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Zum Exodus Jugendlicher | APuZ 30/1979 | bpb.de

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APuZ 30/1979 Artikel 1 Zum Exodus Jugendlicher Jugend und Militär Zur Sozialgeschichte militärischer Erziehungsinstitutionen in Deutschland Moderne Geschichtswissenschaft und Technik

Zum Exodus Jugendlicher

Lothar von Balluseck

/ 41 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Daß die Gesellschaft, die den massenweise Exodus Jugendlicher beklagt, ihrerseits ganze Bevölkerungsgruppen isoliert oder zwangsweise emanzipiert, wie es bei psychisch Kranken, den Alten und den Sterbenden der Fall ist, liegt dem allgemeinen Bewußtsein ebenso fern wie der Gedanke, daß zwischen beidem ein Zusammenhang bestehen könnte. Selbst-bzw. gesellschaftskritisches Nacherleben dürfte daher eine unerläßliche Voraussetzung für eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Phänomen des sogenannten „Ausflippens" sein. In diesem Zusammenhang sucht der Autor nach einem Generalnenner für die scheinbar verschieden motivierten Ausstiegstendenzen der Sektierer, Drogensüchtigen, Sympathisanten oder Suizidären. Er begreift sie nicht als Fremdkörper, sondern als der Gesellschaft zugehörig. Dabei zeigt er die Wechselbeziehung zwischen den neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten und der Tendenz zum Aussteigen auf. Der Rat-und Hilflosigkeit der Allgemeinheit gegenüber dieser Erscheinung versucht der Autor mit konkreten Vorschlägen zu begegnen: Er setzt sich für die Schaffung eines interdisziplinären Zentrums ein, das mit Hilfe von Psychologen, Soziologen, Mitarbeitern in der politischen Bildungs-und Jugendarbeit usw. neue Voraussetzungen für die Auseinandersetzung mit dem immer bedrohlicher werdenden Exodus der Jugend aus der Gesellschaft entwickeln soll. Für dringlich erforderlich hält es der Autor, daß völlig neue, empirisch-statistische Grundlagenforschungen hierzu betrieben werden.

„Deutschland . .. befindet sich in einer paradoxen Situation: es wird weder wegen seines sozialdemokratischen Menschentyps geliebt werden noch wegen seiner Ordnung oder seines Reichtums, sondern wegen jener Legion von Ruhestörern, die das Land zu unterschätzen tendiert."

Nicole Casanova anläßlich der Wahl des Europäischen Parlaments in der Sonderausgabe der Zeitschrift le Nouvelles Litteraires Es gab in menschlichen und tierischen Gemeinschaften schon immer „Ausscherer" — kranke Individuen, die ausgestoßen wurden, oder andere, die sich aus eigenem Antrieb absetzten. Wer sich gezwungenermaßen oder freiwillig absonderte, wurde von Anfang an diskriminiert: die verwandtschaftliche Beziehung des Stammwortes „Sonder“ (Absonderung, Aussonderung) zu Sünde belegt das unmißverständlich. Aber es hat bis in die neuere Geschichte hinein keine Absetzbewegung gegeben, die ein Gemeinwesen hätte tangieren können. Dieses Phänomen gehört allein der Neuzeit an.

Erst da wird bei mehr und mehr Einzelwesen der Wunsch nach jener Freiheit lebendig, die mit dem Begriff der „Freizeit" gekoppelt ist. Gewiß, auch früher war man froh, der Härte von Fron und anderen Plagen entkommen zu können. Man machte „Feierabend", feierte, trank, sang und betete gemeinsam. Kein Gedanke an „Ferien vom Ich", an Freizeitprobleme.

Zwangsintegrationen in früherer Zeit

Jede Neigung, sich der res publica zu entziehen, wurde beargwöhnt und unterdrückt. Noch im 17. Jahrhundert galt bei den französichen Königen die depressive Verstimmung von Untertanen logischerweise als Renitenz: der Depressive ist ja durch seine Umgebung bedrückt, steht also im Widerspruch zu ihr, statt in ihr aufzugehen. Die Bezeichnung „Eigenbrötelei" diffamiert solche Haltungen. Abtrünnigkeiten dieser sich Art stellten erst mit der Emanzipation der Kunst und der Wissenschaft von der Religion ein und mit den Umwälzungen Renaissance. Das damals um sich greifende Unabhängigkeitsstreben der Kunst „pathologischen" Ausfällen begann mit aus der Sozietät: Die Verzweiflung des alternden, dem Trinken zugewandten Rembrandt als mag Beispiel dafür stehen. Erst allmählich stellte sich die Kunst, mit Adorno zu sprechen, als subversive „Bewegung gegen die Gesellschaft" dar — in Deutschland etwa mit dem Hainbund, den „Räubern" und dem „Götz". Am deutlichsten wird dies in der Romantik, vielleicht der revolutionärsten deutschen Bewegung: die vollständige Abkehr von einer Gegenwart, die nichts Gutes verspricht, und die rettende Hinwendung zu den Ausgangspunkten der Geschichte, zum Goldenen Zeitalter.

Die Romantik prangert nicht irgendwelche Mißstände gegen Klas an, kämpft nicht eine -senherrschaft, sondern schafft sich eine jedem Zugriff von außen verschlossene Traum-wirklichkeit. Die Realität, sie die vorfindet, lehnt sie von Grund auf ab, verfremdet sie durch das Mittel der Ironie, entzieht sich ihr auf der Suche nach der Blauen Blume in die Unangreifbarkeit der Nacht. Auf Gesellschaftliches bezogen ist eigentlich nur die Zukunftsschwärmerei von einer konfliktlosen christlich Euro Gesellschaft, -einem vereinten pa, in dem Religion, Dichtung, Wissenschaft und Macht eine unauflösbare Einheit bilden.

Aus diesen vergleichsweise harmlosen Außenseitern der Gesellschaft wird schließlich der poete maudit, der in seinen »saisons d'enfer« alles Leid der Menschheit ohne Hoffnung auf Erlösung erfährt. Er meidet die „Menge" — und sie ihn. Bestenfalls billigt sie ihm eine als „Künstlerfreiheit" etikettierte Narrenfreiheit zu. (Daß die gängigen Autoren und Künstler unserer Tage sich der Gesellschaft wieder zuwenden, sie recht harmo-nisch verbessern wollen, soll hier nicht weiter begründet werden: wahrscheinlich gibt es Anlaß zur Sorge um die Autonomie der Kunst von morgen.)

über Isolierungen durch die Majorität

Daß sich einzelne und Gruppen gegen die Allgemeinheit empören, als Aufrührer Verdecktes aufrühren, oder sich vom Ganzen lossagen, korreliert mit einem dem entgegengesetzten Vorgang, nämlich der Isolierung einzelner oder ganzer Bevölkerungsschichten durch die Majorität — auch dies Charakteristika der Neuzeit. Man macht sich von den Belastungen durch „Irre" und Irre mittels Isolierungen in Anstalten frei 1). (Wir sollten hier keinen Vergangenheitskult pflegen. Gewiß, auch der Dorftrottel gehört dem Kirchen-spiel an. Aber aus vielen Quellen wissen wir, daß das ganz und gar nicht Gemeinschaftsfähige immer schon ausgesetzt, eingesperrt, getötet wurde. Andererseits: Erst in der Neuzeit wurde die Aussperrung institutionalisiert.) Ebenso werden die Alten durch Unterbringung in Heimen aus dem Leben der Allgemeinheit abgedrängt. Als symptomatisch für diese Auflösungserscheinungen sind auch die zunehmenden Existenz-schwierigkeiten zu nennen, unter denen kinderreiche Familien zu leiden haben. Vergleichbare Prozesse signalisiert die massenhafte Schaffung von Kindergärten und Kindertagesstätten: auch die Familie als „kleinste Zelle" des Gemeinwesens exmittiert nach Möglichkeit, was das Getriebe stört. Dies geschieht zwar unter Zwang — dem des materiellen Notstandes oder dem der Leistungsprinzipien der modernen Konsumgesellschaft —, aber es geschieht.

Wenn die Gesellschaft, entsprechend dem Gesetz, nach dem sie angetreten, so in partikuläre Einheiten zerfällt, wenn sie ihre Bindungen zu denen, die an sie gebunden sind, löst, muß dies in einer Wechselbeziehung zu der Desintegration stehen, von der jetzt zu reden ist: daß der von der Majorität überlaut bedauerte Absetztrend parallel zu den erwähnten Spaltprozessen verläuft und so verstanden werden muß.

Ein besonderes Verständnis dafür darf bei Menschen vorausgesetzt werden, die selbst von den gegebenen Verhältnissen bedrückt sind. Dem Depressiven fällt es vor allen anderen am leichtesten, zu Randgruppen Brükken zu schlagen. „Die naive Selbstsicherheit jener kompakten Normalität, für die Depression nur eine Krankheitsbezeichnung ist, läßt sich wie alle geistige Dickfelligkeit als Selbstschutz gegen sonst unerträgliche Lebensumstände der Zeit erklären, als wesentlich defensiv wie jede Einigelung. So registriert man mit der Fundiertheit eines Kartenhauses redliche Meinungen über die Sinnlosigkeit des Daseins schlicht als Krankheitssymptome. Auch Unlust am organsierten Vergnügungsleben der Gesellschaft, die Nichtteilnahme an den Tagesgesprächen der Welt, das Unvermögen, die . Großen der Welt'ernst zu nehmen oder ihnen zu glauben, gelten eher als Krankheitsmerkmale . . . Als nahezu sicheres Indiz für Pathologisches wird jener Rückzug in die Isolierung angesehen, den Buddha von seinen Jüngern fordert: . Allein nur wie das Nashorn sollst Du wandern'.

Wirklichkeitsfremde Realisten — Psychologen, Pädagogen, Politiker — prädikatisieren als . gesund'vorzugsweise Schwachsinnige, die an überholten und gefährlichen Vorstellungen und Dingen hängen: an illusionären Gemeinschaften, freudiger Berufsausübung ohne Berufung, an der Blindheit optimistischer Zuversicht und vielen Unglaubwürdigkeiten mehr. Niemand fragt ein derart verkümmertes Wesen, wie seiner Neigung beizukommen ist, Kompetenzansprüche autoritativer Stellen anzuerkennen. Warum es Befriedigung darin findet, Wählern oder Kunden Sand in die Augen und der Konkurrenz ins Getriebe zu streuen. Warum es eine Als-ob-Existenz abseits von seinen Neigungen, Träumen und Bedürfnissen führt, eine Kümmerform der Existenz mit krankhaft reduziertem Tonus von Geist und Seele?" (Lothar von Balluseck, Selbstmord, Bad Godesberg 1965).

