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Die Bundesrepublik aus der Perspektive linker Theorie | APuZ 6/1976 | bpb.de

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APuZ 6/1976 Artikel 1 Die Bundesrepublik aus der Perspektive linker Theorie Extremismus und Radikalismus Eine Kontraststudie

Die Bundesrepublik aus der Perspektive linker Theorie

Kurt Sontheimer

/ 51 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Dieser Beitrag untersucht die Veränderungen des politischen Bewußtseins in der Bundesrepublik, welche durch den Einbruch linker Theorie in das politische Denken dieses Staates bewirkt worden sind. Im Gegensatz zu dem früher bestehenden, relativ weitgehenden Konsensus hinsichtlich der geistigen und politischen Einschätzung der Bundesrepublik hat die seit 1967 virulente linke Theorie ein völlig anderes, extrem kritisches und negatives Bild der politischen und sozialen Verhältnisse der Bundesrepublik gezeichnet. Wie die Bundesrepublik in der Sicht ihrer marxistischen und neomarxistischen Theoretiker und Kritiker erscheint, wird hier im einzelnen gezeigt. Der erste Abschnitt gibt eine zusammenfassende Darstellung der linken Kritik an den politischen Institutionen, der zweite behandelt das Gesellschaftsverständnis und die auf die westdeutsche Gesellschaft bezogenen Analysen aus dem Umkreis linker Theorie. In einem dritten Teil werden schließlich die typischen Denk-und Interpretationsmuster linker Politik-Analyse vorgeführt.

1. Der Staat und die politischen Institutionen

Es gehört zu den Grundüberzeugungen der linken Theorie, daß Politik und Ökonomie nicht auseinanderdividiert werden dürfen. Wenn auch die Politik in ihren Institutionen, angefangen beim Staat über die politischen Parteien bis hin zu den politisch Einfluß nehmenden Interessenverbänden der Gesellschaft, von den Produktionsstätten und anderen Einrichtungen des Wirtschaftslebens formal losgelöst erscheint, so ist diese Trennung eben nur formal und nicht real, bloßer Schein also, dem auch der übliche Zusatz „real" nichts von seinem Schein-Charakter nimmt. Daraus folgt, daß alle politischen Institutionen auf ihre ökonomische Basis zurückgeführt werden müssen.

Nun hat auch die von den Marxisten als „bürgerlich" bezeichnete Politikwissenschaft und Soziologie nie bestritten, daß zwischen Politik und Wirtschaft, Staat und Gesellschaft wirksame Zusammenhänge (Interdependenzen) bestehen, aber sie hält mehr davon, die jeweils bestehenden Zusammenhänge und Vermittlungen empirisch zu erforschen, als durch Theorieformeln wie die von der bestimmenden Macht des kapitalistischen Verwertungszusammenhangs etc. das Ergebnis der wissenschaftlichen Untersuchung vorwegzunehmen. Sie ist aufgrund ihrer Studien auch der Auffassung, daß es, ungeachtet bestehender, in den politischen Willensbildungsprozessen direkt institutionalisierter Verbindungsglieder zwischen Staat und Gesellschaft, ein relatives Eigengewicht, eine gewisse Eigendynamik sowie eine begrenzte Autonomie sozialer und politischer Institutionen gibt, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, solche Institutionen, wie z. B. Parlamente, politische Parteien, Verfassungsgerichte, unter Berücksichtigung ihres Beziehungsfeldes für sich zu untersuchen. Dies erscheint zumindest sinnvoller als die einfache Übernahme von empirisch in der Regel nicht ausgewiesenen pauschalen theoretischen Kategorien, sei es die „Herrschaft des Kapitals" oder der sich durchsetzende „Verwertungsprozeß" etc., mit Es handelt sich um den Vorabdruck eines Kapitels aus dem Buch:

Das Elend unserer Intellektuellen. Linke Theorie in der Bundesrepublik, das im Frühjahr 1976 im Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, erscheinen wird. denen in der politökonomischen Theorie das Verhalten solcher Institutionen meist erklärt wird. „Staatstheorie"

Zwar hat der Staat als Institution das besondere Interesse der linken Theoretiker gefunden, die sich mit großem Eifer auf die „Ableitung" des Staates und seiner Funktionen aus der marxistischen Theorie stürzten, aber der spezifische Blickwinkel solcher „Ableitungen" war, ungeachtet aller Unterschiede im einzelnen, immer nur die Frage nach dem Nutzen des Staates oder anderer politischer Institutionen für bestimmte Gruppen bzw. Klassen der Gesellschaft. Damit war natürlich das Hauptergebnis dieser Theoriespiele bereits vorweggenommen: Der Staat der kapitalistisch organisierten Gesellschaft nützt dem Kapital, er ist Staat der herrschenden Klasse etc. Als seine Hauptfunktionen erscheinen in dieser Perspektive nicht die aus der Allgemeinen Staatslehre bekannten staatlichen Aufgaben wie Schutz von Recht und Ordnung für alle Bürger, Sicherung und Ausbau der ihnen zustehenden Grundrechte und Freiheiten sowie Leistungen sozialer Daseinsvorsorge, sondern ausschließlich „Gewährleistungen" für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise: Der „bürgerliche Staat", so lesen wir, gewährleistet die allgemeinen formellen und materiellen Bedingungen der Produktion und Zirkulation, er gewährleistet das Kapitalverhältnis durch Regelung der Beziehungen zwischen Lohnarbeit und Kapital, er gewährleistet (soweit er kann) den krisenfreien Akkumulationsprozeß des Kapitals, und er gewährleistet schließlich die Entwicklungsbedingungen des nationalen Gesamtkapitals in seiner Konkurrenz mit den nationalen Kapital-interessen anderer Länder

Unter diese „Gewährleistungen" lassen sich alle staatlichen Tätigkeitsbereiche mit ihren entsprechenden Institutionen subsumieren: das Parteiensystem, sämtliche Maßnahmen der Exekutive und Legislative, die gesamte Rechtsordnung, die Außenpolitik. Daher erklärt es sich wohl, daß die in den „bürgerli-chen" Gesellschaftswissenschaften sonst im Vordergrund stehende Analyse von Institutionen und Entscheidungsprozessen, geschweige denn empirische Untersuchungen über die Frage, wie sich die Interessen des Kapitals durch und über die politischen Institutionen konkret vermitteln, von den Sachwaltern der neuen Theorie höchst spärlich angeboten werden, obwohl sie so viel Literatur über den Staat produzieren. Die Analyse der politischen Institutionen reduziert sich in dieser Optik auf ihre den Kapitalverwertungsprozeß „gewährleistenden" Funktionen. Die durchaus vorhandenen Differenzen in der neomarxistischen „Staatstheorie" „betreffen nicht das grundlegende Wirklichkeitsbild des Staates als eines ganz und gar durch die Ökonomie bestimmten Systems, sondern vielmehr die Formen der Auswirkung dieser Determination im spezifischen Handlungsfeld des Staates, der Politik"

Jede aus der Perspektive der marxistischen oder neomarxistischen Theorie unternommene Darstellung des Staates der Bundesrepublik, seiner Institutionen und seiner politischen Prozeßabläufe ist darauf abgerichtet, die Abhängigkeit staatlichen Handelns vom kapitalistischen Produktionsprozeß „nachzuweisen". Dabei ist es, wie z. B. in der neueren Theorie vom „Staatsmonopolistischen Kapitalismus", durchaus möglich, dem Staat und seinen Organen eine begrenzte Autonomie des Handelns zuzugestehen, also von der These, der Staat sei durchgängiges Instrument der herrschenden Klasse, etwas abzurücken, aber auch dieser scheinbar selbständig handelnde Staat erweist sich an die vom kapitalistischen oder spätkapitalistischen System ausgehenden Imperative gebunden und kann unmöglich über sie hinweggehen. „Nur der Systemzwang privatkapitalistischer Produktionsverhältnisse schreibt den Parteivorständen und Regierungen die Grenzen vor, die nicht überschritten werden dürfen. Insofern ist die Macht der Regierungsparteien von einer Gewalt kontrolliert und beschränkt, die im klassischen Schema der Gewaltenteilung nicht vorgesehen, die auch mit dem bürgerlichen Demokratie-Ideal nicht zu vereinbaren ist."

Verlautbarungen diesen Charakters finden sich in Hülle und Fülle in den politökonomischen Analysen der politischen Institutionen von Staaten, die wie die Bundesrepublik eine kapitalistisch organisierte Wirtschaftsstruktur aufweisen: überall hat das Kapital dem Staat seine Grenzen gezogen, überall unterwirft es die Politik seinen Restriktionen, überall setzt es die politischen Institutionen unter wirksamen Druck, die Interessen des Kapitals zu vertreten. Man kann diese pauschalen Erklärungen auf sich beruhen lassen, da sie zu jener Art von Mystifikationen gehören, die, weil sie alles zu erklären vermeinen, in Wahrheit nichts mehr von dem erklären, was empirisch sich vollzieht. Geistreicher und interessanter sind dagegen die theoretischen Versuche, die prinzipielle ökonomische Bedingtheit des Handelns politischer Institutionen aufzuzeigen, ohne jene empirischen Erscheinungen, die diese These zu widerlegen scheinen, einfach zu unterschlagen.

Claus Offe, Neomarxist in der „bürgerlichen"

Tradition der Kritischen Theorie, ist in seinem Aufsatz „Klassenherrschaft und politisches System" der für alle Vertreter der Theorie brennenden Frage nach dem Verhältnis von Staatsapparat und kapitalistischen Verwertungsinteressen nachgegangen. Die Denkfigur des „ideellen Gesamtkapitalisten", mit der sich manche seiner Kollegen aus den empirischen Schwierigkeiten der Analyse zu befreien hoffen, genügt ihm mit gutem Grund nicht. Er verlangt den wissenschaftlichen, d. h. empirischen Nachweis, daß das System der politischen Institutionen den Interessen des kapitalistischen Verwertungsprozesses tatsächlich entspricht, und zwar dadurch, daß sich zeigen läßt, daß das politische System eine dem kapitalistischen Verwertungsprozeß korrespondierende „klassenspezifische Selektivität" aufweist. Wenn dieser Nachweis gelingt, dann wäre in der Tat das übliche Gerede vom Staat und seinen Institutionen als Handlanger oder Sachwalter des Kapitals besser als in der marxistischen Staatstheorie sonst üblich substantiiert, die Klassennatur des kapitalistischen Staates wäre in seiner Struktur selbst aufgewiesen. Staatliche Herrschaft, postuliert Offe, habe nur dann Klassencharakter, wenn sie so konstruiert sei, daß es ihr gelinge, das Kapital vor seinem eigenen falschen (bornierten), wie vor einem antikapitalistischen Bewußtsein der Massen in Schutz zu nehmen. Offe kann zwar zeigen, daß der Staat in seinem Handeln selektiv vorgeht, d. h. durch seine Struktur, seine politische Kultur und seine ihm jeweils eigenen Verfahren der politischen Willensbildung und -durchführung daran gehindert ist, jede nur theoretisch denkbare Politik zu machen (eine etwas umständliche Erklärung für die schlichte Tatsache, daß staatliches Handeln immer unter Bedingungen vor sich geht), aber sein rascher Überblick über die möglichen wissenschaftlichen Methoden, die zur Verfügung stehen, um empirisch zu erhärten, daß die Selektivität — verstanden als das typische Muster von Handlungen und Unterlassungen — staatlichen Handelns auf das Interesse des Kapitals zugeschnitten ist, führt ihn zu dem bemerkenswerten Ergebnis, daß sie allesamt die Frage nach der Klassenherrschaft des Staates nicht zu entscheiden vermögen. Doch dann rettet er sich überraschend in die „Folgerung", die historisch-konkreten Grenzen eines Herrschaftssystems könnten „nur in der politischen Praxis wahrgenommen und allein in der durch Aktion und Organisation vollzogenen Klassenauseinandersetzung .. . identifiziert werden".

