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Indien und Japan. Erwachen aus Traditionalismus und konfuzianischer Erstarrung? | APuZ 3/1980 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 3/1980 Rechtsstaat und „sozialistische Gesetzlichkeit" Indien und Japan. Erwachen aus Traditionalismus und konfuzianischer Erstarrung?

Indien und Japan. Erwachen aus Traditionalismus und konfuzianischer Erstarrung?

Ingeborg Y. Wendt

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Europa hat wechselnde Vorstellungen auf Japan und Indien projiziert. Da der Westen stark augenblicksorientiert ist, sind gegenwärtig im Fall Japans die negativen, im Fall Indiens die positiven Bilder vergessen. Was bleibt, ist die Frage, warum Japan wirtschaftlich erfolgreich ist, während Indien stagniert. Ein Überblick über die Realgeschichte der beiden Länder kann die Antwort geben. Japan war weder direkt noch indirekt von der Kolonialpolitik Europas betroffen worden. Es hatte sich, gezielt gegen den europäischen Zugriff und nicht ohne Anwendung von Gewalt, am Anfang des 17. Jahrhunderts gegen die Welt verschlossen, sich dabei jedoch ein Fenster offengehalten: in Nagasaki, wo außer Chinesen und Koreaner auch Holländer Handel treiben durften. Die westliche Rede von „konfuzianischer Erstarrung“ in jener Zeit ist schon deshalb falsch, weil der Konfuzianismus überhaupt erst mit der Abschließung Japans von der neuen Regierung — gegen viele Widerstände — als Staatsphilosophie eingesetzt wurde. Das abgeschlossene Japan durchlief wirtschaftliche Entwicklungen, kannte soziale Mobilität, schuf neue Kunstgenres unabhängig von der klassischen Zen-Kultur und blieb über die Vorgänge in der Welt auf dem laufenden. Es war eine wirtschaftlich und geistig intakte Funktionseinheit, als es 1853/54 unausweichlich mit der westlichen Welt konfrontiert wurde. — Im gleichen Zeitabschnitt war Indien dagegen noch Kolonie. Es „schlief“ nicht, sondern versuchte mit ungezählten Rebellionen, sich gegen die Fremdherrschaft zu erheben; der zeitlich und räumlich ausgedehnteste Aufstand, the Great Mutiny, fand 1857 im Norden des Landes statt. Während der Kolonialepoche war dem Land eine künstliche Struktur übergestülpt Worden, die den materiellen Interessen der Fremdherrscher diente und die traditionellen einheimischen Werte und Sitten außer Funktion setzte. Dazu kam der sich aus vielfältigen Maßnahmen konstituierende Economic Drain, der ständige Aderlaß, der die Volkswirtschaft des kolonial beherrschten Indien kennzeichnet. Als Indien, rund 100 Jahre später als Japan, als unabhängiger Staat ins internationale Leben eintrat, war es verarmt und verschuldet und seine autochthonen Strukturen waren weitgehend zerstört. Darin — nicht in verbreitetem Analphabetismus und vermeintlicher Überbevölkerung, religiöser „Weltabgewandheit" und sonstigen „Traditionalismen“ — liegen die Ursachen der gegenwärtigen wirtschaftlichen Stagnation Indiens. Grunderfordernisse zur wirtschaftlichen Regeneration Indiens sind 1. die Wiederherstellung einer Agrarstruktur, die den Bedürfnissen der einheimischen Bevölkerung entspricht, und 2. die Schaffung von Welthandels-und Produktionsbedingungen, die den Ländern des Südens die gleichen Chancen geben wie denen des Nordens.

I. Europäische Projektionen

Heute erinnert sich kaum noch jemand daran, daß Japan einmal als das Land des Imitierens und des dumping galt. Die westlichen Japan-Bilder haben in den vergangenen 100 Jahren schnell gewechselt — und das jeweils vorherige wurde vergessen. Da war zunächst die romantische Vorstellung vom Land der Geisha und des erhabenen Berges Fuji, von einem Volk, das sich seit Jahrtausenden wie eine Familie um einen göttlichen Kaiser scharte. Bald danach folgte, mit den gewonnenen Kriegen Japans gegen China 1894/95 und gegen Rußland 1904/05, die wachsamere Vorstellung von einer militärisch starken Nation und gleichzeitig von einem ungewöhnlich fleißigen und intelligenten asiatischen Volk. Die Japaner waren, bevor sie zur „immer nur imitierenden" Zivilisation wurden, ein Volk, das „schon immer eine hohe Kultur gehabt" hatte. In den 30er und 40er Jahren wurde das international Heranwachsende Japan in Europa als unterschiedlich und zwielichtig empfunden; Pearl Harbor ließ die Japaner unberechenbar erscheinen, das Verhalten japanischer Truppen in asiatischen Ländern und einzelne Kampftechniken wie das Kamikaze trugen dem Volk teils den Ruf von Grausamkeit, teils den von Tapferkeit ein — das internationale Japan-Interesse kulminierte. Nach 1945 wurde Fernost neu entdeckt, und die Folge der westlichen Japan-Bilder wiederholte sich. Dazu ka-

men nun noch die wechselnden Deutungen der technischen Modernisierung der ostasiatischen Inseln: Japan verlor nacheinander seine Tradition, verfiel in Schizophrenie zwischen Tradition und Moderne und konnte beides auf wunderbare Weise miteinander verbinden. I Und auch das war noch nicht alles: Kulturkenner und Reisende rühmten die Höflichkeit der Japaner, die Zartheit ihrer Künste und übergingen etwas verlegen ihre geräuschvollen Tischsitten. Japan blieb undurchsichtig — zumal in europäischen Augen „alle Japaner gleich” aussehen.

Daß der Westen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg über die rasche japanische Wirtschaftsentwicklung staunen konnte, zeigt, daß er die Erfahrungen früherer Jahrzehnte vergessen hatte. Japan war während des Zweiten Weltkrieges wirtschaftlich und technisch stark genug gewesen, um den westlichen Kolonialherrschern in Asien zum erstenmal in der Geschichte eine Niederlage bereiten zu können. Es war beim Zusammenbruch 1945 eine Industrienation mit einer teil-zerstörten Infrastruktur, nicht anders als das besiegte Deutschland und die europäischen Siegermächte.

Darüber, wie die erfolgreiche wirtschaftliche und technische Entwicklung seit der Öffnung Japans vor gut hundert Jahren möglich war, herrscht auch heute noch keine Klarheit; aber die gegenwärtige japanische Erfolgssituation erzwingt die westliche Anerkennung, und damit einher geht die ausschließliche westliche Erinnerung an Aktivposten der japanischen Historie.

Indien dagegen, derzeit in einer schwachen Position, ist in der Gegenwart das Opfer negativer westlicher Projektionen. Das öffentliche Interesse der Welt an Indien war nicht so oft aktuell wie das an Japan; aber es hat auch wechselnde westliche Indien-Bilder gegeben. Seine hohe Sanskrit-Kultur wurde nie in Frage gestellt; Indien ist eines der ältesten Kultur-reiche der Geschichte, wenn nicht das älteste überhaupt. Auf den alten orientalischen Markt, der durch Handelswege wie die Seidenstraße verbunden war, brachte es nicht „Rohstoffe", sondern Fertigerzeugnisse. Die Weberei war nicht die einzige erfolgreiche Industrie im vorkolonialen Indien. Aus der Kolonialzeit herüber reicht die westliche Vorstellung von märchenhaftem indischem Reichtum, von farbenprächtigen Gewändern und exotisch-lebhaften religiösen Festen und von architektonisch hervorragenden Tempeln und Grabmälern. Und noch in diesem Jahrhundert gewannen erst Subhas Chandra Bose mit seinem geistigen Freiheitskampf und später Mahatma Gandhi mit der Idee des gewaltlosen Widerstandes weltweit Hochachtung. Auch indische Ereignisse wurden in Europa zu manchen Zeiten unterschiedlich aufgenommen, so z. B. jener tragische, schweigende und unbewaffnete Protestmarsch, den Gandhi 1930 gegen Unterdrückungsmaßnahmen der britischen Kolonialregierung (wie z. B. gegen die Salz-Gesetze führte. Vom Westen glorifiziert wurde Nehru, der westlich-moderne Industrien zu den neuen Tempeln Indiens machen wollte; herablassend beurteilt dagegen wurde Shastri, der Indien weniger nach westlichem Vorbild als aus autochthonen Impulsen heraus zu regenerieren plante. — Da Europa weniger geschichtsbewußt als augenblicks-orientiert ist, sind im Fall Indiens die positiven Bilder mit ihrer Dynamik gegenwärtig vergessen — so wie im Fall Japans die negativen.