Eine internationale Bewegung meist jüngerer Menschen macht den Nationen, vor allem den kapitalistischen Industriestaaten, zu schaffen — der Exodus aus der Gesellschaft. Diese Jugend tritt aus ihrer jeweiligen Sozietät aus, wird unintegrierbar oder tritt ihr erst gar nicht bei.

Das Nein zu dem, was ist

Das Nein zu dem, was ist, wird sehr verschieden artikuliert. Es findet Ausdruck im Lallen und Stammeln der Alkohol-und Drogensüchtigen, im Vokabular der alternativen Gruppen, im Slang der Rocker, in den meditativen Beschwörungen entrückter Sekten-mitglieder und der unter Sympathisanten und Anarchisten üblichen Phraseologie. Manche geben sich pathetisch, manche mystisch, wieder andere cool, querulierend, explosiv, lethargisch oder ekstatisch im amusischen Stakkato des Diskotheken-Sounds. Aber diese Polyphonie mündet in einen Einklang: im totalen Nein.

Dabei kann vielleicht schwer unterschieden werden zwischen der radikalen Abkehr vom Bestehenden, der von Herbert Marcuse angekündigten „großen Weigerung" der sechziger Jahre, und den heutigen Extremisten, die schon deshalb der Gesellschaft zugewendet sind, weil sie deren Mißstände revolutionär beseitigen wollen.

Uber das, was diese Weltbewegung auslöst, ist so viel Verschiedenes gesagt worden, daß hier auf eine weitere Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Sozietät und Individuum, der Diskrepanz zvrischen der objektiven Realität und den individuellen Bedürfnissen verzichtet werden kann.

Individualpsychologische Folgerungen

Aber vielleicht ergeben sich durch kurze Zustandsschilderungen Einsichten und weiterführende Konsequenzen. Dabei gehe ich von einer Prämisse aus, für die viel Erfahrung spricht: Die Abkehr scheint vielfach in einer Korrelation zu einem pubertären Status der jungen Menschen zu stehen. Dies hat mit unserer „vaterlosen Gesellschaft" zu tun, die anstelle des autoritären und der Welt gewachsenen Familienvaters und Haushaltsvorstands männliche Wesen hervorbringt, deren Wertgefüge erschüttert, deren soziale Position ungesichert und deren Funktion als maßgebende Instanz bei der Erziehung auf ein Minimum reduziert ist: der nach Hause kommende, streßgeplagte Vater hat weder Neigung noch Kraft noch Fähigkeit, den Kindern Richtungweisendes zu vermitteln. Die Ich-Ideal-Entwicklung des Kindes wird gestört; es wird auf seine ursprünglichen, narzistischen Neigungen zurückgeworfen und so, auch während des Heranwachsens, weiter durch infantile Haltungen bestimmt. Die moderne Psychologie hat den Nachweis erbracht, daß dabei den Fixierungen an die Vorstellung von einer omnipotenten Mutterfigur besonderes Gewicht zukommt.

Man könnte meinen, das derart unterentwikkelte Ich sei auf Wärme, Ermutigung und Ausgleich bei einem reiferen, also ich-stärkeren Partner aus. Aber seine Selbstbezogenheit nimmt ihm die Ansatzmöglichkeiten zur Aufnahme einer Partnerschaft, die den ganzen Menschen fordert, und damit auch die Fähigkeit und den Impetus zur psychischen Weiterentwicklung. Dem jungen Menschen könnte Unerträgliches geschehen — die Erkenntnis seiner inneren Situation. So sucht er eher und sehr frühzeitig Bestätigung bei einem Gleichaltrigen, dessen Status dem seinen weitestmöglich entspricht.

Die durch gemeinsame Ich-Schwäche bestimmte Zweierbeziehung kann naturgemäß kein wesentliches Mehr an Sicherheit ergeben. Dieses Defizit wird erst durch die Zuflucht in ein Kollektiv kompensiert, dem man sich willig und blind unterordnet. Völlige Unterordnung bietet in unserer demokratisierten, auf Mitbestimmung gerichteten Welt nur eine von der Allgemeinheit nicht absorbierte Gemeinschaft. In diesem Rahmen werden die emanzipatorischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte vielleicht nicht zu Ende, gewiß aber ad absurdum geführt. Persönlichkeitsentfaltung, das eigentliche Ideal der Frauenemanzipation, gehört gewiß nicht zu den Zielvorstellungen von Mädchen in einer nivellierenden Kumpanei.

Zwar: sexuell geschieht, was Spaß macht; die sexuelle Repression, wie sie bis in unser Jahrhundert hinein eines Sinnes von politisch Reaktionären wie Progressiven geübt wurde, findet nicht mehr statt. Aber die Früchte der sexuellen Revolution sind kümmerlich. Gewiß ist die Forderung Freuds nach Sublimierung durch Sexualverdrängung durch die nach Enttabuisierung der Sexualität weitgehend abgelöst worden. Und wirklich wurde die damit einhergehende Lockerung von den Fesseln des Triebverzichts und vom Zwang verlogener Konventionen von denen, die die frohe Botschaft vernahmen, als Erlösung und als Verheißung für eine weniger bedrückende Zukunft aufgenommen. Nur: diese Menschen waren „erwachsen", sie hatten durch die Auseinandersetzung mit noch leidlich intakten Vaterimagines Prägungen der Persönlichkeit erfahren. Die so gewonnene Ich-Bildung befähigte sie großenteils, exklusive Bindungen einzugehen. An sie, die im wesentlichen nicht diese Merkmale seelischer Unterentwicklung aufwiesen, waren die Appelle für die Emanzipation der Frau und die sexuelle Befreiung gerichtet. Die sexuelle Verkümmerung und die Entwicklungsstörungen der Outdrops konnte man noch nicht vor Augen haben. Die Prophezeihung von Wilhelm Reich: „Sublimierung und Sexualbefriedigung sind keine Gegensätze, wohl aber Sublimierung und unbefriedigende Sexualbetätigung" erweist sich hier als Ausdruck eines in der vergleichsweise heilen lost generation lebendigen Wunschdenkens. In der Folgegeneration jedenfalls entfällt Sexualität als sozialisierender Faktor im Sinne linksbürgerlichen Harmoniestrebens.

Zum Vergleich: Die Jahre nach dem ersten Weltkrieg

Gegen diese Überlegungen ließe sich der Einwand erheben, daß der Verlust von zwei Millionen Toten des Ersten Weltkrieges in Deutschland doch wohl ähnliche Folgephänomene, daß der Ausfall dieser potentiellen oder wirklichen Väter auch vergleichbare Verhältnisse wie die unsrigen hätte zeitigen müssen. An dieser Analogie stimmt Entscheidendes nicht. Die Weimarer Republik brachte keine erhebliche Veränderung der psycho-sozialen Strukturen. Die Vaterimagines waren nur unerheblich lädiert: auf den Kaiser folgten Leitfiguren wie der Patriarch Hindenburg und der zum bösen Ende herbeigesehnte „starke Mann" Hitler.'

Männerbünde wie die Freikorps, die verschiedenen Frontkämpferverbände und schließlich SA und SS beherrschten nicht nur die „vaterländische" Szenerie: an den deutschen Mann, ob rot, braun oder wie auch immer gesonnen, konnte man sich halten. Zu ihm sah man auf, und es war seine, war „Männersache", wenn es Wichtiges zu entscheiden gab.

Zum Aufstand gegen dieses Patriarchat gehörte extremer Wagemut — er fand vorerst in der Kunst und in der Literatur statt, nicht zu vergessen die schockierenden Karikaturen von George Grosz und das Schauspiel „Revolte im Erziehungshaus" des ehemaligen Freikorpskämpfers Peter Martin Lampel, das kurz vor 1933 die deutschen Bühnen eroberte.

Im übrigen machte man nach dem Abklingen der pubertären Turbulenzen mit der autoritären Umwelt seinen mehr oder minder faulen Frieden. In ihr galt es, „seinen Mann" zu stehen. Die Ich-Bildung, die sich im spannungsvollen Widerspiel von Auseinandersetzung und Identifikation mit ihr formte, war definitiv abgeschlossen, wenn man es so weit gebracht hatte — so weit wie möglich von den ursprünglichen Impulsen. Immerhin fand die heilsame Unruhe von Kunst und Literatur — diese wurden bald von aufgeschreckten Banausen als „zersetzend" prädikatisiert — allmählich in den Großstädten Resonanz.

So bildete sich in Berlin, das damit zur geistigen Hauptstadt Europas wurde, weit über die intellektuelle Prominenz hinaus ein großer Kreis, wo man sich vom Althergebrachten freimachte. Mit Tabus wurde radikal gebrochen. Probleme, mit denen sich die Bundesrepublik bis in die siebziger Jahre hinein quälte — Homosexualität und „freie Liebe", die Gleichberechtigung der Frau und die Abtreibung, die antiautoritäre Erziehung —, hatten jeden Problemcharakter verloren. Es war selbstverständlich, daß man auch innenpolitisch für die Befreiung von Zwängen eintrat. Aber zunächst und vor allem wurde das eigene Leben frei gestaltet.

Für die im Leben durch die alten Fesseln Frustrierten war das mehr als ein Affront, es war unerträglich. Das mobilisierte Gegenkräfte. Als denen aus dem braunen Lager die Machtergreifung gelang, zerstörten sie mit der aggressiven Gewalt derer, die sich existentiell bedroht fühlen, diese Blüte der Goldenen Zwanziger Jahre. Aber diese Reaktion in ihrer Männlichkeit aufgescheuchter Spießer trug deutlich psychotische Züge. Im Männlichkeitswahn des Dritten Reiches fand die maskuline Dominanz so ihren Höhepunkt. Ihm verfiel großenteils auch die Jugend, die, pro oder kontra, in unvergleichlich größerem Ausmaß als heute politisch engagiert war: es gab so gut wie keine „ Aussteiger" in andere Welten.

Nach 1945: die Leitbilder verblassen

1945 führte den Anspruch des Herrenmenschentums ad absurdum, verwandelte das heroisierte Mannsbild in gänzlich verunsicherte Menschen männlichen Geschlechts. Diese Metamorphose ließ sich später nicht rückgängig machen; die Restauration zum „Herrn im Hause" glückte nie vollkommen.

