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Heimat-Kunde | APuZ 32/1978 | bpb.de

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APuZ 32/1978 Artikel 1 Politischer Geographieunterricht Eine Traditionsauslegung als Beitrag zur Geographiedidaktik Heimat-Kunde

Heimat-Kunde

Wilfried von Bredow

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im kulturellen Leben der Bundesrepublik Deutschland scheint sich eine Renaissance des Heimatbegriffs anzubahnen. Sie ist als Antwort auf die verbreitete Desillusionierung von weltausgreifender, wenngleich oft zielloser Aufbruchstimmung der späten sechziger Jahre und auf die das traditionelle Lebensmilieu immer nachhaltiger umgestaltende Dynamik spätindustrieller Wachstumspolitik zu begreifen. Die Rückbesinnung auf Werte und Verhaltensweisen, die mit dem Begriff der Heimat verbunden sind, scheint demgegenüber für viele Geborgenheit und Entlastung zu versprechen. Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entwicklung werden die Konzipierung und Realisierung des (Volks-) Schulfaches Heimatkunde von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart verfolgt. Grundlage der Heimatkunde bildete die Vorstellung Eduard Sprangers, daß die Zerrissenheit des Menschen der Gegenwart im Erziehungsprozeß gemildert, besser noch geheilt werden müsse. Heimatkunde eigne sich besonders gut dafür, weil hier Rationalität und Gefühl, Sachinformationen und Verhaltenssteuerung unentwirrbar miteinander verknüpft seien. Dem Menschen könne mit Hilfe dieses Unterrichtsprinzips ein . „totales Wurzelgefühl“ vermittelt werden. Die Implikationen dieser Art Heimatkunde bewirkten, daß der Nationalsozialismus dieses Unterrichtsprinzip übernehmen konnte, ohne viel daran ändern zu müssen. Aber auch nach 1945 hat die Heimatkunde bis in die sechziger Jahre unbefragt überlebt. Dann ist sie in die Strudel z. T. heftiger Kritik geraten, deren wichtigstes Argument lautete, Heimatkunde erziehe die Kinder zur resignativen Hinnahme des Bestehenden und begrenze ihren Bewußtseinshorizont. Die Konturen einer „aufgeklärten Heimatkunde" werden zum Abschluß skizziert. Sie umfaßt sowohl bewahrende als auch auf Änderung der Umwelt hinzielende Komponenten und versucht, Modernisierung und Humanität zusammenzuhalten. Wenn Heimat die „bewohnbare Welt" ist, in der wir leben, dann vermittelt solche Heimatkunde Kenntnisse über deren natürliche, kulturelle wie auch wirtschaftliche und soziale Entwicklung und macht mündig für die alltägliche Auseinandersetzung über das, was in ihr zu erhalten und was zu ändern ist.

Eine Lektüre, die mir den Atem kürzt wie die Lektüre Chandlers, Hammetts und Amblers: Heimatkunde.

Martin Walser (1972)

Die Reise in das Innere, aber auch zurück zu den Landschaften der Kindheit, verspricht heute ein größeres und aufregenderes Abenteuer zu sein als der Aufbruch in die Dritte Welt, in der vor zehn Jahren eine Generation von Intellektuellen Solidarität und Gerechtigkeit suchte. Jener Aufbruch vollzog sich meist in symbolischen Formen: Das Bücherregal und die Straßendemonstration ersetzten die Orte, in denen „die Revolution" gegen die Übermacht des bestehenden Übels tapfer kämpfte. Resignation und Ratlosigkeit folgten diesem Aufbruch und dem Versuch im Mai 1968, „die Metropolen" zu übernehmen. Berkeley, Paris, Berlin — heute geht es hier um andere Fragen als die der „großen Politik". Minoritärer Dogmatismus verschiedener Spielarten und politische Apathie der Mehrheit verstärken einander. In die „Massenkultur", die Erzeugnisse der Medien wie Fernsehen, Rundfunk, Zeitschriften etc., sind die Impulse der „Kulturrevolution" der späten sechziger Jahre in einer Form eingegangen, die die gegenwärtige Situation fast schon vorwegnahm. „Neue" Sexualität, Emanzipation der Frau und die Priorität individueller Bedürfnisse der „Selbstverwirklichung" erheischten immer mehr Aufmerksamkeit als die politischen Aspekte der „Studentenrevolte".

Dies scheint denn auch heute, abgesehen vom Okologismus, das am deutlichsten ausmachbare Relikt dieser Jahre zu sein: Der kulturelle Wandel, der zu neuen Verhaltensweisen im Rahmen kleiner Gruppen, zu einer „neuen Innerlichkeit" in überschaubaren, sich gegen die Umwelt gerne abschließenden Kollektiven geführt hat. Auf den ersten Blick kontrastiert dies mit der Militanz vieler Okologisten in ihren Protesten gegen Umweltverschmutzung und Kernkraftwerke.

Manchmal ist Militanz aber eher ein Zeichen für Verzweiflung; individuelle Resignation und Ratlosigkeit, multipliziert im Kollektiv, schlagen um in heftige Aktionen, die auf ein fernes Ziel deuten wollen, ohne den Weg dahin zu kennen und daher letztlich vor-poli-tisch bleiben und politisch nur durch die Nebeneffekte werden, die sie auslösen. Natürlich kann die „neue Naturbewegung", können die Absichten der verschiedenen Gruppen unter den Okologisten nicht auf Resignation und Ratlosigkeit reduziert werden. Oft mischt sich auch ein kräftiges Stück bodenständigen Interesses mit hinein, was legitim ist, und manchmal wohl auch die eine oder andere „langfristige Strategie“ politischer Minoritäten. Aber Resignation und Ratlosigkeit haben die Debatten und Entschlüsse, die Aktionen und ihre Begründungen zutiefst eingefärbt. Die aufmerksamsten unter den Beobachtern dieser Bewegung, z. B.der Franzose Bresson in seinem Film „Le diable, probablement", haben dies anschaulich gemacht.

Nun ist das, was hier knapp beschrieben wurde, durchaus ein internationales Phänomen der westlichen Welt. Jedoch darf nicht übersehen werden, daß es sich in ganz unterschiedlichen Formen äußert, je nach den Traditionen in Kultur und Politik, die die verschiedenen Gesellschaften aufweisen. In den USA ist eine eklektische „Gegenkultur" entstanden, in der sich asiatische Religiosität, anti-wissenschaftliche Psychologie und eine bunte Mischung von Mythologien vermengen, um das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung abseits des „normalen" Lebens zu befriedigen. In Paris sind viele Wortführer des Mai 68 zu einer Philosophie des ätzenden Irrationalismus übergegangen, der mit ihren früheren Idealen auch alle Möglichkeiten zur längerfristigen Orientierung hinweggeschmolzen hat.

In der Bundesrepublik gibt es das alles auch. Aber es scheint, daß sich jene Mischung aus (meist negativ bewerteten) politischen Erfahrungen, privaten Mythologien und Selbstverwirklichungsbedarf mit „spezifisch deutschen“ Ingredienzen anreichert. „Spezifisch deutsch“ ist die Unsicherheit im sozialen und kulturel-len Selbstverständnis, die uns Bürgern den ohnehin schwierigen Umgang mit den Forderungen und Erzeugnissen der technischen Kunstwelt weiter erschwert. „Spezifisch deutsch" ist die durch die wenig hilfreichen Explikationen unserer Vergangenheit — und „wie es dazu kam" — nach wie vor bestehende, ja gewachsene Irritation über Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. Daß wir Deutsche „wieder wer sind“, ist uns schon vor längerem gesagt worden. Aber: Wer sind wir eigentlich? Diese Frage ist weder durch die Stuttgarter Staufer-Ausstellung noch durch Fests Hitler-Film einer Antwort näher gebracht worden, obgleich beider Erfolg beim Publikum die Vermutung aufkommen läßt, es habe gerade nach einer Antwort auf diese Frage gesucht.