So ist die Frage überfällig, wieviel wir eigentlich faktisch von der Weltgeschichte wissen.

In der International Herald Tribune vom 4. /5. August 1979 wird ein Buch als ungewöhnlich vorgestellt das die historischen Daten aller Kulturen der Erde ohne Wertung tabellarisch nebeneinanderstellt. Das Ergebnis dieses lapidaren Vorgehens ist erstaunlich. Es zeigt sich dabei u. a., daß das Mittelalter — mit den Worten des Autors — nur in Europa, global gesehen jedoch keineswegs „finster" war.

Tatsächlich reicht nicht nur in unseren Schulbüchern, sondern auch in unserer akademischen Geschichtswissenschaft „Weltgeschichte" zeitlich nur bis zu Alexander dem Großen und damit räumlich kaum über das Abendland hinaus. Die nicht-abendländischen Kulturen sind Gegenstand entweder der historisch-philologischen Disziplinen wie Orientalistik und Indologie oder der Ethnologie, und beide Kategorien haben eine andere Orientierung als die europäische „Realgeschichte". Die ersteren denken mehr in Jahrtausenden als in Jahrhunderten und sind auf Philosophie, Religion und Kunst gerichtet, die zweiten beschreiben noch in der Gegenwart beobachtete kuriose Verhaltensweisen bei den Resten sogenannter Naturvölker oder „primitiver Kulturen". Auf die „realen" Verhältnisse nicht-europäischer Völker, d. h. auf gesellschaftliche Strukturen, sind seit relativ kurzer Zeit die Sozialwissenschaften eingestellt, aber bis jetzt fehlt ihnen meist noch sowohl der historisch-philologische als auch der völkerpsychologische Aspekt. Des-halb gewinnt der Westen durch sie Kenntnis über die seit der Kolonialzeit von europäischen Einflüssen überformten und verfremdeten sozio-ökonomischen Strukturen der nicht-abendländischen Welt, erfährt jedoch wenig über ihre Geschichte und so gut wie gar nichts über die Menschen selbst.

Eine kombiniert realgeschichtlich-sozialwissenschaftliche Erforschung einiger weniger nicht-europäischer Weltregionen ist infolge ihrer Bedeutung für die internationale politische und wirtschaftliche Gegenwart vom Westen gefördert worden, und chronologisch an erster Stelle steht Ostasien. Amerikanische und englische Japanologen haben in den letzten Jahrzehnten Standardwerke geschaffen, in denen auch schon, vielleicht unwillkürlich infolge des Umgangs mit der Landessprache, die kulturanthropologische Bemühung enthalten ist, die Japaner nicht mittels westlicher Kategorien zu deuten, sondern sie in ihrem eigenen kulturellen Kontext zu verstehen. Infolge der Kluft, die im Westen zwischen Gelehrsamkeit und Tagesberichterstattung besteht, hat die europäische Allgemeinheit bisher wenig Anteil an solchen wissenschaftlich erarbeiteten Kenntnissen.

Daß die Indologie noch nicht den gleichen Stand wie die Japanologie erreicht hat, mag 'verschiedene Gründe haben. Einmal erscheint dem Westen ein Studium Indiens vielleicht wegen seiner derzeitigen wirtschaftlichen Schwäche weniger notwendig und zum anderen enthält die indische Realgeschichte Ärgernisse für das westliche Bewußtsein. Indien selbst hält sprachlich leicht zugängliche Quellen für seine Erforschung bereit; sie werden aber bisher in Europa nicht einmal von Fachleuten genutzt. So ist z. B. das in englischer Sprache geschriebene klassische Werk über die indische Wirtschaftsgeschichte des Inders Daß 1945 nicht die Stunde Null für asiatische Entwicklungswege war, wurde oben gesagt: Japan war eine besiegte Industrienation, während Indien noch unter Kolonialherrschaft stand. Im Fall Japans bietet sich die sog. Meiji-Restauration von 1868 bzw. die Öffnung des Landes 1853/54 durch den amerikanischen Commodore Perry als Startpunkt an; aber auch dann muß noch gefragt werden, wie es dem Land möglich sein konnte, aus seiner „konfuzianischen Erstarrung" heraus plötzlich Dynamik zu entfalten. Und warum hatte es sich ursprünglich überhaupt gegen die Welt verschlossen?

Japan in Abschließung

Inder Mitte des 16. Jahrhunderts erreichten zum erstenmal Europäer die japanischen Inseln: 1542 landeten Handelsleute, 1549 Missionare im Südwesten, dem alten Zentrum des Inselreichs. In Japan verebbte gerade das kriegerische Mittelalter. Diejenigen Kriegerhäuser, die als die stärksten aus den Kämpfen hervorgingen, strebten die Oberherrschaft an, und nach einigen Jahrzehnten politischer Wirren etablierte sich im Jahre 1603 als Zentralregierung in Edo (dem heutigen Tokyo) die Familie Tokugawa, die der damit anbrechenden Epoche ihren Na-men gab. Die Japaner waren bis dahin ein Weltzugewandtes Volk gewesen. Nach Tausenden zählende wohlhabende und einflußreiche japanische Gemeinden lebten auf den in Indonesien, Indochina, Siam Philippinen,

Romesh Dutt das für asiatische Sozialwissenschaftler vom arabischen Raum bis nach Korea eine der selbstverständlichen Arbeitsgrundlagen bildet, in England wenig, in Deutschland gar nicht bekannt. Gerade Werke wie dieses müssen aber westlicher Kenntnis erschlossen werden, denn sie verzeichnen die Weltgeschichte der jüngsten Jahrhunderte aus der Perspektive nicht-europäischer Völker und könnten deshalb entscheidend zum Verständnis der internationalen Gegenwart beitragen.

II. Realgeschichte der Anderen

(heute Thailand), Burma. Noch 1609 eroberte eines der alten Kriegerhäuser unabhängig von der Zentralregierung die Ryukyu-Inseln (Okinawa), die damit japanische Kolonie wurden. Die verschiedenen europäischen Gruppen waren bald in die politischen Angelegenheiten Japans verwickelt. Nagasaki, wo europäische Handelsleute und Missionare sich ansiedelten, wuchs vom Fischerhafen zum Außenhandelshafen heran. Die um die Vormacht kämpfenden japanischen Kriegerhäuser stellten sich zunächst gut mit den Europäern, sei es um ihrer Feuerwaffen, sei es um außenwirtschaftlicher Vorteile, sei es um der Information über den Westen wegen. Die europäischen Gruppen ihrerseits rivalisierten um japanische Kontakte; spanische und portugiesische Missions-und Handelsinteressen kollidierten untereinander und mit holländischen Intentionen; für kurze Zeit, zu spät (1613), kam noch die englische Ostindien-Gesellschaft dazu. Handel, Mission und politische Strebungen der europäischen Gruppen wurden für die japanischen Politiker unentwirrbar, und zum Christentum übertretende Japaner gerieten ins Zwielicht politischen Fremdinteresses.

Eine Zeitlang schienen die expansiven Vorstellungen japanischer Kriegsherren mit den Zielen europäischer Missionare, so zur Erobe-rung bzw. Christianisierung Chinas, übereinzustimmen — das Opfer des wiederholten Versuchs war Korea, das erst von angreifenden, dann von zurückweichenden japanischen Truppen durchzogen wurde —; dann aber summierten sich Nachrichten, denen zufolge die Missionare als Vorkämpfer ihrer Länder für die Schaffung überseeischer Imperien fungierten wie im Fall von „Nova Espana“, Mexiko. Diese Nachrichten leiteten die Wende ein.

Mission und Christentum wurden nun geahndet, europäischer Handel verboten, die Ausländer des Landes verwiesen — mit Ausnahme der Holländer, die keine ideologischen (missionarischen) Absichten verfolgten. Ohne Zweifel handelte es sich bei den japanischen Maßnahmen weniger um eine „Christenverfolgung'', als die sie manchmal dargestellt werden, als um die Abwehr dessen, was als politische Unterwanderung empfunden wurde. Den Höhepunkt und Abschluß dieser Entwicklung bildete die Rebellion von Shimabara 1637/38, bei der — vermeintlich oder tatsächlich — die japanischen Aufständischen spanisch-portugiesischen, die Regierungstruppen holländischen Beistand hatten.