Kaum je konnte der „Haushaltsvorstand" das fraglose Leitbild der Heranwachsenden abgeben. Für sie, vor allem für die männliche Jugend, hatte diese Götterdämmerung unmittelbare Folgen. Ihr wurden nun in Familie und Schule nicht jene Koordinaten gesetzt, nach denen oder gegen die sie sich orientieren konnte. Hatte ihre Ich-Bildung bisher unter der diktatorischen Vormundschaft der Älteren gelitten, so wurde sie jetzt durch das Ausbleiben vorgegebener Leitlinien geschädigt. Ausblieb damit das für das seelische Wachstum offensichtlich unerläßliche Kämpfen um, für und gegen diese Vorgaben. Und damit war dem im Werden befindlichen Ich ein Stück Nährboden entzogen. E darf nie zu viel und nie zu wenig Vater geben.

Als Antipoden der Leistungsgesellschaft entziehen sich die „out-drops", wo irgend möglich, jedem mit Mühsal verbundenen Anspruch. Das erklärt ihre Vorliebe für das Bild gegenüber dem gedruckten Wort; am liebsten wird die Strapaze des Lesens vermieden, wie bei der Lektüre von Comics. Dem Film und dem Fernsehen wird eindeutig der Vorzug gegeben, da sie unkompliziert Emotionelles bieten, etwa Sexfilme oder die Gewalttätigkeiten der Krimi-und Horrorserien. Die Primitivität des Disco-Sounds stellt dazu die musikalische Parallele. (Ganz entgegengesetzt verläuft der allgemeine Trend, nämlich zur nostalgischen Rückschau, zur Wiederentdekkung des „Schönen" in Kunst und Literatur; er wird auch sichtbar in dem Boom der vor-impressionistischen, sentimentalen Malerei auf dem internationalen Kunstmarkt und ähnlichen Indizien der Ausweglosigkeit.)

Für den unvermeidlichen „sozialen Unterbau" geschieht das Unumgängliche; Befriedigung durch derart erbrachte Leistungen, etwa für den Broterwerb, stellt sich nicht ein. An die Stelle nicht erstrebter Statussymbole tritt ein

Maximum an angepaßter Uniformität. Man ist eifrig bemüht, den Anderen in der Gruppe bis hin zur Redensart, zur Mimik und zum Habitus zu gleichen.

Die Einstellung zu den traditionellen Gemeinschaften — Verbänden, Parteien, Kirchen — schwankt zwischen Wurschtigkeit und Verachtung. Die „politisch relevanten" Kräfte entraten hier jeglicher Relevanz. Das gilt folgerichtig auch für das Gemeinwesen Staat. Wenn Theodor Heuss von dem Staat als einer „Zwangsjacke" sprach, meinte er eine Institution, deren Notwendigkeit von allen eingesehen und deren Fesseln von allen getragen werden müßten. Jetzt werden diese Fesseln abgeschüttelt. Von Engagement ist keine Rede; dies wird eher erweckt durch Krimis, Western und Horrorfilme, die modernen Märchen mit der starken sado-masochistischen Komponente, die vorzüglich dem Pubertären eignet.

So viel Unfertiges, Infantiles, Verdrängtes — es wird hier ohne die Neigung zur Diskriminierung geschildert. Denn zu dem Befund eines verzerrten Realitätsbildes gesellt sich auffällig oft eine schockierende Schärfe bei der Wahrnehmung eben dieser Realität. So werden schlimme Gegebenheiten und Aussichten von Gegenwart und Zukunft eigentlich nur dort mit jener Deutlichkeit registriert, die der konformistischen Majorität abgeht. Ihre optimistische Grundstimmung weicht nur sehr allmählich angesichts des ständig gesteigerten globalen Wirkungspotentials der Vernichtungstechnologien, der Angst vor Weltkatastrophen. Es sind nicht Kassandra-Rufe, die diese Vision beschwören; Kassandra sagte nur Ereignisse voraus, die sie mit ihrem Gesichtsfeld erfaßte — den Tod, das Einstürzen und den Zusammenbruch des unmittelbar Präsenten, von Menschen, Mauern und Reichen. Die heute um sich greifende Atmosphäre erinnert eher an mittelalterliche Weltuntergangsstimmungen, als viele das Herannahen des Jüngsten Gerichts und das Ende aller Tage befürchteten. Für das so-genannte Positive, für Zuversicht und Optimismus bleibt da wenig Raum. Die Verlokkung zum „Mitmachen" findet kein Gehör.

über Sucht

Sucht, insbesondere der Alkoholismus, ist nicht erst eine Erscheinung unserer Tage; die von ihr Befallenen gelten im traditionellen Sinne als krank, und ein Eingehen auf ihre Lage ist kaum ohne psychologische und medizinische Fachkenntnis möglich. Trotzdem gehört sie zu diesem Thema: Wer ihr erliegt, flieht vor Realität. auch der (Und es gab in früheren Zeitläuften gute Gründe dazu. So erklärt es sich wohl, daß immer schon signifikant viele Menschen mit gesteigertem Wahrnehmungsvermögen, also Künstler und Intellektuelle, sich der Sucht ergaben; ihr Erleben dieser Welt ging über ihre Kraft.)

Der Rückfall des Süchtigen in die narzistische Regression ist vollständiger als bei den anderen Gruppen: Er zielt auf existentielle Auslöschung; bei den anderen herrscht „nur" eine Tendenz zur konfliktbefreienden Entmündigung vor. Man will so leichter leben und sterben. Aber schließlich ist jeder Suizid auch eine Antwort auf Umwelt und Zeit.

Wer sich so in eine innere Emigration begibt, ist gegenüber Appellen der staatsbürgerlichen Räson völlig unzugänglich. (Das ist kein vertretbarer Grund, sich gegen ihn abzugrenzen.) Er hat sich davongemacht, weil ihn niemand daran gehindert hat. Jetzt bedarf er vor allem der Therapie.

Entgegen der landläufigen Meinung gehören die Suizidären nicht zu den Aussteigergruppen dieser Jahre: es gab sie schon immer. Werther legte Hand an sich, als ihn Katastrophen überwältigten, die wir als temporäre Schwierigkeiten bezeichnen würden. Und nicht jeder Suizid ist als anklagende oder kapitulierende Antwort auf gesellschaftliche Unzumutbarkeiten zu verstehen; es sei nur auf rein individuelle Gründe dafür verwiesen, wie den überwältigenden Körperschmerz einer Krankheit, die keine Hoffnung läßt. Was sollte eine konfliktlose Idealgesellschaft daran ändern? Dieses Nein ist anders motiviert als das suizidbereiter Jugendlicher.

Während sterbewillige Alte sich stumm verhüllen, wird beim jugendlichen Freitod ein demonstratives Element deutlich, oft als Anklage gegen die als verständnislos erlebte Umwelt. Mit ihr kommuniziert man also noch im Sterbedokument vorwurfsvoll im Sinne eines „Dahin habt ihr es gebracht mit mir" (und nie eines „Dahin habe ich es mit mir gebracht").

Manche scheiden aus scheinbar geringfügigem Anlaß aus dem Leben. Aber hinter der unzureichenden Examensnote steht die Über-Ich-Instanz des Lehrers, hinter dem Tod aus Liebeskummer das frustrierend erlebte Elternhaus — Personifizierungen des Krisenherdes Erwachsenenwelt. An ihr rächt man sich („Da seht ihr, was ihr angerichtet habt!"); gegen sie erhebt man den denkbar schärfsten Protest. In allen Fällen „sollte man, statt sich um Diagnosen zu bemühen, eine letzte Lebensäußerung respektieren, hinter der oft Tragik und manchmal Größe steht. Daß dabei auch Krankheitsbilder depressiver Art oder euphorische Zustände auftreten, ist dann nur eine sekundäre, nicht ursächliche Erscheinung. In dieser Lage wird unerbetenes ärztliches Bemühen als Einmischung in die private Sphäre abgewiesen, zumal dann, wenn versucht wird, an der Schlußbilanz eines Lebens beschönigende Fälschungen vorzunehmen. Tragik entzieht sich jeder Therapie und Rechtsprechung." (Lothar von Balluseck, Selbstmord, Bad Godesberg 1965)

Die Faszination der Sekten

Viel wird von den Jüngern der gut vermarkteten Sekten gefordert: Selbstentäußerung, die Fähigkeit zur Meditation, missionarische Aktivitäten. (Auch die Prostitution zugunten des Sektenetats ist eine „heilige" Pflicht.) Ihre eigentliche Attraktivität begründet sich jedoch durch die Geborgenheit, die sie dem kindlich gebliebenen Gemüt verheißen. Der oft obligatorische Verzicht auf Sexualität fällt da nicht schwer: man genießt das „süße Gift" der Askese. Die infantile Persönlichkeitsstruktur der Mitglieder wird in keiner Weise gefährdet, blinder Glaube ist geboten, kritische Reflexion 'ausgeschlossen. Allerdings wird in einigen Subkulturen „Gesellschaftliches" angestrebt — in der Auseinandersetzung mit dem Weltrisiko Kernenergie, mit einer freilich sektiererisch anmutenden Bemühung um Krebsvorsorge und natürliche Ernährung. Die Tendenz zu solcher korrektiven Hinwendung auf die Allgemeinheit scheint in einigen Sekten zu wachsen. Aber auch das geschieht in völliger Unterordnung unter den jeweiligen . Tuan, Guru oder Swami. Man ergibt sich — als Nachholbedarf aus der Kindheit, in der es an solchen Figurinen fehlte — einer übermächtigen Vaterimago.

Gemeinden so obskurer Art bilden sich, wo es an Gemeinschaftlichkeit mangelt. Diesen Wir-Bedürftigen mit dem Hinweis auf andere Bindungsmöglichkeiten zu begegnen, ist deshalb so aussichtslos, weil auf Irrationalität gegründete Sekten ungleich enger als diese binden. So bleibt dem um „Bekehrung" Bemühten nichts als die Sisyphosarbeit, die aus dem „Aussengeleiteten" einen leidlich autonomen Menschen macht.