Wer sind wir eigentlich? Ich glaube, diese Frage bewegt heute viele Bürger der Bundesrepublik Deutschland; sie ist ein Motiv für die „Reise in das Innere". Der Boom in populärwissenschaftlichen Büchern über die Vergangenheit ist ebenso ein Indiz für diese These wie z. B.der schriftstellerische Erfolg Walter Kempowskis. Und wenn zuerst ein paar deutsche Schriftsteller auf Einladung der Wochen-zeitung „Die Zeit“ und kurz darauf Reporter der Illustrierten „stern" aufgefordert werden, über ihre Kindheit, die Landschaften und die Menschen ihrer , Heimat“ zu schreiben — ist diese von einem Massenpublikum verfolgte Rückkehr in die Vergangenheit nicht auch ein Zeichen dafür, daß eine derart große und die verschiedensten Alters-und Einkommens-gruppen umfassende Öffentlichkeit sich davon Erkenntnisse zur Aufklärung eben dieser Frage verspricht: Wer sind wir eigentlich? „Heimat" ist ein Begriff, der für vieles stehen kann, weshalb moderne Autoren sich wohlweislich hüten, ihn allzu rasch zu definieren. „Heimat" verkörpert Geborgenheit, Überschaubarkeit, Harmonie mit der Natur und der sozialen Umwelt. „Heimat" ist die innerlich akzeptierte Welt Es verwundert nicht, daß heute wie in vergangenen, als krisenhaft empfundenen Zeiten für viele „Heimat" der ideale Standort ist, von dem aus die Übel der Modernität angegangen (oder einfach vermieden) werden können. Nur die Assoziationen mit Ganghofer und Heimatfilm-Kitsch bilden hier eine beachtliche Barriere, über die z. B. die Redaktion des „kursbuch“ nicht hinwegklettern mochte, weshalb sie ihr Heft 39 dem Thema „Provinz" widmete. „Heimat" ist in der Tat keineswegs zufällig ein Zentralbegriff des deutschen Gemüts. Tatsächlich spielte dieser Begriff im Leben der letzten drei, vier Generationen in Deutschland eine kaum überschätzbare Rolle als integrierendes, erziehendes, tröstendes und mobilisierendes Prinzip der Lebensordnung. Daß für uns Deutsche „heimatlos" ein Zustand schlimmster Entfremdung ist, daß des Deutschen Flucht-Reise aus einer belastenden Gegenwart nicht in fernöstlichen Mystizismus oder in Rationalismen des „siede des lumieres“, sondern in die Heimat geht, ist nicht angeborene Mentalität oder eine Eigenart des deutschen Volkscharakters, vielmehr die Konsequenz der Tatsache, daß Heimat im Arsenal nationaler Werte einen hervorragenden Platz einnimmt.

Heimat ist in Deutschland seit dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts ein Begriff, der politische, kulturelle, soziale Dimensionen entwickelt und die Menschen zugleich mobilisiert und entlastet (nicht: befreit) hat. Der „verspätete“ Prozeß der nationalen Einigung sah sich trotz aller kurzfristigen Erfolge mit der Schwierigkeit konfrontiert, ein gesamtstaatliches Loyalitätsgefühl zu wecken. Als dies erreicht war, 1914, bahnten sich drastische Änderungen der Strukturen von Staat und Gesellschaft an. Das Weimarer „System", von den meisten Deutschen nicht als endgültige politische Lösung akzeptiert, das Dritte Reich, das nicht tausend, sondern nur zwölf Jahre hielt, dann nach der totalen Niederlage samt Re-education die Existenz zweier „feindlicher" deutscher Staaten — für die mit Begriff und Sache der „Politik“ verbundenen Phänomene wie Schutz, Loyalität, Identifikation mit dem Staat gab es in den letzten sechzig Jahren in Deutschland meist zu wenig Anlaufzeit. Heimat aber blieb demgegenüber ein konstanter Orientierungspunkt, der auch gegen Tendenzen sozialen und ökonomischen, kulturellen und technischen Wandels verwendet werden konnte. Im Begriff Heimat verschmelzen Natur und Menschenordnung miteinander, und beides steht dem Aufwachsenden als grundsätzlich unveränderbar gegenüber, denn beides ist für ihn „gut". Gegenüber allen Veränderungen der Natur behauptet sie sich als stärker, gegenüber allen sozialen Neuheiten in den Städten behauptet sie sich als der eigentliche Kraftquell des Menschen — so lautete die millionenfach verbreitete Botschaft der Heimatromane Ganghofers (Gebirge) und Löns'(Heide). Der Unterschied zwi-sehen einem deutschen Heimatfilm und einem amerikanischen Western besteht darin, daß sie sich eben grundsätzlich in dieser Botschaft unterscheiden. Antimodernistisch und „struktur-konservativ“ ist der eine, während das große Thema des anderen die mit positivem Kennzeichen versehene Entwicklung des „wilden“ in einen „zivilisierten", d. h. wirtschaftlich erschlossenen Westen ist.

Die Kriegspropaganda konnte mit dem Appell zur „Verteidigung der Heimat" zweimal in diesem Jahrhundert zur Verlängerung schon längst verlorener Kriege beitragen. Und nach 1945 haben deutsche Juristen und Politiker mit viel geistigem Aufwand versucht, in das Völkerrecht ein spezifisches Recht, nämlich das „Recht auf Heimat“, hineinzubringen. Zum Glück entsprach die konkrete Politik der Bundesregierungen nicht dem hinter dem „Recht auf Heimat" stehenden Impetus, sie versuchten statt dessen die Integration der Vertriebenen in einer „neuen Heimat“. Welche tragische Dynamik der entgegengesetzte Kurs hätte entwickeln können, läßt sich am Schicksal der Palästinenser ermessen. Heimatromane, Heimatfilme, Schlager, in denen das Los derer beklagt wird, die fern der Heimat weilen müssen, all das würde kein so nachhaltiges Echo gefunden haben, das „melancholische Abenteuer" der Rückreise in die Heimatwelt der Kindheit würde im Jahre 1978 der Redaktion einer Illustrierten mit Millionen-Auflage nicht für eine mehrteilige Serie gut sein, wenn all das nicht eine „kollektive Saite“ zum Klingen brächte.

Saiten, die später zum Klingen gebracht werden können, werden dem Menschen in seinem Erziehungsprozeß eingespannt. Traditionsgemäß teilen sich Elternhaus und Schule in dieser Aufgabe. Wie groß die Bedeutung der Schule für die gesellschaftlich und politisch relevante Sozialisation ist, wurde einer breiteren Öffentlichkeit zuletzt anläßlich der einem Kulturkampf ähnlichen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre über ihre Organisationsformen und Bildungsinhalte deutlich.

Das Militär war selbst in den Zeiten des Wil-helminismus immer höchstens partiell „Schule der Nation". Auch wenn es tautologisch klingt: die Schule der Nation ist die Schule. Die deutsche Schule aber besaß schon im 19. Jahrhundert und dann kontinuierlich bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts ein spezielles Fach zur Vermittlung der Werte, für die „Heimat" steht: Heimatkunde.