Von nun an durften Japaner ihre Inseln nicht mehr verlassen, und nicht nur Ausländer, sondern auch die Übersee-Japaner durften nicht mehr hinein; bis 1853/54 gelang es trotz wiederholter Versuche keinem Handel suchenden Schiff mehr, in japanischen Häfen anzulegen. Ein Fenster zur Welt behielt Japan jedoch offen: Nagasaki mit der Insel Deshima, wo Holländer neben Koreanern und Chinesen Handel treiben durften. Sie unterstanden der japanischen Regierungskontrolle und mußten jährlich eine Delegation zum Tokugawa-Shögun nach Edo entsenden

Theoretisch war der Shögun nur der „Oberste Feldherr" des Kaisers; dieser jedoch, der Tennö, war nach der staatlich-kulturellen Blütezeit des alten Yamato (8. — 12. Jahrhundert) im Schatten versunken, er hatte keine realpolitische Funktion und war im Bewußtsein der Bevölkerung höchstens mythologisch vorhanden. Praktisch wurde die Tokugawa-Familie zu einer zw — 12. Jahrhundert) im Schatten versunken, er hatte keine realpolitische Funktion und war im Bewußtsein der Bevölkerung höchstens mythologisch vorhanden. Praktisch wurde die Tokugawa-Familie zu einer zweieinhalb Jahrhundert lang regierenden Dynastie, die am Beginn ihrer Herrschaft als Staatsphilosophie den Konfuzianismus einsetzte. Die konfuzianischen Lehren waren, wie die buddhistischen, ein Jahrtausend zuvor nach Japan gelangt, aber der Kenntnis der Schriftgelehrten vorbehalten geblieben. Das Gros der Bevölkerung folgte dem Shintö, jener uralten Religion Ostasiens, die nach heutigen Begriffen als Polytheismus oder auch als Animismus bezeichnet werden kann und zu der Ahnenverehrung und shamanische Riten gehören; dazu kamen im 13. Jahrhundert volkstümlich-buddhistische Bräuche 6).

Die Tokugawa-Regierung hatte es mit der Durchsetzung ihrer neokonfuzianischen Ordnung nicht leicht. Noch lange währten die unterschwelligen Machtkämpfe der stärksten der alten Kriegerhäuser; frühere Machtimpulse aus dem Bereich der buddhistischen Klöster waren vielleicht nicht erloschen; die „verborgenen Christen" schienen eine Gefahr zu bilden; Angehörige untergegangener Kriegerfamilien gründeten Schulen des Kriegs-handwerks oder verdingten sich für Einzelaufträge und waren mögliche Unruheherde; und schließlich stimmten die konfuzianischen Gelehrten in ihren Ansichten nicht überein. Die offiziellen Neo-Konfuzianer, die go-y-gakusha (Gelehrte im Dienst der Regierung), stützten die Regierung durch Akzentuierung des Gedankens vom Gehorsam der Obrigkeit gegenüber, während die auf die Schriften des Konfuzius selbst zurückgehenden Konfuzianer soziale und ethische Gesichtspunkte geltend machten — sie wurden von der Regierung verbannt.

In Tokugawa-Japan erblühte ein ungeplanter städtischer Wohlstand, so daß die Regierung Maßnahmen zur Beschränkung des Vermögenswachstums und des Luxus in der Lebensführung des dritten und vierten Standes ergriff 7). Die schönen Künste gediehen. Holzschnitte mit realitätsnaher, heiterer oder erotischer Thematik fanden größere Verbreitung im Volk als die alten Zenga 8); auf der Bühne drängte sich das sinnenhaft-aufwendige Kabuki gegenüber dem durch Symbolisierung konzentrierten o-Nö in den Vordergrund Die Bevölkerung war in unterschiedlichem Ausmaß von den konfuzianischen Vorschriften betroffen; z. B. unterlagen die Geisha und die Bäuerin den Regelungen nicht in gleicher Weise wie die Frau eines Kriegers oder Stadt-bürgers. Es gab auch Übertritte zwischen den Ständen: durch Adoption oder Heirat, durch Vermögenszuwachs oder -Verlust. Außerdem umfaßten die vier Stände nicht alle Bevölkerungsschichten: es gab Künstler und Gelehrte, rönin (herren-bzw. stellungslose Samurai), die Angehörigen der kaiserlichen Aristokratie und der buddhistischen Klöster, die burakumin (eine Art . Unberührbare 9).

Die Bauern, offiziell der zweithöchste Stand, waren den städtischen Entwicklungen wirtschaftlich ausgeliefert und gleichbleibend arm; während der Tokugawa-Epoche gab es mehr als tausend Bauernrevolten. Und da über die lange Friedenszeit hin der Stand der — nominellen — Krieger (Samurai) am städtischen Wohlleben teilhatte, geriet dieser allmählich in die Schuld des rangniedersten Standes, dem der Kaufleute. Das Kapital verschob sich.

Auch geistig erfolgten ungeplante Entwicklungen. Die Holländer waren eine Quelle sowohl offizieller — durch die Delegationen nach Edo — als auch — infolge der spontanen kaufmännischen Zusammenarbeit mit Japanern in und um Nagasaki — inoffizieller Informationen über Europa, und es gab bald Japaner, die Holländisch verstanden. Eine Gruppe von Spezialisten bildete sich unter den Gelehrten, die rangakusha genannt wurden:

Holland-Gelehrte. Schon Mitte des 18. Jahrhunderts wurde versucht, ein holländisches Lehrbuch der Anatomie ins Japanische zu übersetzen, und 1825 wurde in Nagasaki eine Medizinische und Marine-Akademie gegründet. So wußte das für den Westen unzugängliche Japan seinerseits recht gut über den Westen Bescheid. Die rangakusha kamen zu der Überzeugung, daß man die Techniken des Westens beherrschen lernen müsse, um sich gegen seinen Zugriff behaupten zu können; Er-

eignisse wie die Opium-Kriege mit der Nie-7 derlage Chinas bestätigten sie darin. „Westliche Technik, östliche Moral" lautete der Leitspruch, der allerdings nicht unwidersprochen blieb. Führende politische Kreise betrachteten jede Beschäftigung mit dem Westen als Verrat, und eine andere, neu entstandene Spezialisten-Gruppe unter den Gelehrten setzte die Besinnung auf die traditionellen geistigen Werte Japans dagegen. Es war die Schule von Mito unweit Edo, die bei der Beschäftigung mit den klassischen Schriften den Tenn wiederentdeckte: Und wenn einer Obrigkeit (konfuzianischer) Gehorsam gebührte, dann eher dem von der Sonnengöttin abstammenden Kaiser als einer weltlichen Macht. Für die Regierung enthielten die Auffassungen der Shintö-Gelehrten wie der rangakusha potentielle Gefahren. Als 1853 Commodore Perry mit seinen „Schwarzen (Dampf-) Schiffen" in die Bucht von Edo einfuhr, traf er auf eine politisch ähnlich turbulente Situation wie gut 300 Jahre zuvor die Missionare und Handelsleute.

Japan hatte also in den rund zweieinhalb Jahrhunderten der Abschließung keineswegs in „konfuzianischer Erstarrung" gelegen. Vielmehr war es wirtschaftlich und politisch, hinsichtlich der Sozialstruktur, der Künste und des intellektuellen Lebens ständig in Bewegung gewesen und hatte seinen eigenen Antrieben und Bedürfnissen gemäße Entwicklungen und Wandlungen durchlaufen. Als es 1853/54 unausweichlich mit dem Westen konfrontiert wurde, war es eine intakte, dynamische Funktionseinheit, die zwar technisch unterlegen, aber vital stark, wirtschaftlich selbständig und unverschuldet und auf die Konfrontation geistig vorbereitet war.