Er verwirft also die gesamte aufwendige „Staatstheorie" seiner orthodoxeren Kollegen (was diese natürlich nicht auf sich sitzen lassen können) als wissenschaftlich nicht durchführbar, rettet aber deren Ergebnis durch den Verweis auf die Praxis. Theoretische Attribute wie die, daß der Staat . geschäftsführender Ausschuß'oder . ideeller Gesamtkapitalist'sei, wären auf eine Evidenz angewiesen, die nicht theorieimmanent, sondern nur durch praktische Erfahrung gewonnen werden könnte. Allerdings bleibt Offe bei dieser wundersamen Rettung des wissenschaftlich nicht zu erweisenden Klassenbegriffs durch „Praxis" nicht stehen. Er geht auch der sich aufdrängenden Frage nach, warum etwas mit den Mitteln der Wissenschaft nicht evident zu machen ist, was (für ihn) doch evident ist, nämlich der Klassencharakter des Staates. Dabei verfällt er auf folgende ingeniöse Erklärung des Phänomens: „Vereinfachend kann man sagen, daß politische Herrschaft in kapitalistischen Industriegesellschaften die Methode der Klassenherrschaft ist, die sich als solche nicht zu erkennen gibt." Offe hält diese Interpretation nur scheinbar für paradox, in Wahrheit jedoch für „folgerichtig". Er sieht das Strukturproblem des kapitalistischen Staates in der Tatsache, „daß er seinen Klassencharakter zugleich praktizieren und unsichtbar machen muß". Die koordinativen und repressiven Selektions-und Steuerungsleistungen, die den Inhalt des Klassencharakters des bürgerlichen Staates ausmachten, müßten durch eine dritte Kategorie von Steuerungsleistungen, und zwar solche gegenläufiger, verschleiernder Art, dementiert werden. Denn nur, wenn der Staat den Anschein der Klassenneutralität wahre, könne er seine Herrschaft als Klassenherrschaft ausüben.

Diese wirklich einfallsreiche These geht, wie man sieht, zwar auch von der offenbar im selbst erlebten Klassenkampf gewonnenen Überzeugung aus, daß der Staat der Bundesrepublik ein Klassenstaat ist und darum der Herrschaft des Kapitals dient, aber entgegen der Selbstverständlichkeit, mit der die hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Standards unbekümmerteren linken Kollegen dies einfach behaupten, weil es so in der Theorie steht, macht dieser Autor sich jedenfalls sehr feingesponnene Gedanken über die Frage, woher es denn kommen könnte, daß man diesem Staat seinen Klassencharakter so gar nicht ansieht, obwohl er doch ein Klassen-staat ist.

Gerade eine so subtile Beweisführung offenbart das Dilemma einer sich aus dem Verständigungskontext der Wissenschaften nicht ausschließen wollenden marxistischen Sozialwissenschaft, die sich ihre Ergebnisse nicht — wie in der Regel der Fall — von der Theorie einfach vorgeben, sondern sie selbst wissenschaftlich erarbeiten will. Weil sie entgegen einer wissenschaftlich gerade nicht zu vermittelnden Einsicht in den Klassencharakter des spätkapitalistischen Staates doch an diesem Grundsatz marxistischer Theorie glaubt festhalten zu müssen, verfällt sie in Konstruktionen, die, milde ausgedrückt, arg willkürlich anmuten. Die Bundesrepublik Deutschland wäre dieser Theorie zufolge ein Klassenstaat, dem man seinen Klassencharakter nicht anmerkt, der alle Spuren seiner insgesamt dem Interesse der Kapitalverwertung dienenden Politik geschickt verwischt, dessen Klassenneutralität lediglich geheuchelt ist, wenn auch offensichtlich so effektvoll, daß die in Wahrheit ausgebeutete Klasse es gar nicht merkt und weiterhin loyal bleibt! Wenn dem wirklich so wäre, könnte man vor dieser politischen Meisterleistung des kapitalistischen Staates nur bewundernd den Hut ziehen. Wir haben nicht den Eindruck, von einem so meisterhaft agierenden Staat regiert zu werden!

Ein großer Teil der linken Gegenwartsliteratur über den Staat im Kapitalismus bzw. Spätkapitalismus ist, freilich unausgesprochen, durch die wichtige Frage motiviert, wieso es noch nicht zu dem von der Marxschen Theorie prognostizierten notwendigen Zusammenbruch des. kapitalistischen Systems gekommen ist. Einfallsreiche Interpretationen wie die von Offe gehören sicherlich in diesen Zusammenhang. Zugleich jedoch sind die politökonomischen Analysen über die Bundesrepu5 blik immer auch darauf bedacht, das system-gefährdende Konfliktpotential auszumachen, Krisenphänomene zu entdecken oder zu konstruieren, also darzutun, daß es konkrete Anzeichen für den Zerfall der kapitalistischen Gesellschaftsformation gibt und die Theorie in den realen Verhältnissen der Bundesrepublik ihre Bestätigung findet. Das Ganze mutet an wie eine Gymnastikübung, bei der jeweils nur ein Bein benutzt werden soll. Ist das eine Bein in Aktion, so offenbart uns die Analyse, mit welchen Mitteln das kapitalistische System seine Herrschaft immer mehr stabilisiert bzw.seine Klassenherrschaft geschickt verschleiert oder dementiert. Kommt das andere Bein zum Zuge, so beschäftigt sich die politökonomische Analyse mit jenen Erscheinungen im Rahmen des kapitalistischen Staates, die seine frühere oder spätere Hinfälligkeit anzeigen (Verschärfung der Widersprüche, Klassenkämpfe, Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals etc.). Wann jeweils welches Bein in Aktion tritt, hängt von den politischen Umständen, der intellektuellen Geneigtheit des Theoretikers, vielleicht auch von opportunistischen Erwägungen ab. Gelegentlich finden sich sogar beide Analyseaspekte in ein und derselben Publikation nebeneinander, freilich nie so, daß man sich des möglichen Widerspruchs bewußt würde, der zwischen beiden Positionen liegt. Es gelingt offenbar schwer, mit beiden Beinen zugleich" wissenschaftlich auf sicherem Grund zu stehen. Widersprüche scheinen nicht nur eine typische Eigenschaft des kapitalistischen Systems zu sein.

Verfassungsinterpretationen Eine stärker historisch orientierte Theorie-richtung hat sich vor einigen Jahren für die Frage interessiert, wieso es in der Bundesrepublik nach der Niederschlagung des Faschismus zur Restauration des kapitalistischen Systems hatte kommen können. Sie sprach von der „verhinderten Neuordnung", gar vom „erzwungenen Kapitalismus". Sie berichtete über Klassenkämpfe in den Westzonen, in denen politisch bewußte deutsche Arbeiter gegen die Wiedereinführung des Kapitalismus gekämpft hätten, aber von den kapitalistisch ausgerichteten westlichen Besatzungsmächten und dem unter ihrer Obhut wiedererstarkenden deutschen Kapital und seinen politischen Interessenvertretern um den Sieg betrogen worden wären. Freilich ist der zeitgeschichtliche Nachweis, daß gewissermaßen hinter dem Rücken des deutschen Volkes die Restauration des Kapitalismus vollzogen worden sei, schwerer zu erbringen, als diese Literatur es wahrhaben will. „Der Mythos von der verhinderten Neuordnung weist die Eigenart vielei schöner Mythen auf — sein Wahrheitskern ist schwer zu finden."

Eine andere, stärker verfassungshistorisch und verfassungsrechtlich orientierte Richtung versucht die Rechtfertigung für eine antikapitalistische Interpretation der Verfassung des Grundgesetzes aus der Geschichte seiner Entstehung sowie aus der Übersteigerung oder Verabsolutierung einzelner seiner Normen zu gewinnen.

Wolfgang Abendroth hatte 1966 in einer Abhandlung über das Grundgesetz darauf aufmerksam gemacht, daß es für die rechtliche Interpretation seiner Normen entscheidend sei „die Willensbildung der deutschen politisch-sozialen Gruppierungen festzustellen, die sich im Kompromiß zur Annahme des Grundgesetzes getroffen haben" Er plädierte für eine Verfassungsinterpretation aus dem Geist der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates und mit einem Blick zurück auf die vorausgegangene Entstehung der Länder-verfassungen, in denen bekanntlich bestimmte sozialistische Grundsätze, wie z. B.der durch die amerikanische Besatzungsmacht außer Kraft gesetzte Sozialisierungsartikel der Hessischen Landesverfassung, noch eine stärkere Berücksichtigung gefunden hatten als im Grundgesetz. Im Zuge der Radikalisierung politischer Positionen nach 1967 haben einige seiner Schüler diese einigermaßen legitime Methode der Verfassungsinterpretation entweder überzogen oder das Verfahren normativer Übersteigerung angewandt, wenn nicht gar das Grundgesetz gänzlich aus einer rein politökonomischen Perspektive interpretiert. Beide Formen der Verfassungsinterpretation — normative Übersteigerung und politökonomische Auslegung — sind für die Neue Linke, sowohl in ihrer radikalen wie in ihren gemäßigteren Versionen, typisch geworden. Übersteigerung bedeutet beispielsweise, wenn die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes mit folgenden Sätzen interpretiert wird: „Damit hat sich das Grundgesetz für einen Staat entschieden, der die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit nicht dem Konkurrenzmechanismus überläßt, sondern durch gezielte Maßnahmen selbst verwirklichen will. Die Gesell-schafts-und Eigentumsordnung gilt ihm nicht als unantastbar, sondern als veränderungsbedürftig und deshalb der Disposition des Gesetzgebers überlassen. Der Art. 15, der die So-zialisierung von Grund und Boden, Natur-schätzen und Produktionsmitteln zuläßt, ist als Konkretisierung dieser Sozialstaatsklausel aufzufassen." Daraus folgt, daß der Gesetzgeber die Intentionen der Verfassung bisher nicht erfüllt hat, denn er hat die Eigentums-ordnung nicht, wie er es hätte sollen, geändert, den Sozialstaat nicht konkretisiert, den wirtschaftlichen Konkurrenzmechanismus nicht durch staatliche Planung ersetzt. Das Grundgesetz blieb somit in wesentlichen Stücken „unerfüllt". Seinen eigentlichen Verfassungsauftrag zu realisieren bleibt darum das Gebot von „Demokraten". Sie nennen es neuerdings „Kampf um Verfassungspositionen".

Das Prinzip der Übersteigerung, das in der linken Verfassungsinterpretation vorherrscht, beruht darauf, bestimmte Normen, z. B. Demokratie, aus dem Wertekatalog des Grundgesetzes zu verabsolutieren, sodann eine tiefe Kluft zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit zu konstatieren und zum Schluß die Veränderung der Wirklichkeit zugunsten der aufgestellten Norm zu fordern, damit dem Verfassungsauftrag Genüge getan werde. „Politische Wissenschaft, die sich von einem emanzipatorischen Demokratiebegriff leiten läßt, muß auch die vom Grundgesetz intendierte Zielrichtung als emanzipatorische verstehen. Das Ziel selbst wäre demnach der demokratische und soziale Rechtsstaat, dessen Souverän das sich selbst bestimmende mündige Volk." über die mit dem Begriff der Demokratie verknüpfte Idee der Selbstbestimmung des Menschen gelangt dann die politökonomische Betrachtungsweise im engeren Sinn in die Verfassungsinterpretation. Natürlich kann in einer Gesellschaft, in der gemäß der „Theorie" die große Mehrzahl der Menschen durch die privatkapitalistische Organisation der Wirtschaft „entfremdet" und in Abhängigkeit gehalten ist, von Selbstbestimmung keine Rede sein, ebensowenig wie von Demokratie. Deshalb ist in der verfassungspolitischen Literatur der Neuen Linken immer davon die Rede, daß das Prinzip der Demokratie auf alle Bereiche der Gesellschaft ausgedehnt und zum Sozialismus erweitert werden müßte. „Damit würden auch Wirtschaft und Arbeitswelt, Güterherstellung und Güterverteilung privater Verfügungsgewalt entzogen und der Disposition des gesamten Volkes unterworfen’.“

Besonders der Demokratie-und Sozialstaatsbegriff eignet sich für das Verfahren normativer Übersteigerung. „Am Absatz 1 des Art. 20 — Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat — ist unbestritten nur noch die Feststellung, daß die Bundesrepublik ein Bundesstaat ist." Propagiert wird ein Politikverständnis, „das die gesellschaftlich ermöglichte und bezogene Freiheit und Selbständigkeit des einzelnen zum unaufhebbaren und nicht Personen, Gruppen oder andere Gesellschaften diskriminierenden Bezugspunkt gewählt hat. Diese Politikdefinition verhindert die Aussparung, Privatisierung weiter Bereiche."