Anarchistische Gewaltbereitschaft

Daß die Neigung zur anarchistischen Gewalt-bereitschaft die Projektion der eigenen Konflikte auf die Gesellschaft voraussetzt, daß sie auf engster Haßbildung zu dieser beruht, ist heute unumstritten. Das Ich-Ideal ist hier weiterentwickelt als im narzistischen Laissezfaire der oben genannten Kommunen. Trotzdem ist es in seiner unrealistischen Rigidität, die an die Umwelt unerfüllbare Anforderungen stellt, ich-fremd. Diese Uberstrenge eines Alles oder Nichts wäre für das Selbstwertgefühl des Betroffenen unerträglich, wenn er seine extrem überhöhten Maßstäbe nicht auf die Außenwelt übertragen könnte. Dazu verhilft ihm die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, in der er wie die Sektenanhänger sein narzistisches Bedürfnis nach fragloser Geborgenheit befriedigen kann. Er ist Opfer seiner nicht bewältigten psychischen Situation; diese und nicht die der Welt ist ihm in Wirklichkeit unerträglich. Dafür spricht schließlich auch, daß er sich bei der Partnerwahl ähnlich wie die Kommunemitglieder verhält. Das „kaputte" Mädchen spricht ihn an, und vice versa. Die eigentlichen Bindungen gehören der Gruppe.

Es ist die vaterlose Gesellschaft unserer Tage und Breiten, die politischen Extremismus hervorbringt, nicht soziales Elend und -tung (das Manchestertum brachte keinen Anarchismus hervor!). Auf den marxistischen Hokuspokus, wonach Anarchismus automatisch durch Elend und Ausbeutung ausgelöst wird, braucht für den deutschen Leser wohl kaum eingegangen zu werden: die spektakulären Aktivitäten der Baader-Meinhof fielen zeitlich mit dem „Wirtschaftswunder" zusammen. Auch die totalitären Diktaturen (Hitler und Stalin) haben keine Gewalttaten radikaler Systemveränderer motiviert.

Anders die großen, mit den Namen Bakunin und Durruti verbundenen anarchistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, die aus der Diskrepanz zwischen den Ideen der Aufklärung und den sozialen Zuständen resultierten. Warum Rußland und Spanien und nicht andere, von der technischen Revolution ebenso-wenig erfaßte Länder die Schwerpunkte jener Bewegung bildeten, habe ich an anderer Stelle aufgezeigt (Auf Tod und Leben — Letzte Dämmerungen für Deutschland, Bonn 1977).

Ich bin dort auch auf die vieldiskutierte Frage nach der Korrelation zwischen der Haltung der meisten Deutschen während des Dritten Reiches auf der einen und dem Entstehen des deutschen Nachkriegsanarchismus auf der anderen Seite eingegangen: „Dabei kann es doch nicht unerheblich sein, daß der deutsche Mann aus längst bestimmten Gründen im allgemeinen ein recht schwaches Rückgrat hat, also als Vaterimago kein ideales Bild abgibt. Sollte es zwischen dem Aufbruch der anarchistischen Bewegung gegen Ende der 60er Jahre und der Tatsache, daß die Generation der Väter gegenüber dem Dritten Reich beinahe vollzählig versagte — besonders eklatant das mittelständische Bildungsbürgertum mit seinem hohen moralischen Anspruch, aus dem dann auch die Schlüsselfiguren der anarchistischen Szene hervorgingen —, wirklich keine ursächliche Beziehung geben?"

Man macht sich diese Sache jedoch zu einfach, wenn man diese Erscheinung vor allem auf das Versagen der Männer der deutschen Kriegsgeneration zurückführt. So sollte es zu denken geben, daß der Terrorismus im Nachkriegs-Italien viel verbreiteter als der unsrige ist. Dies, obwohl die antifaschistischen Akti9 vitäten unter Mussolini ungleich stärker als die in Großdeutschland waren. Der deutsche Widerstand konnte sich sowohl zahlenmäßig als auch an Dynamik keineswegs mit dem in Italien vergleichen. Die Faustregel, wonach die Intensität des Terrorismus im proportionalen Verhältnis zu Feigheit und Lethargie der Vorväter steht, stimmt also nicht.

Andere Gruppen

Zur Szene gehört auch die Majorität der Jugendheiminsassen, die durch ihre Erziehung zur Asozialität verurteilt werden. Sie gehorchen einer jede Reflexion ausschließenden Agilität. Ganz allgemein sind hier im übrigen die „nicht politischen" Kriminellen zu erwähnen. Vereinzelte von ihnen finden aus einer passageren Adoleszenzkrise in das sogenannte wirkliche Leben, passen sich an, missionieren wohl auch wie ehemalige Sympathisanten, Trinker und Drogenabhängige mit überzogenem Selbstbewußtsein unter den verlorenen Schafen, die „Jungen über dreißig". Aber das Gros gammelt weiter, läßt sich in der Gewißheit seiner bis ins Wahn-hafte reichenden Ideen nicht irre machen oder stirbt den langsamen Tod der Süchtigen oder den abrupten der Suizidenten.

Immerhin lassen sich zwei Verhaltensmuster feststellen: das kämpferisch Antisoziale bei so verschiedenartigen Gemeinschaften wie den Terroristen und dem Kreis ihrer Anhänger sowie den Rockern, aber auch bei den „unpolitischen" Gewaltverbrechern. Dem entgegengesetzt ist die vorwiegend a-gesellschaftliche Einstellung der Süchtigen, der Suizidären sowie die von den meisten Sekten eingenommene Position. Wir können also eine wesentlich a-und eine wesentlich antigesellschaftliche Haltung unterscheiden. Zwischen beiden sind gelegentlich Übergänge und Mischformen feststellbar, z. B. bei den Bekehrungsversuchen der Sektierer und den von einigen Kommunen ausgehenden Alternativvorschlägen zur praktischen Politik. Bei den antisozialen Gemeinschaften sind die entsprechenden Übergänge nicht zu finden — sie sind voll und ohne jede Einschränkung auf ihre Axiome fixiert.

Diese beiden miteinander kaum zu vereinbarenden Erscheinungsformen lassen sich auf ein-und dieselbe Ursache zurückführen: Die Lebensumstände in den westlichen hochindustrialisierten Ländern mit ihrer durch den „Fortschritt" ausgelösten Wertunsicherheit bringen nicht mehf . die für die frühkindliche Entwicklung unerläßliche Vaterfigur hervor; an die Stelle des Odipus-Komplexes tritt bei den Heranwachsenden eine durch die über-starke Mutterbindung bedingte narzistische Grundeinstellung. (Eine solche auf Ausschließlichkeit gerichtete Bindung schließt, um im Worte zu bleiben, die ebenso quälende wie fruchtbare Auseinandersetzung mit der Vaterimago aus, die einer so gänzlich anderen Welt zugehörig ist.) Aus ihr entwickelt sich ein überaus rigides, dem Ich fremdes Ich-Ideal, das dem geringen Selbstwertgefühl in umgekehrt proportionaler Relation entspricht. Dieses sich sehr früh bildende Ich-Ideal wird nicht durch die Konfrontation mit Vaterfiguren korrigiert und programmiert. So kann es ohne reale Zielvorstellung ins Unermeßliche wachsen. Je maßloser sein Anspruch, desto weniger wird man ihm gerecht. Die Absolvierung der üblichen späteren Identifikationsprozesse unterbleibt. Der Mensch bleibt auf der narzistischen Entwicklungsstufe des Säuglings im Gefühl totaler All-oder Ohnmacht stehen.

Aus diesem unerträglichen Spannungsverhältnis führt die Projektion der eigenen Unzulänglichkeit auf die Außenwelt hinaus: sie muß man fliehen oder vernichten, und sie trägt die Schuld daran, daß man trinkt, Hand an sich legt oder auf andere Weise „aussteigt".

Hier stellt sich die Frage, warum der dem Westen vergleichbare Industrialisierungsprozeß in den Ländern des Ostblocks nicht die gleichen Folgen zeitigt. Nun, Vergleichbares ist dort zweifellos im Gange; die Parteizeitungen berichten bereits darüber. Aber es erreicht heute noch nicht die gleichen Dimensionen wie bei uns: Noch greifen die ideologischen Wertvorstellungen leidlich, noch fühlen sich viele Junge diesen Idealen verpflichtet, noch halten ihre Bindungen an Unfehlbarkeit und Idole. Noch. Unsere Jugendbewegung ist jedoch ansteckend, sie greift wie die Rockmusik und die Jeans-Uniformität auf die geschlossenen Reihen des Ostens über: ein „Wandel durch Annäherung", der vielleicht bei der Führung'keine ideologische Starre löst, aber doch Ansätze zur affektiven Entbindung von der sozialistischen Gesellschaft schafft.

Als Symptom dafür könnte das Buch der DDR-Autorin Christa Wolf „Kein Ort. Nirgends" angesehen werden, dessen Quintessenz eine fiktive Zwiesprache zwischen den bei-den tatsächlich freiwillig aus dem Leben geschiedenen Dichtern Heinrich von Kleist und Caroline von Günderrode ist. Die Erzählung schließt mit den Worten: „Jetzt wird es dunkel. Auf dem Fluß der letzte Schein. Einfach weitergehen, denken sie. Wir wissen, was kommt."

Die Vergeblichkeit moralischer Konjunktive

Teile der Öffentlichkeit ziehen als Antwort auf diesen Absetzprozeß ethische Kriterien heran — eine ebenso verständliche und durchaus legitime wie sinnlose Reaktion. Kein Trinker wird durch Vorwürfe abstinent, kein moralischer Indikativ oder Konjunktiv von Seiten der Allgemeinheit erschüttert die, die von der moralischen Korruptheit des „Systems" überzeugt sind, die eigene Maßstäbe des Ehrgefühls oder Ordnungsbegriffe und Regeln aufgestellt haben. Noch weniger Wirkung zeitigen dem „gesunden Volksempfingen" nahe Ausbrüche der Empörung und des Abscheus. (Womit dem Staat keineswegs das Recht abgesprochen wird, sich gegen Gewalttäter zu schützen. Er, oder die Verteidiger von Staaten, bleiben als ultima ratio des menschlichen Zusammenlebens durchaus schutzbedürftig. Unsere Einsicht, daß er hervorbringt, was ihn ignoriert oder angreift, ändert nichts daran.)

Daß auch politische Bildungsarbeit hier wenig ausrichtet, ist verständlich. Wie kann sie „das Verständnis für politische Sachverhalte fördern, das demokratische Bewußtsein festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit stärken", (Vademecum der politischen Bildungsarbeit, Bonn 1977), wenn das Selbstwertgefühl an völlig andere Vorstellungen gebunden ist? Wenn man daher für Argumente staatsbürgerlicher Bemühung unzugänglich bleiben muß.