Indien unter Kolonialherrschaft

Die portugiesischen und spanischen Missionare und Handelsleute, die 1542 und 1549 nach Japan kamen, waren auf ihrem Wege dorthin schon in Indien gewesen. Wer heute in den Felshöhlen von Elephanta vor Bombay die Köpfe der in die Felswände gehauenen göttlichen Gestalten vermißt, bekommt die Erklärung, daß hier portugiesische Soldaten ihre Treffsicherheit übten. Und während im kleinen, übersichtlichen Japan mit seiner schwer zugänglichen Küste die rivalisierenden Europäer scheiterten, durchzogen sie, untereinan-der und gegen einheimische Herrscher krieg-führend, den indischen Subkontinent. Die englische Ostindien-Gesellschaft, nur von 1613 bis 1623 in Japan, war im ausgedehnten Indien so erfolgreich, daß sie 1639 im südlichen Madras ein Fort bauen, wenige Jahrzehnte später, im Zusammenhang mit politischen Vorgängen in Europa, Bombay an der Westküste „erwerben" und 1700 im nördlichen Calcutta ihren Hauptsitz errichten konnte. Die Portugiesen waren aus dem Feld geschlagen, aber erst die drei großen Karnatic-Kriege zwischen 1744 und 1763 entschieden über die Vorherrschaft der Engländer gegenüber den Franzosen in Indien -Im gleichen Zeitraum besiegten englische Kräfte auch einheimische Fürsten und wurden mit der Schlacht von Plassy 1757, mit der praktisch Bengalen erobert wurde, zu einer etablierten territorialen Macht. Die Kriege zwischen englischen und indischen Kräften gingen auch danach in dem riesigen Land weiter.

In westlichen Kreisen werden gern Eroberungskriege mohammedanischer Herrscher aus dem Norden zitiert, unter denen Indien gelitten habe. Spätestens vom 17. Jahrhundert an waren es jedoch Europäer, die Indien verwüsteten. Es gab keine zehn aufeinanderfolgenden Friedensjahre mehr, vielmehr sogar mehrere militärische Operationen und Annexionen innerhalb eines Jahrzehnts; dazu kamen im 19. Jahrhundert die auswärtigen Kriege, in die Indien militärisch oder finanziell zwangsweise verwickelt wurde und als deren tragischster der erste der drei Kriege gegen das mit Indien befreundete Afghanistan (1837— 1842) in die indische Geschichte eingegangen ist

Die militärisch errungene Position der Ostindien-Gesellschaft wurde durch politische Maßnahmen ausgebaut. Robert Clive erwirkte 1765 vom Kaiser Indiens, der, in Delhi, eine ähnlich nur-formale Funktion wie der japanische Kaiser zu jener Zeit hatte, eine Urkunde, aufgrund derer die Ostindien-Gesellschaft offiziell zum Deccan (Verwalter) der von ihr eroberten Provinz Bengalen wurde. Mit dem 1773 vom britischen Parlament beschlossenen „Regulating Act" wurden die von der Company in Indien geschaffenen Verhältnisse auch von England aus offiziell festgeschrieben und der Posten eines Governor-General geschaffen. Der „India Act" von 1784 unterstellte die Verwaltungstätigkeit der Company in Indien der Kontrolle der englischen Krone, wofür von dieser sechs Commissioners eingesetzt wurden. Knapp 20 Jahre später wurde die Regelung der „subsidiary alliances" geschaffen, gemäß der die indischen Provinzen den engli-; sehen Kräften Subventionen zur Erhaltung ihrer Armeen zahlen mußten. Als der Ostindien-Gesellschaft 1834 vom britischen Parlament die Auflage erteilt wurde, keine Handelsgeschäfte mehr zu betreiben, sondern ausschließlich Verwaltungsfunktionen auszuüben, war die Company faktisch längst zum Beherrscher Indiens geworden.

Mit zunehmender Ausbreitung der Company in Indien wuchs der englische Verwaltungsapparat; immer neue Posten wurden geschaffen. Mittel dafür wurden in Indien aufgebracht. Darüber hinaus leisteten die indischen Steuerzahler auch einen Beitrag zu den „Home Charges" (für die Verwaltung in England). Zusätzlich zu den Mitteln für die Erhaltung des englischen Militärs (subsidiary alliances) mußten auch die Kosten für britische militärische Einsätze innerhalb und außerhalb der Grenzen Indiens von Indien aufgebracht werden. Diese offiziellen Ausgaben bildeten einen Teil des „Economic Drain", der die Volkswirtschaft des kolonial beherrschten Indien kennzeichnet.

In dem empirisch-ökonomischen Begriff „Economic Drain", einem unter den englisch-sprechenden indischen Intellektuellen der Kolonialepoche offenbar schon früh etablierten terminus technicus, sind Zahlungen, vor allem die offiziellen wie Steuern und Subsidien, zusammengefaßt, die aus verschiedenen indischen Quellen in englische Hand abflossen. Hinzuzurechnen ist der Umstand, daß Indien infolge der ungleichen Handelsbedingungen ohne Verkaufserträge und ohne Investitionsrückflüsse, ohne Einnahmen blieb. In seinem 760seitigen dokumentarischen Werk über Indiens Wirtschaftsgeschichte belegt Dutt den Economic Drain von der frühen Phase der englischen Herrschaft (1757— 1837) an ausführlich und wiederholt mit Zahlenangaben, tabellarischen Nachweisen und Statistiken, für die er, selbst hoher Verwaltungsbeamter im Staatsdienst Britisch-Indiens, sich auf offizielle Unterlagen stützt Die Bewußtheit, mit der Indien diesen wirtschaftlichen Abfluß damals erlebte und registrierte, ist ein historisches Faktum, das von den später in Europa entwickelten wirtschaftstheoretischen und ideologischen Ansätzen kaum berücksichtigt wurde.

So hoch auch die Besteuerung war, reichten doch die erzielten Einkünfte zur Deckung aller offiziellen und inoffiziellen Aufwendungen nicht aus. Zu den letzteren gehörten die Verpflichtungen der Company als einer Handelsgesellschaft — wie die Zahlung von Jahresdividenden an die Aktionäre in England —, die paradoxerweise auch noch* weitergingen, als sie als solche zu bestehen aufgehört hatte und, noch etwas später, offiziell abgeschafft war. Indien selbst zahlte damit, wie Dutt kommentiert, die Kosten für die Übernahme des Landes von der Ostindien-Gesellschaft durch die Krone (1837), und über den Economic Drain hinaus entstand für Indien eine „Schuld", genannt Indian Debt, die von sieben Millionen Pfund Sterling im Jahr 1792 auf 200 Millionen Pfund im Jahr 1900 anstieg.

Damit sind bei weitem nicht alle faktischen Abflüsse aus Indien genannt. Allein aus den Indien benachteiligenden Tarifen des Handels mit England entstanden für Indien hohe Verluste, und die Regelungen für den innerindischen Handelsverkehr bewirkten, daß in Indien hergestellte Waren für den indischen Konsumenten teurer wurden als aus England eingeführte. Allein durch diese Maßnahmen verlor der Stand der indischen Kaufleute schnell seine Existenzgrundlage. Dazu kamen noch die persönlichen Übergriffe englischer Beamter an den Zollstationen, die von hohen englischen Kolonialbeamten, Missionaren und Wissenschaftlern jener Zeit öffentlich kritisiert wurden, der britischen Regierung also nicht unbekannt blieben. Mit dem Aufhören der Company als einer Handelsgesellschaft betrieben ihre ehemaligen Angestellten individuell ihre Handelsgeschäfte weiter, wobei sie sich der früheren offiziellen Privilegien privat weiter bedienten. Und ferner empfingen fanghohe englische Kolonialbeamte „Geschenke" von indischen Fürsten in Form von Juwelen, Geldmitteln und Land.

Mit Selbstverständlichkeit wurde das in Indien Erwirtschaftete in England umgesetzt und angelegt, sowohl von Einzelpersonen als auch von Institutionen; es wurde nichts in Indien investiert — mit Ausnahme von Projekten, die den englischen Interessen dienten. So wurden bis 1900 für Eisenbahnbau in Indien 225 Millionen Pfund investiert, nur 25 Millionen dagegen für die Instandhaltung der für die indische Landwirtschaft lebensnotwendigen Bewässerungsanlagen. Die Eisenbahnstrecken schädigten die traditionellen indischen Handels-und Transportgepflogenheiten; der einst von regem Bootsverkehr belebte Ganges verödete. Es wurde für den Anbau und die Produktion von Opium investiert, aber der Ertrag floß ausschließlich in britische Hände: das in Indien gewonnene Opium wurde unter Anwendung von Gewalt nach China exportiert (Opium-Kriege). Durch Entzug von Investitionen, direkte Verbote, durch Drohungen und Strafen und durch finanzielle Manipulationen wurden traditionelle indische Industrien wie die Weberei und die Indigogewinnung der indischen Bevölkerung genommen und zwangsweise in englische Hände überführt’