Hinter solchen Formulierungen versteckt sich, auch wenn es nicht immer ausdrücklich gesagt wird, stets die Idee einer notwendigen Veränderung der gesellschaftlichen = ökonomischen Grundlagen des Systems der Bundesrepublik, weil erst auf einer anderen sozio-ökonomischen Grundlage Freiheit und Selbstbestimmung als wirklich realisierbar erscheinen, und erst kraft ihrer die „Verheißung des Grundgesetzes" einlösbar wird.

Linke Verfassungsinterpretationen müssen angesichts sie eventuell ins Unrecht setzender Verfassungsbestimmungen den normativen Spielraum der geistig tragenden Verfassungsgrundsätze bewußt erweitern, um die verfassungsmäßige Legitimierung ihrer politischen Programme zu sichern. Sie polemisieren — sicherlich nicht immer unbegründet — gegen herrschende Verfassungsinterpretationen, die angeblich eine von der wahren Norm und den Intentionen des Grundgesetzes abweichende Verfassungsfeindlichkeit rechtlich legitimieren, und wehren sich — von ihrem Standpunkt aus zu Recht — gegen eine restriktive Verfassungsauslegung. Die Ausweitung des Interpretationsspielraums von Verfassungsnormen läßt sich mit einiger Aussicht auf Erfolg am ehesten in den von der allgemeinen Ideenbewegung der Gesellschaft beeinflußten Sphäre programmatisch-ideologischer Grundsätze der Verfassung vornehmen, am besten beim allgemeinen Demokratie-und Sozialstaatsbegriff, der in der Regel auch die Einbruchstelle für diese als verfassungsimmanent angesehene Kritik der gegebenen Verfassungswirklichkeit ist.

Die Kriterien für die Richtigkeit oder Plausibilität einer aufgestellten verfassungstheoreti-sehen Norm für Demokratie oder Sozialstaat werden in einer pluralistischen Demokratie im Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung und Diskussion entwickelt und wirken von dorther in gewissem Maße auch auf die politischen und gerichtlichen Institutionen ein, die sie zu interpretieren haben. Es läßt sich nicht übersehen, daß die öffentliche Theorie-Diskussion der letzten Jahre, speziell die Diskussion über die Idee der Demokratie und die Idee des Sozialstaats, von der linken Theoriebildung in außerordentlich starkem Maße beeinflußt worden ist und es den überkommenen, mehr empirisch-restriktiven Auslegungen dieser Begriffe erkennbar schwerer gemacht hat, sich zu behaupten. In den Augen politisch engagierter linker Gruppen bis weit in das bürgerliche Lager hinein ist durch diesen Diskussionsprozeß die Legitimitätsgrundlage der politischen Institutionen unseres Staates brüchiger geworden. Sie sehen in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen und ihrer Protektion und „Gewährleistung“ durch den Staat die eigentliche Ursache für das Defizit an Demokratie und Sozialstaat, das sie beklagen und zu überwinden hoffen. Sie bezweifeln, daß die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“, die sie mit dem Kürzel „fdGO" versehen, identisch ist mit dem System einer kapitalistischen Wirtschaft, und fragen sich, „ob es nicht gerade dieses System ist, das letztlich die Verwirklichung einer wirklich freiheitlichen und demokratischen Grundordnung verhindert"

Das Problem der Verfassungsfeindlichkeit, das durch die politische Radikalisierung im Gefolge der Studentenbewegung, durch Radikalenerlaß und politischen Terrorismus zu einem der akutesten innen-und verfassungspolitischen Probleme der Bundesrepublik in der Mitte der siebziger Jahre geworden ist, hat seinen Dreh-und Angelpunkt in der Frage, ob das durch die neue politökonomische Theorieperspektive vermittelte Verständnis von Demokratie und freiheitlicher sozialer Ordnung noch das des Grundgesetzes ist bzw.sein kann. Weil sie jedoch von der Richtigkeit der Theorie im wesentlichen überzeugt sind und sie für wissenschaftlich halten, kommen diese linken Kritiker zu einer Beurteilung der politischen Verhältnisse der Bundesrepublik, die gerade in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung die Hauptursache dafür sieht, daß die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik in ihren Augen weder als demokratisch noch als echt sozial noch als real freiheitlich bezeichnet werden kann.

Kritik des parlamentarischen Systems Das Meinungsbild der Linken über den Charakter der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik ist bis in die Gegenwart hinein von der 1967 erstmals erschienenen Schrift des Berliner Politologen Johannes Agnoli „Die Transformation der Demokratie" stark beeinflußt worden. Nach den Auffassungen von Agnoli könne man von Demokratie in der Bundesrepublik nicht reden, weil die Mehrheit der Bevölkerung durch eine ausgeklügelte „Technik des sozialen Friedens" von den Machtzentren des Staates ferngehalten werde. Die parlamentarische Demokratie verwandle sich in einen „Autoritären Rechtsstaat", der als „Sicherungssystem des Kapitalismus" fungiert. Zu den Grundlagen dieser Befriedungspolitik der Bourgeoisie gehöre auch der sogenannte Pluralismus, den es auf der Ebene der Zirkulation tatsächlich gebe, während an der Basis der Gesellschaft, auf der Produktionsebene, der Antagonismus der Klassenherrschaft erhalten bleibe. Dieser Antagonismus bzw. die „gesellschaftliche Polarität" werde durch die pluralistischen Mechanismen des politischen Systems gerade verdeckt, wobei Parlament und Parteiensystem die besondere Aufgabe haben, die in der Gesellschaft aufgrund der ökonomischen Struktur vorhandenen gegensätzlichen sozialen Kräfte zu entschärfen, und zwar mittels des Prinzips der Repräsentation. Die politischen Parteien hätten ihren ursprünglichen Klassencharakter längst aufgegeben und seien als „Volksparteien" zur „pluralen Fassung einer Einheitspartei" geworden. Das Parlament habe seine Souveränität zugunsten der Exekutive und den hinter ihr stehenden Mächten eingebüßt, gegenüber dem Volk sei es zum bloßen Transmissionsriemen der Entscheidung politischer Oligarchien geworden. Im parlamentarischen System der Bundesrepublik sei ein konservativer Konsensus am Werk, der in der sich ständig erneuernden Übereinstimmung der Oligarchien über Form und Inhalt der Politik bestehe. Ihm setzt Agnoli die Idee eines revolutionären Konsensus entgegen, den er als Zustimmung der Mehrheit der Wähler bzw.der Massen zu einer Oppositionspartei, die die Gesellschaft radikal verändern will, definiert.

In dieser Abhandlung sind die meisten Themen und Inhalte der sich danach erst voll entfaltenden linken Diskussion über die politischen Institutionen der Bundesrepublik vorweggenommen worden. Die wichtigsten dieser Themen und Thesen waren und sind bis heute: die Entlarvung der pluralistischen Demokratie als Schein; die Abhängigkeit der politischen Parteien, auch der Sozialdemokratie, von den Mächten der Wirtschaft, d. h.dem Kapital; das parlamentarische System als Drehbühne für eine Veranstaltung, die als „Dienst am Allgemeinwohl" präsentiert wird, in Wirklichkeit jedoch ein anderes Stück, nämlich die „Politik des Kapitals" (Huffschmid) permanent auf ihrem Spielplan hat; die Reduktion der politischen Alternativen des Systems auf den bloßen Wechsel von Politikern, die als pure „Charaktermasken" ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit den gleichen Mächten unterworfen, wenn nicht gar hörig sind; die Abkoppelung der politischen Maschinerie von den wahren Interessen des Volkes durch das undemokratische Prinzip der Repräsentation; die Ausschaltung und Unterdrückung von demokratischen Willensbildungsprozessen in den politischen Parteien durch oligarchische Herrschaft; die Enthüllung des Sozialstaats der Bundesrepublik als eine pure Illusion oder als Mittel zur besseren politischen Disziplinierung der Bevölkerung; die Reduzierung von Demokratie auf den bloßen Wahlakt; die Abhaltung demokratischer Wahlen als Routineveranstaltung für eine durch Meinungsmonopole und andere Arrangements entpolitisierte Bevölkerung, der echte politische Alternativen überhaupt nicht geboten werden; die Perversion des parlamentarischen Systems durch das pluralistisch-monopolitische System politischer Willensbildung, etc., etc.

Man könnte diesen Themenkatalog mühelos erweitern und sich der ziemlich monotonen Beschäftigung widmen, die jeweiligen Inhalte der kritischen Auseinandersetzung der Neuen Linken mit dem politischen System der Bundesrepublik in aller Ausführlichkeit wiederzugeben. Wir haben dies nicht vor, weil wir in erster Linie am Typus, am Denkstil linker Argumentation interessiert sind, nicht an einer detaillierten Ausbreitung aller Befunde, Thesen und Theorien. In dem oben nur knapp umrissenen Themenfeld der linken Kritik an den politischen Institutionen der Bundesrepublik sind auch linksliberale bis radikaldemokratische Positionen enthalten, die sich nicht strikt an den Prämissen marxistischer Theorie orientieren, aber gleichwohl zu einem kritischen Urteil über die Institutionen der Bundesrepublik kommen. Die Präsenz der Theorie macht sich immer da bemerkbar, wo die Autoren die gerügten Mißstände und Fehlentwicklungen der Politik und ihrer Institutionen in letzter Instanz der mythischen Größe des „Kapitals" anlasten und in den ökonomischen Ursachen die maßgebliche bis ausschließliche Erklärung für alle von ihnen geschilderten Gravamina des politischen Systems finden.

Wie aus kritischen radikaldemokratischen Intellektuellen und Bürgern radikale Verneiner des bestehenden Systems werden können, wie wir sie in der akademischen Intelligenz von heute zahlreich antreffen, darüber haben wir außer einigen pauschalen Hinweisen auf Erfahrungen in der Zeit der Studentenrebellion wenig verläßliche Aufschlüsse. Psychoanalytische Erklärungen, wie sie Grossarth-Maticek neuerdings in einer aufwendigen empirischen Untersuchung von radikalen Studenten in Heidelberg angeboten hat können vielleicht individuelle Dispositionen sichtbar machen, das Phänomen selbst, nämlich die Umwandlung einer „politischen Kultur", aber nicht ausreichend erklären. Tatsache ist jedenfalls, daß die scharfe Kritik des politischen Systems der Bundesrepublik, die sich zunächst in Büchern wie dem über den „CDU-Staat" oder „Abschied von der autoritären Demokratie?" zwar radikal, aber eben noch nicht radikal im Sinne des Marx-sehen „Auf-den-Grund-Gehens" äußerte, seit 1967/68 in wachsendem Maße einer Kritik gewichen ist, die ihre Maßstäbe und Urteile aus der „Theorie" bezog und sich durch diese vollends radikalisierte. Mit der ihr eigenen Unversöhnlichkeit tat die Kritik aus dem Geiste der „Theorie" jeden Versuch der politischen Kräfte, durch Reformen die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik auszubauen und sozial gerechter zu gestalten, als lächerlichen „Reformismus" ab. Sie war nicht mehr bereit, sich unterhalb der Schwelle der „Systemüberwindung" politisch zu engagieren. Im Jahre 1969 gab der in Berlin lehrende Schweizer Soziologe Urs Jaeggi ein Taschenbuch mit dem Titel: „Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik" heraus, das ein großer Erfolg wurde (bis heute ca. eine Viertel Million Exemplare für die alte und neue Ausgabe). Zwei Jahre später brachte er die neue Ausgabe unter dem Titel: „Kapital und Arbeit in der Bundesrepublik" auf den Markt. Die Erstausgabe diskutierte im einleitenden ersten Kapitel noch die Begriffe Macht und Herrschaft, das Problem der Eliten sowie die Frage pluralistische oder antagonistische Gesellschaft? Sie enthielt sogar einen positiv formulierten Abschnitt über „die Chancen des Grundgesetzes". Die Neuausgabe von 1973 (inzwischen war immerhin die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt zum zweiten Mal an der Regierung) wählte nicht nur mit Absicht einen charakteristischen Titel aus dem Begriffsarsenal der „Theorie", sie versuchte auch, mit der Anwendung der Theorie auf die Institutionen der Bundesrepublik in Gestalt einer „gesamtgesellschaftlichen Analyse" ernst zu machen. Das Buch ist eine Fundgrube für die landläufige linke radikale Beurteilung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik aus der Perspektive der marxistischen Theorie, wobei auch noch „bürgerliche" Wissenschaftsrelikte verarbeitet sind.

