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Das brasilianische Modell: Ende eines WirtschaftsWunders? | APuZ 35-36/1976 | bpb.de

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APuZ 35-36/1976 v Das brasilianische Militär: Garant politischer Stabilität? Das brasilianische Modell: Ende eines WirtschaftsWunders? Gewerkschaften und multinationale Konzerne Artikel 1

Das brasilianische Modell: Ende eines WirtschaftsWunders?

Manfred Nitsch

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die wirtschaftlichen Schwachstellen des brasilianischen Entwicklungsmodells liegen in den Wachstumsaussichten, in der externen Verschuldung, im Verhalten der ausländischen Investoren und in der internen Verteilung. Anhand der entsprechenden Daten werden diese Punkte im einzelnen diskutiert. Dabei zeigt sich, daß konjunkturelle Wachstumseinbrüche, steigende Verschuldung, Überfremdung der dynamischen Industriezweige und Polarisierung der Einkommensverteilung nicht unbedingt zum Scheitern des Modells führen müssen. Entscheidend ist die Abstützung der Ordnung durch legitimierende Faktoren sowie durch die Bereitschaft zur Einräumung weiterer Kredite von außen. Ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des brasilianischen Modells ist die transnationale Integration der brasilianischen Oberschicht in die weltweit dominierende Zivilisation. Berücksichtigt man die Tatsache, daß das koloniale „ancien regime" für Brasilien nie ganz zu Ende gegangen ist, dann lassen sich die Tendenzen zur Verfestigung und Rechtfertigung heterogen-inegalitärer Strukturen im Inneren, die kosmopolitische Orientierung der Ober-und Mittelklasse und die Betonung von Großmachtansprüchen nach außen auf die Frage „Reichsbildung" statt „Nationweidüng" zuspitzen.

I. Zum Interesse an Brasilien

Tabelle 1: 'Wachstumsraten des brasilianischen Bruttosozialprodukts in ausgewählten Perioden

Quelle: Expansion 1976, S. 13. William and Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen BSP G. Tyler, Industrialization Manufactured in Brazil, Export Tübingen

An Brasilien scheiden sich die Geister. Das Interesse an diesem Land wird durch einen Widerspruch gespeist, der vermutlich in jedem von uns liegt und der dann aufbricht, wenn man einem Land mit so krassen sozialen Gegensätzen begegnet. Meiner Erfahrung nach kann man sich erst dann ein einigermaßen objektives Bild von der Realität Brasiliens machen, wenn man zugibt und sich bewußt darauf einstellt, daß zwei Seelen in der Brust des ausländischen Betrachters wohnen: Der aristokratische heimliche Traum, reich, modern und mächtig in einer armen und rückständigen Gesellschaft zu sein, erfüllt sich für den Ausländer, wenn er sich mit der Oberschicht dort identifiziert. In unauflösbarem Widerspruch dazu steht der demokratische Traum von Brüderlichkeit, Gleichheit und Geborgenheit in einer solidarischen Gesellschaft, der gröblich beleidigt wird, wenn der Ausländer sich als Mensch mit den einfachen brasilianischen Menschen identifiziert. Da er jedoch nicht aus seiner Haut heraus kann, muß er diesen demokratischen Traum verdrängen, vertrösten oder gar ins Verbotene abschieben, stellt doch ein wirkliches Ernst-Nehmen eine Bedrohung seiner ganzen Existenz als Angehöriger einer weltweit gesehen privilegierten reichen Oberschicht dar.

Tabelle 6: Zusammenhang zwischen Schulbildung in Brasilien (Durchschnittseinkommen von Analphabeten = 1) Quelle: Fausto Cupertino, A renda no Brasil, Rio de Janeiro 1976, S. 70.

Dieser Widerspruch aktualisiert sich unweigerlich bei der Beschäftigung mit Brasilien. Die Aggressivität in den Diskussionen über das „brasilianische Modell" macht dies immer wieder deutlich. Dies gilt nicht nur innergesellschaftlich, sondern auch für die internationalen Beziehungen: Der Traum, die eigene Position oben in der Weltrangliste zu behaupten und mit einer technologischen Flucht nach vorn zu verteidigen, steht im Widerspruch zum Traum vom Aufholen der Entwicklungsländer. Die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens weckt auch in dieser Hinsicht beim Betrachter häufig Ängste und Wünsche, vielleicht sogar Schadenfreude angesichts der Auswirkungen der gegenwärtigen Weltrezession auf Brasilien. Die Offenlegung solcher interesseleitenden Motive ist daher wohl der einzige Weg, ehrlich und ohne Verklemmung in aller Deutlichkeit zu diskutieren.

Tabelle 7: Rentabilität von Ausgaben für Schulbildung in Brasilien (in v. H.) Quelle: Carlos Geraldo Langoni, transformao, Rio de Janeiro 1975, S. 143

Was interessiert uns nun an der brasilianischen Wirtschaft, wenn wir die angedeuteten Motive berücksichtigen? In erster Linie dürften es die Schwachstellen sein, die verwundbaren Punkte, denn die Haßliebe, mit der das brasilianische „Modell" in der Bundesrepublik und darüber hinaus verfolgt wird, kreist in erster Linie um die Frage Stabilität oder Scheitern.

Als die vermuteten wunden Punkte sollen daher im eigentlich ökonomischen Abschnitt dieses Beitrags behandelt werden:

— die Wachstumsaussichten, — die Verschuldung, — die Auslandsinvestitionen und — die Verteilung.

Im sozio-politischen Abschnitt soll dann als Brücke zu dem Beitrag von Wolf Grabendorff („Das brasilianische Militär: Garant politischer Stabilität?") die Ausstrahlung der Wirtschaftsstruktur auf die sozialen, kulturellen und politischen Strukturen mit Hilfe des Stichworts von der „Heterogenität" untersucht werden. Dabei erweist sich, daß möglicherweise in Brasilien ein politisches Gemeinwesen entsteht, das mit unseren Vorstellungen vom modernen Nationalstaat gar nicht recht zu erfassen ist.

Zunächst also zur Frage nach der Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums, ohne das sich das brasilianische Regime nach der Meinung vieler Beobachter nicht halten könnte.

II. Gesamtwirtschaftliches Wachstum

Tabelle 2: Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung in Brasilien, den USA und der Bundesrepublik Deutschland in ausgewählten Jahren (in US 8, Wert von 1965)

Quelle: Herman Kahn, und Anthony J. Wiener, The Next Thirty-Three Years, 1967; deutsch: Ihr werdet Jahre 2000, Reinbek 1971, S. 169/173. es Betrag BRASILIEN im Verh.

Die goldenen Jahre des „brasilianischen Modells" liegen zwischen 1967/68 und 1973/74 mit jährlichen Wachstumsraten von über 10 v. H. Der nachfolgende Konjunkturabschwung auf Wachstumsraten von ca. 4 v. H. (1975) und 2 — 3 v. H. (prognostiziert für 1976) — bei einer Schrumpfungsrate von durchschnittlich 2, 5 v. H. (1975) in den westlichen Industrieländern noch immer beachtlich — könnte dazu verleiten, von einem Scheitern des „Modells" zu sprechen.

Im historischen Zusammenhang (Tab. 1) zeigt sich jedoch, daß die brasilianische Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten immer in Schüben gewachsen ist; das zyklische Muster von Wachstum und Stagnation läßt sich sogar bis in die Kolonialzeit zurückverfolgen.

An dieser Stelle ist auf den Zusammenhang zwischen Wirtschaftsgeschichte und gegenwärtiger sozio-ökonomischer Heterogenität hinzuweisen: Häufig haben sich bei diesen früheren, produktbezogenen Zyklen (Zucker, Gold, Kakao, Kaffee, Kautschuk) die dynamischen Zentren geographisch getrennt von den alten Zentren entwickelt; dadurch ist die jeweils neue Gesellschaft nicht im Schoße der alten entstanden, sondern an einer anderen Stelle des riesigen Landes; die alte Gesellschaft ist in Dekadenz zurückgelassen worden und die neue ohne Verankerung in den alten Strukturen entstanden. So ist im Laufe einer langen Geschichte Heterogenität als Nebeneinander von ungebremstem Fortschrittsglauben und unangetasteter Rückständigkeit, von altem und neuem Reichtum und alter und neuer Armut zum Merkmal Brasiliens geworden.