Es fällt schon schwer genug, die Institution Bundesrepublik auch gegenüber denen, die guten Willens sind, glaubwürdig zu machen. Immerhin muß dabei eingeräumt werden, daß Politik auch ein Pokerspiel und oft ein schmutziges Geschäft ist; daß Multis, Gewerkschaften und Staatsbürokratie sich in erster Linie sicher nicht mit Rücksicht auf ein Gemeinwohl miteinander abstimmen, sondern weil ihrem Expansionsdrang von mächtigen Organisationen mit entgegengesetzten Interessen Grenzen gesetzt sind; daß das Idealbild von den Staatsbürgern, die sich angestrengt bemühen, das Wahre im Irrtum des Gegners zu erkennen, recht irreal ist. Eine das kritische Bewußtsein weckende oder fördernde Erziehung müßte überdies einräumen, daß das Haus Bundesrepublik Deutschland auf abschüssigem Grund errichtet wurde: Die Stunde Null, eher als Augenblick der Niederlage als der Befreiung empfungen, verging. Aber die Lehrer, die die Jugend nationalsozialistisch indoktriniert hatten, und die NS-Richter durften weiter erziehen und richten, zahllosen „Ehemaligen" wurden führende Positionen in den politischen Parteien, in der Industrie und sogar im Staatsapparat zur Verfügung gestellt. Beamten, die dem Dritten Reich treu gedient hatten, wurde diese Zeit bei der Pensionierung angerechnet. Auf der anderen Seite mußten Verfolgte und Widerständler um ihre Anerkennung kämpfen.

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Sicher hätte ohne deren Einbeziehung das deutsche Wirtschaftswunder nicht oder abgeschwächt oder später stattgefunden. Moralisten nicht nur von der Art gewaltsamer Systemveränderer fragen sich da, ob das Wunder diesen Preis wert war.

Unproblematischer ist demgegenüber die Auseinandersetzung, die die zahllosen Mißstände in diesem Staat zum Gegenstand hat. Daß diese erkannt und beseitigt werden sollen, läßt sich allen Beteiligten unter der Voraussetzung deutlich machen, daß nicht das ganze „System" in Frage gestellt wird. Wo das der Fall ist, entfällt jede Möglichkeit für eine argumentative Auseinandersetzung: gegen die Prämisse, daß unsere Zustände irreparabel sind und daher revolutionär verändert'werden müssen (wozu die Terrorakte das Fanal abgeben), vermag keine Logik etwas auszurichten. überhaupt zwingt sich hier — wie mehr oder weniger abgestuft bei allen Freund/Feind-Ideologien — die Fragestellung nach den auf-11 fälligen Verzerrungen des Wahrnehmungsvermögens auf. Es ist wie bei jeder Haß-Bindung: je intensiver und ausschließlicher sie die Grundstimmung beherrscht, desto höher ist der Realitätsverlust und desto inniger die Objektbeziehung zu dem nur noch in falscher Perspektive Wahrgenommenen. In letzter Konsequenz bietet sich da die Analogie zum Verfolgungswahn an; wenn der Paranoide seinen Wahn auf jemanden projiziert, sieht er in ihm den Verfolger, ganz gleich, was der sagt oder tut.

Eine andere Fehlhaltung ergibt sich daraus, daß die völligen Verneiner unserer Gesellschaft nicht als deren Teil angesehen, daß sie, im Verhältnis zu ihr, als schlimme Fremdkörper empfunden werden. Diese Haltung läßt sich am besten als Mangel an Betroffensein umschreiben. Man schaut auf die geschilderten Phänomene vom scheinbar sicheren Port der Konformität kopfschüttelnd oder belehrend herab — man selber ist gegen derlei Abwegigkeiten gefeit. Ein pharisäerischer Trugschluß! Längst sind diese Stützen der Gesellschaft ins Wanken geraten: Die psychosomatische Medizin weist nach, daß ihre Krankheiten immer auch seelisch bedingt, daß ihre nervösen Leiden Ausdruck unbewältigter Probleme sind und daß die vielfältigen Ausfallerscheinungen bei den Personen ihrer Umgebung die eigene Eingebundenheit reflektieren. Was sich heute als Hort der rechten Denkungsart geriert, ist um vieles anfälliger und unsicherer als die Generation davor, die nicht nur literarisch Problem-figuren wie „Professor Unrat", „Hans Castorp" und den „Mann ohne Eigenschaften"

hervorgebracht hat.

Uber die aus solchen Gegebenheiten abzuleitende Problematik herrscht zunehmend Übereinstimmung. Dies gilt insbesondere für die Bestimmung ideologischer Vorwände des Terrorismus: Hier überwiegen bereits Einsichten und Feststellungen der Art, daß die zu verteidigende Ordnung Ursache jener Gefährdung ist, die sich gegen sie selbst richtet.

In zwei verschiedenen Richtungen ist man um Abhilfe dagegen bemüht:

Gute Vorsätze gegen den Exodus

Die eine versucht, den Sinnbedarf des Menschen durch Rückbesinnung auf heute erschütterte Wertvorstellungen zu decken. Im Rahmen durchaus systemkritischer Überlegungen werden Forderungen erhoben wie: Schutz der Familie, Respekt vor dem Erziehungsrecht der Eltern, Anerkennung der Grundwerte. Wenig Berücksichtigung findet dabei die Tatsache, daß die beklagte „Entwertung von Werten" nicht nur die Ursache für dieses Dilemma, sondern auch als Folgeerscheinung geistesgeschichtlicher und sozialer Prozesse erkennbar ist. Daher kann man Wertvorstellungen, die ihre Tragkraft eingebüßt haben, diese nicht durch noch so gute Absicht zurückgeben.

Die andere legt ihr Augenmerk auf Rückwirkungen des Gesellschaftlichen. Wenn man es in Ordnung bringt, wäre danach die ganze Frage gelöst. Aber die sogenannten sozialen Störfaktoren lassen sich nur in einer schönen Welt utopischer Täuschungen ganz ausschalten; in der Praxis kann lediglich mit ihrer partiellen Beseitigung gerechnet werden. Und die kann eben nur partielle psychische Folgeerscheinungen ergeben. Weiter sollte bedacht werden, daß der Fortfall von Störfaktoren bereits vorhandene seelische Störungen nicht unmittelbar beseitigt, sondern bestenfalls Klimaverbesserungen mit sich bringen kann. Das Abseitsstehen, als Folge und Ausdruck von Fehlentwicklungen der Umwelt begriffen, verlöre im günstigsten Falle an weiterem Zulauf, bliebe uns aber noch auf absehbare Zeit erhalten. Fraglich, ob das Gemeinwesen Bundesrepublik sich diese Zeit noch nehmen kann.

Zum Geschichtsbewußtsein

Als völlig unergiebig erweist sich auch der Hinweis auf die Geschichte als Schlüssel zum Verständnis der heutigen Situation. Der Zugang zur historischen Dimension ist nicht ge-öffnet. Zur Verständlichmachung dieser schwer verständlichen Tatsache: Daß der einzelne ein Stück Geschichte mit sich trägt, ja, daß er weitgehend das Produkt der Geschich-te ist, ist ihm in jungen Jahren kaum bewußt. Er weiß auch nicht, daß das ihm von seinen Eltern Vererbte sein Fühlen und Handeln weitgehend bestimmt. Erst mühsam und meist in einem späteren Entwicklungsstadium vermag sich die Erkenntnis durchzusetzen, daß der Mensch seine Geschichte ebensowenig wie seinen Schatten loswerden kann.

Es ist durchaus verständlich, daß der soge-nannte Normale bei der Begegnung mit „Abseitsstehenden" mittels solchen Einredens versucht, Brücken der Verständigung zu schlagen. Mit diesen guten Vorsätzen läßt sich jedoch kaum etwas definitiv aufhalten. Auf außer Kurs gesetzte Wertungen und auf erodierende Werte läßt sich schlecht zurückgreifen; die eindringlichsten Beschwörungen vermögen nichts gegen die Auflösung der bisherigen Fixierungen. 1984 scheint nicht nur chronologisch heranzurücken.

Vor allem aber läßt sich so nicht Remedur schaffen, wenn Phänomene» ignoriert werden, die mit seismographischer Exaktheit am Rande des Kulturbetriebes — und schon nicht mehr nur am Rande — zu registrieren sind. Da wird (von Foucault, Sasz, Laing wie vor ihnen bereits von Adorno) das „Ganze" für irr erklärt, da genießen und erleiden weniger etablierte Autoren mit überwältigender Intensität psychische Grenzerfahrungen, da werden von Künstlern vormoderne Bewußtseinslagen wiederbelebt, da steigen schlichtere Gemüter in science-fiction aus, oder es stockt ihnen der Atem angesichts gigantischer Gruselfiguren. überall schlägt Verzweiflung durch, rettet sich Hoffnung ins Imaginäre. Nichts, was war, gilt, nichts, was ist, wird angenommen. Man denkt, fühlt und bewegt sich, als sei ein Vakuum anstelle dessen getreten, was man Wirklichkeit nennt. Im Vergleich zu den Turbulenzen in den Reihen der Künstler, Intellektuellen und ihrer Nachahmer erscheinen Ausflüchte und Aufruhr der Jugend wie blasse Reflexe darauf.

Welche Chance sollte da ein noch so vernünftiges, noch so gut gemeintes Programm der Wiedereingliederung haben, wie könnte es dem noch nicht Ausgescherten als Warnung dienen, wenn es nicht von diesen Realitäten ausginge?

Was da mit der Gewalt eines Naturereignisses über die kompakte Majorität (der modische Terminus „Mehrheitskultur" setzt Kultur als unumstrittenen Begriff voraus) hereinbricht, muß diese überfordern, solange sie in ihrer Abwehrhaltung aus Angst beharrt. Die Mittel und Mitteichen, mit denen sie sich schützen will, verfangen nicht. Sie tendieren im Grunde zu einer — in der Intention oft maßvollen — Gleichschaltung.