Heimatkunde, im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem immer höher angesehenen Unterrichtsfach in der Volksschule aufgestiegen, wurde in den ersten Jahren der Weimarer Republik zu einem die ersten Schuljahre tragenden pädagogischen Prinzip ausgebaut. Es sollte der damaligen Krise in der geistigen Orientierung der Deutschen entgegenwirken. In der Tat waren ja die ersten Jahre nach der nicht akzeptierten und mit einer Legende vom „Dolchstoß" in den Rücken der Front zugedeckten Niederlage in Deutschland durch eine eigenartige Mischung von Aufbruch-und Untergangsstimmung, von Nihilismus, Kontinuitätsstreben und Resignation gekennzeichnet. Hans Falladas Roman „Wolf unter Wölfen“ zeichnet eindrucksvoll ein Bild davon. Damals waren Kultur und das politische und soziale Leben der ungefestigten Republik für die „Eliten" wie für die „Massen" gleichermaßen unübersichtlich. Die wirtschaftlichen Probleme waren kaum zu meistern. So ist es kein Wunder, daß in diesen Zeiten die Besinnung auf die Heimat und die damit verbundenen Wertvorstellungen besonders stark einsetzte. Mit der nun systematisch aufgebauten „Erziehung zur Heimat" sollte den Symptomen und Ursachen der Nachkriegskrise begegnet werden.

Vom Bildungswert der Heimatkunde

Heimatkunde war ein Bildungsprogramm. „Aus den Nöten der Zeit geboren, möchte es einen Weg zeigen, der zur Einheit des Volkes und zur geistigen Einheit in uns selbst, also in doppeltem Sinne zu unserer eigentlichen Heimat, zurückführt." Dieser Satz stammt aus den Vorbemerkungen eines der wichtigsten und bis heute weiterwirkenden Texte zur Begründung einer systematischen Heimatkunde. Sein Autor ist Eduard Spranger. Mit seinem Referat „Der Bildungswert der Heimatkunde" eröffnete er im April 1923 eine Tagung der „Studiengemeinschaft für wissenschaftliche Heimatkunde". Dieses Referat ist mehrfach und in verschiedenen Rahmen publiziert worden; es erwarb bald den Ruf, die weltanschauliche und praktische Grundlage der Heimatkunde zu sein. Dies sollte Neugier erwecken auf eine eingehende Betrachtung des Textes. Denn es geht nicht um die Exhumie-rung einer vermoderten, jedenfalls überholten Konzeption, sondern um ein Bildungsprogramm, das die politischen, sozialen und gewiß auch ästhetischen Verhaltensweisen der Schüler und späteren erwachsenen Deutschen nachhaltig mitbeeinflußt hat, und das im Grunde bis in die sechziger Jahre unbefragt blieb

In seinen Vorbemerkungen zur Veröffentlichung seines Referats unterstreicht Spranger die Absicht, sein Erziehungsprogramm in einen politischen Kontext zu stellen. Die Nöte der Zeit — wirtschaftlicher, sozialer, politischer Natur — bedrohten die Einheit des Volkes. Bedroht war in erster Linie die soziale Integration zwischen den Klassen und Parteiungen der Gesellschaft, in zweiter Linie die geographische Einheit Deutschlands (durch den Versailler Vertrag). Spranger spricht aber mit besonderer Betonung von der Bedrohung der „geistigen Einheit in uns selbst“. In dieser Vorstellung verbergen sich zeitgenössische Versionen des immer wiederkehrenden Traums von der „heilen Welt“, wie sie jedenfalls in Augenblicken — in der verklärenden Erinnerung an die Kindheit aufscheint (es sei denn, man erinnert sich so unnachsichtig we Marcel Proust). Der „realistische" Teil dieses Traums besteht in der Distanzierung von der als unheilvoll empfundenen Gegenwart, die Geborgenheit zersetzt und die Menschen an ihre Zerrissenheit gewöhnen will. Das Erziehungsprogramm Heimatkunde propagiert eine Fluchtbewegung als Realitätsprinzip.

Damit besitzt es eine eminente politische Bedeutung. Um dies genauer zu erkennen, braucht es jedoch einige Geduld. Der Diskurs Sprangers, wenn man ihn denn so nennen darf, hält sich zunächst mit Behagen im kindlichen Biedermeier auf: „In unserer Seele gibt es einen Winkel, in dem wir alle Poeten sind. Was mit unserer Kindheit und unserer Heimat zusammenhängt, lebt in uns mit so zauberhaften Farben, daß der größte Maler es nicht wiedergeben könnte, und mit so sehnsüchtig verschwebenden Gefühlen, daß wir uns in diesem

Bezirk auch von der höchsten Kraft lyrischen Ausdrucks nicht befriedigt finden würden."

Ist dies, was es zu sein vorgibt, eine kollektive Erinnerung? Sind „wir alle" — alle Deutschen? Man braucht sich nicht einmal jene Elendsszenen aus dem 19. Jahrhundert vor Augen zu halten, in denen die Opfer der Entwicklung zur Industriegesellschaft figurieren — Kinderarbeit auf dem Lande und in den Fabriken, Hunger, Krankheit und hohe Kindersterblichkeit, das Bildungselend der Proletarierkinder —, es genügt schon ein Blick in die bürgerliche Kinderliteratur von „Konrad, sprach die Frau Mama" bis zu Max und Moritz, und die Exklusivität der Aussage wird deutlich. Mehr noch: sie ist nicht nur schichtenspezifisch, sondern auch schlicht und einfach unecht, verlogen. Gefühlswerte wie das Erlebnis der Heimat, ja überhaupt schon das Erlebnis, eine Heimat zu „haben", sollen das Individuum in einem festen Mittelpunkt seines Daseins verankern. Nur: den muß es eben auch geben. Noch fünfzig Jahre nach der Formulierung von Sprangers verklärender Erinnerung sagt ein Industriearbeiter zum Thema „Heimat": „Ich komme aus einer grauen Industriestadt, Rüsselsheim. Wenn ich nach Wolfsburg umziehe, dann würde ich sagen, da habe ich weder Heimat verloren noch neue hinzu-gewonnen. Ich sehne mich höchstens nach dem Karl und Fritz, den ich in Rüsselsheim kannte, aber Heimat als Landschaft, da würde ich sagen, die ist in Wolfsburg so, wie sie in Rüsselsheim war." Diese wohl repräsentative Aussage relativiert das „wir alle" Sprangers ebenso wie, beispielsweise, die autobiographischen Berichte von Thomas Bernhard. Damit aber ist der ideologische Charakter von Sprangers „Erinnerung" offenbar geworden. Die angeblich unmittelbaren Empfindungen und Traditionsgüter gehörten auch schon 1923 gar nicht mehr so ausschließlich zur vorgegebenen Umwelt des Kindes. Sie sollen ihm statt dessen als Bildungsgut vorgestellt werden. Drastisch gesagt: Heimat wird eingeredet. Ganz unversehens gelangt Spranger von der Schilderung des süßen Traums von der Kindheit zu den sozio-politischen Implikationen des Heimatkunde-Prinzips. „Aber es sind doch nicht nur Gefühlswerte. Das Stück Welt, das wir Heimat nennen, hat auch seine ganz bestimmte, im Wissen erfaßbare sachliche Beschaffenheit. Aus der tieferen Kenntnis dieses ihres Wesens baut sich erst die echte und bewußte Heimatliebe auf. Deshalb suchen wir Heimatkunde, weil in ihr wir die natürlichen und geistigen Wurzeln unserer Existenz erfassen." Der Tribut an die Modernität besteht in der mühevollen Verkleidung dieser aus Wesensschau und Sozialtherapie zusammengesetzten Heimatkunde als „Wissenschaft". Die Sprangersche Definition der wissenschaftlichen Heimatkunde lautet: „das geordnete Wissen um die Verbundenheit des Menschen in allen seinen naturhaften und geistigen Lebensbeziehungen mit einem besonderen Fleck Erde, der für ihn Geburtsort oder mindestens dauernder Wohnplatz ist".