Für die Beurteilung des gegenwärtigen Regimes und der gegenwärtigen Wirtschaftslage ist demnach festzuhalten, daß Brasilien seit langem eine ausgeprägte zyklische Wirtschaftsentwicklung genommen hat, daß es also durch den Putsch von 1964 nicht vom Militär aus dem Dornröschenschlaf einer statischen, traditionalen Gesellschaft erweckt worden ist, daß aber auch andererseits das gegenwärtige Regime nicht für ein historisches Erbe von Massenarmut und Heterogenität verantwortlich gemacht werden kann.

Bei näherer Betrachtung der Zyklen seit 1920 (Tab. 1) zeigt sich etwa folgendes Bild: Vor der Weltwirtschaftskrise sind die Kaffeexporte der wichtigste dynamische Faktor, während der Aufschwung nach 1933 vor allem binnenmarktorientiert ist. Im verarbeitenden Gewerbe werden zwischen 1932 und 1939 Wachstumsraten von jährlich fast 12 v. H. erzielt, die erst im Boom Anfang der siebziger Jahre wieder erreicht und knapp übertroffen werden.

Diese importsubstituierende Industrialisierung wird nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt. Man hat diese Phase mit dem Ausdruck „Entwicklung nach innen" bezeichnet, und in der Tat geht es um die Ausweitung der einheimischen Produktion für den Binnenmarkt. Das bedeutet, daß die Massen wirtschaftlich als Produzenten und als Konsumenten in das nationale ökonomische System eingegliedert werden. Politisch läuft seit dem Ende der zwanziger Jahre der Nationalismus von Getülio Vargas und seinen Nachfolgern mit diesen ökonomischen Prozessen parallel. Gegen Ende der fünfziger Jahre — in der Amtszeit des Staatspräsidenten Kubitschek — wandelt jedoch der Industrialisierungsprozeß seinen Charakter: Erstens lassen sich zunehmend ausländische Unternehmen in Brasilien nieder, so daß es nicht mehr einheimische Betriebe sind, welche vormals importierte Güter produzieren; zweitens ist die „leichte" Industrialisierungsphase insofern abgeschlossen, als der zuvor durch Importe belieferte Markt weitgehend ausgeschöpft ist. Nun erfolgt die Ausdehnung der Produktion zumindest teilweise durch den Einbruch der neuen Produkte (z. B. Automobile und Haushaltsgeräte) in die Produktions-und Einkommenssphäre der einheimischen Betriebe.

Während also ökonomisch das entsteht, was man „assoziierte Entwicklung" genannt hat, nämlich die Verflechtung des modernen Sektors in das globale industrielle System, bleibt politisch der Nationalismus die wichtigste Kraft — und es entsteht als Reaktion auf „Überfremdung" und „Ausverkauf eine breite Welle von nationalistischer Mobilisierung. Mit der Mobilisierung steigen die Ansprüche, die Investoren ziehen sich zurück, und so kann der Putsch von 1964 als Gleichschaltung von Ökonomie und Politik interpretiert werden: Nachdem ökonomisch bereits der nationalkapitalistische Weg zugunsten der globalen Verflechtung durch transnationale Unternehmen aufgegeben worden ist, wird auch politisch der nationalistische Weg abgebrochen, jedenfalls insoweit, als „Nationalismus" für politische Mobilisierung und sozio-ökonomische Homogenisierung steht.

Nach dem Putsch dauert die Konsolidierungsphase bis 1967. Die ausländischen Investoren warten ab, und die brasilianische Wirtschaftspolitik setzt vergeblich auf eine neue Dynamik durch die einheimischen Unternehmen. Dann fallen ab 1967/68 eine Reihe von Bedingungen und Ereignissen zusammen, die die goldenen Jahre bis zur Energiekrise und Rezession bestimmen: export-und investitionsfördernde wirtschaftspolitische Maßnahmen, steigende Nachfrage auf den Weltmärkten nach brasilianischen Rohstoffen und Fertigwaren bei anfangs unausgelasteten Produktionskapazitäten, Expansion der transnationalen Unternehmen in Brasilien bei relativ instabilen Verhältnissen in den Nachbarländern (vor allem Argentinien und Chile), politische Ruhe nach der Zerschlagung der Stadtguerilla, der völligen Entmachtung des Parlaments und der Übernahme der Präsidentschaft durch Medici.

Schließlich ist auch noch ein psychologisches Element bei den tonangebenden Gruppen zu berücksichtigen: Im Jahre 1967 veröffentlichen die amerikanischen Zukunftsforscher Kahn und Wiener ihren Bestseller „The Year 2000", der in Brasilien einen Schock auslöst und Wachstum um jeden Preis zum Ziel Nummer Eins der Wirtschaftspolitik werden läßt. Der Schock besteht darin, daß klar wird, wie weit Brasilien noch hinter den Industrie-ländern herhinkt (Tab. 2), mit denen es seinen industriellen Sektor, seine Konsumansprüche, sein Kommunikationssystem und sein Selbstverständnis, also das ganze Leben seiner herrschenden Schichten, verbunden hat. überdies wird für Brasilien bis zum Jahre 2 000 nicht nur ein mäßiges Wirtschaftswachstum prognostiziert, sondern auch eine Erhöhung des relativen Abstands zu den USA von 1: 13 auf 1 : 20 und des absoluten Abstands von etwas über 3 000 US $auf fast 10 000 US $(Wert von 1965). Zu dem für Brasilien zweitwichtigsten Partner, der Bundesrepublik Deutschland, werden noch größere Zunahmen in den Abständen vorhergesagt.

Nachträglich zeigt zwar ein Blick auf die Zahlen der siebziger Jahre (nach Weltbank-Atlas 1975), wie sehr sich die Futurologen — jedenfalls bislang — im Hinblick auf das brasilianische Wachstum und den Abstand zu den USA (1 : 8 im Jahre 1973) verschätzt haben, aber es zeigt sich auch, daß der Abstand zwischen Brasilien und der Bundesrepublik trotz des brasilianischen Booms seit 1965 noch immer nicht geringer geworden ist.

Zurückblickend auf 1967/68 wird verständlich, daß für die brasilianischen Technokraten damals in den Projektionen die Gefahr einer als ungeheuer empfundenen Deklassierung deut-lieh geworden ist, die Gefahr eines schrecklichen Abstiegs von der „zivilisierten" westlichen Welt in die „unterentwickelte" Dritte Welt.

Erst später hat die OPEC bewiesen, daß der Dritte-Welt-Status eines Landes Macht und Reichtum nicht ausschließt, sondern im Gegenteil eher für Entwicklung und aufkommende Macht steht als die Zugehörigkeit zur wachstumsskeptischen und weithin ökonomisch stagnierenden Ersten Welt. Seither ist auch Brasilien stärker als nur taktisch auf eine Dritte-Welt-Position eingeschwenkt, hält sich jedoch auch die Tür zum Westen noch so weit wie möglich offen.

