhängig Tätigen. Nur eine Minderheit der Beschäftigten hat Anspruch auf Kündigungs-, Krankheits-, Unfallschutz und Rentenzahlung. Die große Mehrheit der Arbeiter und Angestellten und darüber hinaus die kaum minder große Zahl der Schwarz-und Gelegenheitsarbeiter hängt gleichsam in der Luft, ist wehrlos den Risiken der Arbeitslosigkeit, Invalidität und des Alters ausgeliefert. Beamten wird zwar im allgemeinen ein Pensionsanspruch eingeräumt. Dieser ist jedoch so bescheiden, daß davon der Lebensunterhalt kaum zu bestreiten ist. Auch nagt der rasche Währungsverfall an den Renten, die außerdem oft erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung ausgezahlt werden. Deshalb sind alte Menschen, wenn sie kein Eigenkapital haben, zumeist auf die Unterstützung durch Familienangehörige angewiesen. Ein Sozialhilfegesetz wie in der Bundesrepublik, nach dem jeder Bedürftige vom Staat eine minimale Hilfe zur Abwendung von Not und Elend fordern kann, existiert meines Wissens in keinem lateinamerikanischen Land.

Die bisherigen Bemerkungen waren bewußt allgemein gehalten, um den Eindruck zu vermeiden, die Arbeitsplatzunsicherheit sei nur ein Problem der niederen sozialen Schichten. In der Tat sind, mit Ausnahme einer begrenzten Zahl außerordentlich wohlhabender Familien, sämtliche Schichten von gewissen materiellen Risiken und Unsicherheitsfaktoren betroffen. In den letzten Jahren sind gerade in Ländern mit einer traditionell breiten Mittel-schicht wie Argentinien, Uruguay und Chile mittelständische Gruppen wie Handwerker, kleine Geschäftsleute und Angestellte zusehends in wirtschaftliche Bedrängnis geraten. Die hohe Inflationsrate einerseits, der scharfe, durch den neoliberalen Wirtschaftskurs der Regierungen dieser Länder abgestützte Konkurrenzkampf andererseits drücken auf ihr Einkommen und zehren die Ersparnisse auf. In den freien Berufen und bei den Intellektuellen übersteigt das Angebot an Arbeitskräften die Nachfrage schon seit langem. Da diese Berufsgruppe zudem in Militärregimen oft politischen Pressionen ausgesetzt ist, muß sie geographisch besonders mobil und in der Wahl des Tätigkeitsfeldes flexibel sein. Aus Lateinamerika ergießt sich seit Jahren ein breiter Strom von Akademikern in andere westliche Länder, die sicherere Beschäftigungsbedingungen bieten.

Können Angehörige der Mittelschichten der drohenden Arbeitslosigkeit noch teilweise ausweichen, so schlägt diese bei den unteren und marginalen Schichten in voller Härte durch. Zur Unterschicht und zu den Marginal-gruppen ist weit über die Hälfte der gesamten lateinamerikanischen Bevölkerung zu rechnen, also über hundert Millionen Menschen — eine Vorstellung, die vor dem Versuch zurückschrecken läßt, hier allgemeingültige Aussagen zu wagen. Wir greifen deshalb ein begrenztes Beispiel heraus, das Beispiel der Stadt Lima. Lima hat rund 5 Millionen Einwohner (wieviel es genau sind, weiß niemand; auch dies ist ein wichtiger Aspekt der Unsicherheit: der Mangel an präzisen und zuverlässigen Daten). Nach informellen Schätzungen hat die knappe Hälfte der Gesamtbevölkerung, also etwa 2, 5 Millionen, kein regelmäßiges Einkommen. Es handelt sich dabei überwiegend um in den letzten zehn Jahren aus dem Hinterland zugewanderte Familien, die in einem Kranz von Höhlen, Hütten, Lehm-und Backsteinhäusern rund um das alte Stadtgebiet wohnen. Teilweise sehen die Behausungen von außen ganz erträglich aus; erst ein Blick ins Innere enthüllt das ganze Elend, das sich dort konzentriert: Da die Besitzer alle Räume bis auf einen (von ihnen selbst bewohnten) zu vermieten pflegen, sind in einem kleinen Haus mit vier Räumen oft nicht weniger als 15— 20 Personen zusammengepfercht. Die Lage Limas in einem wüstenartigen Küstenstreifen nimmt diesen Menschen die Möglichkeit (die sie beispielsweise zum Teil in Kolumbien haben) sich Pflanzennahrung aus dem unmittelbaren Umland zu verschaffen. Alles, was sie essen, muß gekauft oder erhandelt werden. So stößt man in diesen Elendsvierteln auf sehr seltsame Märkte, auf denen Seifendosen, Fahrrad-speichen, halbe Zitronen, zerrissene alte Hemden, vertrocknete Brote feilgeboten werden. Das Gros der Arbeitslosen strömt täglich in die Innenstadt, wo sie als Boten, Lastenträger, ambulante Händler, Schuhputzer oder mit sonstigen Gelegenheitsdiensten ein paar „soles“ zu ergattern versuchen. Wie sich freilich von derartigen Randbeschäftigungen eine so große Masse von Menschen auf Dauer ernähren kann, bleibt dem Außenstehenden ein Rätsel. Dabei ist der Entschluß, das Hinterland zu verlassen und in die Stadt zu ziehen, keineswegs so irrational, wie man nach dem eben Gesagten glauben könnte. Denn die Verhältnisse auf dem Lande sind für jene, die nicht über größeren eigenen Grundbesitz verfügen, zumeist noch ungünstiger als in der Stadt: die Arbeitslosigkeit ist höher (wenngleich sie oft als „Unterbeschäftigung“ getarnt ist), die Möglichkeiten, auf Nebenbeschäftigungen auszuweichen, sind vergleichsweise geringer, auch die Einrichtungen des Schul-und Gesundheitswesens stehen im allgemeinen hinter den entsprechenden Angeboten im Stadtbereich zurück.