Vorschläge und Programme

Was tun, welche Rezepturen verschreiben, was könnte helfen? Nun, vor aller Weltverbesserung steht, was noch schwieriger ist, die Erkenntnis der hier skizzierten Lage. Die Orientierungsmöglichkeiten, die vor allem Psychologie, Kunst und Soziologie anbieten, könnten in ihrer Komplexität dazu genutzt werden. Heute hat der auf sein Fach beschränkte Soziologe Mühe, die Erscheinung des beziehungsarmen Vaters in seiner psychischen Auswirkung auf dessen Kinder in seine Deutungen einzubeziehen, der Psychologe wertet den soziologischen Erfahrungsschatz nicht aus und die ernst zu nehmende Kunst steht einer unversöhnlichen Gemeinschaft unversöhnbar gegenüber: ihre Hilfe ist ihr Werk. Wer nach dem Lesen dieser Zeilen kritisch vermerkt, daß er das Aufzeigen von Auswegen aus dem Dilemma vermißt, dem sei Vorsicht im Umgang mit Patentlösungen anemp-fohlen, -die bisher präsentierten haben — Ausnahmen ausgenommen — gründlich versagt; denn die Gefährdung wächst. Da erscheint es vielleicht doch plausibel, als ersten Akt der Wegbereitung das Erkennen der Lage und die eigene Betroffenheit darüber vorzuziehen. Von dem Maße, in dem dies gelingt, hängen alle Weiterungen ab.

Im günstigsten Falle ließe sich in einem universitären Freiraum ein Zentrum bilden, in dem alle einschlägige Erfahrung der Zeit interdisziplinär akkumuliert wird. Seine Ana-• lysen, Diagnosen und Wegweisungen wären qualifizierten Mulitiplikatoren zugänglich zu machen: Therapeuten, Erziehern, den in der politischen Bildungs-und Jugendarbeit Wirkenden und nicht zuletzt den Politikern. Damit ergäbe sich die Aussicht auf sinnvolle Begegnungen zwischen „Ins" und „Guts".

Anhang

Eine kurze Auswahl von Stellungnahmen und Vorschlägen von politischen Parteien, Kirchen sowie einzelnen Persönlichkeiten zum Thema Die Gefährdung unserer Demokratie durch Feinde der Demokratie wird für die konkrete Politik Konsequenzen haben müssen. Diese Konsequenzen — leichter aufgestellt als in die Praxis umgesetzt — müssen der Entwurzelung vieler Menschen, der vermeintlichen Sinnleere ihres Lebens, entgegenwirken. Gerade deshalb müssen Familien-und Bildungspolitik Schwerpunkte der Politik darstellen. Die in den letzten beiden Jahrzehnten feststellbare Wertveränderung hat bei vielen jungen Menschen nicht neue Bindungen, sondern eher das Gefühl des Nicht-Geborgenseins in unserer Gesellschaft vermittelt. Richard Löwenthal hat Recht, wenn er erklärt: „Hinter der Erneuerung der radikalen Utopie wird eine Grundstimmung von Verzweiflung erkennbar, hinter der Glaubenssehnsucht nicht selten ein Nihilismus, dem die humanistischen Werte unserer Zivilisation als bloße Heuchelei erscheinen."

Aus: Gerd Langguth, Guerilla und Terror als linksextremistische Kampfmittel — Rezeption und Kritik, in: Band Nr. 122 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1978: Extremismus im demokratischen Rechtsstaat — Ausgewählte Texte und Materialien zur aktuellen Diskussion, herausgegeben und eingeleitet von Manfred Funke.

Wo eine gesamtgesellschaftliche Strukturkrise deutlich wird, wo ein Klima der Zukunftsangst und Verunsicherung entsteht, und wo institutioneile Organisationsrationalität (z. B.der Schule) die Bearbeitung der Bedürfnisse, Ängste und Erfahrungen der Jugendlichen nicht leisten will und kann — wo solch eine Entwicklung mit dem psychischen Anspruchsniveau der Jugendlichen in Konilikt gerät — da besteht die Tendenz zu Vermeidungsverhalten, zu einer psychisch wie gesellschaftlich hervorgerufenen Motivationskrise.

Folgen in dieser Situation die öffentliche Jugendpolitik bzw. öffentliche jugend-relevante Maßnahmen vorrangig den Kriterien einer „Politik der inneren Sicherheit" in dem Sinne, — daß die organisatorische und personelle Kontrollierbarkeit und — die programmatische „Unverdächtigkeit" im Zentrum der Bewertung von Jugendinstitutionen und -projekten steht, so geht sie gerade an der zentralen Motivationsproblematik der Jugendlichen vorbei.

Die Aktivitäten in Institutionen, Projekten, Initiativen, die von Jugendlichen wesentlich getragen werden, müssen als selbstbestimmte, auf die eigenen Interessen und Bedürfnisse der Jugendlichen gerichtete wahrgenommen werden können.

Ein falsch verstandenes öffentliches Interesse an Kontrollierbarkeit wird zweifelsohne von den betroffe’nen Jugendlichen als eine „Enteignung" von ihren Aktivitäten verstanden und verstärkt damit die Disposition zu einer ohnehin labilisierten Motivationsstruktur.

Aus den Bereichen, die — im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext schwierig genug! — von den Jugendlichen als „ihre eigenen" begriffen werden können, aus der Möglichkeit zu selbstbestimmter Entscheidung und institutioneller Gestaltung eigener Bereiche herausgedrängt zu werden, hätte aber in der Tat Folgen, die den Intentionen einer auf die Verhinderung voluntaristisch radikalisierter politischer Einstellungen gerichteten Jugendpolitik diametral entgegenwirken würden.

Aus: Thomas Ziehe, Bemerkungen zu einer neuen Motivationskrise Jugendlicher, Hannover, 15. 9. 1978, Beitrag zu dem nichtöffentlichen Hearing des Bundesjugendkuratoriums zum Thema „Terrorismus — Auswirkungen auf die junge Generation" am 26. September 1978 in Bonn.

Jugendliche brauchen mehr Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten, nicht schärfere Vorschriften und Gängelung. Wenn die Tendenzen zum Rückzug von Jugendlichen aus der Gesellschaft nicht noch unterstützt werden sollen, muß der Dialog über Alternativen ernsthaft geführt, muß Kritik an den bestehenden Verhältnissen ausgehalten und gefördert werden. Erwachsene müssen lernen, ihre eigenen Vorstellungen vom Richtigen in Frage stellen zu lassen, mit Toleranz und Offenheit auf die Vorstellungen der Jugend einzugehen, statt selbstgerecht und verhärtet das eigene Normensystem absolut zu setzen.

Für die junge Generation muß eine ethische Begründung von Politik und damit eine demokratische, humane Zukunftsperspektive sichtbar werden, für die sich Einsatz und Engagement lohnen. Das Finden dieser Lebensperspektive setzt voraus, daß der junge Mensch Geborgenheit erlebt und Menschen wie gesellschaftlichen Gruppen begegnet, von deren Wertentscheidungen, Zielsetzungen und Vorstellungen er angesprochen wird. Am Beispiel und in der Auseinandersetzung mit diesen Personen kann der Jugendliche Ziele und Aufgaben für das eigene und das gesellschaftliche Leben finden.

Dabei kann'es nicht darum gehen, junge Menschen in die bestehende Gesellschaft und ihre Bedingungen einzugliedern, ohne ihnen die Möglichkeit des Hinterfragens und der Kritik ausdrücklich einzuräumen. Entscheidend ist allerdings, daß ihnen die Chance geboten wird, in eigener Verantwortung am gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozeß teilzunehmen und über die Gestaltung ihres Lebens mitzubestimmen.

Aus: Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums zu dem nichtöffentlichen Hearing zum Thema „Terrorismus — Auswirkungen auf die junge Generation" am 26. September 1978 in Bonn.

Wir verteidigen die Freiheit gegen die Terroristen durch präzises, rasches, phantasievolles, rechtmäßiges Handeln. Es ist nicht meine Sache, die Instrumente dieses Handels aufzuzählen. Der Kampf ist noch nicht gewonnen. Die Menschheit, und damit auch unsere Nation, wird wahrscheinlich noch größere Aktionen der Terroristen erleben als bisher. Wir sollen das vorweg bedenken, um nicht in Panik zu verfallen, wenn es geschieht. Auch diese Bäume werden nicht in den Himmel wachsen. Wir verteidigen die Freiheit gegen die sich selbst irreleitende Angst der Bürger, wir verteidigen sie durch Festhalten am Recht. Es ist wichtig, den Bürgern unseres Landes verständlich zu machen, welche Gefahr sie laufen, wenn sie in die Falle treten, die ihnen der Terror stellt. Ich füge ein Wort hinzu, das ich nicht als Liberaler, aber als Christ zu sagen habe. Wir verteidigen die Freiheit nicht, wenn wir nicht imstande sind, auch im Feind den Bruder zu lieben. Das Recht muß vollzogen werden, in aller Strenge. Aber eben das Recht entlastet vom Haß.

Aus: Carl Friedrich von Weizsäcker, Mit welchen Mitteln verteidigen wir die Freiheit?, in: DAS PARLAMENT Nr. 8/78 vom 25. Februar 1978.

Die Kirchen sind sicherlich in einer befangenen und deshalb schwierigen Situation, da auch für sie die Erhaltung und die Verteidigung der religiösen Freiheit und der freien Religionsausübung Vorrang haben muß und sie deshalb nicht blindlings und konzeptionslos den vermeintlich religiösen Gruppierungen begegnen dürfen, so, als stünde die Konkurrenz ins Haus. Die beiden großen Kirchen üssen über ein neues christlich-engagiertes Angebot an die Jugend nachdenken, wollen sie nicht länger als „etabliert" gelten.

Aus: Rolf Meinecke, SPD/MdB, in: Sozialdemokratischer Pressedienst 29. Jhrg. /135): entnommen dem Material-dienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, 11/1978.

Wir versuchen, zu verstehen, was Euch bewegt. Wir haben unsere Antennen neu ausgefahren. Wir denken nach und brauchen den Dialog. Nehmt uns bitte ab: Immer wieder aufs Neue wollen wir uns um die freiheitliche und die soziale Substanz unserer Demokratie kümmern und mühen.

Dabei brauchen wir die Mithilfe der Jungen. Wer sich abseits hält, der ändert nichts. Sondern der stärkt den Rückschritt, die Dunkelmänner, die Reaktion. Wenn wir uns miteinander anstrengen, dann kommt Bewegung in die Dinge. So wie wir dabei sind, Fehlentwicklungen zu korrigieren und klar zu machen, daß unsere Demokratie selbstbewußte und kritische Demokraten braucht. Wir wollen nicht, daß Mißtrauen gesät wird. Wir wollten und wollen keine Belohnung für Duckmäusertum und Leisetreterei. Wir möchten den mutlosen Teilen der Jugend wieder Mut machen.

Ich bekunde die Bereitschaft, genau hinzuhören und mitzuhelfen, soweit wir es noch oder wieder können.