In den Jahren 1967/68 steht „Dritte Welt" jedoch noch für Armut, Unterentwicklung und Stagnation. Um also nicht abzugleiten und nicht aus der „zivilisierten Welt" herauszufallen, suchen die Brasilianer nach Entwürfen für die Gestaltung der Zukunft. Dabei können sie in diesen Jahren nicht nur auf die wirtschaftswissenschaftliche Literatur mit ihrer neuen Betonung des Fertigwarenexports als Wachstumsmotor zurückgreifen, sondern auch auf die damals üblichen Thesen der international verbreiteten populären Futurologie: In einer Welt ohne Grenzen ist der Nationalstaat überholt, der Außenhandel zwischen Nationen wandelt sich zur internationalen Produktion im Rahmen von transnationalen Großunternehmen, welche Schrittmacher zu der „Einen Welt" sind und geradezu paradiesisch mühelos die Versorgung der Menschheit mit Gütern aller Art sicherstellen; die Wirtschaftsstruktur wandelt sich von der Industriegesellschaft zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft; die Welt ohne Uniformierung duldet die verschiedensten Lebensstile und Loyalitäten in kleinen oder großen Gruppen auch quer zu den Staatsgrenzen; Ausbildung und Wissen sind die entscheidenden Produktionsfaktoren, nicht mehr Boden, Kapital oder Arbeit mit den ihnen entsprechenden überholten Gesellschaftssystemen Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus.

Die internationalen Zeitströmungen von Ökonomie und Futurologie in dieser Periode sind deshalb so wichtig, weil es kaum eine innerbrasilianische ökonomische Fachdiskussion gibt (erst 1974 wurde in Brasilien die erste Hochschule errichtet, in der die Promotion in Wirtschaftswissenschaften möglich ist) und weil gerade die aufgezählten Elemente der internationalen Diskussion nahtlos in die brasilianische Tradition passen und in der Tat den weiteren Entwicklungspfad und seine Struktur mit prägen. „Jenseits des gerade erst Modernen" — so der Titel eines symptomatischen soziologischen Buches aus Brasilien — sollen sich der alte brasilianische und der neue transnationale Kosmopolitismus verbinden, und schließlich werden so die von den Nationalisten aller Schattierungen beklagten Kennzeichen von Abhängigkeit und struktureller Heterogenität zu eher positiv gewerteten Merkmalen der zukünftigen Welt.

Inzwischen ist nach der Energiekrise die Euphorie allgemein verflogen; gerade in der Dritten Welt, auch in Brasilien, hat sich die Rolle des Staates eher gefestigt; die Auslandsinvestitionen werden mit kritischeren Augen gesehen; vom brasilianischen „Wirtschaftswunder" und vom überspringen von Stufen auf dem Weg in die Zukunft ist nicht mehr die Rede.

Zur Dämpfung der Nachfrage nach Importen sind eine Reihe von Maßnahmen erlassen worden, und eine neue Phase der Importsubstitution ist diesmal für die Investitionsgüter-industrie ausgerufen worden. Da die großen transnationalen Unternehmen sich im beginnenden konjunkturellen Wiederaufschwung bei ihren Investitionen zunächst auf die Werke in ihren Heimatländern zu konzentrieren scheinen, zielen die Maßnahmen vor allem auf eine Stärkung der Investitionstätigkeit bei den brasilianischen Unternehmen im privaten und im staatlichen Sektor. Dadurch könnte es gelingen, die Auswirkungen der in Brasilien zeitlich etwas verzögerten Weltrezession in erträglichen Grenzen zu halten. Es gibt für diejenigen, die in Brasilien Investitionsentscheidungen treffen, seien es Inländer oder Ausländer, Staatsfunktionäre oder Privatleute, eigentlich kaum Gründe, sorgenvoll und pessimistisch in die Zukunft zu blicken, zumal wichtige Wachstumsimpulse wie beispielsweise Roffstoffexporte eher zeitlich synchron mit der Weltkonjunktur verlaufen dürften.

Wenn also das „Investitionsklima" im Lande gut bleibt, erscheint es nicht ausgeschlossen, daß Brasilien die weltweite Wachstumskrise ohne allzu tiefgreifende Änderungen seines „Modells" durchsteht, es sei denn, man sieht die erwähnten Anpassungen bereits als tief-greifend an.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Fortsetzung des mehr oder weniger stark modifizierten Modells ist allerdings, daß die chronischen Zahlungsbilanzprobleme weiter durch Rückgriff auf ausländische Kredite gelöst werden können.

Damit wird die Verschuldungsfrage angesprochen, die im folgenden etwas genauer untersucht werden soll.

III. Externe Verschuldung

Tabelle 3: Gegenüberstellung der Indizes für das Auslandskapital und das Bruttoinlandsprodukt in Brasilien (1963 = 100) Jahr Index des realen Nettoauslands-kapitals 1) Index des realen Bruttoinlandsprodukts

Die Mittel für Investitionen, auf denen wirtschaftliches Wachstum beruht, können entweder im Inland durch Konsumverzicht, also Ersparnis, aufgebracht werden, oder es wird ausländisches Kapital in Gestalt von Direktinvestitionen oder Krediten ins Land geholt.

Im Hinblick auf die interne Ersparnis fällt bei den brasilianischen Zahlen auf, daß die Sparquote (Anteil der Ersparnis am Bruttosozialprodukt) mit ca. 15 v. H. auf einem im internationalen Vergleich niedrigen Stand zwischen 1947 und 1972 fast gleich geblieben ist. Das widerspricht der ökonomischen Lehrbuchweisheit, nach welcher ein steigendes Einkommen mit prozentual höherer Ersparnis einhergeht. In Brasilien haben jedoch die steigenden Pro-Kopf-Einkommen nicht zu höherer Ersparnis geführt, und auch die Umverteilung zugunsten der Bezieher höherer Einkommen hat die gesamtwirtschaftliche Sparquote nicht erhöht.

Dies kann man nicht nur als Indiz für die hohe Konsumneigung der brasilianischen Oberschicht (die sich selbst allerdings „Mittelklasse" nennt) ansehen, sondern es müßten bei genauerer Analyse die Probleme der statistischen Erfassung und die generelle Frage nach der Angemessenheit der üblichen Konzepte von ökonomischer Theorie auf die Situation in Entwicklungsländern berücksichtigt werden. Für die Prüfung des Verschuldungsproblems ist nun wichtig, daß die Sparquote seit 1972 angestiegen ist — wichtig deshalb, weil nur aus erhöhter inländischer Ersparnis letztlich die Auslandsschulden ohne große Wachstumseinbrüche zurückgezahlt werden können.

Noch in einem zweiten Punkt ist die Sparquote für die Erörterung des Verschuldungsproblems interessant: Trotz ihres relativ geringen Umfangs hat die inländische Ersparnis (bis auf die letzten Jahre, über die noch keine genauen amtlichen Statistiken vorliegen) stets etwa 90 v. H.der Bruttoinvestition finanziert und das Auslandskapital die restlichen 10 v. H. Andere Entwicklungsländer haben dagegen über längere Zeit häufig sehr viel mehr als 10 v. H. ihrer Investitionen mit ausländischem Kapital finanziert. Das bedeutet, daß das brasilianische „Modell" — jedenfalls bis zum Ende seiner goldenen Jahre — nicht mit Ausdrücken wie „Boom auf Pump" abgetan werden kann. Es bedeutet jedoch nicht, daß das Auslandskapital mehr oder weniger exakt 10 v. H.der brasilianischen Wirtschaft beherrscht, denn einerseits nehmen die brasilianischen Töchter von ausländischen Unternehmen auch die inländische Ersparnis in Anspruch und andererseits können ausländische Anleihen des brasilianischen Staates nicht ohne weiteres mit „Beherrschung" gleichgesetzt werden. Außerdem ist mit der Angabe, 10 v, H.der im Laufe eines Jahres vorgenommenen Bruttoinvestitionen seien mit ausländischem Kapital finanziert, noch nichts über den Bestand an Auslandskapital zu einem Stichtag ausgesagt; dazu müßte sehr viel weiter in die Vergangenheit zurückgegangen und vieles mehr berücksichtigt werden. Die Vermutung, daß es sich in den goldenen Jahren des brasilianischen „Modells" nicht um einen „Boom auf Pump" gehandelt hat, wird auch durch die Gegenüberstellung des Wachstums von Auslandskapital und Brut-toinlandsprodukt gestützt (Tab. 3). Während das Auslandskapital bis 1963 stärker steigt als das Sozialprodukt, ist es seit Beginn des derzeitigen Regimes im Jahre 1964 gerade umgekehrt. Erst ab 1973/74 steigt die Verschuldung Brasiliens unter Einschluß der Auslandsinvestitionen stärker, und zwar erheblich stärker als das Bruttoinlandsprodukt. Bis Ende 1976 ist mit annähernd 30 Milliarden US $zu rechnen, womit eine international bedeutsame Dimension erreicht ist. Gleichzeitig erhöht sich das Verhältnis zwischen Auslandsschulden und Exporten drastisch, so daß ein immer größerer Teil der Importe auf Kredit gekauft wird. Dabei spielen die folgenden konjunkturellen und strukturellen Faktoren eine wichtige Rolle:

Erstens müssen die seit der Ölpreiserhöhung entstehenden Überschüsse der OPEC-Länder sich logischerweise in Defiziten anderer Länder, zu denen Brasilien gehört, niederschlagen. In der internationalen Kreditkette treten überdies die OPEC-Länder mit ihren hohen Überschüssen als „letzte Gläubiger" nicht unbedingt an die Stelle, sondern häufig neben die alten Kreditgeber, so daß die „letzten Schuldner" der Kette zusätzliche Kredite in Anspruch nehmen können, oder man kann es auch so ausdrücken, daß sie die Last der Olde-fizite zusätzlich zu tragen haben. Diese Umformulierung soll den Doppelcharakter von Verschuldung deutlich machen, wird der Schuldner durch die Hereinnahme fremden Kapitals doch nicht nur in die Lage versetzt, in der entsprechenden Periode mehr zu konsumieren und zu investieren als ohne dieses Kapital, sondern er belastet auch seine Zukunft mit einer Hypothek.

Zweitens haben die Industrieländer in der Rezession aus beschäftigungspolitischen Gründen versucht, ihren Export auszuweiten und ihren Import zu drosseln, also über die Weiterwälzung der Oldefizite hinaus die Beschäftigungslage durch Exportförderung und durch Importrestriktionen zu verbessern. Brasilien bekam an verschiedenen Stellen diesen Mechanismus zu spüren, beispielsweise einerseits bei der Behinderung seiner Schuhexporte in die USA und seiner Rindfleischexporte in die Europäische Gemeinschaft sowie andererseits beim Eingehen ausländischer Partner auf die Kreditierung umfangreicher Importe für Groß-projekte, etwa beim deutsch-brasilianischen Nuklearvertrag.

Drittens schließlich hat der Rückgang der Kreditnachfrage der Privatwirtschaft in der globalen Rezession den internationalen Finanzsektor veranlaßt, den Kreditrahmen für verschuldungsbereite Länder wie Brasilien erheblich auszuweiten.

Durch all diese Faktoren sind internationale Kreditverflechtungen mit ganz neuen, bisher unbekannten Größenordnungen entstanden. Die Handhabung der damit verbundenen Probleme stellt neue Anforderungen an bilaterale und multilaterale, private, staatliche und zwischenstaatliche Institutionen. Es läßt sich nicht absehen, ob der dem Kreditvolumen nachhinkende institutioneile Mechanismus des internationalen Finanzwesens im Verlauf des Anpassungsund Lernprozesses Bankzusammenbrüche und krisenhafte Zuspitzungen des Verschuldungsproblems großer Schuldnerländer erfahren wird; auch das Ergebnis der internationalen Verhandlungen über langfristige Moratorien für Entwicklungsländer zeichnet sich noch nicht ab.

Um die Frage nach der Verwundbarkeit des brasilianischen „Modells" durch eine bevorstehende Verschuldungskrise wirklich beantworten zu können, müßte man jedoch über diese größeren Zusammenhänge Gewißheit haben. Da Kredit nun einmal keine natürliche Knappheit wie eine Ware besitzt, 1 sondern lediglich von der Bereitschaft auf beiden Seiten und vom Vertrauen abhängig ist, sind Verschuldungskrisen wohl in der Regel nicht als primäre Auslöser von tiefgreifendem Regime-wandel zu erwarten, sondern eher als Folgeerscheinungen von Vertrauenskrisen mit anderen Ursachen. Eine dieser möglichen Ursachen liegt in dem stets delikaten Verhältnis zwischen Staat und Auslandsinvestitionen, auf das hier kurz anhand von einigen Überlegungen und Zahlen einzugehen ist.

IV. Auslandsinvestitionen

Tabelle 3: Gegenüberstellung der Indizes für das Auslandskapital und das Bruttoinlandsprodukt in Brasilien (1963 = 100) Quellen: Fundao Getülio Vargas, Conjuntura econömica (verschiedene Hefte); ab 1975 eigene Schätzungen auf Grund von Pressemeldungen u. ä. - besonders für 1976 mit sehr hohem Grad an Unsicherheit

. I Kürzlich ist in Brasilien die Möglichkeit geschaffen worden, daß ausländische Ölgesellschaften aufgrund sogenannter „Risikoverträge" wieder im Lande bei der ölsuche und ölförderung aktiv werden und investieren können. Bei dieser Gelegenheit hat sich gezeigt, daß das Anfang der fünfziger Jahre von Getülio Vargas gegen erbitterten Widerstand durchgesetzte Ölmonopol der staatlichen Gesellschaft PETROBRAS noch immer ein wichtiges Symbol für die Unabhängigkeit des Landes ist. Das Rütteln an dieser Bastion der Na-tionalisten aller Schattierungen hat trotz Pressezensur und trotz der in dieser Zeit erfolgten „Kassierung" von Abgeordnetenmandaten erhebliche Wellen geschlagen. Es läßt sich vermuten, daß auch den politischen Verantwortlichen, an der Spitze Staatspräsident Geisel, dem früheren Chef von PETROBRAS, die Entscheidung nicht leichtgefallen ist und daß ein entscheidendes Motiv gewesen ist, über den Olsektor hinaus eine positive Reaktion von Seiten der internationalen Geschäfts-und Finanzwelt hervorzurufen. Sollten die transnationalen Unternehmen allerdings tatsächlich, wie oben angedeutet, im Aufschwung zunächst vorwiegend in ihren Hei -matländern investieren und Investitionen in Ländern wie Brasilien zurückstellen, dann könnte ein Aufschaukeln zwischen der Kritik der brasilianischen Nationalisten am „Ausverkauf Brasiliens", der dadurch verstärkten Investitionsunlust der ausländischen Unternehmen und der dadurch weiter begründeten und verschärften Kritik möglicherweise sehr schnell zu einer rasanten Talfahrt der brasilianischen Wirtschaft und damit zu einer wirklichen Regimekrise führen.

Dabei muß man wissen, daß von den 50 größten Unternehmen nur fünf in privater brasilianischer Hand sind, während zwölf ausländisch und 33 staatlich sind. Auch über diese 50 größten Unternehmen hinaus ist im allgemeinen das Bild so, daß die traditionelle Industrie und Landwirtschaft, einige große Finanzunternehmen und der sogenannte „informelle Sektor" der Kleinbetriebe in privater brasilianischer Hand sind, während die staatlichen Unternehmen vorwiegend in der Infrastruktur, der Grundstoffindustrie und im überwiegenden Teil des Finanzsektors zu finden sind; das ausländische Kapital hat sich vorwiegend im dynamischen modernen Teil des industriellen Sektors und teilweise auch der Landwirtschaft, des Bergbaus und des tertiären und ist in der Infrastruktur installiert nur noch mit einigen, langem eta seit -blierten Großunternehmen und in der Grundstoffindustrie vorwiegend mit „joint Ventures", d. h. Gemeinschaftsunternehmen von ausländischen und brasilianischen privaten oder staatlichen Partnern, beteiligt. Die Schätzung über den Anteil ausländischer Unternehmen an der Gesamtproduktion von Fertigwaren in Brasilien und am Export von Fertigwaren liegen bei etwa 50 v. H.

Nun kann hier keine Aufarbeitung der ganze Bibliotheken umfassenden Literatur über transnationale Unternehmen in Entwicklungsländern geleistet werden; es sollen lediglich die beiden für Brasilien im hier betrachteten Zusammenhang besonders aktuellen Problemkreise angerissen werden, nämlich die Ordnungspolitik und der kulturelle Aspekt.