Da diese Definition mehr Proklamation ist und zur Konstituierung einer Wissenschaft nicht ganz ausreicht, schiebt Spranger an dieser Stelle seiner Überlegungen einen Exkurs ein, in dem er der Frage nachgeht, was denn eigentlich die Heimat ausmacht, wie sie entsteht. Zunächst einmal bedarf es dazu als materielle und soziale Voraussetzung eines „Milieus", in das der Mensch hineingeboren wird. Aber das allein macht noch nicht „Heimat" aus. „Zur Heimat wird diese gegebene Geburtsstätte erst dann, wenn man sich in sie hineingelebt hat." Und: „Eine Heimat hat er (der Mensch) nur da, wo er mit dem Boden und mit allem Naturhaft-Geistigen, das diesem Boden entsprossen ist, innerlich verwachsen ist." Die Analogie aus dem Pflanzenleben wird noch häufig bemüht: „Von Heimat reden wir, wenn ein Fleck Erde betrachtet wird unter dem Gesichtspunkt seiner Totalbedeutung für die Erlebniswelt der dort lebenden Menschengruppe. Heimat ist erlebbare und erlebte Totalverbundenheit mit dem Boden. Und noch mehr: Heimat ist geistiges Wurzelgefühl.“

Sprangers Sprache erscheint hier, obwohl der Gedankengang gar nicht so kompliziert ist, umständlich, auf eine bedrückende Weise feierlich und hölzern. Die Diskrepanz zwischen Gedanke und „Jargon“ entsteht häufig dadurch, daß eine im Grunde einfache Aussage wie ein Luftballon aufgeblasen wird, um dadurch größeren Umfang und höhere Bedeutung zu erlangen. Anders als ein Luftballon gewinnt die dermaßen strapazierte Aussage aber keine Leichtigkeit und schwebt nicht anmutig davon, sondern plumpst ungeschickt auf den Boden. (Man kann diese Diskrepanz auch, leider viel zu oft, in den Texten moderner Sozialwissenschaftler feststellen.)

Bleibt die Frage an den Spranger-Text: Wie entsteht denn nun Heimat, jene „Totalverbundenheit mit dem Boden“ und jenes „geistige Wurzelgefühl"? Im „Regelfall", lautet die Auskunft, ist es einfach. Wo der Mensch in.seiner Entwicklung vom Kleinkind zum Erwachsenen mehr und mehr von der „Welt" erfährt und erkennt, ist seine Heimat. Die Eigenart seines natürlichen und kulturellen Milieus wird ihm zur Welt schlechthin. Spranger illustriert das — ein wenig steifkragig und vielleicht auch leicht melancholisch — mit dem „Glanz“, der „dem Ort des ersten erotischen Seelenerwachens verbleibt". Damit wird zwar auf ein Klischee angespielt, dessen Glanz eher literarischer Natur ist. Aber solche Anspielung fügt sich gut ein in die Reihe der eher das Gefühl und die Vor-Rationalität betonenden Gedanken und Ausdrücke.

Spranger unterscheidet im Anschluß an Max Scheler zwischen transportablen und nicht-transportablen Elementen der „Milieuwirklichkeit" des Menschen („Milieu" war damals ein Modewort, ähnlich wie heute z. B. „Struktur"). Diese Unterscheidung sieht sich auch dann plausibel an, wenn man Vorbehalte gegenüber der Substanz des „Heimatcharakters" selbst hegt. Den macht, nach Spranger, eben das Ensemble der nicht-transportablen Milieuwirklichkeit aus. Um dies deutlicher zu machen, geht der philosophische Betrachter zu einer Bildbeschreibung über. Das „Heimat" illustrierende Bild ist hinreichend bekannt, es stammt aus derselben Massenproduktion wie der „Mönch mit Weinglas", die „Feurige Zigeunerin" oder der im deutschen Wald röhrende Hirsch: „Wenn ich den Versuch mache, die Gegenden der Mark Brandenburg, die mir lieb sind, anderen zu . zeigen', so fühle ich deutlich, daß viele Voraussetzungen des Sehens in mir und nur in mir gelegen sind. Schweigen will ich von den ganz persönlichen Erinnerungen und Beziehungen, die sich der Landschaft für mich dauernd aufgeprägt haben und nun in ihr ein Eigenleben weiterzuführen scheinen. Es ist da noch etwas anderes: eine metaphysische Sprache, die gerade diese Natur spricht und die nur ganz verstehen kann, wer ihren Pulsschlag in sich selbst fühlt: in Mittagsglut schweigende Kiefern, der Duft des Harzes, der zugleich beklemmend und kräftigend zu wirken scheint; Sand, der immer wieder dieselbe monotone Sprache redet; träumende Seeufer ...". Die evozierende Kraft dieser professoral-poetischen Beschreibung bleibt gering, aber sie mag manchen doch ein wenig rühren. Beim genauen Hinhören aller-dings vertieft sich der fatale Eindruck, daß hier subjektivistische Innerlichkeit und kollektiver Kitsch bruchlos ineinander übergehen. Wie erschöpft muß das Gemüt des deutschen Bürgertums nach dem Ersten Weltkrieg gewesen sein, wenn es sich keine besseren Begründungen für die Normsetzung der „Heimatliebe" einfallen ließ als die metaphysische Sprache träumender Seeufer!

Es soll gleich hinzugefügt werden, daß nicht nur Professoren ihre Schwierigkeiten bei der wort-ausmalenden Beschreibung ihrer Heimat haben, natürlich nicht. Eine Untersuchung typischer Heimatlieder gelangt z. B. zu dem Schluß, daß deren sprachliche Blässe weniger auf dichterischer Schwäche der Autoren beruhe als vielmehr darauf, „daß das Gefühl des Heimatlichen sich in der Tat gar nicht in erster Linie an Realitäten orientiert, daß es sich vielmehr mit vorgeprägten, klischierten Inhalten befriedigt" Als Fazit bleibt die typische Denkfigur jeder schwächlichen Beweisführung: . verstehen kann's nur, wer's selbst erfühlt'. Für Spranger hat der kurze Ausflug in seine eigene Heimat die Konsequenz, daß er sich auf die Kontrovers-Assoziation: schöne Landschaft vs. Großstadt einläßt: „Der Mensch bedarf eines solchen Wurzelns in der Erde. Das ist das Elend des Großstädters — der im übrigen auch ein starkes Heimatgefühl haben mag, wie der Berliner es in der Regel hat —, daß er nicht mehr tief einwurzeln kann in den Boden und die umfangenden, seelisch schützenden Kräfte des Bodens ..

Die immer kruder werdenden Ausdrücke der Verbundenheit von Mensch und Erde (Renate Rasp hat sie wörtlich genommen und einen grotesken Roman daraus gemacht) zielen darauf ab, dieses im übrigen auch religiös veredelte Band in den kulturellen Bereich zu verlängern. Die Heimat bekommt die Prägung des organisch Vorgegebenen, des Ewig-Unwandelbaren, eines objektiven Organismus, in den der Mensch hineingelagert ist. Alles ist mit allem verbunden, der monotone Sand, die träumenden Seeufer, der verschuldete Gutshof und die polnischen Saisonarbeiter. Heimat ist Ordnung — geadelte Ordnung.