Wir wissen nicht, was im Kopf des Autors innerhalb von zwei Jahren vor sich gegangen ist. Wir stellen nur fest, daß die, wenn auch teilweise etwas inkonsistente und leichtfüßige Anwendung der Theorie sein Urteil über die Bundesrepublik radikal verschärft hat, und dies, obwohl die innenpolitischen Verhältnisse der Bundesrepublik sich zumindest in den Augen eines linken Intellektuellen doch merklich verbessert haben mußten. Dennoch verfielen für Professor Jaeggi die „Popanze der bürgerlichen Wissenschaft", mit denen er sich ein paar Jahre davor noch redlich abgemüht hatte, nun plötzlich der „Lächerlichkeit" Was war geschehen? Riskieren wir eine Antwort: Die „Theorie" hatte sich ihm offenbart, sie hatte sich seines Geistes bemächtigt, ihn wissender gemacht und ihm die Perspektiven und Wege seiner Untersuchung vorgegeben — wie so vielen anderen auch. Mit einer Veränderung der äußeren Wirklichkeit zum Schlimmeren, Unerträglicheren hin kann dieser Prozeß der Radikalisierung nichts zu tun haben. Es ist ein der „Theorie" immanenter Prozeß geistiger Radikalisierung, der hier stattfand, ein Prozeß, der anscheinend unabhängig von dem Gegenstand, auf den das neugefundene theoretische Wissen sich kritisch richtet, sein sich verschärfendes Wesen treibt. Die gewiß unvollkommen arbeitenden politischen Institutionen eines Systems wie der Bundesrepublik können vor dem Auge dieser Art von Theorie natürlich erst recht nicht mehr bestehen. Sie können nur mehr überwunden werden. „Ich frage mich: Woher kommt das? Woher kommt eigentlich der Haß auf dieses . System'? Durch welche Wirklichkeit, welche Erfahrung ist er gedeckt?"

2. Die Gesellschaft der Bundesrepublik

In der linken Theorie ist „Gesellschaft" zu einer alles beherrschenden Kategorie, quasi zu einem Allerweltsbegriff geworden. Unterschiede zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen öffentlich und privat werden plattgewalzt und dem totalen Zusammenhang eingeordnet, den die Theorie zu erkennen meint und den sie mit Vorliebe als „gesellschaftlich" bezeichnet. Auch die so eifrig beackerte marxistische „Staatstheorie" ist im Grunde nichts anderes als eine aufs Ökonomische reduzierte Gesellschaftstheorie. Wenn die Theorie-Marxisten der von ihnen bekämpften „bürgerlichen Wissenschaft" vorwerfen, sie befasse sich nicht mit den „gesellschaftlichen" Bedingungen oder der „gesellschaftlichen" Vermittlung von staatlicher Herrschaft, Cann meinen sie nichts anderes, als daß Herrschaft im allgemeinen sowie die Funktionen des Staates im besonderen von dieser nicht aus den „Bedingungen der Kapitalverwertung" — oder welche der gestanzten Formeln der Theoriesprache man gerade verwenden mag — erklärt werden. Gesellschaft meint in der Sprache der Theorie in letzter Instanz immer die Ökonomie, denn alle gesellschaftlichen Strukturen und Abläufe sind von ihr auf die mit der kapitalistischen Produktionsweise gesetzten Bedingungen rückführbar. Dies ist der höchst einfache Erklärungsgrund für die Tatsache, daß alle „Wege zur veränderten Gesellschaft" (ein Buchtitel von 1971) von der Veränderung der ökonomischen Grundlage der Gesellschaft ihren Ausgang nehmen müssen.

Auch die Idee einer „strukturellen Revolution" (J. Steffen) oder von „antikapitalistischen Strukturreformen" (Jungsozialisten) kann, allen erwogenen vermittelnden Reform-schritten zum Trotz, letzten Endes nur als bewußte Umgestaltung der ökonomischen Grundlagen des Systems gefaßt werden. Wo die Ökonomie alles durchdringt und prägt: die Institutionen des Staates ebenso wie die vielfäl-tgen Lebensbereiche der Gesellschaft, da kann allein in ihr der Schlüssel für eine Veränderung der Gesellschaft gefunden werden. Wenn z. B. ein Arbeitskollektiv, das sich mit „Kindesmißhandlungen und ihren Ursachen" befaßt hat, zu der Schlußfolgerung gelangt, man müsse „das Problem der Kindesmißhandlung an seinen sozialen Wurzeln packen" und auf diese Weise „einen Beitrag zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse" leisten, die gegenwärtig „von Feindseligkeit und Gewalt zerrissen" seien so ist dieser Hinweis auch da, wo es nicht ausdrücklich hinzugefügt wird, auf die Veränderung des Wirtschaftssystems gemünzt, weil die Ökonomie eben als die Wurzel aller gesellschaftlichen Verhältnisse angesehen wird.

Gesellschaft als Totalität Da, wo man mit der Kritischen Theorie den durch Karl Marx vorgezeichneten Bahnen einer ökonomischen Interpretation von Gesellschaft und Politik nicht ganz folgen will, weil man die vom ökonomischen Bereich ausgehende Determination der sozialen Verhältnisse im „Spätkapitalismus" nicht mehr für die ausschließliche Form gesellschaftlicher Form-bestimmung ansieht, gewinnt der Begriff Gesellschaft erst recht den Charakter einer alles bestimmenden Totalität. „Gesellschaft" ist zum gängigen Synonym für jenes „Ganze" geworden, das alles in seinen Bann schlägt, sich alles unterwirft, dem keiner entkommt. Daher kommt es, daß alles, was sich unter Menschen abspielt, ihre Arbeit, ihre Freizeit, ihre „Verkehrsformen", bis hin zu den Liebesbeziehungen, der „Gewalt" gesellschaftlicher Verhältnisse angelastet wird. Mehr oder weniger orthodoxe Marxisten leiten die Macht dieser Verhältnisse mit Eifer aus dem marxistischen Begriff der „Ware" her, zu der die menschliche Existenz und ihr Tun pervertiert werden; sie ergehen sich in umständlichen Erörterungen über die marxistischen Kategorien von „Tauschwert" und „Gebrauchswert", um die kategorialen Grundprinzipien herauszuarbeiten, die den totalen Zusammenhang theoretisch präziser zu erfassen meinen. Doch wie auch immer sie den besonderen Charakter von Gesellschaft, erklären, sie kommen stets zu dem Ergebnis, daß Gesellschaft der Inbegriff eines die Gesamtheit aller Erscheinungen determinierenden Zusammenhangs ist.

Dieses ins Totalitäre sich wendende Verständnis von Gesellschaft hat zwei Konsequenzen, die sich für das politische Bewußtsein der Bundesrepublik weit über die Kreise linker Theorie hinaus bemerkbar gemacht haben: Es entlastet das Individuum von jeder Einzelverantwortung für sein Leben und Handeln, und es kann sich Veränderungen und Verbesserungen auch der individuellen Lage von Einzelpersonen und Gruppen nur durch den Einsatz der Gesellschaft, das heißt konkret: durch das Handeln der Institutionen des Staates vorstellen. Mit anderen Worten: Das linke Gesellschaftsverständnis macht für alle Mißstände, sozialen Probleme, individuellen Schwierigkeiten prinzipiell die Gesellschaft verantwortlich, und es erwartet wirksame Abhilfe auch immer nur von Aktionen der organisierten Gesellschaft als ganzer. An die Menschen und ihr individuelles Verantwortungsbewußtsein zu appellieren, gilt als Augenwischerei.

Da eine politökonomische Analyse des dem Staat — als dem Sachverwalter des gesamtgesellschaftlichen Interesses — zur Verfügung stehenden „Handlungsspielraums" in aller Regel ergibt, daß das politische System durch die Erfordernisse der Kapitalbewegung in seiner Manövrierfähigkeit stark eingeschränkt ist (Theorie der Restriktionen), kann die logische Schlußfolgerung derartiger Analysen wiederum nur im Plädoyer für die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise bestehen, weil angeblich nur dann eine echte Chance besteht, die Gesellschaft bewußt planend zu gestalten und so in Übereinstimmung mit den wahren Bedürfnissen der Menschen zu bringen. Solange jedoch — wie man in den Schriften linker Theorie bis zum Überdruß lesen kann — die Produktion zwar vergesellschaftet, ihre Aneignung hingegen privat organisiert ist, schlägt dieser grundlegende Widerspruch auf alle gesellschaftlichen Beziehungen durch. Eine in sich stimmige, die Menschen positiv aufeinander beziehende Gesellschaftsordnung kann es darum erst geben, wenn der aus der Ökonomie kommende Grundwiderspruch zwischen vergesellschafteter Produktion und privater Aneignung (in stärker traditionell orientierten marxistischen Analysen ist es der Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital) beseitigt sein wird.

Das totale Gesellschaftsverständnis, das schlechthin alles, was passiert, der Gesellschaft oder den gesellschaftlichen Verhältnissen zuschreibt, steht innerhalb linker Theorie nur scheinbar in einem Gegensatz zur Lehre vom Grundwiderspruch, der durch den Kapitalismus in die Gesellschaft hineingetragen wird. Hier handelt es sich, wie stets im dialektischen Denken, um zwei verschiedene Aspekte der gleichen theoretischen Perspekti11 ve, die je nach Bedarf entsprechend akzentuiert werden. Kommt es darauf an, die Allmacht der durch die mystische Größe „Kapital" gesteuerten Verhältnisse aufzuzeigen, dann beherrscht die totalitäre Interpretation von Gesellschaft das Feld, dann sind wir alle Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse. Geht es aber darum, die Ungerechtigkeit, ja Unmenschlichkeit sowie die zunehmende Brüchigkeit der gesellschaftlichen Veihältnisse zu offenbaren, so kommen die Theoreme des Widerspruchs zum Zuge. Alle diese Widerspruchstheoreme sind so konstruiert, daß allein die Aufhebung des Widerspruchs eine Lösung und damit bessere Zeiten für die Gesellschaft verheißt. Nie ist davon die Rede, daß das Leben in sich selbst widersprüchlich sein kann, ja vielleicht durch unausweichliche Widersprüche charakterisiert sein könnte; immer ist die Idee einer harmonischen, durch keine unauflöslichen Interessenkonflikte getrübten, von einem einheitlichen Willen beseelten Gesellschaft das utopische Leitbild, das den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft konfrontiert wird.

Die Theorie von den gesellschaftlichen Widersprüchen erlaubt es ihren Vertretern überdies, sich stets auf die richtige Seite der Gesellschaft und des historischen Prozesses zu schlagen, auf die Seite der höheren Moral ebenso wie auf die Seite des Fortschritts. Die Studenten, die sich nach dem „Spontaneismus" und den Enttäuschungen der antiautoritären Phase dem „Proletariat" zuwandten, wurden durch die klassische marxistische Theorie in ihrem Glauben bestärkt, bei jener Klasse zu stehen, deren schwieligen Händen das Werk der Überwindung der ungerechten kapitalistischen Gesellschaftsordnung anvertraut wäre. Die Theorie, die sie gelehrt hatte, daß die Arbeiter im Kapitalismus ausgebeutet, unterdrückt und entfremdet würden, gab ihnen das gute Gewissen, für eine absolut gerechte Sache zu streiten, sowie die Überzeugung, daß man sich von denen, die dieses ausbeuterische Gewaltverhältnis aufrecht erhielten, d. h. vom Staat, die Mittel für den Klassenkampf nicht vorschreiben lassen dürfte.