Aus: Rede des SPD-Vorsitzenden Willy Brandt während der Abschlußkundgebung des Berliner Wahlkampfes in der Deutschlandhalle am 16. 3. 1979; herausgegeben vom Parteivorstand der SPD (Service, Presse, Funk, TV), Nr. 111/79.

Was kann man im Hinblick auf diese vielen kritischen jungen Leute tun, die sich in zunehmendem Maße vom Staat, von der Gesellschaft abwenden? Da frage ich mich, welche Beteiligungs-und Mitwirkungsmöglichkeiten wir diesen Menschen eigentlich anbieten. In dem Punkt sind sich CDU und SPD zum Teil zum Verwechseln ähnlich; sie geben beide keine Antwort auf diese Frage. Wir schaffen an den Universitäten die Studentenvertretungen ab; in den öffentlichen Betrieben und in den Verwaltungen hat sich im Hinblick auf erweiterte Mitwirkungsmöglichkeiten in den letzten Jahren nichts geändert. Wo geben wir denn Identifikationsmöglichkeiten mit dem Staat, wie es hier immer gefordert wird? Identi-fikation ist doch nicht irgend etwas Abstraktes, sondern ist konkret dort möglich, wo der einzelne erlebt: Hier kann ich etwas tun; dort kann ich etwas verändern.

Aus: Bergedorfer Gesprächskreis zu Fragen der freien industriellen Gesellschaft: Terrorismus in der demokratischen Gesellschaft, Protokoll Nr. 59 1978, Auszug aus der Stellungnahme von Peter Conradi, SPD/MdB, während der 59. Tagung am 29. und 30. 1. 1978 in Hamburg.

Die SPD darf diese Bewegung und das durch sie vermittelte neue Lebensgefühl nicht unterschätzen. Eine pauschale Abwertung, wie sie gelegentlich von linker Seite wie von den Gewerkschaften zu beobachten ist, wird eher zur Entpolitisierung beitragen und die Bewegung von den parlamentarisch-politischen Parteien entfernen. Richtiger wäre es, die Inhalte dieser Bewegung gründlich zu diskutieren und die Ausdrucks-und Entfaltungsmöglichkeiten in alternativen Lebensformen zu unterstützen und auszubauen, z. B. in der Wohnungs-, Sozial-, Kultur-und Bildungspolitik. Gleichzeitig muß die SPD das demokratisch-emanzipatorische Element dieser Bewegung stärken. Dies wird dort schwierig, wo sich dieses Element gegen etablierte SPD-Positionen richtet, z. B. in der Bürokratiediskussion (Gewerkschaften), in der Frage der Dezentralisation, in der Wachstums-und in der Energiediskussion.

Aus: Die Neue Gesellschaft, März 1979; Peter Conradi, Neue Jugendbewegung und politische Konsequenzen.

PPP: Der SPD ist es Ende der 60er Jahre schon einmal gelungen, das Protestpotential der außerparlamentarischen Opposition weitgehend zu assimilieren. Was kann die Sozialdemokratie in der heutigen Situation tun? ^rhard Eppler: Sie muß die Fragen der jungen Menschen aufnehmen und ernst nehmen. Da ist die Frage nach den beruflichen Lebensgrundlagen: Lohnt sich der mitleidlose Konkurrenzkampf schon in der Schule um berufliche Positionen? Da ist die Frage nach den gesellschaftlichen Lebensgrundlagen: Können wir uns auch künftig in Freiheit entfalten oder werden wir als Extremisten in die Ecke gedrängt? Da ist die Frage der natürlichen Lebensgrundlagen: Was tun wir, damit auch die nächste Generation un-betonierte Landschaft, sauberes Wasser oder unvergiftete Nahrung hat? Diesen drei Grundfragen müssen wir uns stellen.

Aus: Parlamentarisch-Politischer Pressedienst, 21. 3. 1979/30. Jhrg. /56; „Die Zukunftsängste junger Menschen ernst nehmen", Interview mit Erhard Eppler.

Sicher ist es gut, den Ursachen und Wirkungen wissenschaftlich nachzugehen und Eltern sowie Jugendliche zu warnen. Nicht minder ernst sollten sich jedoch die Kultusminister der Länder fragen, ob die Erziehung unserer Kinder vom bildungspolitischen Ansatz her stimmt. In der Fünf-Stunden-Vormittags-schule erhalten die Kinder im wesentlichen nur Unterricht, sie erfahren die Welt aus Büchern und lernen allenfalls über Theoretisches zu diskutieren. Aber auf das Leben als Mensch und Mitmensch, als Initiator und mitverantwortlicher Staatsbürger werden sie vom Lehrplan und vom Schulleben — wenn überhaupt — nur sehr wenig vorbereitet. Unsere Kinder kommen heute — anders als zu Humboldts Zeiten — nicht mehr mit einem Schatz existentieller Erlebnisse und Erfahrungen aus der Großfamilie und der ihnen vertrauten Nachbarschaft in die Schule, sondern vielfach aus isolierten Kleinfamilien. Sie haben vielfältige, wechselnde Eindrücke, aber wenig Gelegenheit, sich als Menschen in der Gemeinschaft zu erweisen, sich verantwortlich für jemanden zu wissen und sich in Entscheidungen zu üben, sich einzuordnen und zugleich in der richtigen Weise durchzusetzen. Dieser Entwicklung sollten auch die Schulen mehr als bisher Rechnung tragen, wenn wir verhindern wollen, daß Kinder in pseudo-religiösen Sekten das suchen, was sie woanders nicht zu finden glauben.

Aus: fdk tagesdienst, Pressedienst der Bundestagsfraktion der FDP, Bonn, 11. 7. 1978; Erklärung der FDP'MdB Liselotte Funke: Die Kinder besser auf das Leben in der Gesellschaft vorbereiten.

In anderen Ländern außerhalb der Bundesrepublik besteht zum Teil eine lange und intensive Erfahrung in der freien Auseinandersetzung auf dem Feld religiöser Gruppierungen. Bei uns ist diese Auseinandersetzung geprägt durch das starke Gewicht der aus dem Staatskirchentum hervorgegangenen Groß-kirchen. Diese Tradition darf und kann man nicht einfach geschichtslos überspringen. Gerade deshalb aber wird man im Hinblick auf die religiösen Randgruppen wach sein müssen, daß sich nicht in unserem Land ein Klima entwickelt, in dem alles verdächtigt und womöglich unterdrückt wird, was nicht zu den herkömmlichen Glaubensformen im Rahmen der etablierten Religionsgemeinschaften paßt.

Unter diesen Voraussetzungen und Erkenntnissen ist die vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit geforderte „offensive geistige Auseinandersetzung" auch von den Kirchen zu führen. Dies kann im Blick auf die „Jugendreligionen" nicht geschehen, ohne die Perversion der Religionsfreiheit im Auge zu haben, wie sie dort oft in massivem Maße festzustellen ist und junge Menschen in die Entmündigung, statt in die Freiheit der Entscheidung führt — ganz abgesehen von ihrer finanziellen Ausnutzung. Dies kann freilich auch nicht geschehen, ohne die selbstkritische Rückfrage zu stellen, warum die jeweils so verschiedenen einzelnen „Jugendreligionen" gemeinsam auf junge Menschen eine solche Anziehungskraft auszuüben vermögen.

Mit einer solchen „offensiven geistigen Auseinandersetzung" nimmt die Kirche zugleich eine seelsorgerliehe Verantwortung gegenüber den Jugendlichen und ihren Familien wahr. Dazu gehört . ebenso, daß jede Bemühung mit Nachdruck unterstützt wird, junge Menschen mit allen vorhandenen Möglichkeiten vor der Beraubung ihrer inneren und äußeren Freiheit zu schützen, wie auch, daß unermüdlich der Frage nachgegangen wird, wo die tieferen Ursachen des Aufkommens der „Jugendreligionen" zu suchen sind.

Aus: Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, 11/1978.

Die Entstehung bzw. die verstärkten Aktivitäten der „religiösen" Sondergruppen können und müssen vorrangig im Kontext der sozio-kulturellen Situation unserer Gesellschaft gesehen und erklärt werden. Gerade die junge Generation erfährt die Probleme unserer Zeit am empfindlichsten und reagiert in der ihr eigentümlichen Weise und mit den ihr möglichen Mitteln. Als „skeptische Generation" übt sie sich, namentlich da, wo sie in sogenannten „reflektierten Gruppen" um ihr Selbstverständnis in dieser Welt ringt, ein in die Rundum-Kritik und versucht in dialektischen Gegenentwürfen zum Bestehenden einen für sich gültigen und tragfähigen Orientierungsrahmen zu finden.

Die etablierte Umwelt, die sich als ein wissenschaftlich-technisches Plansystem der Produktion erweist, wo ein kaum gefährdeter materieller Wohlstand und eine reine Bedürfnisbefriedigung zum Inbegriff von Wohl und Glück werden, bietet keine unbefragte attraktive Zielvorstellung mehr für die Heranwachsenden. Sie sind sensibilisiert für die inneren Risse und nur oberflächlich verkleisterten Brüche in einer Gesellschaft, die kaum noch allgemein anerkannte, verbindliche Normen kennt, die vom funktionalen Denken regiert wird und in der die innerweltlichen menschlichen Bedürfnisse weithin vergesellschaftet werden.

Das massive Defizit sehen die jungen Menschen in der fehlenden Sinnerfahrung und Sinnerfüllung. Wo gemeinsame Wertvorstellungen fortschreitend zerfallen, übrigens ein Faktum, das v a vielen Menschen als Befreiung erlebt wird, zerfällt auch das leitende Bezugsfeld für die konkrete Lebensgestaltung: Eine „babylonische" Verwirrung nimmt den Platz ein. Man ist frei und „vaterlos" zugleich.

Aus: Sekten und neuere Weltanschauungsgemeinschaften — Eine Information (1978), herausgegeben vom Arbeitskreis Sekten und neuere Weltanschauungsgemeinschaften im Auftrag der Zentralstelle Pastoral, Bonn.

Es wäre begrüßenswert, wenn es künftig mehr Stützpunkte für sektengeschädigte Jugendliche, wie etwa das Haus Altenberg bei Köln, geben würde. Wichtiger aber ist, daß sich die bereits vorhandenen privaten und kommunalen Beratungseinrichtungen (Familienberatung, Jugendberatungsstellen, Jugendämter) dem Problem öffnen. Sie müssen mit Grundkenntnissen über Wesen, Gefahren und Methoden der in der Bundesrepublik Deutschland operierenden Jugendsekten ausgestattet werden. Wir brauchen keine Sektenapostel. Erfolgversprechend ist es, das vorhandene Beratungsnetz auf die neue Aufgabe auszurichten.