Von dieser Art Sozialanthropologie, zu der die nationalsozialistischen Ideologen außer dem expliziten Rassismus kaum noch etwas hinzuzufügen brauchten, zur Pädagogik: Der eigentümliche Bildungswert der Heimatkunde liegt nach Spranger in der Überwindung der abstrakten Fächertrennung. Dazu kommt, daß Heimatkunde dem Heranwachsenden die Welt an dessen eigenen konkreten Erfahrungen erklären kann. Heimatkunde „klärt den Menschen über seine Stellung im Ganzen der lebendigen Kräfte auf; sie erhebt die allseitige Bedingtheit seines leiblich-geistigen Lebens an einem für ihn zentralen Punkte zum Bewußtsein".

Einmal mehr ist zu erkennen, wie erpicht Spranger auf eine Welterklärung ist, die das Individuum in einem als das (richtige) Ganze erkannten Zusammenhang einbindet, ja fest-knotet. „Die Heimatkunde liefert uns das reinste Beispiel einer totalisierenden Wissenschaft." Diesem Satz unterliegt das Bedürfnis, durch Heimatkunde den Sinn des Ganzen faßbar werden zu lassen. Die Begriffe „total" und „totalisierend" besaßen 1923 noch nicht jenen Beigeschmack, der ihnen nach der Wirklichkeit des „totalen Krieges" (nicht schon nach Ludendorffs Veröffentlichung eines Buches mit diesem Titel) und nach dem Aufkommen der Kennzeichnung „totalitär" für das nationalsozialistische und stalinistische Regime heute anhaftet. Sie drücken bei Spranger wie bei vielen seiner Zeitgenossen die Sehnsucht nach der Überwindung der individuellen und kollektiven „Zerrissenheit“ aus. Diese Sehnsucht artikuliert sich bei ihm in einer Art Rückwendung fort von der Hektik und Komplexität der Gegenwart, hin zur Vergangenheit, die als beschaulich und überschaubar empfunden wird. Sie artikuliert sich ferner in einer Art Abgrenzung von modernen Wissenschaftsentwicklungen. Aus diesen Entwicklungen ist die Wissenschaft „abstrakt" hervorgegangen, und dieses Fremdwort läßt sich offenbar am ehesten mit „herzlos" ins Deutsche übersetzen. Spezialisierung der Wissenschaftsdisziplinen, Ausdifferenzierung neuer Methodenkomplexe — all das ist für Spranger „ein Übel, dem man durch eine geschlossene, um das Heimatprinzip konzentrierte Naturkunde und Kulturkunde entgegenwirken" müsse.

Seine Auffassung von der Funktion der Wissenschaft stellt Spranger in eine geistesgeschichtliche Tradition, für die Namen wie Rousseau, Pestalozzi, Harnisch u. a. stehen. Das ist jedoch nur halb richtig. Aus heutiger Sicht und vor dem Hintergrund gewachsenen Problembewußtseins und gewachsener Kenntnisse über Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie erscheint Sprangers Distanzierung von der „zergliedernden“ Wissenschaft eher als eine typische Antwort auf eine kulturelle Orientierungskrise. Parallelen zu anti-wissenschaftlichen Euphorismen der Gegenwart sind unübersehbar.

Sprangers Heimatkunde-Programm lautet: „Denn das Volk muß zum Totalbewußtsein der Lebensbezüge in Natur und Geschichte gebildet werden, wenn es nicht bei aller Stoff-fülle des Wissens ungebildet bleiben soll." In den geistigen Grundlagen, die dem Menschen durch Heimatkunde vermittelt werden, liegt für ihn zugleich die Gewähr dafür, „daß das tiefe Verbundenheitsgefühl mit dem eigenen Volke nicht bloß das Vorurteil einer Epoche von besonderer politischer Richtung ist. Wehe dem Menschen, der nirgends wurzelt!“ Sprangers Text wirkte damals wie ein auf-munterndes Signal. Was uns heute eher als Ausdruck einer tiefreichenden geistigen Krise erscheint, wurde damals als deren Lösung empfunden. Sprangers Vorstellungen über das Schulfach Heimatkunde wurden daher auch bald administrativ „umgesetzt“.

Heute wiedergelesen, wirkt das Referat irritierend, zuweilen komisch, oft erschreckend. Wirken manche Sätze und Metaphern deshalb komisch, weil unsere Distanz zu ihnen besonders groß ist (so, wie viele Jugendliche heute im Kino über Goebbels und Hitler in den alten Wochenschauen lachen — weil die Distanz scheinbar alle Realität genommen hat)? Erschrickt man deshalb bei der einen oder anderen Formulierung, weil man weiß, wer zehn Jahre nach Sprangers Vortrag in Deutschland die Macht übernahm? Gerade die zuletzt zitierten, im Stabreim verkletteten Worte Sprangers stehen auch für eine Vorahnung, für ein momentanes Aufblitzen von Ereignissen und Entwicklungen, welche einem Ge-lehrten-Stuben-Dasein damals trotz der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs wohl unfaßlich blieben.

Heimatkunde nach 1945

Wie vieles andere gerieten auch die Vorstellungen Sprangers über die Aufgaben und den Sinn der Heimatkunde in den Sog des Nationalsozialismus. (Wohlgemerkt: es geht hier um die Ideologie und nicht um die Person; das Verhalten Sprangers gegenüber dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem ist von kompetent Urteilenden als untadelig bezeichnet worden.) Das in der Weimarer Republik systematisch ausgebaute „heimatkundliche Unterrichtsprinzip" wurde im Dritten Reich benutzt, um die Welt, von der Familie bis zu den fernen Kolonien, als Material für den völkisch-nationalsozialistischen Willen der rassisch überlegenen Deutschen zu kennzeichnen. So wenig interessant diese „Weiterentwicklung" auch unter intellektuellen Gesichtspunkten sein mag, tief reicht der abermalige Schrecken darüber, daß die Machtübernahme des Nationalsozialismus auch auf geistigem Gebiet so simpel vonstatten gehen konnte.

Was zunächst verwundert: auch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches blieb die Sprangersche Heimatkunde (jetzt natürlich gereinigt von den nationalsozialistischen Vor-Zeichen) lange noch das unbestrittene Leitbild für die Volksschule. Gewiß setzte in den fünfziger Jahren schüchtern eine Diskussion unter Pädagogen darüber ein, ob die moderne Welt eher mehr oder eher weniger als Gegenstand der Heimatkunde in Erscheinung treten sollte. Und auf einer Tagung von Schulamtsbewerbern im Jahre 1962 wurde zum ersten Male (und in der Absicht zu provozieren) die Formulierung gewagt, Heimatkunde sei ein „antiquierter Begriff". Aber die Zunft ließ sich natürlich keineswegs provozieren; die Pädagogen standen nach wie vor mitten auf dem Feld, das Spranger 1923 für die Heimatkunde abgesteckt hatte

Die sechziger Jahre können in der Bundesrepublik Deutschland als ein Jahrzehnt des aufgeschobenen, deshalb sich nach den ersten Durchbrüchen auf vielen Gebieten des sozialen und kulturellen Lebens rasch beschleunigenden Wandels angesehen werden. Dies läßt sich auch und sogar besonders gut anhand des Wandels von Theorie (n) und Praxis der Erziehungswissenschaft deutlich machen. Die Heimatkunde erscheint inmitten dieses Wandels allerdings als ein fast eherner Block. Sie wird ein wenig systematisiert, ansonsten aber unberührt gelassen. Nehmen wir ein Beispiel: In einem der zwar nicht gerade zahlreichen, aber nun doch häufiger als vorher unternommenen Versuche, Heimatkunde „zeitgemäßer" zu machen, werden ihr gegen Ende der sechziger Jahre folgende Aufgaben gestellt: Sie müsse drei Dinge vorbereiten, durchführen und ausbauen: die Elementaria der Sache, die Elementaria des Sinnes, die Elementaria des Tuns. Wer sich darunter noch nicht viel vorstellen kann, wird weiter belehrt, daß und wie Seele und Welt bei der Behandlung der Elementaria der Sache verschmelzen müßten. Wie? Nun, das Thema der Klasse soll z. B. nicht lauten „Wasserleitung", sondern statt dessen besser „Unser Dorf braucht Wasser!" Das durch richtige Auswahl und Anordnung didaktischer Grundprinzipien ausgelöste Aha-Erlebnis im Kind würde dazu beitragen, jene Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln, die als Komponenten des Heimatbegriffs nach dem . Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen" auf diese Weise leichter zu gewinnen sind als durch einen von vornherein darauf angelegten Unterricht Ansatz und Sprache sind eindeutig Spranger entlehnt, letztere dann ein wenig modernisiert.