So ist Gesellschaft einerseits ein alles absorbierendes Faktum und Faktotum, andererseits ein Gebilde mit antagonistischen, d. h. unversöhnbaren Widersprüchen, die auf ihre Aufhebung drängen. Begreift oder empfindet man sie als die alles absorbierende Totalität, so besteht die Neigung, ihr eine ebenso totale Negation entgegenzusetzen oder aber sich ihrem repressiven Zusammenhang einfach durch die Verweigerung zu entziehen. Dies war die herrschende Tendenz der von Marcuse angeregten Strategie der rebellierenden Studenten in der antiautoritären Phase ihrer Bewegung. Begreift man die Gesellschaft vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der in ihr wirksamen Widersprüche, so verlagert sich die intellektuelle Aktivität auf die Aufdek-kung und Verlaufsanalyse solcher Widersprüche, auf die Freilegung von antagonistischen Konfliktpotentialen, auf die Erörterung darüber, wie die potentiellen Träger von sich verschärfenden gesellschaftlichen Widersprüchen, z. B. die Arbeiterparteien und Gewerkschaften, dazu gebracht werden können, die ihnen von der Theorie zugedachte Rolle im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß richtig wahrzunehmen. Diese Richtung nahm im wesentlichen das stärker dogmatische Theoriebewußtsein. Eine Mittelstellung zwischen diesen Positionen mag man in dem Anspruch erblicken, den der Politologe E. Krippendorff an die Theorie gestellt hat: „Sie muß als Theorie der in den Widersprüchen sich entfaltenden emanzipatorischen Möglichkeiten konzipiert werden." So etwas möchte man gerne einmal ausgearbeitet vor sich sehen!

Eine konkrete Gesellschaft wie die der Bundesrepublik Deutschland, in deren Schoß das neue Theoriebewußtsein neu geboren wurde, muß angesichts der gegebenen Alternativen entweder der totalen Ablehnung und Verdammung anheimfallen oder nach den krisenhaften Schwachstellen durchforstet werden, in denen die Widersprüche sich offenbaren und möglicherweise verschärfen, womit zugleich angezeigt wird, daß auch diese so stabil erscheinende Gesellschaft von ihrer schließlichen Umwälzung nicht verschont bleiben wird. Für beide Perspektiven gibt es in der linken Literatur eine Fülle von Beispielen. Die erste Version, nämlich die Darstellung der modernen Industrie-und Uberflußgesell-schaft als einer alles absorbierenden Totalität, in der selbst noch die an der ökonomischen Basis vorhandenen Widersprüche gewissermaßen verschluckt werden, war in ihrer Wirkung auf das allgemeine politische Bewußtsein der Bundesrepublik zweifellos stärker und nachhaltiger als die zweite, die vorwiegend in den dogmatisierten Zirkeln heimisch geblieben ist. Ansatzpunkt der Kritik ist die Behauptung, die westdeutsche Gesellschaft sei ganz anders, als sie zu sein vorgebe und in der bürgerlichen Sozialwissenschaft dargestellt werde. * Armut und soziale Ungleichheit Die offiziellen Versionen über die sozialen Verhältnisse in der Bundesrepublik orientieren sich im allgemeinen an der Idee des Sozialstaats oder der Sozialen Marktwirtschaft. Der Sozialstaat der Bundesrepublik gilt nach allgemeiner Auffassung zwar noch keineswegs als vollendet, sondern wird als weiter ausbaufähig und entwicklungsbedürftig angesehen, doch besteht auch zwischen den Parteien der Opposition und der Regierung im wesentlichen Übereinstimmung darüber, daß das „Netz sozialer Sicherheit" in unserem Lande relativ dicht geknüpft ist, insbesondere, wenn man es mit den Verhältnissen früherer staatlicher Epochen der deutschen Geschichte vergleicht. Differenzen ergeben sich vornehmlich hinsichtlich der Angemessenheit und der jeweiligen Zielrichtung eines weiteren Ausbaus der kollektiven Daseinsvorsorge.

Aus dem Blickwinkel linker Theorie ist dieses Bild des deutschen Sozialstaates nichts als betrügerische Schönfärberei oder schlicht illusionär. Wenn man schon aus dem Grundgesetz die konstitutionelle Rechtfertigung eines alternativen demokratisch-sozialistischen Sozialstaatsmodells herausliest, wie dies W. Abendroth und in seiner Nachfolge H. H. Hartwich in ihren verfassungspolitischen Beiträgen zur Sozialstaatsklausel getan haben, dann kann von einer Verwirklichung des Sozialstaats bei uns natürlich nicht die Rede sein, sondern eher von seiner Blockierung, denn dieses Modell ist an die „Beseitigung der privatwirtschaftlichen Profitorientierung als dem zentralen Mechanismus kapitalistischer Produktionsverhältnisse" geknüpft. Stets ist es dieser kapitalistische Mechanismus, der auf der Linken als Grund dafür angegeben wird, daß in der Bundesrepublik keine sozialstaatlichen Verhältnisse gegeben wären.

Einer der Kritiker hat in einer dem schrittmachenden amerikanischen Vorbild Michael Harringtons nachempfundenen Studie über die „Armut in der Bundesrepublik" eine in der Tat erschreckende oder, wie ein Gesinnungsgenosse schreibt, „makabre Bilanz des Sozialstaates" vorgelegt Zu den „Sozialfällen" rechnet er über 5 Millionen Rentenabhängige, knapp 2 Millionen Kinder, „die durch das soziale Schicksal ihrer Eltern in ih-rer weiteren Entwicklung erheblich gestört sind und über die soziale Klasse ihrer Eltern nicht hinauskommen werden, 1, 1 Millionen Menschen in ländlichen Gebieten, die wegen zu geringen Einkommens ihre sozialen Bedürfnisse reduzieren müssen, nicht zu vergessen fünfzigtausend „erwachsene Kriminelle in Haftanstalten", hunderttausend Heimkinder, ebensoviele Geisteskranke usw. Dank der Addition derartiger Zahlen kommt dieser Analytiker der Armut in der Bundesrepublik zu der phantastischen Zahl von fast 15 (in Worten: fünfzehn) Millionen „Sozialfällen"; das wäre fast jeder vierte Bewohner, die Gastarbeiter, jene „Parias der hochentwickelten Industrie-gesellschaften", nicht einmal miteingerechnet. Zu diesem, alle geläufigen Vorstellungen von Armut sprengenden Verständnis des Phänomens gelangt man indessen leicht mit Hilfe der folgenden definitorischen Festsetzung: „Armut muß als individueller oder kollektiver Zustand definiert werden, während dessen Dauer es den Betroffenen unmöglich ist, lebensbefriedigend zu wohnen, sich zu ernähren, zu verdienen, sich zu versorgen und sich zu schützen. Das Attribut lebensbefriedigend ist dabei ein relatives; es bestimmt die Armut der einen je nach Reichtum und Wohlstand der anderen."

Der letzte Satz macht alles klar. Wenn ich den Reichtum und Wohlstand einer bestimmten sozialen Schicht der Gesellschaft, sagen wir der Einkommensoberschicht, zum Maßstab für die Armut der anderen nehme, dann ist bei uns nicht nur die Unterschicht, sondern sogar die Mittelschicht relativ verarmt. Es kann sogar sein, daß sich Angehörige aus den Mittelschichten, z. B. die sogenannten Aufsteiger, gemessen an ihren subjektiven Vorstellungen von Lebensbefriedigung einer relativ weit stärkeren Deprivation ausgesetzt sehen als Angehörige der Unterschichten, die mit ihrem sozialen Los im großen und ganzen zufrieden sind. Dieses Beispiel offenbart die Willkür, mit der bei linken Analysen der sozialen Lage in der Bundesrepublik vorgegangen wird.

Diese Neigung zur Willkür in der Theoriegestaltung wird dabei durch einen anderen typischen Argumentationsstrang verstärkt. Man geht gemeinhin davon aus, daß wir in einer Periode wachsenden gesellschaftlichen Reichtums leben, und zwar in einem solchen Ausmaße, daß dieser Reichtum, werde er nur gerecht auf alle verteilt, die ungerechtfertigte Unterteilung der Gesellschaft in Besitzende und Nichtbesitzende zum Nutzen aller für im-mer aufzuheben vermöchte. Es ist die klassische Utopie vom Reich der Freiheit, in dem jeder nach seinen Bedürfnissen leben kann. Diese Utopie sei nicht mehr abstrakt, sondern konkret, denn sie könnte hier und heute zu verwirklichen begonnen werden. Doch die Besitzenden verhindern eben durch ihre ökonomische Macht, durch die Wahrnehmung ihrer Interessen seitens des Staatsapparates, durch soziale und andere präventive Manipulationen, die ihrer Herrschaft nach Bedarf die Fügsamkeit der Untertanen und die Loyalität der Massen sichern, die Entstehung der wahrhaft gerechten Wohlstandsgesellschaft. Sie setzen sogar das von ihnen im großen usurpierte Mittel der Eigentumsbildung ein, um zu verhindern, daß an den Grundlagen des sie privilegierenden Systems gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung gerüttelt werde. „Vielmehr dient gerade das Eigentum der Lohnabhängigen gesellschaftlich dazu, den Eigentümer zu kontrollieren. Mittels seiner Habe, von der Wohnungseinrichtung bis zum Einfamilienhaus, wird er abhängig gemacht; sein Leben gerinnt, Geschichte wird stationär. Das Privateigentum vermag dies über den Lohnabhängigen: daß er sich zähe jedem Impuls zur Veränderung, zum Protest wird widersetzen müssen, daß er sich bei aufsteigendem Unbehagen an seiner Lage am Besitz festklammert, daß er über seine wahren Bedürfnisse sich täuscht."

So gelingt es dank seiner beherrschenden Manipulationskraft dem kapitalistischen System immer wieder, die sozialen Kräfte, die ihm massiven Widerstand entgegenzusetzen berufen wären, für sich zu vereinnahmen. Manche sehen gar schon in der frühkindlichen Sozialisation des Bundesbürgers nichts anderes als einen sozialen Vergewaltigungsprozeß zur Abrichtung fürs System. Von Anfang an sei der Mensch in der'bürgerlichen Kultur ein „sozial vergewaltigtes Wesen", „Vernichtung" (sic) sei das allgegenwärtige Prinzip sozialer Beziehung, die Quelle der Deformation der Eltern, die im Neugeborenen später reproduziert werde und so immer fort, von Geschlecht zu Geschlecht

Von solchen überspannten Thesen bis hin zu der weitaus geläufigeren Formel, daß die Gesellschaft es sei, die uns krank und kaputt mache, ist es nur ein kleiner verallgemeinernder Schritt. Doch selbst die kleineren sozialen Einheiten wie die Ehe oder die Familie vermögen gegenüber dem repressiven Druck der Gesellschaft natürlich nicht viel auszurichten.

„Partikularisierung, Parzellierung, Isolierung des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft und ihr Fundus an zwischenmenschlicher Feindseligkeit reproduzieren sich zu prägnant in der sozialen Organisation (gemeint ist die Familie), in der zugleich zu viel Nähe herrscht."

In dieser düsteren Perspektive linker Sozial-psychologen schlägt alles, was der einzelne unternehmen mag, nur in die lähmende Verfestigung und Perpetuierung seiner Abhängigkeit von fremder Herrschaft um. Der Sozialisationsprozeß, von dem in den Sozialwissenschaften heutzutage so übermäßig viel geredet wird, dient unter den Bedingungen des Spätkapitalismus gerade nicht der Emanzipation des Individuums, sondern kettet dieses nur noch fester ans System. Die Frau z. B., die sich entschlossen hat, der Privatisierung der Ehe zu entrinnen, in der sie „zum Ausschluß aus der gesellschaftlichen und politischen Welt verurteilt war", und die darum einen Beruf ergreift, gerät nur in neue, eher noch schlimmere Abhängigkeiten, die sie diesmal mit ihren männlichen Berufskollegen teilen muß, und vereitelt damit erst recht ihre eigene Emanzipation. In diesem monströsen Gesellschaftsbild sind Mann wie Frau und zumal die Kinder ein „Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse". Ob draußen im Beruf oder drinnen in der Familie, sie sind „längst nach der Struktur ihrer Beziehungen und dem emotionalen Klima ein Anhängsel der Produktionssphäre geworden" Es erscheint alles hoffnungslos.