Ordnungspolitisch, also unter dem Aspekt der Bestimmung der Rahmenbedingungen für das wirtschaftliche Verhalten der einzelnen, läßt sich das Problem der Auslandsinvestitionen in der Wirtschaftsordnung Brasiliens mit dem Schlagwort „Kapitalismus ohne Kapitalisten" kennzeichnen; Die großen Investitionsentscheidungen, durch welche die Zukunft des Landes festgemauert wird, fallen für die ausschlaggebenden dynamischen Teile der Wirtschaft entweder in den staatlichen technokratisch-militärischen Gremien oder im Ausland in den Konzernzentralen. Das „assoziierte" einheimische Unternehmertum ist im Vergleich zu diesen beiden Gruppen relativ schwach. Es ist auch keinem brasilianischen Unternehmer zu verdenken,'daß er sich bei großen industriellen Investitionen zurückhält, solange er damit rechnen muß, daß ein technisch überlegenes transnationales Unternehmen oder ein Staatsbetrieb vielleicht ein Konkurrenzwerk errichtet und ihm den Markt abnimmt.

Nun haben sowohl der staatliche als auch der vom Ausland beherrschte Sektor jeweils ihre spezifischen Schwachstellen. In einer sich vorwiegend privatkapitalistisch-marktwirtschaftlich verstehenden Wirtschaftsordnung haben Staatsbetriebe einen schwierigen Stand beim Nachweis ihrer legitimen Existenzberechtigung: machen sie Verlust, gelten sie leicht als bürokratisiert, korruptionsanfällig und ineffizient, machen sie dagegen Gewinn, dann gilt das als Beweis dafür, daß die Rolle des Staates dort überflüssig ist und man die Aufgabe ebensogut und sogar besser der Privatwirtschaft übertragen könne und solle.

Hinter dieser unter dem Stichwort „estatizao" (Verstaatlichung) in Brasilien immer wieder aufkommenden Diskussion steht ein allgemeineres, besonders in der Dritten Welt zu beobachtendes Phänomen: Die Auffassung von einem ganzen Land als einem großen Staatsbetrieb, als „Domäne" einer „Staatsklasse", die unter Berufung auf die nationale Souveränität im eigenen Land nach Belieben schalten und walten kann. So würden die oben erwähnten „überholten" Gesellschaftsmodelle Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus gerade nicht durch ein Absterben des Nationalstaats, sondern umgekehrt durch ein staatswirtschaftlich-neomerkantilistisches Wirtschaftssystem mit absolutistischen Zügen abgelöst. Wiederum lassen sich hier Kennzeichen aus der Zeit vor dem Siegeszug des bürgerlichen Nationalstaats finden, die in Brasilien ein ganz anderes Verhältnis zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft erwarten lassen als in den Industrieländern.

Der Ausbau des staatlichen Sektors in der brasilianischen Wirtschaft ist vor allem als Widerlager zu dem Vordringen der transnationalen Unternehmen zu verstehen. Diese machen eine Volkswirtschaft vor allem dadurch krisenanfällig, daß sie sich bei innergesellschaftlichen Konflikten aus einem ganzen Land „abmelden" können. Die Gegenüberstellung der Dispositionen der US-Unternehmen während des Jahres 1974 im politisch unruhigen Argentinien einerseits und im lediglich ökonomisch von der Ölkrise betroffenen Brasilien andererseits (Tab. 4) zeigt, wie ausschlaggebend das „Investitionsklima" ist: Der Bestand an US-Direktinvestitionen am Jahresende ist in Brasilien nur dreimal so hoch wie in Argentinien. Der Nettokapitalabfluß aus den USA im Laufe des Jahres ist jedoch nach Brasilien 27mal so hoch; die reinvestierten Nettoerträge sind in Argentinien negativ, in Brasilien dagegen belaufen sie sich auf über 300 Millionen Dollar. Wenn die Guerilla in Argentinien bei der Entführung von Managern transnationaler Unternehmen ansetzt, dann berührt sie in der Tat einen der verwundbarsten Punkte der sozio-ökonomischen Ordnung im sogenannten „peripheren Kapitalismus". Ein stark auf die Aktivität von Staatsbetrieben und transnationalen Unternehmen gebautes kapitalistisches Wirtschaftssystem ist also wohl stets durch die schwankende Existenzgrundlage seiner Staatsbetriebe und durch das erwähnte Aufschaukeln von nationalistischem Protest gegen „Ausverkauf" und ausländischer Investitionszurückhaltung gefährdet. Neben dem ordnungspolitischen Aspekt ist bei den transnationalen Unternehmen der kulturelle Aspekt besonders problematisch: Sie tragen erheblich dazu bei, daß die brasilianische Oberschicht nach Konsumstandard, Einkommenserwartung und Produktionstechnologie, also der Ausstattung der Haushalte wie der Arbeitsplätze in Fabrik und Büro, in die global dominierende, kosmopolitische Kultur einbezogen wird. Dementsprechend richten sich die Erwartungen der Mittel-und Unter-schichten ebenfalls auf diese Konsumgüter und diese Arbeitsbedingungen, ohne daß angesichts des oben dargestellten Abstandes im Pro-Kopf-Einkommen von ca. 1: 8 (s. Tab. 1)

zwischen Brasilien und den Heimatländern der transnationalen Unternehmen auch nur die geringste Chance besteht, in absehbarer Zeit zu vergleichbaren wirtschaftlichen Zuständen zu kommen.

So wird gerade von brasilianischen Ökonomen immer wieder auf die „Verzerrung" der Konsumstruktur, auf den „consumismo" als ein von den transnationalen Unternehmen im Verbrauchsgütersektor ständig neu verstärktes Element der Abhängigkeit hingewiesen.

Dabei wird „Verzerrung" sowohl auf die durchschnittliche Armut des Landes bezogen als auch auf die Kluft zwischen den elementaren menschlichen Bedürfnissen einerseits und der von Werbung zugunsten nicht lebensnotwendiger Güter beeinflußten Ausgabenstruktur der Haushalte besonders der unteren Schichten andererseits. Bei offensichtlichem Massenelend, Hunger, Kindersterblichkeit, Krankheit und Wohnungsnot zählt das in den Industrieländern recht plausible Argument von der „Konsumentensouveränität" wenig.

Auf der anderen Seite zahlen die ausländischen Unternehmen ihren brasilianischen Geschäftsführern, höheren Angestellten und teilweise auch ihren hochqualifizierten Meistern und Vorarbeitern etwa die gleichen Gehälter wie in den Industrieländern. Da auch hier der Lebensstandard steigt, ist es interessant, einmal der Frage nachzugehen, was eigentlich geschieht, wenn diese brasilianischen Angestellten — und ihre Kollegen in den Staatsbetrieben, in der Verwaltung und im Militär, die vergleichbare Gehälter beziehen — mit dem wachsenden Wohlstand ihrer amerikanischen oder deutschen Kollegen in denselben Unternehmen in deren Heimatländern Schritt zu halten versuchen. Die 3 OOO-$-Wirtschaft und -Gesellschaft der Bundesrepublik wächst bei einem Wirtschaftswachstum von 2 v. H. mit Nullwachstum der Bevölkerung pro Jahr um 60 8 pro Kopf; dementsprechend verändern sich über die Jahre der Konsumstandard und die Ausstattung der Die Arbeitsplätze.

420-$-Wirtschaft Brasiliens wächst selbst bei 10 einer Wachstumsrate von v. H. mit einem Bevölkerungswachstum von 2, 5 v. H. nur um 7, 5 v. H. pro Kopf; das sind 32 8. Wenn die brasilianischen Ober-und Mittelschichten sich jedoch den jährlichen deutschen Durchschnittszuwachs von 60 $aneignen wollen, dann ist spätestens für das unterste Drittel der brasilianischen Bevölkerung rein rechnerisch nichts mehr übrig zum „Durchsik-kern".