Die fast fünfzig Jahre umfassende Kontinuität der Sprangerschen Heimatkunde ist ein verblüffendes Phänomen, das im übrigen auch die Heimatkunde-Kritiker kaum beachtet haben. Für seine befriedigende Erklärung gibt es keine von der Zeitgeschichte oder Politikwissenschaft bereitgestellte Thesen, von Theorien ganz zu schweigen. Daß das mit daran liegt, daß die Sorglosigkeit und politischen Vorgaben vieler geistesgeschichtlichen Studien nach 1945 diesen Ansatz in Mißkredit gebracht haben, ist eine Vermutung — nicht mehr. Man versteht aber wenig von Deutschland im 20. Jahrhundert, wenn man die Kontinuitäten und Brüche seiner kulturellen Entwicklung (im weitesten Wortsinne) nicht genügend kennt.

Heimatkunde-Kritik

Die Dominanz der Sprangerschen Vorstellung vom Erziehungsprogramm Heimatkunde geriet mit vielen anderen Überlieferungen am Ende der sechziger Jahre in das Kreuzfeuer heftiger Kritik. Ob diese, ihrem Selbstverständnis und ihrer Terminologie nach „linke" Kritik dieser Dominanz ein Ende bereitet hat, läßt sich heute noch nicht absehen. Zumindest hat sie sie aber erschüttert.

Exemplarisch für diese Kritik sind die (auch unter den Lehrern verhältnismäßig weit verbreiteten) Einwände von Hermann Müller*). Er setzt bei ihrer Formulierung beim Grundsätzlichen an: Daß man in der Erziehung vom Einfachen zum Schweren fortschreiten müsse, diese auf den ersten Blick so einleuchtende Methode verbirgt nach Müller ein bestimmte Inhalte implizierendes Erklärungsmuster der Welt, das den Kindern nicht Gelegenheit zu eigenen Erfahrungen lasse, ihnen vielmehr vorschreibe, was sie und wie sie überhaupt von der Welt und in der Welt erfahren dür fen. Ordnung und Harmonie sowie das Fehlen der Kategorie „Vermittlung" zeichnen ein solches Weltbild aus. „Von der Unmittelbarkeit des Naiven zur Unmittelbarkeit des Vernünftigen, von der Unmittelbarkeit des Details zur Unmittelbarkeit des Ganzen, von der Unmittelbarkeit des Einfachen zur Unmittelbarkeit des Komplexen hinzuführen, das ist die Aufgabe, die sich Heimatkunde stellt." Schon im Wort Heimat-Kunde findet Müller (in Anlehnung an Adorno) den Schlüssel für die Problematik dieses Schulfachs. „Kunde“ ist für ihn eine aller Aufklärung abholde Pseudo-Wissenschaft oder, um einen Ausdruck aus der Politologie zu gebrauchen, Herrschaftswissen. In Verbindung mit dem für Müller sowieso ominösen Begriff „Heimat" ist ihm solche Kunde nur der Versuch, bei den Schülern eindeutige Identifikationen mit ihrem Primär-horizont (ihrem „Milieu" in der Sprache von 1923) herzustellen, sie ihre Bindungen vor aller Reflexion bejahen und internalisieren zu lassen. Damit wird zugleich auch ihr Verhalten in späteren Lebensabschnitten vorprogrammiert.

Hinter diesem Erziehungsprogramm steht für Müller ein bestimmtes gesellschaftliches Be-B wußtsein, das vier besonders wichtige Elemente aufweist. Erstens tendiert Heimatkunde dazu, Ordnungskategorien der Natur auch für die menschliche Gesellschaft als gültig hinzustellen. Zweitens entwickelt Heimatkunde im Schüler nur unzureichend ein reflektierendes Bewußtsein, verstärkt hingegen gefühlsmäßige Bindungen. Drittens unterschlägt Heimatkunde die Konfliktträchtigkeit sozialer Beziehungen. Und viertens schließlich gefährdet Heimatkunde eine unvoreingenommene Betrachtung aller nicht der Heimat zugehörigen Regionen und Kulturen dadurch, daß sie dem Schüler einen künstlich provinziell gehaltenen Maßstab aufdrängt. Aus der Geborgenheit wird in dieser kritischen Perspektive Enge, aus Harmonie eine sanfte Art der Unterdrückung.

Weniger als die schwer in eine Erziehungslehre übertragbare Grundsatzkritik Müllers überzeugen seine eher am Rande notierten Beobachtungen zur Praxis der konventionellen Heimatkunde. So ist ihm der Widerspruch aufgefallen, der zwischen dem unleugbaren Tatbestand des sozialen Wandels (wie er sich z. B. im drastischen Absinken der Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten zeigt) auf der einen Seite und dem Beharren der Unterrichtsmaterialien auf der Darstellung kaum noch anzutreffender sozialer Verhältnisse als vorbildlich und repräsentativ auf der anderen Seite besteht. Handelt es sich bei diesem Widerspruch nur um die Auswirkungen eines vielleicht besonders großen , time-lag‘, oder soll er verhaltenssteuernd wirken?

Sowohl die Promotoren als auch die Kritiker von Heimatkunde sind sich über die Auswirkungen dieses Unterrichtsfach auf die poLiti sche Bildung im klaren. Sprangers Konzept erscheint unter diesem Aspekt als eines, das einen Zustand der Gesellschaft (oder eher noch: der Gemeinschaft) erhalten oder wiederherstellen will, der von sozialem und kulturellem Wandel bedroht ist und infolge des Drucks, der von den diesen Wandel begünstigenden Kräften ausgeht, bereits beschädigt erscheint. Daher die immer wieder betonten Appelle zur Erhaltung, zur Unwandelbarkeit, daher die Anrufung • des Statischen und die Beschwörung der Verwurzelung. Für Müller addiert sich das alles zu einer anti-aufklärerischen Ideologie. Heimatkunde will die bestehenden Machtverhältnisse sichern, ist Erziehung zu Gehorsam und Passivität. Heimatkunde produziert „Resignation in die Zukunft".

Der Gestus dieser in vielen Einzelpunkten plausiblen Kritik bringt sie leider um ihre Früchte. Müller führt nämlich seine Argumentation immer wieder auf das Feld einer Grundsatz-Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen von Erziehung überhaupt, und da ist es genauso unmöglich wie z. B. in der parallelen Debatte über „strukturelle Gewalt" zu dem kritischen Impetus angemessenen Lösungen zu gelangen. Es ist unbestreitbar, daß im Erziehungsprozeß jeder Gesellschaft diese ihr Werte-und Normensystem an die Nach-geborenen weitergibt, anderenfalls wäre „Gesellschaft" überhaupt nicht möglich. Ein hohes Maß an „Affirmation" aus dem Erziehungsprozeß verbannen wollen, heißt die Akzentsetzungen darin dem Zufall überlassen. Damit ist nichts gewonnen, auch nicht für das Individuum.