Doch diese kulturpessimistischen Intellektuellen wären kaum noch Linke zu nennen, hätten sie nicht bei aller Trostlosigkeit des erhobenen analytischen Befunds mehr oder weniger gut begründete Ansichten und Aussichten zu bieten, wie dem Elend, der Deprivation (= Entbehrung, Beraubung) und der Depravation (= moralische Korrumpierung) (man findet in der einschlägigen Literatur beide Termini — vielleicht vermag man sie nicht zu unterscheiden) beizukommen wäre. Die Theorie, die sich für die Kritik des Bestehenden, für seine kritische Destruktion so brauchbar erwies, läßt dem, der sie handhabt, stets Refugien der Hoffnung übrig. Professor Peter Brückner, dem wir die obige „Blütenlese" verfinsterter Resignation verdanken, denkt an durch brüderliche Solidarität gestiftete Gesellungsformen, die in politisierten Konflikten sich mit der umliegenden Gesellschaft kritisch austauschen, und er wiederholt noch 1975 die Forderung nach einer „emanzipati-ven Theorie, die zugleich Maximen sozialen Handelns impliziert" Anscheinend gibt es sie immer noch nicht.

Ein linker Theoretiker der Sozialarbeit in der Bundesrepublik folgert aus seiner Analyse, die Impulse zum Wandel könnten nicht von der institutionalisierten Sozialarbeit selbst, sie müßten von den „Opfern" des Sozialstaats ausgehen Eine Kollegin aus der praktischen Sozialarbeit berichtet dagegen ernüchternd, daß viele von denen, die mit ihrer Tätigkeit als Sozialarbeiter anfänglich die Idee einer „berufsrevolutionären Praxis" verbanden, in ihrer Arbeit resigniert hätten, dafür jedoch in der Freizeit ganz „links" wären. „Sie begründen das damit, daß man sich eben in seinem erlernten Beruf, der in der kapitalistischen Gesellschaft nun mal so beschissen wenig Möglichkeiten vernünftiger Arbeit bietet, reproduzieren muß, um leben zu können, die eigentliche politische Arbeit aber außerhalb zu geschehen habe. Die erledigen sie dann entweder am Biertisch oder manchmal auch in einer Partei."

Der Bericht zeigt im übrigen, wie unter den Intellektuellen der Neuen Linken Resignation und Hoffnung dicht beieinanderliegen können; er dokumentiert den praktisch erlebten Zwiespalt zwischen einer totalen Auffassung von Gesellschaft einerseits, derzufolge alles dem herrschenden System einverleibt ist, und dem beharrlichen Glauben an die Notwendigkeit der schrittweisen Veränderung und Verbesserung von konkreten Verhältnissen im grauen Alltag sozialer Benachteiligung andererseits. Dies freilich sind praktische Schritte, die sich kaum durch große Theorien, vielmehr ausschließlich durch die konkrete Hilfe für die Unterprivilegierten legitimieren lassen. „Unsere Erwartungen auf schnelle gesellschaftliche Veränderungen, die uns einer Gesellschaft, in der Sozialarbeit überflüssig sein wird, näher bringen, haben sich nicht erfüllt. Statt dessen wissen wir mehr über die Bedingungen gesellschaftlicher Veränderungen und unsere mögliche Rolle in diesem Prozeß." Dazu gehört übrigens auch die Einsicht, daß es unmöglich ist, die „Opfer" politisch zu organisieren, worauf die Theoretiker verfallen waren.

Dennoch hat diese Theorievariante bei der Neuen Linken, vor allem unter dem Einfluß Marcuses, lange Zeit eine wichtige Rolle gespielt. Es war die Auffassung, daß der Widerstand gegen das bestehende, alles beherrschende technokratische System des entwik-kelten Kapitalismus jetzt von den „systemisch" Unterprivilegierten und Vernachlässigten (zu denen sich manchmal auch die Studenten selber rechneten) ausgehen müßte. Dazu zählten nicht mehr in erster Linie die Arbeiter, die dank der ökonomischen Verbesserung ihrer Lage und dank der gelungenen Integration in den Verwertungsprozeß bereits zu jenen sozialen Gruppen gerechnet wurden, die mit Erfolg in der Lage wären, ihre sozialen Interessen (in freilich durch das Kapital begrenztem Maße) zu vertreten. Dazu rechneten vielmehr jene sozialen Schichten und Gruppen, die im sozialpolitischen Verteilungskampf keine eigene Stimme haben, weil sie nicht organisiert sind, oder die sich zwar bemerkbar machen, aber nichts durchsetzen können, weil sie über keine strategische Position im Bereich der Produktion verfügen. Claus Offe hat diese der pluralistischen Wirklichkeit halbwegs nahe kommende These zu einer Theorie der Entstehung gesellschaftlicher Disparitäten im Spätkapitalismus ausgebaut Diese Theorie hat direkt oder indirekt auch die vorherrschenden politischen Konzeptionen über soziale Ungleichheit und eine gerechtere Sozialpolitik stark beeinflußt.

Heute ist es nämlich gang und gäbe, Kranke, Obdachlose, Arme, Behinderte, alte Menschen, Rentner und dergleichen (manchmal selbst die Frauen und die Kinder) als zusammengehörige soziale Randgruppen aufzufassen, als Gruppen also, die am Rande der Gesellschaft stehen, unterprivilegiert und vernachlässigt sind. In der Tat gibt es für diesen neuen konstruierten, die herkömmliche Klassen-oder Schichtensoziologie unterlaufenden Typus disparitärer Lebensbereiche in der Regel nicht die üblichen Organisationsmerkmale sozialer Verbandsbildung. Auch trifft es zu, daß die genannten Gruppen im Produktionsprozeß keine wesentliche Rolle spielen; sie sind höchstens als Konsumenten von Interesse. Deshalb können sie nicht, wie z. B. die Gewerkschaften oder die Arbeitgeberorganisationen, Konflikte untereinander oder mit dem Staatsapparat austragen und ihre gesellschaftliche Macht zur Geltung bringen. Dies hat zur Folge „das strukturelle Zurückbleiben der Lebensbereiche und sozialen Gruppen und Be-dürfniskategorien, die keine systemrelevanten Risiken provozieren können und deshalb einen weniger gewichtigen Anspruch auf politische Interventionen erheben können"

An die Stelle des Pauperismus des frühkapitalistischen Proletariats trete ein moderner Pauperismus der depressed areas und der davon betroffenen sozialen Gruppen. Offe nennt die Bereiche Bildung, Verkehr, Wohnung und Gesundheit als Beispiele. Die Ungleichheit der Lebensbereiche wird besonders gern durch einen Vergleich der optimalen technischen und sonstigen Ausstattung der Militärapparate mit der „Bildungsmisere" oder dem „Verkehrschaos" oder der „Umweltkatastrophe" oder der nicht ausreichenden Krankenversorgung unterstrichen. Während den Beschaffern von Kriegsgerät für die Bundeswehr nur das Aufwendigste und Teuerste gut genug sei, fehle es unserer Gesellschaft an Schulen, Krankenhäusern, Kinderngärten, Erholungsheimen, Psychoanalytikern etc., etc. — ein eben so beliebtes wie variables Argumentationsmuster. „Die Leidtragenden sind die echte Not Leidenden an den Elendsgrenzen der Marktwirtschaft ebenso wie wir alle, die in vielen Lebensbereichen der Lebensqualität und Reformen verlustig gehen." Auch wer erkennt, daß es in unserer Gesellschaft Rand-gruppen mit struktureller Unterprivilegierung gibt und die Sozialpolitik in diese Richtung reformieren möchte, wird die linke Randgruppentheorie kaum als hilfreiches Analyse-instrument einschätzen. Sie ist undifferenziert und überzogen.

Offes ebenso interessante wie kühne Theorie über die Entstehung neuer Formen sozialer Ungleichheit war nicht nur der Versuch, der in der Studentenbewegung durchgebrochenen Neuen Sensibilität in bezug auf soziale Ungerechtigkeit und Privilegierung plausible Theoriestützen zu liefern, sie diente en passant auch der Widerlegung der traditionellen marxistischen Klassentheorie, derzufolge alle Phänomene sozialer Ungleichheit in der kapitalistischen Gesellschaft auf den Klassengegensatz und den in ihm sich artikulierenden Grundwiderspruch von Arbeit und Kapital zurückgeführt werden müssen. Die neuen Formen sozialer Ungleichheit, so meinte er, ließen sich nicht mehr als unmittelbarer Reflex ökonomisch definierter Klassenverhältnisse erklären, sie seien vielmehr als Begleiterscheinungen eines umfassenden politischen

Steuerungssystems zu interpretieren, mit der Folge, daß es der Politik angesichts der Entstehung sozialer Ungleichheit immer schwerer falle, sich gegenüber den in wachsender Zahl davon betroffenen Bürgern zu legitimieren Dieser Ansatz wurde dann zur Theorie von der Legitimitätskrise des politischen Systems fortentwickelt, jenes gegenwärtig bevorzugte Bewegungsfeld der Nachfahren der Kritischen Theorie, die aufgrund ihrer stärker durch die Empirie vermittelten Einsicht in den Zustand der Gesellschaft nicht bereit waren, den orthodoxeren Weg der Marxschen „Klassenanalyse" zu gehen.

Klassenanalyse Während sich so der Impuls jener Theoretiker, die einigen Einsichten der Kritischen Theorie verpflichtet blieben, stärker auf die Entstehung neuer sozialer Ungleichheiten richtete, galt nach der symbolischen Wieder-entdeckung des Proletariats das Interesse zahlreicher anderer Theorie-Linker der Dekre-

tierung bzw. Erforschung der Klassengesellschaft der Bundesrepublik. Im Ergebnis freilich waren sich beide Gruppen ziemlich einig: Die Gesellschaft der Bundesrepublik ist eine Klassengesellschaft, sei es mit den alten, sei es mit neuen Klassen; diese Gesellschaftsform ist unhaltbar, da sie auf einem nicht zu rechtfertigenden und „selbstnegatorischen" Prinzip beruht, dem der privaten Aneignung einer insgesamt vergesellschafteten Produktion. Sie kann, ungeachtet der immer wieder konstatierten „Gewalt" der gesellschaftlichen Verhältnisse, die in ihr grundgelegten antagonistischen Widersprüche nicht abschütteln. Da die Arbeiterklasse mit Karl Marx als die allein relevante politische Gegenmacht verstanden wird, geht es in den orthodoxeren Ansichten oder theoretisch angeleiteten Abhandlungen über die soziologische Verfassung der deutschen Gesellschaft im wesentlichen um die Frage, woran man ihren Klassencharakter festmachen kann und welche Funktion der Arbeiterschaft in den „Klassenkämpfen" der deutschen Gesellschaft zukommt. Gelegentlich vermischen sich dabei einige Aspekte der Randgruppen-oder Disparitätentheorie mit den herkömmlicheren Formen marxistischer Klassenanalyse.

Die zahlreichen . Untersuchungen über „Gesellschaftsstrukturen" über das „Bewußtsein der Arbeiter" die verschiedenartigen Projekte einer „Klassenanalyse" etc. reiben sich allesamt mit besonderer Vehemenz an der Mitte der fünfziger Jahre aufgestellten These des Soziologen H. Schesky, der die Gesellschaft der Bundesrepublik als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft" charakterisierte.

Der marxistisch gewordene Soziologe U. Jaeggi übernimmt zwar an einer Stelle seines Buches über die Bundesrepublik genau diese These, wenn er sagt: „In unserer Gesellschaft sind die Werte der Mittelschicht die herrschenden Werte" aber diesen, alles Vorherige Lügen strafenden Satz schreibt er in einem Zusammenhang, in dem er zeigen will, daß die Kinder der Unterschicht durch diesen Umstand von vornherein diskriminiert und benachteiligt werden. Ansonsten hält er gar nichts von der Schelskyschen Theorie und auch nichts von der These Habermas'über die „Stillegung des Klassenkampfes". Vielmehr wirft er den nicht auf seiner Linie liegenden „bürgerlichen" Soziologen pauschal vor, weder das politisch-ökonomische System noch die Sozialstruktur der Bundesrepublik theoretisch und empirisch hinreichend untersucht zu haben. Er hält es statt dessen lieber mit strammen Aussagen aus der Werkstatt orthodoxer Theorie: „Der Klasse der Kapital-eigentümer und ihrer politischen Funktionäre stand daher (in der Bundesrepublik) nach wie vor die Masse der lohnabhängigen Arbeiter, Angestellten und kleinen und mittleren Beamten gegenüber."