Weil die Frage danach, ob in Brasilien der offensichtlich wirtschaftliche Fortschritt der oberen Schichten nach unten durchsickert oder nicht, über die Problematik der transna -tionalen Unternehmen hinausgeht und das gesamte Verteilungsproblem — als eine weitere Schwachstelle des „Modells" — aufwirft, sollen im folgenden zunächst ein paar statistische Zahlen zur Verteilung in Brasilien als Grundlage für die Diskussion herangezogen werden

V. Verteilung

Tabelle 4: Gegenüberstellung der US-Direktinvestitionen in Argentinien und Brasilien im Jahre 1974 (Mio US $) Quelle: US Department of Current Business, October 1975, S. 52 ff.

Die allgemein verbreitete Überzeugung, daß die Einkommensverteilung in Brasilien während der vergangenen Jahre ungleichmäßiger geworden ist, wird durch die offiziellen Statistiken bestätigt (Tab. 5).

Dabei ist Brasilien bereits im Jahre 1960 eines der Länder mit der höchsten Einkommens-konzentration. Das unterste Drittel der Bevölkerung hat seinen Anteil am Volkseinkommen zwischen 1960 und 1970 leicht verringert, während das oberste Fünftel seinen Anteil erheblich erhöht hat. Die mittleren Schichten haben — entgegen der üblichen Meinung über wirtschaftliches Wachstum — ihren Anteil besonders stark verringert. Noch deutlicher wird die Scherenentwicklung zwischen arm und reich, wenn die jährlichen Steige-rungsraten des Einkommens der drei Gruppen verglichen werden. Die um die Mitte der Einkommensskala liegende Hälfte der Bevölkerung hat mit einer Rate von 1, 2 v. H. p. a. die geringste Einkommenssteigerung zu verzeichnen, während die Einkommen der untersten 30 v. H. mit 2, 2 v. H. p. a. fast doppelt so stark gewachsen sind; am meisten jedoch sind die Einkommen der obersten 20 v. H. mit 5, 1 v. H p. a. gestiegen, und wenn man etwas genauer in die Statistik eindringt, dann zeigt sich, daß die obersten 5 v. H. und die obersten 1 v. H.der Bevölkerung mit 7, 5 bzw. 7, 4 v. H. p. a. die bei weitem höchsten Steigerungsraten aufweisen.

Diese Tendenz, die von dem früheren Finanzminister Delfim Neto auf die Formel „crescer e concentrar" (Wachstum heißt Konzentration) gebracht worden ist, hat sich auch allem Anschein nach über 1970 hinaus fortgesetzt; sie ist zweifellos als eines der wichtigsten Strukturmerkmale des brasilianischen „Modells" anzusehen. Bevor die Frage der Stabilitätsbedingungen des „Modells" von dieser Seite der scherenmäßigen Auseinander-entwicklung der Einkommen her zu erörtern ist, sind einige Bemerkungen zu den Ursachen und Mechanismen notwendig, auf welche die unterschiedliche Entwicklung der Einkommen in den drei in der Tabelle unterschiedenen Gruppen zurückzuführen ist.

Die beiden wichtigsten Faktoren zur Erklärung des besonders geringen Einkommens-wachstums bei den „Mittelschichten" im Sinne von Gruppen zwischen dem untersten und dem obersten Viertel der Bevölkerung sind die Lohnpolitik und das Industrialisierungsmuster. Die Lohnpolitik der brasilianischen Regierung verfügt im wesentlichen über zwei Instrumente: Mindestlohn und jährliche Lohn-B anpassungsrate. Zwischen 1964 und 1973 ist der Index der realen Mindestlöhne (1965 = 100) in Rio de Janeiro von 108 auf 90, in Säo Paulo von 105 auf 78 gefallen, in den Regionen mit dem niedrigsten Mindestlohn allerdings von 69 auf 122 (1972) gestiegen. Darin könnte man einen Hinweis auf die strukturelle politische Machtverschiebung durch den Putsch von 1964 sehen: Die städtische Ober-und Mittel-schicht (die sogenannte „classe media") hat die nationalpopulistische Koalition zwischen der städtischen Arbeiterklasse mit ihrem Interesse an relativ hohen Mindestlöhnen in den Städten und der ländlichen Grundbesitzerklasse mit ihrem Interesse an niedrigen Mindestlöhnen auf dem Lande abgelöst. Nun ist unbestritten, daß in vielen städtischen Bereichen über dem Mindestlohn liegende Löhne gezahlt werden und daß gerade auf dem Lande auch häufig weit unter dem gesetzlichen Minimum entlohnt wird; da jedoch etwa die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung um den Mindestlohn herum verdienen dürfte, ist seine Festsetzung doch nicht so irrelevant, wie zuweilen zu lesen ist.

Das zweite Instrument neben dem Mindestlohn ist die jährliche lineare Lohnanpassung für alle Löhne und Gehälter. Dieser Anpassungssatz hat von 1964 bis 1967 erheblich unter der Inflationsrate gelegen, danach im allgemeinen etwa in gleicher Höhe bis auf die Jahre 1971 und 1972, in denen er die Inflationsrate um zwei bis drei Prozentpunkte übertroffen hat. Durch seinen linearen Charakter hat auch dieses Instrument zu einem Auseinanderziehen des Lohn-und Gehaltsfächers beigetragen. Produktivitätssteigerungen haben sich also im Barlohn kaum niedergeschlagen; die soziale Sicherung ist jedoch in den vergangenen zwölf Jahren erheblich ausgebaut worden, über die Auswirkungen sind hieb-und stichfeste Aussagen ebenso schwer zu machen wie über die Verteilungswirkungen des Steuersystems, denn dazu müßte man empirisches Material über die tatsächlichen Leistungen der Krankenversicherung und der Rentenanstalten und über die tatsächlich gezahlten Steuern haben, das nicht vorliegt.

Neben der Lohnpolitik hat auch der Charakter der Industrialisierung die Stagnation der Einkommen bei den mittleren Schichten zu verantworten. Wie oben erwähnt, wurde gegen Ende der fünfziger Jahre der Prozeß .der importsubstituierenden Industrialisierung weitgehend abgeschlossen. Nunmehr werden neue, vormals unbekannte oder nur in geringen Mengen importierte Produkte (z. B. Automobile und Haushaltsgeräte) mit relativ kapitalintensiven Methoden von ausländischen Unternehmen in Brasilien hergestellt. Die Nachfrage wendet sich diesen neuen Produkten zu, so daß Kaufkraft von anderen Märkten mit arbeitsintensiveren Produkten abgezogen wird. Die Beschäftigungswirkungen sind per Saldo enttäuschend.

In den fünfziger Jahren sinkt sogar der Anteil der Arbeitskräfte im verarbeitenden Gewerbe an der Gesamtzahl der Erwerbspersonen von 9, 4 v. H. auf 8, 9 v. H. und steigt dann bis 1969 lediglich wieder auf 9, 1 v. H.; selbst in den „goldenen Jahren" bis 1973, als sich die industrielle Beschäftigung um jährlich 5 v. H. erhöht, steigt ihr Anteil an der Gesamtzahl der Erwerbspersonen nicht über 10 v. H. Da gleichzeitig die industrielle Wertschöpfung erheblich mehr zunimmt, können Kapitaleigner und höhere Angestellte auch in der Industrie bei mehr oder weniger eingefrorenen Löhnen die in der Tabelle 5 ausgewiesenen hohen Einkommenszuwächse des obersten Fünftels der Bevölkerung realisieren.