Die Aufzählung von Unsicherheitslagen und -faktoren könnte noch lange fortgesetzt werden. Die hier herausgestellten Defizite sind nicht so sehr aus der „Unterentwicklung" Lateinamerikas zu erklären, sondern vielmehr aus einer teils fehlgesteuerten, teils im Formalen steckengebliebenen, fast durchweg bruchstückhaft verlaufenen Modernisierung. Modernisierungsprozesse, das zeigt sich hier ganz deutlich, haben eben ambivalenten Charakter Diese Ambivalenz tritt auch in den Folgen der Unsicherheit zutage.

Folgen der Unsicherheit

Als eine der bedenklichsten Auswirkungen der vielfältigen Risiken des lateinamerikanischen Alltags ist die Tendenz zu einer generellen Orientierungs-und Perspektivlosigkeit hervorzuheben. Die Belastung zahlreicher existenzieller Lebensbereiche durch Unsicherheitsfaktoren erschüttert das Vertrauen der Menschen in die Gesellschaft, in der sie leben, läßt sie den Gemeinbelangen innerlich skeptisch und distanziert gegenüberstehen. Einerseits nehmen die täglich zu meisternden Gefahren und Belastungen die Energien so sehr in Anspruch, daß der Atem und die Entschlußkraft für weiterreichende Ziele und Pläne verloren gehen. Zum anderen ist aber die Mehrheit auch gar nicht bereit zu großen materiellen und geistigen Investitionen in eine Gesellschaftsordnung, deren Brüchigkeit und Mängelbehaftetheit für jedermann zutage liegt. Die Orientierungslosigkeit äußert sich auf vielfältige Weise. Im politischen Raum etwa nimmt sie oft die Form eines Dauerexperimentierens mit unterschiedlichen Regierungsmodellen an, hinter dem eine tiefe Ratlosigkeit über den der eigenen Situation angemessenen politischen Weg erkennbar ist. Im ästhetisch-kulturellen und geistigen Bereich gehen ganz ähnlich eine extreme Aufgeschlossenheit für modische Strömungen und ein unterschwelliger Relativismus Hand in Hand. In sozioökonomischer Hinsicht wiederum ist nicht selten eine starke Fixierung auf die Bewahrung der Status-quo-Bedingungen zu beobachten, die sowohl eine Scheu vor größeren wirtschaftlich-finanziellen Wagnissen als auch den fehlenden Willen zu tiefergreifenden sozialen Reformen erklärt. Sicher wäre es vermessen, pauschalierend sämtliche Probleme des Subkontinents mit dem Orientierungs-und Perspektivmangel seiner Bevölkerung, insbesondere der Führungsschicht, in Verbindung bringen zu wollen. Man kann jedoch sagen, daß hier zumindest eine der Ursachen für die Entwicklungsschwierigkeiten zahlreicher lateinamerikanischer Länder liegt.

Eine weitere Folgewirkung des allgemeinen Klimas gesellschaftlicher Unsicherheit, die man auf Anhieb weder als negativ noch als positiv einstufen kann, ist die Existenz von „Si-cherheitssubstituten". Es sind dies mehr oder weniger spontan entstehende gesellschaftli-ehe Reaktionsmuster und Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, die gröbsten Negativfolgen der allgemeinen Risikobelastung abzuwehren. Auf einige dieser Ersatzeinrichtungen wurde bereits hingewiesen. Wir sahen, wie die mangelnde Zuverlässigkeit der Post private Botenunternehmen ins Leben ruft, wie die Unfähigkeit der Polizei, Leib und Leben des einzelnen wirksam zu schützen, dem privaten Bewachungsgewerbe zum Aufschwung verhilft. Im wirtschaftlichen Bereich begegneten wir der verbreiteten Doppelbeschäftigung als Mittel, die Gefahr der Arbeitslosigkeit zu reduzieren. In diesem Zusammenhang verdient auch die Leichtigkeit erwähnt zu werden, mit der Lateinamerikaner Zahlen im Kopf jonglieren und Rechenoperationen ausführen. Kein Wunder: Wer mit einer Inflationsrate von bis zu 150 v. H. leben muß (wie beispielsweise die Argentinier seit mehreren Jahren), wer wegen der Schwäche der eigenen Währung stets den Wert des Dollars als Bezugseinheit im Kopf haben muß, wer gezwungen ist, neben dem offiziellen Preis eines Gutes auch über seinen Preis auf dem Schwarzmarkt Bescheid zu wissen, der kann nur überleben, wenn er die Fähigkeit zum schnellen Überschlagen und Vergleichen von Zahlenreihen entwickelt.