Genauso betroffen von der Fremdherrschaft wie Handel und Industrie wurden die indischen Bauern. Besteuerung, Pacht und Landverteilung wurden neu geregelt, wobei die einheimischen Grundlagen ignoriert wurden. Die Begriffe „Pacht" und „Steuer" dürfen für die traditionellen indischen Dorfgemeinschaften nicht mit denselben Inhalten gefüllt werden wie für westliche ältere und neuere Gegebenheiten; nicht einmal „privater" und „kollektiver" Besitz sind in derselben Weise voneinander unterschieden wie im europäischen Denken. Ein „Pächter" konnte freie Wohnung und freies Weideland haben, für die Instandhaltung von Kanälen und Reservoiren war jedoch der Landbesitzer verantwortlich. Alle Mitglieder der Dorfgemeinschaft bekamen ihren lebensnotwendigen Anteil von der Ernte, und der Landbesitzer erhielt eine für westliche Begriffe äußerst ungenaue „Hälfte" in Naturalien oder in Geld. * Die Dorfgemeinschaften hatten über Jahrhunderte, wahrscheinlich Jahrtausende den tragenden Kulturboden Indiens gebildet. Sie werden als „kleine Republiken" oder Selbstverwaltungseinheiten geschildert, in denen alle lebens-und kulturnotwendigen Berufe vertreten waren: vom Schmied über den Priester bis zum Künstler. Sie waren klein genug, um für jedes Mitglied überschaubar zu sein, und sie hatten den Wechsel aller Dynastien überdauert. Schon zu der Zeit, in der Dutt schrieb, muß das System der traditionellen indischen Dorfgemeinschaft europäischem Denken ideal und damit unwirklich erschienen sein; denn Dutt, der für ein europäisches Publikum schrieb, zitiert bei seiner Erwähnung Berichte englischer Kolonialbeamter der ersten Zeit mit dem ausdrücklichen Hinweis darauf, daß nicht nur Hindu-Schriften, sondern auch Europäer die Struktur und das Funktionieren der indischen Dorfgemeinschaft verzeichnet haben (womit offenbar erst die Wahrheit verbürgt war!).

Die kulturfremde Kolonialherrschaft zerstörte das System der traditionellen indischen Dorfgemeinschaft. Der geringste englische Verwaltungsbeamte hatte mehr Macht als das geachtetste Glied der einheimischen Struktur; er übersprang alle Stufen und erzwang durch Gewalt, was er wollte. Und auch materiell brachten die Forderungen der Kolonialregierung dem indischen Agrarland den Ruin. Es wurden Pacht-und Steuersätze von 90 Prozent und mehr erhoben die Bauern verarmten schnell. Bald waren ihr Vieh und schon die nächste Saat verpfändet. In Dürrezeiten waren sie, bei verfallenden Bewässerungsvorrichtungen und Reservoiren und ohne Reserven, mittels derer sie sich aus nicht-betroffenen Provinzen hätten versorgen können, Hungersnöten ausgeliefert, denen Millionen zum Opfer fielen. Das Land entvölkerte sich, Agrarboden verödete oder wurde vom Dschungel überwuchert. Es war nicht so, wie die westliche Rede vom „Erwachen" der Völker Asiens nach 1945 impliziert. Indien „schlief" nicht, sondern wehrte sich mit ungezählten Aufständen gegen die Fremdherrschaft. Die zeitlich und räumlich ausgedehnteste Auflehnung, die den Charakter eines Krieges annahm, ereignete sich ungefähr um die Zeit, in der das ungebrochene Japan sich der Welt öffnete: 1857 (Great Mutiny) im Norden Indiens; sie wurde, mit großen Verlusten an Menschenleben auf beiden Seiten, niedergeschlagen. Die entstandenen Kosten hatte Indien aufzubringen. Trotzdem fanden schon zwei Jahre später die Indigo-Unruhen in Bengalen statt, in deren Folge Rev. James Long in Calcutta mit Gefängnishaft bestraft wurde, weil er das indische Drama „The Mirror of Indigo" ins Englische übersetzt hatte

Rund 100 Jahre später als Japan trat Indien, Unabhängigkeit erlangend, ins internationale Leben ein; aber es war keine intakte, vitale Funktionseinheit mehr. Seine Sozialstrukturen waren zerstört, seine Wertmaßstäbe verunsichert, sein Kapital abgezogen. Es gab zwar als Folge der Kolonialherrschaft auch einen begrenzten einheimischen Wohlstand, z. B. beim neu gebildeten Stand der indischen Richter. Diese wohlhabenden Schichten gerieten jedoch in eine problematische Situation; gewollt oder ungewollt waren sie zu Kollaborateuren der Fremdherrscher und damit am Maßstab ihres eigenen Volkes gemessen zu Verrätern geworden.

Die letzten hundert Jahre

In den Jahrzehnten, in denen Indien unter Ereignissen wie dem zweiten und dritten Afghanischen Krieg (1878 und 1897) und Hungersnöten größten Ausmaßes (1857, 1876/77, 1897, 1900) darniederlag, begann Japan, das Studium der „westlichen Technik" auf der Grundlage „östlicher Moral“ offiziell und auf breiter Basis fortzusetzen. Mit dem neu eingesetzten Staats-Shintö, der Beibehaltung des Gesellschaftskodex'konfuzianischen Gehorsams und der Tradition der buddhistischen Klöster besaß Japan ein tragendes Wertsystem, im armen, aber funktionsfähigen Bauernstand eine Steuereinnahmequelle, aus der die Regierung zeitweise den größten Einzelposten ihrer Einkünfte bezog Japan nahm in den ersten Jahrzehnten seiner technisch-industriellen Entwicklung, mit zwei relativ geringfügigen Ausnahmen, keine ausländischen Kredite auf. Und es beschritt den Weg des „Expansionismus" .den der Harvard-Professor und langjährige US-Botschafter in Tokyo, Reischauer, spätestens 1964 mit dem damaligen Zug der Zeit erklärt, dessen Auswirkungen auf Korea der Oxforder Japanologe Storry erwähnt und den Senghaas noch 1977 bei seiner Diskussion des japanischen Entwicklungsprozesses ausläßt

Schon 1876 unterwarf Meiji-Japan Korea Handelsbedingungen nach dem Vorbild der „Ungleichen Verträge", deren Opfer es selbst 1854/55 gegenüber den Westmächten geworden war, und 1885 erklärte einer der führenden Politiker der Meiji-Zeit, Ito Hirobumi, Korea für die Zukunft wegen „der wachsenden japanischen Bevölkerung']! ]) zur notwendigen zusätzlichen Reisquelle. Das bedeutete den Auftakt zur kolonialen Unterwerfung Koreas (offiziell 1910). Nach dem Sieg über China 1895 erhielt Japan Taiwan (Formosa) zugesprochen sowie eine „Entschädigung", deren Höhe ein Viertel des damaligen japanischen National-einkommens ausmachte. 1897 konnte Japan den Goldstandard übernehmen und 1899 als erstes nichteuropäisches Land die exterritorialen Rechte europäischer Mächte löschen.

Mit dem Sieg über Rußland 1905 war Japan wiederum das erste nichteuropäische Land der Welt, das sich einer europäischen Macht als überlegen erwies. International herangewachsen, gewann Japan 1911 Tarifautonomie und konnte während des Ersten Weltkrieges zu den Bedingungen einer Kolonialmacht am asiatischen Handelsmarkt teilnehmen.

Korea wurde, wie geplant, zur Reisquelle für Japan Der im Übermaß angepflanzte Reis wurde immer billiger und die koreanischen Reisbauern verarmten; nur das erstere wurde von den japanischen Bauern — böse — ver-merkt. Die zwangsläufig auch im Übermaß geschaffenen Bewässerungsanlagen, als japanische Leistung gerühmt, nützten nur Japan, ähnlich wie der Eisenbahnbau in Indien nur englischen Interessen diente. Laut Eintrag in der Encyklopädia Britannica betrug der koreanische „Export" nach Japan 97 Prozent des Gesamtexportes Koreas und sein „Import" aus Japan 89 Prozent des Gesamtvolumens. Korea „exportierte" Reis und Meeresprodukte und „importierte" industrielle Erzeugnisse. 1939 überstiegen Koreas Importe seine Ausfuhr um 39 Prozent; das Zahlungsdefizit wurde u. a. durch Gold„verschiffungen" ausgeglichen. Das japanische Wirtschaftswachstum jener Zeit kann als proportional der koreanischen Verarmung bezeichnet werden, das Verhältnis zwischen den beiden Ländern glich dem zwischen England und Indien. Tatsächlich soll die 1908 in Seoul etablierte „Orientalische Entwicklungs-Gesellschaft“, von den Koreanern der „Vampir der Bauern" genannt, nach dem Vorbild der englischen Ostindien-Gesellschaft organisiert worden sein.