Zunächst jedoch noch einige Anmerkungen zu dem untersten Drittel. Die sehr generellen Angaben dort verdecken eine tiefe und sich erweiternde Kluft zwischen Stadt und Land:

Das unterste Bevölkerungszehntel in der Stadt hat nach offiziellen Schätzungen zwischen 1960 und 1970 etwa dreimal so hohe Einkommenssteigerungen gehabt wie das unterste Zehntel auf dem Lande. Das sind Einkommensklassen unterhalb der Ebene, bis zu welcher der Mindestlohn angewendet wird;

im nächsten Zehntel von unten und den drei weiteren liegt dagegen das Einkommens-wachstum auf dem Lande deutlich über dem in der Stadt. Da die Schere im Durchschnittseinkommen zwischen Land und Stadt sich von 1960 bis 1970 erheblich erweitert hat, nämlich von 1 : 2, 2 auf 1 : 2, 7, läßt sich der Schluß ziehen, daß in den Städten eine gewisse Angleichung des Lebensstandards innerhalb der Unterschicht durch den ökonomischen Abstieg der um den Mindestlohn herum bezahlten Arbeiterschaft und durch den Aufstieg der untersten Einkommensbezieher aus dem „informellen Sektor" und der Zuwanderer vom Lande stattfindet, während auf dem Lande das unterste Zehntel mit seiner Subsistenzlandwirtschaft stagniert, die darüber liegenden Gruppen jedoch allmählich stärker in den Geldsektor einbezogen werden. (Der Eigen-verbrauch ist bei diesen Zahlen nicht erfaßt.) Angesichts der oben erwähnten „Verzerrung" der Konsumstruktur sagt die Erhöhung der Geldeinkommen wiederum noch nichts über die bessere Deckung der Lebensbedürfnisse aus. Insgesamt verstärkt das Auseinanderklaffen der Einkommen von arm und reich und von Stadt und Land die überkommene Heterogenität des Landes.

Betrachtet man nun nach den mittleren und den unteren auch die obersten Einkommens-schichten etwas genauer unter ökonomischen Gesichtspunkten, dann ist zunächst einmal folgendes festzuhalten: Bei aller berechtigten Kritik an internationalen Einkommensvergleichen darf nicht übersehen werden, daß die obersten 1 v. H.der Brasilianer, also die allerhöchste Einkommensklasse, nicht etwa das Volkseinkommen in unvorstellbarem Luxus verpraßt, sondern im Jahre 1960 gerade mit dem US-amerikanischen Durchschnittsbürger vergleichbar ist und 1970 etwa ein Drittel über dem US-Durchschnitt liegt. Ebenso erreichen die obersten 5 v. H.

der Brasilianer im Jahre 1970 gerade den Durchschnitt der Bundesrepublik (Standard des Facharbeiters mit zwei Kindern) und nicht etwa Traumeinkommen.

Hier verbinden sich nun die oben angestellten Überlegungen zur Rolle der transnationalen Unternehmen und zum Kalkül über das „Durchsickern" des Wachstums, wenn die Oberschichten mit unserem wachsenden Lebensstandard in den Industrieländern Schritt halten wollen, mit dem eingangs offengelegten Widerspruch zwischen dem aristokratischen und dem demokratischen Traum in der Seele desjenigen, der von der Bundesrepublik aus Brasilien betrachtet oder eine Zeitlang dort lebt.

Das Schritthalten der oberen 5 — 25 v. H.der brasilianischen Bevölkerung mit dem steigenden deutschen Durchschnitt macht selbst bei hohen Wachstumsraten ein „Durchsickern" nach unten praktisch unmöglich, es sei denn, man betrachtet die Ausweitung der hauswirtschaftlichen Dienstleistungen und der Beschäftigung von Laufburschen, Büroboten usw. als „Durchsickern".

Es ist sehr wichtig, sich ganz klar zu machen, daß dort keine Gesellschaft entsteht, die __ unserem Beispiel folgend — langsam aus der Unterentwicklung herausfindet, zur Industriegesellschaft wird und sich unseren Lebensformen allmählich mehr oder weniger angleicht. So ist es nicht, denn gleichzeitig entwickeln sich hier und dort ganz unterschiedliche Gesellschaftsformen. Davon sollte man bei der Analyse ausgehen. „Bessere Verteilung", obwohl immer wieder von der brasilianischen Regierung propagiert, würde in Brasilien güterwirtschaftlich eine radikale Umstrukturierung der Wirtschaft bedeuten. Wenn dem obersten Fünftel beispielsweise nicht mehr 62, 3 v. H.des Volkseinkommens zufließen würde (s. Tab. 5), sondern nur etwa 45 v. H. wie in den USA, dann müßte die Versorgung der oberen Schichten mit Gütern des nach deutschen Maßstäben mittleren Bedarfs erheblich eingeschränkt werden; dafür wären ganz andere Güter zu erzeugen, und bei den breiten Bevölkerungsschichten wäre durch bessere Kapitalausstattung ihrer Arbeitsplätze die Kaufkraft zum Erwerb dieser Güter zu schaffen, wenn der Anteil der untersten 30 v. H. nicht 6, 1 v. H.des Volkseinkommen, sondern — wie in den USA — etwa 12 v. H. betragen sollte.

Dem deutschen Standard vergleichbare Einkommen sind in Brasilien eben doch „Traumeinkommen", insofern als sie den aristokratischen heimlichen Traum vom Reich-und Mächtigsein in einer armen Gesellschaft ermöglichen und — durch eine Ausdehnung des deutschen Solidaritätskreises auf die brasilianische Oberschicht im persönlichen Lebensbereich — auch dem demokratischen Traum von der Solidarität unter Gleichen scheinbar gerecht zu werden erlauben.

Der übliche Ausdruck, den Deutsche in Brasilien für diese Stimmungslage verwenden, ist „faszinierend", das heißt „verzaubernd", und in der Tat ist es leicht, dem „Zauber" einer doppelbödigen, psychologisch verständlichen, aber analytisch problematischen Argumentation zur Verteilungspolitik des brasilianischen „Modells" zu verfallen: Entweder komme es doch irgendwie zum ausreichenden „Durchsickern" und zur friedlichen Gewinnung des Anschlusses von Brasilien und aller seiner Bewohner an den Standard der Industrieländer, oder es komme zu einer Revolution und damit doch auch — zwar über bedauerlich blutige Zwischenstufen — zu letztlich vertretbaren und sinnvollen Zuständen. Für das „Durchsickern" ist bereits Skepsis angemeldet und begründet worden; mit der Alternative „Revolution" stellt sich wieder einmal die Frage nach den Stabilitätsbedingungen des „Modells", weswegen hier weiter darauf einzugehen ist.

Eine ungleiche Einkommensverteilung ist dann stabil, wenn sie durch legitimierende Faktoren abgestützt wird, die einigermaßen glaubwürdig sind, denn mit Repression allein kann sich kein Regime auf Dauer halten.

Nun ist in der innerbrasilianischen Diskussion — und bis zu einem gewissen Grade auch weltweit — der entscheidende Faktor zur Erklärung und Legitimation von Einkommensunterschieden die Ausbildung. Zuweilen wird allerdings auch in Brasilien auf das Problem der Verwechslung von Ursache und Wirkung hingewiesen, wenn zwischen hohem Einkommen und hohem Ausbildungsstand eine direkte Beziehung festgestellt wird. Die entsprechenden Statistiken zeigen in der Tat eine auffallend starke Übereinstimmung zwischen Einkommen und Ausbildung, und auch hier ist eine eindeutige Scherenentwicklung nachzuweisen (Tab. 6 und 7): Das Verhältnis zwischen dem durchschnittlichen Einkommen eines Analphabeten und dem eines Universitätsabsolventen ist zwischen 1960 und 1969/70, von 1 : 10 auf 1 : 15 gestiegen; die „Rentabilität" der Ausgaben für Erziehung sind da-gegen beispielsweise für den Absolventen der Primarstufe von 48, 1 v. H. auf 31, 9 v. H. gefallen, während sie für den Universitätsabsolventen von 4, 9 v. H. auf 12, 1 v. H. gestiegen sind.

Interessant ist an diesen Zahlen nicht nur der Vergleich zwischen 1960 und 1969/70, sondern besonders in Tabelle 7 der Vergleich zwischen den Ausbildungsstufen im gleichen Jahr: Die Hochschulausbildung wird im Jahre 1960 noch als nicht recht wirtschaftlich lohnender Luxus ausgewiesen, während die Volksschule als volkswirtschaftlich und für den einzelnen höchst rentabel erscheint.