Aufgeklärte Heimatkunde?

Auf dieser Ebene sollte also die Frage nicht lauten: Heimatkunde, ja oder nein, sondern statt dessen: welche Heimatkunde ist heute angemessen? Betrachten wir Konzept und Kritik von Heimatkunde (und wir sollten dazu bewußt unsere eigene Erfahrung mit diesem Schulfach hinzufügen, däs kaum einer der heute über fünfundzwanzig Jahre alten Bürger der Bundesrepublik nicht durchlaufen hat), dann kommen wir nicht umhin, ein Dilemma zu konstatieren. Die Vivisektion der heute in politischen Parteien und Kultusbehörden, unter älteren und jüngeren Lehrern keineswegs überholten Vorstellungen Spran-gers erbrachte ein Füllhorn fehlfarbener Mythologisierungen. Der Bildungswert der Heimatkunde, so das Fazit, ist zusammengefaßt in dem Ideologem vom Totalerlebnis des Menschen, für den Natur und Kultur, Landschaft und soziale Bindungen, sinnliche Eindrücke von der unmittelbaren Umgebung und die Sozialstruktur, Familie, Dorf, Volk und Nation in Abkürzungen eins werden, als ein Ganzes existieren, das so ist, wie es ist, und gut ist und nicht anders sein soll. Und wer daran rüttelt, sollte es lieber bleiben lassen. Ein solches Konzept und seine merkwürdige überlebensund Anpassungsfähigkeit in ver27 schiedenen politischen Systemen fordert zur Kritik heraus. Diese Heimatkunde war 1923 bereits nicht „zeitgemäß" — und sie hat mit der Absicht der Erhaltung und Restauration die Bewegung in anderer Richtung wirkender Kräfte keineswegs aufgehalten, vielmehr beschleunigt. Diese Heimatkunde stellte sich gegen die Modernität, anstatt dafür zu sorgen, daß Modernisierung die Humanität nicht überspielt. Der Nationalsozialismus brachte einen kräftigen Schub Modernisierung, und zwar programmatisch auf Kosten der Humanität. Auf der anderen Seite schießt eine Rundum-

Verdammnis von Heimatkunde weit über's Ziel hinaus. Wenn er auch nicht unbestritten ist, so sollte sich doch der Gedanke durchgesetzt haben, daß es unzeitgemäß ist, die Erziehung zur Wahrnehmung, zum Aushalten und zur Kompromisse einschließenden Lösung von Konflikten zu vernachlässigen, und zwar nicht wegen der Chamäleonhaft wandelbaren Vorlieben des Zeitgeistes, sondern wegen der Struktur-und Bewegungsgesetze unserer hochkomplexen Gesellschaft. Harmonie und Unwandelbarkeit widersprechen allem, was unsere auf Dynamik angelegte Gesellschaft ausmacht. Jedoch muß auch gesehen werden, daß die einseitige Propagierung von Konflikt-verhalten als dem immer „richtigen" Verhalten ein Schritt zurück in eine neue Art von Sozialdarwinismus bedeutet. Dynamik, Mobilität, Wachstum des Bruttosozialprodukts, fortlaufende Modernisierung und Rationalisierung — diese Eigenschaften und selten befragten Ziele unserer Gesellschaft machen das Leben in ihr zu einer beträchtlichen Anstrengung. Dieses Wort scheint mir eine treffende Kennzeichnung für die Majorität der Westdeutschen zu sein: wir leben angestrengt. Anders als 1923 stehen wir heute nicht vor den Trümmern eines Wertsystems, dessen Zusammenbruch in Verbindung mit den damaligen wirtschaftlichen Schwierigkeiten jene „Zerrissenheit" verursachte, die mittels heimatkundlicher „Totalerlebnisse" geheilt werden sollte. Manche Beobachtungen im Alltag der Bundesrepublik erhärten aber den Verdacht, daß unser in den fünfziger Jahren rasch gewachsenes und in den sechziger Jahren nach einigen Herausforderungen allem Anschein nach gefestigtes soziales und politisches Wertsystem, das konsensuale demokratische Grund-verständnis, ein wenig verblaßt ist.

Dies ist sicherlich nicht der einzige, aber doch wohl ein gewichtiger Grund für die langsam gewachsene Distanz eines Teils der Staatsbürger zu den Mechanismen von staatlichem und gesellschaftlichem Leben. Diese manchmal keineswegs unfruchtbare Distanz ist vielen unterschiedlichen Aktivitäten und Haltungen gemein: Bürgerinitiativen, Gruppierungen, die sich den Schutz der Natur, die Erhaltung der Umwelt, die Renovierung alter Bauten usw. als Ziel gesetzt haben. Sieht man einmal von wenigen, nicht entscheidenden politischen Obertönen ab (selbstverständlich möchten viele politische Richtungen von diesen Strömungen profitieren), so handelt es sich bei dieser „Bewegung" trotz all ihrer inneren Heterogenität um einen Reflex auf die „destruktive Seite“ der gesellschaftlichen Dynamik, nicht um eine große, aber um eine kleine „Verweigerung". Daß Zerstörung und Vernichtung eben auch zu dieser Gesellschaft und ihrer Dynamik gehören, sollte auch denen, die das „Kommunistische Manifest“ und seine bewundernden Sätze über die Kraft des Kapitalismus nicht gelesen haben, spätestens seit Schumpeter ein Gemeinplatz sein. Wie kann man sich dazu stellen? Die Sprangersehe Heimatkunde, die wieder zu beleben in dem einen oder anderen Kultusministerium für eine gute Sache gehalten wird, wirkt angesichts der gegenwärtigen Realität vielleicht entlastend, bestimmt aber nicht problemlösend. Sie erzieht zur Flucht in eine Scheinwelt, zum Ausweichen vor der Wirklichkeit. Man wird mit der Wirklichkeit aber nicht fertig, indem man in eine Scheinordnung ausweicht.

Ein aus der Kritik Müllers entwickeltes Gegenkonzept, wenn es sich überhaupt entwik-keln ließe, würde dem Kind seine Umwelt als beliebig und vor allem als stets verbesserungsbedürftig erscheinen lassen. Eine solche Erziehung zu permanentem Einspruch würde nur einen Teil der vorhandenen und benötigten Anlagen des Kindes entwickeln. Es würde sich wie in einem pausenlosen Boxkampf fühlen. Es wäre konfliktbewußt und höchstwahrscheinlich sehr unglücklich.

Es braucht also eine andere Alternative. Der Terminus „aufgeklärte Heimatkunde" klingt vielleicht antiquiert. In Zeiten, in denen Aufklärung sich so geringer Popularität erfreut, wird es jedoch hoffentlich gestattet sein, ihre Dialektik ein wenig in den Hintergrund zu drängen und statt dessen sie selbst etwas mehr zu hofieren. Wie also könnte ein Schulfach „Heimatkunde“, aber aufgeklärt, heute aussehen? Zunächst einmal müßten die Aversionen der konventionellen Heimatkundler gegen komplexe Wohngebilde überwunden werden, Heimat haben nicht nur Dorfbewohner, vorzüglich in den Alpen und in der Heide, oder sonst allenfalls Berliner. Das Severinsviertel in Köln oder die von einer Großversicherung bedrohte Arbeitersiedlung am Rande des Ruhrgebiets sind genauso wertvolle Heimat, übrigens potentiell auch für jene fremdsprachlichen Immigranten, die Gastarbeiter heißen, obwohl viele von ihnen samt ihren Familien sich in der Bundesrepublik fest eingelebt haben und hier bleiben möchten.