In den 30er Jahren wurde China von der japanischen Expansionspolitik betroffen. Bezeichnungen wie „Mandschurischer Zwischenfall" wollen über das Faktum des japanischen Expansionismus hinwegtäuschen. Japan konnte sich, als einzelnes Land, im Kielwasser des Westens in die bestehende Weltwirtschaftsstruktur einschleusen, ohne Europa zu viel von seinem internationalen Absatz-und Rohstoffmarkt zu nehmen, wenn es auch als Rivale gefürchtet war.

Der wenn auch nur temporäre militärische Sieg Japans über die westlichen Kolonialherrscher in Asien während des Zweiten Weltkrieges brachte den asiatischen Freiheitsbewegungen Entspannung; die nun einsetzenden Entwicklungen waren nicht mehr rückgängig zu machen. Das Ende einer weltgeschichtlichen Epoche war eingeleitet.

III. Entwicklungstheoretische Thesen widerlegt

Die moderne japanische Entwicklung widerlegt durch sich selbst die Theorie, der gemäß um des wirtschaftlichen Fortschritts willen Traditionen aufgegeben werden müssen. Japan ist mit seinen (für Europäer!) komplizierten Schriftzeichen die zweitstärkste Industrienation der Welt geworden; es yerfährt im innerjapanischen Postverkehr nach seinem traditionellen Kalender -Die inneren Bindungen der Großfamilie mit den dazugehörenden konkreten Verpflichtungen haben nicht aufgehört zu bestehen — soweit ihre äußere Form aufgelöst ist, ist das eine Folge der Industrialisierung mit ihren Ballungszentren, es war nicht ihre Voraussetzung —, sie haben sich vielmehr auf das moderne Leben mit seinen Institutionen ausgedehnt. Daß man in Japan kein Arbeitsamt braucht, daß man noch jetzt im allgemeinen lebenslang bei einer Firma bleibt, daß es, neben der modern-offiziellen Entlohnungsstruktur, ein „System“ von Geschenken bei persönlichen Anlässen gibt und vieles andere ist nur auf dem Hintergrund der von traditionellen Werten bestimmten Gesellschaftsordnung zu verstehen. Innerhalb dieser besitzt das rein menschliche Element des gegenseitigen Verlasses aufeinander, der gegenseitigen Abhängigkeit voneinander, des gegenseitigen Sich-Anlehnens aneinander (amae) genau so konkrete und ernst genommene Funktionen wie materiell-rationale Prinzipien.

Die Religionen (shukyö = Gute Lehre) sind vielfältig. Konfuzianische und buddhistische Gedanken sind im Bewußtsein, und außerdem werden zum volkstümlichen Shintö gehörende Bräuche gepflegt. Das ins internationale Leben eintretende Meiji-Japan modernisierte sich wirtschaftlich bei gleichzeitiger offizieller Rückkehr zur jahrhundertelang vergessenen Tradition des Staats-Shintö. Christliche Mission wurde wieder gestattet, und zusätzlich zu den großen alten buddhistischen Sekten sind seit der Meiji-Zeit viele „Neue Religionen“ (shinko shukyö) entstanden, die von buddhistischen, shintöistischen, christlichen, östlich-und westlich-philosophischen Gedanken inspiriert sind; nach 1945 wurden einmal mehrere Hundert verschiedene institutionalisierte Glaubensrichtungen gezählt Zu den shinko shukyö gehört die in politischen Zusammenhängen auch im Westen bekanntgewordene Söka Gakkai (Kongreß zur Schaffung kultureller Werte) aus dem Bereich des Nichiren-Buddhismus. Wenn Japan nicht so erfolgreich wäre, würden die westlichen Sozialwissenschaften zweifellos seine komplexe Religiosität als Ursache der Stagnation ansehen. Wenn verbreiteter Analphabetismus als entwicklungshindernd betrachtet wird, dann beweist das, daß Europa sich nicht einmal seiner eigenen Entwicklungsgeschichte bewußt ist; denn die industrielle Revolution fand bei verbreitetem Analphabetismus statt. Noch 1837 ging sogar in ihrem Ursprungsland nur eins von vier oder fünf Großstadtkindern zur Schule von den Dörfern ist gar nicht die Rede. Der heutige Stand der Technik erfordert nicht mehr Schreibkundigkeit als der damalige, eher weniger, weil Computer ganze Arbeitsgänge übernehmen. Das Vorhandensein einer schreibkundigen Elite kann auch nicht die Erklärung für den wirtschaftlichen Erfolg sein, denn eine solche gab es in Kulturen wie Indien auch. Spätestens im Jahr 1214 war in Korea eine Druckerpresse mit bewegli-'chen Metailtypen in Gebrauch, zweihundert Jahre vor Gutenberg; und Holzpressen gab es in China schon vor dem Ende des ersten Jahr-1 tausends.

Von diesen Tatsachen abgesehen, ist Denkfähigkeit nicht an Schriftkundigkeit gebunden. Innerhalb alphabetisierter Länder ist Denk und Urteilsvermögen sehr unterschiedlich ausgeprägt; in den Ländern mit weniger verbreiteter Schriftkundigkeit hatten die Menschen durch mündliche Unterweisung Anteil an den Werten und Entwicklungen ihrer Kul-tur. Die „Schriftgelehrten" bildeten einen Berufsstand für sich neben analphabetischen und dabei erfolgreichen Kaufleuten, Handwerkern, Künstlern, „Geschichtenerzählern" auch die Herrscher mußten sich ihrer Fähigkeit bedienen.

Auch rasches Bevölkerungswachstum während der Anfänge der modernen Entwicklung hat den wirtschaftlichen Fortschritt in den heutigen Industrieländern nicht behindert. In Japan stieg die Bevölkerung von etwa 1870 bis 1930 von 30 auf 60 Millionen und in Deutschland haben Angehörige der älteren Generationen manchmal noch zehn Geschwist auf 60 Millionen 27), und in Deutschland haben Angehörige der älteren Generationen manchmal noch zehn Geschwister.

überhaupt herrschen in Europa falsche Vorstellungen über die Bevölkerungsdichte in den sog. Entwicklungsländern. Das hat verschiedene Ursachen. Relativ wenige Europäer kennen die flächenmäßige Ausdehnung z. B. Asiens, kaum jemand weiß, daß Indien von Japan so weit entfernt ist wie von Westeuropa. Die alten Schullandkarten haben Asien wie ein kleines Anhängsel Europas erscheinen lassen, und insofern ist die von europäischen Politikern kürzlich lobend hervorgehobene neue „Peters-Projektion" 28) zu begrüßen. Nur ist sie natürlich nicht die erste Korrektur der Mercator-Weltkarte von 1569. Es sind längst Atlanten im Gebrauch, die die Länder der Welt in ihrem geographisch korrekten Größenverhältnis zueinander darstellen. Es gab sie auch schon zu der Zeit der Schullandkarten mit den falschen Proportionen. Zweitens bleiben die meisten europäischen Besucher Asiens in den Großstädten, speziell in deren Zentren, die tatsächlich übervölkert sind. Nur ist es genau so falsch, von der Bevölkerungsdichte von Calcutta auf ganz Indien zu schließen wie von der von Paris auf ganz Frankreich. Gemäß Statistiken der FAO (Food and Agricultural Organization) ist die Bevölkerungdichte Frankreichs neunmal so groß wie die Brasiliens, ein Drittel größer als die Nigerias, sogar höher als die In-

donesiens und gleicht in etwa der Indiens 29).

Die Vorstellung von Überbevölkerung in der Dritten Welt wird sogar manchmal durch „Schaltfehler“ in wissenschaftlichen Techniken untermauert Die Zeitschrift „Vereinte Nationen" 30) veröffentlichte eine graphische Darstellung der Erde, in der der Äquator nicht real-geographisch, sondern nach wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten eingezeichnet ist. Demgemäß sind Länder wie die Türkei, Indien und China in die südliche Erdhälfte hineinprojiziert worden, obwohl sie — zum Teil weit — nördlich vom Äquator liegen. Die Bevölkerung dieser südlichen Erd„hälfte" ist mit zwei Dritteln der Weltbevölkerung angegeben — eine völlige Verzerrung des tatsächlichen Verhältnisses von Bevölkerungszahl zu geographischer Ausdehnung im Norden und im Süden: der wirtschaftspolitische „Süden“ mag zwei Drittel der Weltbevölkerung umfassen, aber er umfaßt auch mindestens zwei Drittel der Erdoberfläche.