Aus: Deutschland-Union-Dienst, Pressedienst der CDU und CSU, Nr. 4, 33. Jhrg.: Jugendliche vor Sekten wirksam schützen — Rücktrittsrecht einräumen, Albrecht Hasinger, MdB, Gerhard Braun, MdB, Mitglieder des Bundestagsausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit, Bonn, 5. 1. 1979. — Weitere Sensibilisierung der Öffentlichkeit, um auf die mit den Jugendsekten verbundenen konkreten Gefährdungen hinzuweisen, — Aufklärung über religiöse Bewegungen und Gruppierungen als Aufgabe des Schul-und Bildungswesens, — Auseinandersetzung mit den destruktiven religiösen Gruppen im Rahmen der Arbeit der Jugendverbände, — intensive Information der Jugendämter, Erziehungs-und Lebensberatungsstellen der freien Träger, um im Einzelfall helfen und beraten zu können, — Hinwirken auf die Einhaltung aller rechtlichen Bestimmungen.

Aus: Deutschland-Union-Dienst, Pressedienst der CDU und CSU, Nr. 37, 33. Jhrg.: Lüge und Drohung — Hauptwaffen der Jugendsekten — Alarmierender Bericht über die „destruktiven religiösen Gruppen", Dr. Georg Gölter, Minister für Soziales, Gesundheit und Sport in Rheinland-Pfalz, Bonn, 21. 2. 1979. — Volle Ausschöpfung der gesetzlichen Bestimmungen im Rahmen des Jugendschutzgesetzes, — verstärkte Aufklärung der Bevölkerung, gezielt auf die jungen Menschen ausgerichtet, — bessere Früherfassung der Gefährdeten, — Aus-und Weiterbildung von Fachkräften, — Förderung von exemplarischen Jugendfreizeitheimen, — Verstärkung der Forschung und des internationalen Erfahrungsaustausches, — Strafverschärfung für Rauschmittelhändler, — Verstärkung der ambulanten Beratung und Therapieeinrichtungen, — erhöhte Bundeszuschüsse auf freie Träger, — verbindliche Kostenübernahmeregelungen im therapeutischen Bereich.

Aus: Deutschland-Union-Dienst, Pressedienst der CDU und CSU, Nr. 187/29. 9. 1977 9/90/14— 1: Alkohol-, Drogenmißbrauch und Kriminalität bei Jugendlichen — Die Bundesregierung spielt das Problem herunter, Hermann Kroll-Schlüter, MdB, Jugendpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Die Erfahrungen, die der junge Mensch in seiner Familie macht, sind entscheidend dafür, wie er die Chancen seines weiteren Lebens nutzt und dessen Risiken bewältigt. Es müssen daher die Voraussetzungen für Geborgenheit und Entwicklung in der Familie verwirklicht werden, um der Jugend eine hoffnungsvolle Zukunft zu eröffnen. Der grundgesetzlich geschützte Freiheitsraum der Familie zur privaten Lebensgestaltung muß daher gestärkt und darf nicht weiter für die Gesellschaft oder den Staat verfügbar gemacht werden. Der Staat muß sich daher einer äußersten Zurückhaltung in der Ausformung des privaten Lebensbereiches der Familie unterwerfen, um den jungen Menschen aus der Geborgenheit von Elternhaus und Schule in die Verantwortlichkeit des selbständigen Lebens unbeeinträchtigt überzuleiten. Auf diesem Wege muß der junge Mensch durch Ermutigung zu eigener Verantwortung geführt werden und darf nicht durch Bevormundung und staatliche Reglementierung gehemmt werden. Gesellschaft und Staat müssen das soziale und politische Engagement der Jugend fördern.

Aus: Hermann Kroll-Schlüter, Jugend auf der Flucht?, in: Bonn Aktuell, Zukunfschancen der Jugend, hrsg. v. Heiner Geissler/Matthias Wissmann.

Gegen verantwortungslose Jugendverführer muß mit allen rechtsstaatlich vertretbaren Mitteln vorgegangen werden, auch wenn strafrechtliche Tatbestände häufig nur schwer nachweisbar sind. Hierzu gehört auch die erneute Prüfung, ob diesen verführerischen Jugendsekten nicht — die bisher unterstellte — steuerliche Gemeinnützigkeit vom Finanzamt aberkannt werden sollte. Bisher können die Sekten und ihre Anhänger in der Bundesrepublik Deutschland für sich die verfassungsrechtlichen Privilegien des Glaubens und der Gewissensfreiheit (Artikel 4, Grundgesetz) und der Rechte von Religionsgemeinschaften (Artikel 140, Grundgesetz) in Anspruch nehmen. Auch die Tatsache, daß wir es bei den jungen Sekten-anhängern mit in der Regel volljährigen jungen Menschen zu tun haben, erschwert wirksame rechtliche Schritte.

Aus: Deutschland-Union-Dienst, Pressedienst der CDU und CSU, Nr. 227, 32. Jhrg.: Gerd Langguth, MdB, Flucht aus der Gesellschaft — Die „neuen Jugendreligionen".

Terroristen beginnen als Moralisten. Ihre Karriere ist eng verwoben mit Bereichen gesellschaftlicher Desorganisation. Terrorismus ist typisch für kontrollschwache und unterinstitutionalisierte Gesellschaften. Die moderne Demokratie hat bisher noch nicht die richtigen Antworten für ihr strukturelles Kontrolldilemma gefunden: zu starke und restriktive Kontrolle bremst die Beweglichkeit des Gesellschaftssystems und senkt seine Produktivität, ersatzloser Abbau veralteter Kontrollsysteme erzeugt Desorganisation. Zustände der Desorganisation sind wie ständige Einladungen an politische Verführer.

Hier müssen wir etwas tun. Mehr als nur die Diskussion suchen. Optionen für ein wahrhaftes Engagement müssen gefunden werden. Wir selber müssen uns fragen, von welchen Wahrheiten her wir eigentlich handeln und wie wahrhaftig unsere Institutionen sind. Die Terroristen werden wahrscheinlich keine Rekrutierungsschwierigkeiten haben, solange ein selbstgerechtes Gesellschaftssystem nicht bemerkt, in welchem institutionellen Niemandsland ein Teil der jungen Generation und ein Teil der Intelligenz heranwächst.

Aus: Gerhard Schmidtchen anläßlich der von der CDU veranstalteten wissenschaftlichen Fachtagung zu dem Thema „Der Weg in die Gewalt — Geistige und gesellschaftliche Ursachen des Terrorismus und seine Folgen", 29. /30. 11 1977, Konrad-Adenauer-Haus, Bonn. Die Teilnehmer an der Fachtagung „Jugendreligionen''der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e. V. regen folgendes Sofortprogramm an:

1. Förderung von Elterninitiativen und Selbsthilfegruppen von Seiten des Staates aus Gründen der Subsidiarität. Entsprechende Schritte sind in Abstimmung von Bund und Ländern einzuleiten.

2. Auch die kommunalen Gebietskörperschaften sind aufgerufen, materielle und ideele Unterstützung zu leisten. Hierzu gehört auch eine bessere Ausrüstung der örtlichen Anlaufstellen.

3. Seriöse Beratungsgruppen und -stellen sind verstärkt zu fördern.

4. Eine besondere Verantwortung kommt den Medien durch eine seriöse, kritische und aufklärende Berichterstattung zu. Sie soll sich einerseits an die Eltern wenden, in stärkerem Maße jedoch auch an die Jugend selbst durch spezifische Sendungen und Beiträge. Diese dürfen nicht „neugierig" machen, z. B. durch reißerische Aufmachung. 5. In der theologischen und pädagogischen Ausbildung muß der Bereich „Sektenkunde''aktualisiert und ausgebaut werden. 6. Es müssen mehr Multiplikatoren gefunden und ausgebildet werden, die das Problem Jugendreligionen aufklärend und beratend behandeln.

7. Die Kirchen sind aufgerufen, jene Kreise und Gruppen zu fördern, die durch ihr vom Glauben bestimmtes Gemeinschaftsleben und ihre Bindung an das Evangelium Alternativen zu den Jugendreligionen bieten. , 8. Eine Koordinationsstelle sollte eingerichtet und mit den notwendigen Möglichkeiten ausgestattet werden, die den Bereich der Jugendreligionen beobachtet, analysiert und die Ergebnisse zur allgemeinen Information zur Verfügung stellt. Darüber hinaus könnte diese Stelle vorhandene Materialien prüfen und ihren Stellenwert für die Informationsweitergabe angeben.

Aus: Hanns-Seidel-Stiftung e. V., Akademie für Politik und Zeitgeschehen, Die neuen Jugendreligionen — Herausforderung für Gesellschaft, Staat und Kirchen, Schriftenreihe Heft 15, München 1979.

Fussnoten

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Lothar von Balluseck, geb. 1906, Vertragsberater politischer Institutionen, Mitinhaber eines Verlags, Gründungsmitglied der „Aktion Gemeinsinn'', Gründer der „Godesberger Gespräche". Stand schon früh mit führenden Psychoanalytikern wie Siegfried Bernfeld, Ruth Benedict und Wilhelm Reich in Verbindung. Seine psychoanalytische Tätigkeit begann 1932 mit Studien und der Behandlung verhaltensgestörter Jugendlicher in dem Provinzialerziehungsheim Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Deutsche über Deutschland. Zeugnisse deutscher Selbstkritik, 1946; Dichter im Dienst. Der sozialistische Realismus in der deutschen Literatur, 19632; Literatur und Ideologie. Zu den literaturpolitischen Auseinandersetzungen seit dem VI. Parteitag der SED, 1963; Frei sein wie die Väter ...? Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, 19741°; „Selbstmord" — Tatsachen, Probleme, Tabus, Praktiken, 1965; Gold und Blech — nicht nur aus dem Apolitischen Stich-und Schlagwortschatz, 1969; Bilder — Idole — Ideale. Vermutungen und Skizzen über die Welt der Bilder und die politische Welt, 1971; Die guten und die bösen Deutschen, 1972; Auto heute, 1974; Er-Läuterungen für Deutsche, 1975; Auf Tod und Leben — Letzte Dämmerungen für Deutschland, 1977; Gedanken zur Verursachung und zur sozialen Therapie antigesellschaftlichen Protests, in: Extremismus im demokratischen Rechtsstaat, Band 122 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, hrsg. von Manfred Funke, 1978.