Heimatkunde hat sich vor spätbürgerlicher Kulturkritik ebenso zu hüten wie vor jedweder Romantisierung. Anklänge an Numinoses sind überflüssig. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß das Kind und später auch der Erwachsene — natürlich — nicht nur ein rationales Verhältnis zur Umwelt haben, sondern ihre Heimat auch lieben können. Die gefühlsmäßige Verbundenheit mit dieser exemplarisch als Welt empfundenen Umwelt, mit Angehörigen und Freunden, mit der Landschaft, den Häusern, Straßen und Verstecken kann doch ernsthaft von niemandem diskriminiert werden wollen. Sie schließt ja eine kritiklose Hinnahme des Bestehenden nicht ein. Im Gegenteil: gerade die Kindheit ist geprägt von Konflikten, von Furcht und Ängsten, von Verletzungen und einem Teil schlimmer Erfahrungen. Wenn Heimatkunde dies alles nicht verklärt und harmonisiert, die sozialen Beziehungen und Interessen, ihre Geschichte und Entwicklung dagegen zu ihrem Thema macht, wenn sie also über die heimatliche Welt informiert und aufklärt, aber nicht so, daß davon eigentlich gar nichts mehr übrig bleibt, dann wird sie den Menschen mündiger und gleichzeitig auch froher machen, selbstbewußter und damit auch besser gewappnet für ein demokratisches Gemeinwesen.

Der Bildungswert einer aufgeklärten Heimatkunde besteht nicht darin, dem Heranwachsenden über das Mittel der Emotionen ein „geistiges Wurzelgefühl" zu verschaffen, ihm Mobilität, Veränderungen, Konflikte zu verteufeln, ihm seinen Horizont mit der Maßgabe zu beschränken, er habe sich damit abzufinden. Statt dessen soll eine aufgeklärte Heimatkunde die Voraussetzungen für die Erkenntnis schaffen, daß die Bindung an die Heimat zugleich eine bewahrende und eine auf Änderung und Weiterentwicklung hinzielende Komponente umfaßt. Sie soll ihm die gesammelten Erfahrungen, die kollektiven Träume und Erinnerungen seiner Umgebung, seines Dorfes oder Stadtviertels weitergeben und ihm deutlich werden lassen, welche geographischen, biologischen, historischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren sein und seiner Vorfahren und Nachbarn Leben bestimmt und beeinflußt haben, welchen Zwängen die Menschen ausgesetzt waren und aus welchen Gründen und wie sie sich dazu verhalten haben, welche Erträge ihre Mühen gebracht haben und was umsonst war.

Eine solche Heimatkunde ist in einem ganz anderen Sinne als die von Spranger im Kern schon Weltkunde; nicht resignierend-passiv, sonidern aktiv-prüfend. Sie besingt nicht das Bestehende, nur weil es besteht. Sie will nicht einfach integrativ wirken, sondern den Prozeß sozialen Wandels begreifen helfen und die Möglichkeiten seiner Beeinflußbarkeit aufzeigen. Zumal die jetzt überall unternommenen wirtschaftsund sozialgeschichtlichen Regionalstudien können hier den notwendigen historischen Hintergrund bieten.

Eine aufgeklärte Heimatkunde könnte mit dazu beitragen, daß die Attraktivität jener einander entgegengesetzten, aber gleichermaßen gefährlichen Stimmungen des „Alles muß jetzt verändert werden!“ und das „überhaupt nichts läßt sich verändern!" durchschaut wird. Die Bücher dieser Heimatkunde sind wahrhaft, um das Diktum von Martin Walser aufzugreifen, eine Lektüre, die den Atem kürzt.

So betrachtet, erscheinen viele Aktivitäten der kleinen und größeren Gruppierungen in der Bundesrepublik, die sich mit der Erhaltung von natürlicher Umwelt gegen hemmungsloses Wachstum von Autobahnen oder mit der Erhaltung gemeindlicher Kommunikationsstrukturen gegen hypertrophe „Gebiets-reformen" beschäftigen, unabhängig von ihrem parteipolitischen Standort als „progressiv“. Selbstverständlich kann Erhaltung etwas Progressives sein. Die Renaissance der Dialekt-dichtung z. B. bewahrt viele progressive Traditionen vor dem Vergessenwerden.

Die Gefahr bei all diesen Aktivitäten liegt darin, daß sie sich ungewollt eine Ideologie zulegen, die auf eine Verabsolutierung partikularer Interessen und Positionen hinausläuft. Eine solche Ideologie entwickelt ähnliche Anti-Modernismen und Beschränktheiten wie die Sprangersche Heimatkunde, und sie erfüllt dieselben Funktionen, nämlich als Nest für die, die aus der Wirklichkeit unserer Gesellschaft flüchten. Heimat ist aber nicht nur etwas, das erhalten werden muß, sondern auch und sicher vor allem etwas, das geschaffen werden muß. In keinem Buch ist diese eigentümliche Verknüpfung von Rückschau und Vorwärtsstreben besser beschrieben als in dem, dessen Schlußsätze (sogar mit einer akzeptablen Wurzel-Metapher!) als Motto einer aufgeklärten Heimatkunde stehen könnten: „Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Daß Interessen, nicht Ideen, das Handeln der Menschen unmittelbar beherrschen, hat Max Weber geschrieben. Um hinzuzufügen: Aber die Weltbilder, durch welche Ideen geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte. Eine dieser „Weichenstellungen“ ist Gegenstand dieser Untersuchung.

  2. Eduard Spranger, Der Bildungswert der Heimatkunde, Stuttgart 1967’. Die folgenden Zitate Sprangers werden nach dieser Ausgabe zitiert.

  3. Norbert Blüm, in: A. Mitscherlich, G. Kalow (Hrsg.), Hauptworte — Hauptsachen, Zwei Gespräche: Heimat, Nation, Müschen 1971, S. 23.

  4. Vgl. das auf anregende Weise mißlungene Buch über solche Erschöpfung des deutschen Bürgertums nach 1918: Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Frankfurt/M. 1977.

  5. Hermann Bausinger, Volkskultur in der technischen Welt, Stuttgart 1971, S. 90.

  6. Vgl.den Bericht von Eduard Darga, Heimatkunde — ein antiquierter Begriff, in: Lebendige Schule, 18. Jg. 1963, S. 524 ff.

  7. Franz O. Schmaderer, Ist Heimatkunde noch zeitgemäß?, in: Pädagogische Welt, 2. Jg. 1967, S. 519 ff.

  8. Hermann Müller, Affirmative Erziehung: Heimat-und Sachkunde, in: H. -J. Gamm (Hrsg.), Erziehung in der Klassengesellschaft, Einführung in die Soziologie der Erziehung, München 19724.

  9. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959, S. 1628.

Weitere Inhalte

Wilfried von Bredow, Dr. phil., geb. 1944, Professor für Politische Wissenschaft an der Philipps-Universität Marburg, z. Z. Research Fellow am St. Antony's College, Oxford (England). Veröffentlichungen u. a.: Der Primat militärischen Denkens, 1969; Die unbewältigte Bundeswehr, 1972; Vom Antagonismus zur Konvergenz? Studien zum Ost-West-Konflikt, 1973; Film und Gesellschaft in Deutschland (zus. m. R. Zurek), 1975; Aufsätze zur Militärsoziologie, Friedensforschung und Internationalen Politik.