Zu schnelles Bevölkerungswachstum wurde schon während der Kolonialzeit versuchsweise als Erklärung für die wachsende Armut in Indien herangezogen; es konnte damals nachgewiesen werden, daß die Bevölkerungswachstumsrate in England höher war. Was Schriftkundigkeit anbelangt: Es hätte den indischen „Teesklaven" nichts genützt, wenn sie die englischen Verträge hätten lesen können; denn diese enthielten nicht die tatsächlichen Bedingungen, und außerdem wurden die Landarbeiter unter Anwendung von Gewalt zur Einwilligung gezwungen. Abwegig ist auch die Behauptung, die Inder seien infolge ihrer Religiosität weltabgewandt und nicht interessiert an der Alltagsrealität Indien war am Beginn der Kolonialzeit noch ein exotisch-farbenprächtiges Land, aus dem enormer materieller Reichtum abgezogen werden konnte. Und Indiens religiöse Feste sind sogar heute noch, wie die Japans, farbenfroh und diesseitig fröhlich.

Die These, daß das Kastensystem schuld an der gegenwärtigen Stagnation Indiens sei, ist genauso schief. Der heutige Zustand Indiens ist nicht der Urzustand des Landes, sondern das Ergebnis jahrhundertelanger Fremdherrschaft. Das alte Kastensystem, das Ordnung und Sicherheit für die Mitglieder aller Schichten bedeutete und das soziale Mobilität so wenig ausschloß wie die konfuzianische Ordnung in Tokugawa-Japan, ist mit der traditionellen indischen Gesamtstruktur durch die Kolonialherrschaft zerstört worden. Wenn heute bei indischen Menschen rigide Ablehnung bestimmter Arbeiten beobachtet wird, so sind das Anzeichen passiven Widerstandes gegen aufgezwungene Forderungen, die nicht den eigenen Antrieben und Bedürfnissen entsprechen. Die Haltung ist vergleichbar der eines deutschen Managers oder Facharbeiters, der ungeachtet seiner Qualifikation zur Verrichtung von Arbeiten gezwungen werden würde, die ein afrikanisches oder chinesisches System von ihm verlangen würde.

Wenn im Westen und von einzelnen indischen Persönlichkeiten vom traditionellen indischen Kastensystem als einem Problemfaktor gesprochen wird, dann bleiben — in den westlichen Wiedergaben — viele Komponenten unerwähnt, so daß das Phänomen immer wieder mißinterpretiert wird. In wechselnden westlichen Deutungen werden „Traditionalismen“ wie eine irrational motivierte Diskrimi-nierung der „Unberührbaren" und starres Festhalten der einzelnen an ihrer kastenbedingten Tätigkeitsart mitverantwortlich für die Stagnation gemacht. Die Annahme, daß das Kastensystem die letzten Jahrhunderte unbeeinträchtigt überstanden habe, ist unrealistisch; eher ist während der Kolonialjahrhunderte zugleich mit den kulturfremden Strukturen und Berufen auch das traditionelle Standesdenken der Kolonialmacht dem Land aufgeprägt worden.

Die im Westen so oft zitierten „Unberührbaren" bilden als solche, auf einer irrationalen Grundlage, kaum ein Problem, sondern vielmehr als komplexer wirtschaftlicher Faktor, wie ihn Massenarmut auch in andern Ländern darstellt. Nicht die Aufhebung der „Unberühr barkeit", sondern die Schaffung von Arbeitsplätzen in Stadt und Land würde die Armut beheben.

Viele der westlichen Entwicklungsthesen sind ohne Kenntnis der Realgeschichte der andern und ohne Reflexion über die eigene Entwicklungsgeschichte aufgestellt worden, und sie sind oft nicht modern, sondern bilden eine Fortsetzung des traditionellen europäischen Denkens.

IV. Nord-Süd-Dialog"

Was also sind die Ursachen der wirtschaftlichen Stagnation in den heutigen „Entwicklungsländern“ und ehemaligen Kolonien?

Mit Bezug auf eine der Weltregionen, die um Gehör im internationalen Leben kämpfen, schreibt ein BBC-Korrespondent im Vorwort seines kürzlich in England erschienenen Buches sinngemäß daß man Gefahr laufe, als Feind des eigenen Lagers angesehen zu werden, wenn man den Standpunkt und die Historie der andern Seite in seine Überlegungen einbeziehe. Dabei ist, wie der Autor mit Recht argumentiert, die Berücksichtigung der Argumente der andern Seite entscheidend für die Lösung des jeweiligen Konflikts; denn historisch und sachlich begründete Argumente, die nicht gehört und damit praktisch unterdrückt werden, lösen sich nicht auf, sondern wirken weiter. Politische Friedensinitiativen der letzten Jahre, deren offizielle Vertretei Auszeichnungen erhielten und die inzwischen durch fortgesetzte kriegerische Auseinandersetzungen aufgehoben sind, stellen diese „historische Gesetzmäßigkeit“ in der Gegenwart neu unter Beweis.

Der Kampf des Südens um objektive internationale Berichterstattung ist keine Frage, die wie es in der westlichen Öffentlichkeit versucht worden ist, im Rahmen der Diskussion demokratischer Pressefreiheit verstanden werden kann: Bisher interpretieren der größte Teil der westlichen Presse und weitgehend auch die westliche Wissenschaft allein durch ihre termini technici, d. h. durch ihre gedanklichen Kategorien, die Weltgeschehnisse nad ihren subjektiven, kulturindividuellen Mal Stäben, vor allem in dem zeitlich und räumlic eng umgrenzten Schema der Ost-West-Kon frontation; für die Völker des Südens wird die ser „West-Zentrismus" im Laufe ihrer wiederentstehenden Emanzipation immer weniger annehmbar; sie erheben den Vorwurf des „Informationskolonialismus" Solange die Beachtung der Realgeschichte und der Standpunkte der Völker des Südens im Westen als politischer Dissens oder als Romantizismus gelten (wie offenbar schon zu der Zeit, in der Romesh Dutt schrieb!), kann die Auseinandersetzung zwischen dem Norden und dem Süden nicht ein „Dialog" genannt werden.

Um zu einem sachlichen Ergebnis kommen zu können, muß die Situation der heutigen Entwicklungsländer mit der der heutigen Industrieländer zur Zeit des Beginns ihrer technischen Modernisierung verglichen werden.

Und dabei zeigen sich zwei grundlegende Unterschiede. x Parallel mit der Industrialisierung Europas lief seine koloniale Unterwerfung der nicht-westlichen Welt. Europa gewann freien Zugang zu den Rohstoffen, die es zur Umsetzung seiner theoretischen Entdeckungen in die Praxis benötigte; denn da es den andern Zivilisationen zu der Zeit technisch, vor allem waffentechnisch überlegen war, konnte es ihnen seine Bedingungen aufzwingen. Es schaltete die Eigenproduktion der andern Länder aus (wie England in Indien) und erzwang sich seine Absatzmärkte durch direkte (z. B. Englands Opium-Kriege in China) und durch indirekte (Tarife) Gewalt. Was hätte Max Webers von innerweltlicher Askese motivierter mittelständischer Unternehmer ohne diese Vorbedingungen erreichen können

Die künstlichen Strukturen, die die Kolonialmächte im 17., 18. und 19. Jahrhundert der nichteuropäischen Welt aufzwangen, sich der einheimischen Materialien bedienend und das Wohl und die Eigenständigkeit der einheimischen Bevölkerungen ausschaltend, werden noch heute perpetuiert, wie in einer von Mitar-Litern des Max-Planck-Insituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg durchgeführten und veröffentlichten Untersuchung, die auf die wirtschaftliche Aktualität gerichtet ist, deutlich wird Noch immer exportieren die früheren Kolonien und heutigen Entwicklungsländer weit überwiegend Rohstoffe und importieren weit überwiegend Fertigwaren, und noch immer werden, so kann ergänzt werden, die Tarife vom Westen bestimmt. Noch immer treiben die nichteuropäischen Länder nicht wie vor der Kolonialepoche Handel untereinander, sondern sie sind in der herrschenden Weltwirtschaftsstruktur zum Handel mit den Industrienationen gezwungen. Die Industrienationen lassen der billigen Arbeitskraft wegen in den Entwicklungsländern produzieren, und diese werden dabei nicht auf den Weg eigenständiger Entwicklung gebracht, sondern bleiben Zulieferer. Die Industrie des Westens treibt praktisch Handel mit sich selbst.