Die Begründung des Klassenverhältnisses als eines auch empirisch gegebenen erfolgt in der Regel nach der bekannten marxistischen Unterscheidung zwischen Besitzern und Nichtbesitzern von Produktionsmitteln. Weil diese Unterscheidung auch im heutigen Kapitalismus zum großen Teil noch fortbesteht, existiert natürlich auch das Klassenverhältnis fort. Aber so einfach und klar das Unterscheidungskriterium der Theorie ist, die Sache selbst, das heißt: das empirische Studium der Klassenverhältnisse, ist schwieriger als zu Marx’ Zeiten, wenn man fündig werden will. Darum bekennt sich eine Gruppe von Soziologen zwar zu den „methodischen Mitteln der Marxschen Klassentheorie", fügt jedoch gleich hinzu, diese Klassentheorie sei nicht einfach vorgegeben, vielmehr hänge die Möglichkeit ihrer innertheoretischen Entfaltung von der Form und der Intensität aktueller Klassenkämpfe ab (Dies ist wieder eine jener sattsam bekannten marxistischen Aus-weichstraßen! — Wie soll man Klassenkämpfe überhaupt orten und analysieren können, wenn man die Theorie dafür noch gar nicht hat, da diese sich erst in ihnen entfaltet?)

Besser haben es da freilich diejenigen, die die Klasse schon erkannt haben: „Seit den Septemberstreiks 1969 ist die Arbeiterklasse als Klasse wieder eine politische Tatsache."

„Klassenanalyse" in dem zumeist praktizierten Sinn ist oft zu fünfzig Prozent Darstellung und Kritik der die Klassensituation leugnenden oder modifizierenden bürgerlichen Auffassungen, gefolgt von der sich daraus anscheinend ergebenden Schlußfolgerung, „weder die Fiktion eines Klassengrenzen abbauenden Wohlfahrtsstaates noch die begrenzte Bedeutung von Disparitäten (könne) eine Darstellung der Sozialstruktur der BRD aus einem differenziert begriffenen Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital abwehren" Das heißt, es hat sich seit Marx prinzipiell nichts geändert. In puncto konkreter Analyse werden wir jedoch ziemlich im Stich gelassen.

Außer der bedeutsamen Erkenntnis, daß einige der Gruppen der Angestellten (die Manager) wohl besser der allgemeinen Kapitalistenklasse zuzurechnen wären, und daß man die zahlenmäßig immer stärker werdende Gruppe der technischen Intelligenz dem „produktiven Gesamtarbeiter" zuschlagen müßte, erfahren wir nicht viel, es sei denn, man hält es für Klassenanalyse, wenn man feststellt, daß die „eigentlichen Produzenten", also die Arbeiter, in bezug auf ihren Lebensstandard immer noch schlechter dastünden als die restlichen Inhaber der Produktionsmittel, oder wenn man aus einer Vermögensverteilungsstatistik „die fortschreitende Subsumtion der Arbeit unter das Kapital" herausliest Andere Autoren halten „Unterprivilegierung", verstanden als soziale Ungleichheit zwischen Arbeitern und Kapitalisten, für einen Beweis dafür, daß die Arbeitsund Betriebsverhältnisse weiter durch die Klassenlage geprägt wären. Die auch von ihnen nicht gut zu übersehende Tatsache, daß „es den Arbeitern zunehmend schwerfiel, den Klassen-charakter des kapitalistischen Systems zu identifizieren und gegen die herrschenden Verhältnisse zu kämpfen", erklären sie mit einem „Zwang zur Anpassung", mit der Preis-gabe jeder Hoffnung der Arbeiter auf grundlegende Veränderung, mit Resignation vor der Übermacht der bestehenden Verhältnisse Ihr setzen sie ihrerseits die Hoffnung entgegen, die Widersprüche des westdeutschen Kapitalismus ließen sich durch „politische Praxis" an die Oberfläche bringen und den Arbeitern einsichtiger machen. Dafür sehen sie Chancen in der „wachsenden Irrationalität des Systems". Nach ihrer Auffassung befindet sich der Kapitalismus in Ländern wie der Bundesrepublik heute in einer Phase, „die seine Überwindung objektiv notwendig und möglich erscheinen läßt" Der Band, dem diese Beispiele entnommen sind und dessen professorale Herausgeber es sich vorgenommen hatten, die „Zauberformeln der bürgerlichen Soziologie", wie z. B. „organisierter Kapitalismus" oder „sozialstaatlich verfaßte Massendemokratie", zu durchbrechen endet sinnigerweise mit einer Studie über „Gesellschaftsklassen und Gesellschaftsschichten im tropischen Afrika".

Vielleicht mag es auf dem Feld der Klassen-analyse Besseres geben als das uns vor Augen gekommene Material. Auffällig ist jedenfalls, daß die Klassifizierung der untersuchten Gesellschaft als Klassengesellschaft stets schon vorab jeder Analyse vorgenommen wird, das Ergebnis also immer schon feststeht. Es lautet: Die Bundesrepublik ist eine Klassengesellschaft, denn sie basiert auf der kapitalistischen Produktionsweise; diese Produktionsweise bringt zwei verschiedene Klassen hervor, etc., etc. Man kann es bei Marx nachlesen, dessen über hundert Jahre alten Schriften denn auch stets ausgiebig als Beleg für die eigentlich zu beweisende These bemüht werden. Differenzen in der Klassenanalyse gibt es lediglich über Fragen der Zuordnung bestimmter Gruppen, z. B.der technischen Intelligenz oder der Intellektuellen zur jeweiligen Klasse. Durch die seit Marx eingetretene Veränderung der Gesellschaftsstrukturen und — nicht zuletzt — die revolutionäre Sensibilisierung von Studenten und anderen Randgruppen war die Erweiterung der Klassenanalyse über das Proletariat hinaus ohnehin unausweichlich geworden. Gleichwohl: die Bundesrepublik ist, wie sehr sie sich an ihrer sozialen Oberfläche auch wandeln mag, eine Klassengesellschaft. Daran darf nicht gerüttelt werden. Dabei muß es bleiben, solange noch irgendwo „Mehrwert" produziert wird.

3. Typische Denkmuster linker Polit-Analyse

Bei den Ansichten, welche die linke Theorie über Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik verbreitet (es fällt zuweilen schwer, sie als wissenschaftliche Analysen zu bezeichnen, sofern Wissenschaft die Verpflichtung zu Wahrheit und Objektivität einschließt), sind eine Reihe von typischen Denkmustern wirksam, die es der Theorie erlauben, sich entweder überhaupt nicht mit den konkreten, empirisch zu ermittelnden Verhältnissen eines Landes zu befassen, oder aber ihnen eine Interpretation angedeihen zu lassen, bei der solche Ergebnisse herauskommen können, wie wir sie oben kennengelernt haben. Die einfachste und am häufigsten praktizierte Art der Auseinandersetzung ist zugleich die abstrakteste: Sie sieht in Staat und GesellschaftBundesrepublik das System einer „bürger-

iche 1 Gesellschaft" oder einer „kapitalisti'Gesellschaftsformation" verwirklicht und Taktiert die bürgerliche Gesellschaft oder den . Spätkapitalismus'als solchen. Hebt man den Untersuchungsgegenstand auf diese Stufe der Abstraktion, so kann man sich um so leichter dem Spiel der Theorie hingeben, da es von keinem Sich-Einlassen auf die komplexe Wirklichkeit gestört wird. Man spult die theoretischen Erkenntnisse, die man sich beim Studium der Klassiker und ihrer treuen und weniger treuen Interpreten erworben hat, einfach herunter, vielleicht garniert mit ein paar passend erscheinenden Beispielen aus dem Erfahrungsbereich der Bundesrepublik und bezeichnet das Ganze als eine Analyse „bürgerlicher Herrschaft" oder des „kapitalistischen Staates", die im Prinzip auch für die Bundesrepublik gelte. Stellt man mit Altvater immerhin fest, daß z. B. in den kapitalistischen Vereinigten Staaten das Gesundheitswesen vorwiegend privat, in der gleichfalls kapitalistischen Bundesrepublik hingegen vorwiegend öffentlich organisiert sei, so verweist man flugs darauf, daß „die Übernahme allgemeiner Produktionsbedingungen durch den Staat von der historischen Lage eines Landes" abhänge. Mit diesem Hinweis aufs historisch Verschiedene muß man jedoch gerade den eigentlichen Anspruch der Theorie preisgeben, die konkreten historischen Erscheinungsformen kapitalistischer Herrschaft erklären zu können Die Konzentration auf die abstrakte Darstellung der Theorie und ihrer Varianten wird immer erkauft durch den Verzicht auf empirisch verläßliche, historische Konkretisierung, wiewohl gerade diese Theorie so pathetisch für sich in Anspruch nimmt, eine historische zu sein.

Das Verfahren normativer Abstraktion Neben dieser Flucht aus den komplexen Verstrickungen empirischer Verhältnisse unter die schützenden Fittiche abstrakter Theorie — eine Tendenz, die in der Neigung zu abstrakter Theorie-und Modellbildung in den modernsten Sozialwissenschaften ihre interessante Parallele hat — ist ein zweites Denkmuster symptomatisch für die Art und Weise, wie linke Theorie mit den politischen und sozialen Verhältnissen, die sie in der Bundesrepublik vorfindet, fertig wird. Auch diese Methode beruht auf dem Prinzip der Abstraktion, doch es werden jeweils nur bestimmte Normen, Begriffe oder Sachverhalte aus ihrem gewohnten Verständniszusammenhang her-ausgelöst, sodann bewußt übersteigert und anschließend kritisch auf die soziale und politische Wirklichkeit bezogen. Dieses Verfahren, das freilich nicht allein im Rahmen marxistischer Wissenschaft praktiziert wird, sondern allen normativen Theorien zugrunde liegt, eignet sich ausgezeichnet zur kritischen Verurteilung bestehender Verhältnisse. Auf ihm beruht die auf der Linken ständig benutzte Entgegensetzung von Verfassung und Verfassungswirklichkeit, auf dieser Basis operiert die radikale Verfassungsinterpretation mit ihrer oft massiven Kritik an den herrschenden Lehren über das Grundgesetz.

Es handelt sich dabei — wie erwähnt — nicht um ein typisch „linkes" Verfahren. Bis zu einem gewissen Grade beruht ja die Wirkung aller intellektuellen Kritik darauf, daß es ihr gelingt zu zeigen, daß die Verhältnisse nicht das sind, wofür sie sich ausgeben, und daß bestimmte kritisierbare Sachverhalte immer auch gewisse Rückschlüsse auf die gesamte Situation des Staates und der Gesellschaft nahelegen. „Links" ist diese Methode immer dann, wenn die Übersteigerung der normativen Urteilskriterien über die bestehenden Verhältnisse entweder dem Begriffs-und Ideenapparat sozialistischer Theorie entnommen wird oder als bewußt utopische gesehen werden muß. So ist z. B. die bei allen linken Theorien zentrale Idee der Gleichheit im Sinne einer absoluten Egalität eine solche Utopie. Da aber Gleichheit auch zum Wertekatalog der bürgerlichen Demokratie gehört (auch wenn linke Verfassungskritiker zwischen Gleichheit und Gleichheit vor dem Gesetz oft nicht mehr unterscheiden können), kann linke Kritik immer auch so tun, als würde sie nur dem bürgerlichen Verfassungsverständnis auf die Sprünge helfen und den Verschleiß seiner Grundwerte aufhalten wollen. Deshalb gibt es einen fließenden Übergang von liberalen zu linksliberalen bis hin zu linksradikalen Interpretationen des Grundgesetzes und des politischen Geschehens, und deshalb fällt es auch so außerordentlich schwer, die möglichen Gegner einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung von ihren Freunden klar zu unterscheiden. Wieso soll jemand ein „Verfassungsfeind" sein, der nichts anderes tut, als eben diese Verfassung vor ihren „Relativierem" zu schützen und bestrebt ist, ihre „Deformierung" (Abendroth) rückgängig zu machen?