Im Jahre 1969 ist das Nutzen-Kosten-Verhältnis für die Volksschulausbildung noch immer das weitaus günstigste, aber die höheren Schulen und die Hochschulen haben erheblich aufgeholt.

Die Berechnungsmethode ist in den verfügbaren Quellen zwar nicht ganz genau angegeben, aber alles deutet darauf hin, daß von dem höheren individuellen Einkommen der besser Ausgebildeten auf die höhere Rentabilität geschlossen worden ist, daß also nicht etwa eine höhere volkswirtschaftliche Produktivität zur Grundlage der Berechnungen gemacht worden ist, das heißt, daß die Zahlen analytisch lediglich beweisen, wie sehr die Möglichkeit der besser Ausgebildeten gestiegen ist, höhere Einkommensforderungen durchzusetzen.

Unter dem Legitimationsaspekt ist jedoch bedeutsam, daß in der Propaganda das Verteilungsproblem möglichst weitgehend auf die Ausbildung abgeschoben werden kann. Damit wird das Problem individualisiert — und durch die Alphabetisierungskampagne MO-BRAL wird der Mythos vom Aufstieg durch eigene Anstrengung und Fortbildung und vom selbstverschuldeten Sitzenbleiben oder Abstieg durch eigenes Versagen genährt. Weitere Faktoren, die über die Individualisierung das „Modell" als System abstützen und legitimieren, sind die Wanderungsbewegungen vom Land in die Stadt, wodurch — wie oben ausgetührt — für die untersten Schichten durchaus ein sozialer Aufstieg möglich gewesen ist, und die Wanderungen an die „Grenze" in Amazonien oder wo sonst neues Land durch den Straßenbau erschlossen wird. Diese individuellen Mobilitätskanäle sind wichtige Ventile für soziale Unzufriedenheit. Die Propaganda von der „aufkommenden Macht Brasilien" tut ein übriges, um eine Art kollektiven Mobilitätskanal für alle Brasilianer gemeinsam zur innenpolitischen Stützung des Systems zu nutzen. Solange also die Mobilitätskanäle Ausbildung, Wanderung und nationale Macht im Bewußtsein breiterer Kreise noch nicht erschöpft sind, ist damit zu rechnen, daß die Legitimität des Regimes durch das Verteilungsproblem nicht grundlegend erschüttert wird.

All diese Überlegungen zur Stabilität des brasilianischen „Modells" gehen davon aus, daß die Menschen glauben, sie seien von Natur aus gleich und Unterschiede müßten begründet und legitimiert werden. Vielleicht ist in einem Land wie Brasilien diese Voraussetzung falsch. Es gibt viele Anzeichen dafür, daß die Beweislast im brasilianischen Milieu umgekehrt sein könnte, daß also weithin geglaubt wird, der natürliche Zustand der menschlichen Gesellschaft sei die Ungleichheit. Geht man diesem Ansatz einmal nach, dann eröffnen sich interessante Perspektiven, die hier zum Schluß nur als Fragen aufgeworfen werden sollen, ohne daß eine Antwort gegeben werden könnte.

VI. Brasilien zwischen „Nationwerdung" und „Reichsbildung"

Tabelle 5: Vergleich der personellen Einkommensverteilung in Brasilien 1960/1970 Quelle: Carlos Geraldo renda e desenvolvimento Rio de Janeiro 1973, S. 64.

Aus der Betrachtung der ökonomischen Aspekte des brasilianischen „Modells" lassen sich folgende Elemente festhalten: Die historisch gewachsene Heterogenität des Landes mag in den vergangenen Jahren zwar in bezug auf Infrastruktur und Konsumgütermärkte geringer geworden sein, in der Einkommens-entwicklung und in der Differenzierung zwischen Stadt und Land hat es jedoch eine weitere Verstärkung der Heterogenität gegeben. Es fragt sich, was eine so heterogene Gesellschaft überhaupt in einem politischen Gemeinwesen zusammenhält.

In bezug auf die Entwicklungsländer sind Politik und Forschung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geprägt von dem Glauben an den Weg vom (Kolonial-) „Reich" zur „Nation"

— und über „Nationwerdung" ist viel geschrieben und gesagt worden. Vielleicht ist in der Dritten Welt jedoch gar nicht die „nationale", 'sondern die „imperiale" Geschichte Europas und der USA aufgenommen und als Inbegriff der „Moderne" verstanden worden. Erstaunlich wäre es nicht, sind doch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Selbstbestimmungsrecht, Unantastbarkeit der Grenzen, „tägliche Volksabstimmung" und wie sonst die Kennzeichen für „Nation" lauten mögen, in der Dritten Welt, weder in den früher noch in den später unabhängig gewordenen Ländern, jemals besonders geachtet worden. Dagegen sind die Legitimitätsprinzipien des Imperialismus — Recht des Stärkeren, weißer Rassismus, Herrschaft im Namen der „Zivilisation"

und des „Fortschritts" — tief in die Weltanschauung von Herrschenden wie Beherrschten eingepflanzt worden.

So betrachtet, ist das vor-nationale, imperiale „ancien regime" für Brasilien nie ganz zu Ende gegangen. Die Unabhängigkeit als Kaiserreich im Jahre 1822 läßt sich sogar in mancher Hinsicht als „restaurative Emanzipation" deuten, als Widerstand gegen die liberalen Ideen in Portugal nach dem Abzug der napoleonischen Truppen.

Nimmt man den auch in der innerbrasilianischen Diskussion zu findenden Ausdruck „imperiales Entwicklungsmodell" auf, dann lässen sich folgende Fragen stellen: Warum sollten sich nicht der alte Kosmopolitismus der feudalmerkantilen Oligarchie und der neue Glo-balismus der transnationalen Unternehmen zu einem Wiederaufleben der Idee vom brasilianischen Staatsgebilde als „Reich" statt als „Nation" verschmelzen? Hat Brasilien gar modellhaft die Zeichen der Zeit erkannt und sich angesichts des vielbeschworenen überlebtseins des Nationalstaats als eines der ersten Länder'der Welt realistisch auf die Konsequenzen der globalökonomischen Verflechtung eingestellt? Entspricht nicht das Streben, in einer imperialen Hierarchie oben zu sein oder aufzusteigen, eher dem realpolitischen Handeln als die Vorstellungen vom gleichberechtigten Nebeneinander unterschiedlicher nationalstaatlicher Gesellschaftsmodelle, von der innergesellschaftlichen Homogenität und von der weltweiten Solidarität? Ist also letztlich nicht doch der aristokratische Traum für das Handeln bestimmender als der demokratische?

Die Antwort auf die Frage nach Scheitern oder Erfolg des brasilianischen „Modells" bleibt offen. Bei der Suche nach der Antwort sind jedoch einige über Brasilien hinaus weisende Perspektiven aufgetaucht, die je nach Einstellung des Betrachters so faszinierend oder abstoßend wirken dürften, daß die Diskussion über das „Modell" lebhaft zu bleiben verspricht, auch wenn in Brasilien selbst die Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik in den nächsten Jahren ganz andere Wege gehen sollte..

Fussnoten

Weitere Inhalte

Manfred Nitsch, Dr. oec. publ., Dipl. -Hdl., geb. 1940; Studium der Wirtschaftswissenschaften, Pädagogik, Soziologie und Sprachen in Göttingen, Genf, Middlebury (USA) und München; wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Staatswirtschaftlichen Fakultät der Universität München (1967— 1970), beim Max-Planck-Institut für internationales Patentrecht und bei cer Stiftung Wissenschaft und Politik (Ebenhausen/Isar); Lehrbeauftragter beim Fachbereich Volkswirtschaft der Universität München; zahlreiche Veröffentlicuungen zu lateinameiikanischen Wirtschaftsproblemen und zum Technologietransfer.