Auch intern sind die „Entwicklungsländer" in einer andern Situation als die heutigen Industrienationen an ihrem Beginn. Die europäischen Länder und Japan besaßen arme, aber funktionierende Landwirtschaften, die die Substanz lieferten und besteuerbar waren Die von der westlichen „Entwicklungspolitik" angestrebte Industrialisierung der Länder der Dritten Welt hat dagegen keinen Boden unter den Füßen: die traditionelle Agrarwirtschaft der betroffenen Länder ist zerstört. Der Dialog zweier eingeborener Tiere, eines Elefanten und einer Schildkröte, den das Berliner Missionswerk 1979 in einer Serie publiziert, veranschaulicht eine der daraus resultierenden Situationen so: Die Reisfelder sind verlassen und die Bauern leben arbeitslos in den Städten. Auf den ehemaligen Reisfeldern werden Ölnüsse geerntet, dank derer die Kühe fettere Milch geben, die mit westlichen Maschinen zu Milchpulver verarbeitet und so zur „Entwicklungshilfe" wird. Dieser „Handel" kostet die Regierungen der Entwicklungsländer Geld und hält sie in Abhängigkeit. Des Elefanten Kom-mentar: . Aber die brauchten kein Milchpulver, wenn sie die Reisfelder behalten hätten!"

Wozu soll der „schlafende Riese 1'nach Meinung des Autors eines neuen deutschen Buches über Indien „erwachen"? Zu beginnender und alle Welt in den Schatten stellender Industrieproduktion nach westlichem Vorbild? Zu politischer Weltdominanz oder militärischer Welteroberung? Der „Riese" hat nie geschlafen und schläft auch jetzt nicht Er hat nur, wie die andern Entwicklungsländer und ehemaligen Kolonien, gegen übermächtige Hindernisse anzukämpfen.

Das erste Erfordernis zur wirtschaftlichen Regeneration Indiens und der anderen Entwicklungsländer ist die Wiederherstellung von Landwirtschaftsstrukturen, die den elementaren Bedürfnissen der einheimischen Bevölkerungen entsprechen. Das zweite Erfordernis ist die Schaffung von Welthandels-und Produktionsbedingungen, die dem Süden die gleichen Chancen geben wie dem Norden. Ohne eine Veränderung der gegenwärtig bestehenden Weltwirtschaftsstruktur, bei der der Norden einige seiner gewohnten Vorteile aufgeben muß, ist die wirtschaftliche Regeneration Indiens und der übrigen sog. Entwicklungsländer nicht möglich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Aussprache: kamikase. Ein japanisches Idiom in Anlehnung an die historischen Taten, die der Brüte der Sonnengöttin, der Sturmgott, zur Rettung Japans unternahm.

  2. Die Briten hatten das in Indien reichlich vorhandene und leicht zu gewinnende Salz monopolisiert und so verteuert, daß dieses lebensnotwendige Nahrungselement für das Gros der indischen Bevölkerung unerschwinglich war.

  3. Arno Peters, Synchronoptic World History, zuerst erschienen 1952, Gesamtauflage 100 000; nähere Angaben fehlen. Der Autor ist kürzlich durch seine der Mercator-Projektion von 1569 entgegengehaltene Weltkarte bekanntgeworden.

  4. Romesh Dutt, The Economic History of India, Vol. I: Under Early British Rule 1757— 1837; Vol. II: In the Victorian Age 1837— 1900. London 19062 (Indische Neuauflagen durch das Ministry of Information and Broadcasting des Government of India, London 1959, 1963, 1970).

  5. Ausführlich in: Ingeborg Y. Wendt, Japanische Dynamik und indische Stagnation? Eine Antwort auf theoretische Entwicklungsmodelle, Darmstadt 1978.

  6. Von zen-buddhistischer Haltung bestimmte Malerei.

  7. Mgl. Ingeborg Y. Wendt, Die „unheimlichen" Japaner, a. a. O.

  8. Vgl. Romesh Dutt, a. a. O.

  9. Letztere hatten ihre Hauptstützpunkte in Pondicherry nahe Madras und Chandranagar nahe Calcutta.

  10. Vgl. Romesh Dutt, a. a. O.

  11. Vgl. Ingeborg Y. Wendt, Japanische Dynamik..., a. a. O.

  12. Vgl. E. Herbert Norman, Japans Emergence as a Modern State, New York 1940.

  13. Vgl. Romesh Dutt, a. a. O.

  14. Vgl. Ingeborg Y. Wendt, Japanische Dynamik... a. a. O.

  15. Edwin O. Reischauer, Japan Past and Present, Tokyo 1964, 1967.

  16. Richard Storry, A History of Modern Japan, Middlesex (Penguin Books) 1960, 1965.

  17. Dieter Senghaas, Japans dissoziativ-kapitalistische Entwicklung, in: Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik. Plädoyer für Dissoziation, (edition suhrkamp) Frankfurt 1977.

  18. Vgl. G. B. Sansom und D. W. Kermode, Economic Conditions in Japan to December 31st, 1932. With Annexes on Formosa and Korea, London 1933.

  19. Die Jahre werden nach der jeweiligen Herrschaftsepoche gezählt; demgemäß ist z. B.der 5. 12. 1979 = Showa 54-12-5.

  20. Vgl. Takeo Doi, Anatomy of Dependence, Tokyo 1973.

  21. „Sekten“ in Ostasien sind gleichberechtigt nebeneinander bestehende Glaubensrichtungen; eine Zentralkirche gibt es nicht.

  22. Vgl. Ichiro Hori, Folk Religion in Japan. Continu-ity and Change, Chicago 1968.

  23. Vgl. Ronald Dore, Education in Tokugawa-Japan Los Angeles 1965.

  24. Sie unterhielten ihr Publikum nicht nur, sondern unterrichteten es auch über die mündlich überlie-erte Historie und übten in der Form von Allegorien Gesellschaftskritik.

  25. Edwin O. Reischauer, a. a. O.

  26. Heft 2/1978.

  27. Romesh Dutt, a. a. O.

  28. Jonathan Dimbleby, The Palestinians, Quartet Books London, Melbourne, New York 1979.

  29. Kurt Waldheim, Der schwierigste Job der Welt, men, München, Zürich, Innsbruck 1978.

  30. Vgl. Ingeborg Y. Wendt, Die abendländische Per-sPektive — Maßstab oder Variante der Weltge-sshichte?, in: „Vereinte Nationen", Heft 2, 1979.

  31. Ingeborg Y. Wendt, Japanische Dynamik ..., 1 ä. 0.

  32. Folker Fröbel, Jürgen Heinrichs, Otto Kreye, Die neue internationale Arbeitsteilung, Reinbek (rororo) 1977; im Prinzip ist diese „Arbeitsteilung“ eigentlich nicht neu!

  33. E. Herbert Norman, a. a. O.

  34. Plakate in der Berliner Untergrundbahn, Postkarten und Fragebogen zur Bewußtseinsbildung der deutschen Bevölkerung zum Thema Entwicklungshilfe 1979.

  35. Dietmar Rothermund, 5mal Indien. Panoramen der Welt, München 1979.

Weitere Inhalte

Ingeborg Y. Wendt, Dr. phil.; Studium der Psychologie, Philosophie und Psychopathologie in Berlin und Tübingen; 1960— 1963 Lehr-und Forschungstätigkeit an der Gakushuin-Universität in Tokio; 1964— 1966 Mitarbeiterin am Hamburger Weltwirtschaftsarchiv; 1966— 1969 Forschungsauftrag der DFG zum Thema „Japans Beitrag zur Lösung der internationalen Entwicklungsprobleme"; 1970— 1978 Wiss. Mitarbeiterin an der FU Berlin; Gastvorlesungen in Japan; Übernahme eines Lehrstuhls an der Meiyo-Universität in Tokio; z. Zt.freie Forschungstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Veröffentlichungen u. a.: Zen, Japan und der Westen, München 1961; Die „unheimlichen" Japaner, Stuttgart 1970; Japanische Dynamik und indische Stagnation, Darmstadt 1978; Tiefenpsychologie und Zen-Buddhismus: Kritische Überlegungen zu Systematik und Sinn des Vergleichs. Beitrag zur Enzyklopädie der Psychologie des XX. Jahrhunderts, Zürich 1979; Autozentrierte Entwicklung aus ethno-soziologischer Sicht, in: Verfassung und Recht in Übersee, Hamburg 1979, IV. Quartal.