Die zweifellos wichtigste Institution zur Versicherung gegen Risiken und Gefahren ist in Lateinamerika die Familie, die sich nicht auf die „Kernfamilie" (Eltern und Kinder) beschränkt, sondern auch Großeltern und Enkel, ja unter Umständen Onkel, Tanten, Nichten etc. mit umfaßt. Man hat die zentrale Bedeutung der Familie in der lateinamerikanischen Gesellschaft oft mit der südeuropäischen Herkunft der meisten Einwanderer erklärt. Das ist sicher nicht falsch. Traditionen halten sich aber im allgemeinen um so hartnäckiger, je mehr es gelingt, sie mit einem praktischen Sinn zu erfüllen. Die lateinamerikanische Großfamilie verdankt ihre ungebrochene Vitalität sicher nicht zuletzt der Funktion, die unterschiedlichen und oft einem raschen Wandel unterliegenden individuellen Erwerbschancen und materiellen Belastungen der verschiedenen Familienmitglieder untereinander zum Ausgleich zu bringen. Man erinnere sich an die unmittelbare Nachkriegszeit in Deutschland. Damals, als die staatliche Verwaltung weitgehend zusammengebrochen war und überall materielle Not und Unsicherheit herrschten, kamen ähnliche zentrale Versorgungsaufgaben auf die Familie zu, die sie, nach allgemeiner Meinung, glänzend bewältigte. Geht es in Lateinamerika der Familie gut, so ist auch der einzelne Familienangehörige vor blanker Armut geschützt, und umgekehrt: wer als einzelner materiell gut gestellt ist, läßt stets auch seine Familie am Wohlstand partizipieren. Für das Verhältnis Einzelner/Staat oder Einzelner/Gesellschaft geht diese Gleichung keineswegs auf.

„No hay mal que por bien no venga", lautet ein spanisches Sprichwort. „Nichts kann so schlecht sein, daß es nicht auch etwas Gutes mit sich brächte.“ Auch die Unsicherheit, so bedenklich und nachteilhaft sie sich im allgemeinen auswirkt, bleibt nicht ohne positive Nebenfolgen. Diese ergeben sich — es wurde schon angedeutet — primär im individual-und zwischenmenschlichen Bereich. In den zwischenmenschlichen Beziehungen hat der ansonsten auch zahlreiche Schattenseiten aufweisende „Familismus" der lateinamerikanischen Gesellschaft Werthaltungen wie Solidarität, Menschlichkeit und Verständnis für die unverschuldete Not des Nächsten lebendig erhalten. Beim einzelnen weckt und fördert die Unsicherheit z. T. Fähigkeiten, die in unserer arbeitsteilig organisierten, hochgradig verbürokratisierten westeuropäischen Gesellschaft zu verkümmern drohen: z. B. berufliche Flexibilität und Vielseitigkeit, Wachsamkeit, Wendigkeit, Entscheidungsfindigkeit, Reaktionsschnelligkeit, Selbständigkeit sowie last not least eine gewisse innere Unabhängigkeit von den äußeren Wechselfällen des Lebens. Wer die Entwicklung in Deutschland und in Lateinamerika verfolgt, stellt immer wieder mit Erstaunen fest, wie kleinmütig und verzagt die Jugendlichen in der Bundesrepublik — für die Länder der südlichen Hemisphäre eine Oase des Reichtums und Überflusses — in die Zukunft sehen und wie gelassen demgegenüber die meisten Lateinamerikaner ihr so viel ungewisseres Schicksal hinnehmen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Peter Waldmann, Dr. jur., o. Professor für Soziologie/Sozialkunde, geb. 1937 in Meiningen/Thüringen; 1957— 1959 Studium der Rechts-und Sozialwissenschaften in Paris; 1960— 1963 Jurastudium in München; 1966— 1972 Assistent am Soziologischen Institut der Universität Saarbrücken; 1973 Habilitation für Soziologie; seit 1975 ordentlicher Professor für Soziologie/Sozialkunde am Phil. Fachbereich der Universität Augsburg. Veröffentlichungen: Zielkonflikte in einer Strafanstalt, Stuttgart 1968; Soziologie der Abtreibung (zusammen mit anderen Autoren), Stuttgart 1971; Der Peronismus (1943— 1955), Hamburg 1974; Strategien politischer Gewalt, Stuttgart 1977; Herausgeber (zusammen mit J. Becker u. Th. Stammen) des Sammelbandes „Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland", München 1979; Fachaufsätze über allgemeine soziologische Theorie, Organisationssoziologie, Soziologie der Entwicklungsländer (insbesondere Lateinamerikas) und Rechtssoziologie. Herausgeber (zusammen mit M. Mols und D. Nohlen) der Reihe „TRANSFINES" — Studien zu Politik und Gesellschaft des Auslandes.