Eine Theorie, so formuliert es einer, die um der Emanzipation aller willen betrieben werde, müsse „die Unterdrückten mit einem scharfen Maßstab" ausstatten Nichts anderes leistet linke Theoriebildung, wenn sie sich mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik in einer Weise auseinandersetzt, daß normalen Sterblichen (= Bürgern) das Hören und Sehen vergeht. Der scharfe Maßstab, die vielgerühmte „Waffe der Kritik" (Marx), ist die Orientierung an dem, was als „objektiv möglich" angesehen wird. Die bestehenden Verhältnisse werden nicht an Kriterien gemessen, die aus der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Stoff der Wirklichkeit gewonnen und fortentwickelt werden, sondern an fiktiven Potentialitäten, an harmonischen Synthesen, an utopischen Modellen. Indem das Potentielle als das real Mögliche, die harmonische Synthese als das erreichbare Ziel, das utopische Modell als das wirkliche Bild einer Zukunft vorgestellt werden, gewinnt linke Theorie einen Standpunkt außerhalb der realen Lebenswelt, von dem aus das sich in der Gesellschaft Begebende nicht nur als unvollkommen, sondern als widersprüchlich, anarchisch und reaktionär erscheinen muß. Wer im Banne solcher Theorie denkt und ar-gumentiert, wer die von ihr bewußt übersteigerten normativen Ansprüche an das Leben der Gesellschaft für reelle Kriterien nimmt, der kann sich in einer von soviel Unvollkommenheit, Feindseligkeit und humaner Rückständigkeit geprägten bürgerlichen Welt in der Tat nicht „zu Hause fühlen" — oder er ist schlicht schizophren, indem er sein Denken und Handeln auseinanderreißt, wofür bei nicht wenigen linken Intellektuellen einige Indizien sprechen. „Sie haben den Handschuh wieder geworfen, diesmal sozial... Man lebt ja nicht schlecht dabei, in München-Schwabing zum Beispiel."

Gegenüber einer solchen Position haben es alle Liberalen natürlich schwer, die glauben, die Unvollkommenheit der Verhältnisse zwar prinzipiell nicht überwinden, doch immer wieder von Neuem zugunsten von etwas Besserem — sozusagen nach oben — korrigieren zu können. Gegenüber den normativen Über-steigerungen der auch von ihnen vertretenen Werte wie Demokratie, Gleichheit, soziale Wohlfahrt, die ihnen von der linken Theorie so penetrant und zugleich idealistisch unter die Nase gehalten werden, müssen sie sich auf das undankbare Geschäft des Abwiegelns verlegen: Demokratie sei in der Massengesellschaft mit wirksamer Beteiligung aller eben nicht möglich, Chancengleichheit nicht absolut, sondern nur in Grenzen realisierbar, soziale Gerechtigkeit sei immer mit Mängeln und Defiziten behaftet, und so weiter. Wenn sie solches tun, verfallen sie zwar nicht mehr dem üblichen Verdikt, bloß Ideologien zu verbreiten, aber sie riskieren den vielleicht noch gravierenderen Vorwurf, die Grundwerte unserer Verfassung nicht genügend ernst zu nehmen. In dem Maße, in dem durch das Eindringen verabsolutierter Maßstäbe in das politische Bewußtsein die naturgegebene Spannung zwischen normativer Zielsetzung und gesellschaftlicher Realität maßlos überdehnt wird, wird auch der Konsensus der politisch maßgeblichen Gruppen und damit die Grundlage ihrer Legitimität einer stärkeren Belastung ausgesetzt. Denn sie können sich gegenüber den aus dem neuen Theoriebewußtsein hergeleiteten radikalen Forderungen und Ansprüchen nicht völlig immunisieren, da sie nominell die gleichen Werte hochhalten. Parteien der linken Mitte wie die SPD trifft diese Wandlung im politischen Bewußtsein natürlich direkter und schwerer als weiter rechts stehende politische Gruppierungen.

Das Verfahren der Immunisierung nach außen Eine dritte typische Reaktion linker Theorie in ihrer Auseinandersetzung mit den „bürgerlichen" Demokratien ist schließlich die weitgehende Immunisierung ihrer Inhalte gegenüber direkten Vergleichen mit Gesellschaften, die bereits die Revolutionierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse hinter sich haben. Hier gibt es mehrere Varianten: Eine zu Beginn der Studentenbewegung besonders häufig anzutreffende Auffassung war die, daß die bestehenden sozialistischen Gesellschaften, insbesondere die Sowjetunion und die DDR, den wahren Sozialismus nicht verwirklicht, sondern in bürokratische Fesseln gelegt hätten. Hinweise auf Erscheinungen in diesen Ländern galten somit als kein ernst zu nehmender Einwand gegen die Theorie, denn man tat einfach so, als könnte man aufgrund besserer theoretischer Erkenntnis und unter Nutzung der menschlichen Spontaneität den angestrebten Sozialismus viel besser machen, als er bislang praktiziert worden war. Es war dies ein völlig unhistorisches, aus der Überheblichkeit geborenes und utopisches Denkmuster, Polit-Träumerei, wenn man es boshaft ausdrücken will.

Die zweite Variante der Immunisierung orientiert sich zwar an bereits bestehenden sozialistischen Systemen, sei es die DDR oder die Volksrepublik China oder Kuba, aber sie arbeitet nicht oder nur ganz selektiv mit empirisch ermittelten Kenntnissen über die Wirklichkeit des jeweiligen sozialistischen Systems, sondern nimmt statt dessen die von den betreffenden Systemen monopolistisch verbreiteten ideologischen Selbstinterpretationen für die Wirklichkeit im Sozialismus. So haben Wissenschaftler der Universität Marburg vor Jahren einen Vergleich zwischen der Bundesrepublik und der DDR vorgelegt, bei dem sie sich im Falle des zweiten deutschen Staates völlig unkritisch auf die herrschende Ideologie des DDR-Systems stützten, während sie die Bundesrepublik mit den oben beschriebenen Mitteln linker Polit-Analyse in Grund und Boden kritisierten. Ideologiekritik gibt es offensichtlich nur gegenüber dem „falschen Bewußtsein" der bürgerlichen Gesellschaft, vor dem Sozialismus macht sie halt. Im Stile solch einäugiger Wissenschaftlichkeit befassen andere sich zwar mit bestimmten empirischen Phänomenen in der DDR, aber entweder handelt es sich um Ausschnitte wie z. B. um Studien über die polytechnische Ausbildung oder den Anteil von Arbeiterkindern unter den Studenten, die man der westdeutschen „Bildungsmisere" als Spiegel vorhalten kann, oder man beschäftigt sich mit marxisti-scher Theorie und Praxis in der DDR bzw. mit DDR-Theorien über den „staatsmonopolistischen Kapitalismus der BRD", um den „Genossen von drüben" eine freundliche Lehre darüber zu erteilen, wie marxistische Theorie richtig verstanden und angewandt wird.

Das beherrschende Denkmuster ist freilich die absichtsvolle Immunisierung der eigenen Theorie gegenüber allen Einwänden aus der Erfahrung von Gesellschaften, in denen sozialistisches Bewußtsein bereits zur Herrschaft gelangt ist. Entweder man verbietet aus „wissenschaftlichen Gründen" jeden Systemvergleich, weil es sich um inkommensurable Größen handele und es nicht zulässig sei, so verschiedenartige Gesellschaftsformen mit den gleichen methodischen Mitteln zu untersuchen, oder man betreibt ein Vexierspiel, indem man z. B. die Umweltkrise in der Bundesrepublik allein dem kapitalistischen System anlastet, aber nicht zur Kenntnis nehmen will, daß es analoge Erscheinungen auch in der sozialistischen Industriegesellschaft der Sowjetunion und der DDR gibt. „Der Satz, demzufolge der . Kapitalismus'schuld sei, wird hier um den Preis seiner Glaubwürdigkeit verteidigt; dabei wird die Tatsache, daß auch in den sozialistischen Ländern die Umweltzerstörung bedrohliche Ausmaße angenommen hat, nicht einmal bestritten, sondern einfach ignoriert; wer mit dieser Art, Wissenschaft zu treiben, nicht einverstanden ist, macht sich des Systemvergleichs schuldig und wird als Antikommunist, als eine Art ökologischer Springer, denunziert."

Schließlich kann man auch Erklärungen wie die folgende feilbieten: „Wenn sozialistische Gesellschaften ähnliche Sorgen haben, worauf man gern schadenfroh verweist, so belegt dies die Konvergenztheorie mitnichten; es belegt im Gegenteil, wie hoch die Hypotheken sind, die der Kapitalismus hinterläßt" Selbst ein mangelhaft funktionierender Sozialismus, mag er auch schon über fünfzig Jahre im Aufbau sein, wird hier noch dem Kapitalismus zur Last gelegt!

Ziel dieser Abschirmungsstrategie der Theorie gegenüber skeptischen Einwänden aus dem Erfahrungsbereich sozialistischer Praxis ist es, die kritischen Befunde über das System bürgerlicher Herrschaft nicht durch die Einsicht in die Unvollkommenheiten nichtbürgerlicher politischer Systeme zu relativieren und zu entwerten. Im übrigen könnte die Theorie, die ja die gesellschaftliche Erneuerung und Vervollkommnung von der Umwälzung der ökonomischen Basis der Gesellschaft herleitet, selbst Schaden nehmen, sollte ‘sie zur Kenntnis nehmen müssen, daß auch der Sozialismus den „neuen Menschen" noch nicht erschaffen hat, sondern an der Unvollkommenheit des alten Adam anscheinend ebenso kränkelt wie die bürgerliche Gesellschaft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. K. P. Tudyka, Kritische Politikwissenschaft, Stuttgart 1973, S. 49/50.

  2. B. Guggenberger, Wem nützt der Staat?. Kritik der neomarxistischen Staatstheorie, Stuttgart 1974, S. 52

  3. H. See, Volkspartei im Klassenstaat oder Das Dilemma der innerparteilichen Demokratie. Mit einem Nachwort von W. Abendroth, Hamburg 1972, S. 42.

  4. C. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt 1972, S. 65— 106.

  5. R. Löwenthal, H. P. Schwarz (Hrsg.), Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1974, S. 58.

  6. W. Abendroth, Das Grundgesetz, Pfullingen 1966, S. 14.

  7. R. Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus — Faschismus, Hamburg 1971, S. 74.

  8. See (Anm. 3), S. 20.

  9. Kühnl (Anm. 7), S. 75.

  10. U. Jaeggi, Kapital und Arbeit in der Bundesrepublik. Elemente einer gesamtgesellschaftlichen Analyse, Frankfurt/M. 19732, S. 142.

  11. W. -D. Narr, Westdeutsche Demokratie nach 1945, in: L. Romain, G. Schwarz (Hrsg.), Abschied von der autoritären Demokratie. Die Bundesrepublik im Übergang, München 1970, S. 109.

  12. See (Anm. 3), S. 21.

  13. J. Agnoli, P. Brückner, Die Transformation der Demokratie, Berlin 1967.

  14. R. Grossarth-Maticek, Revolution der Gestörten? Motivationsstrukturen, Ideologien und Konflikte bei politisch engagierten Studenten, Heidelberg 1975.

  15. G. Schäfer, C. Nedeimann (Hrsg.), Der CDU-Staat. Analysen zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1969, 2 Bde.

  16. Vgl. Anm. 11.

  17. Jaeggi (Anm. 10).

  18. Ebd., S. 377.

  19. H. Krüger, Zeitgelächter. Ein deutsches Panorama, Hamburg 1973, S. 103.

  20. H. Bussiek (Hrsg.), Wege zur veränderten Gesellschaft. Politische Strategien, Frankfurt/M. 1971.

  21. R. Wolff (Hrsg.), Gewalt gegen Kinder. Kindesmißhandlungen und ihre Ursachen, Reinbek 1975, S. 37.

  22. E. Krippendorff, Internationales System als Geschichte. Einführung in die internationalen Beziehungen 1, Frankfurt/M., New York 1975, S. 181.

  23. H. -H. Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo, Köln und Opladen 1970, S. 360.

  24. W. Hollstein, Sozialarbeit im Kapitalismus, in: W. Hollstein, M. Meinhold (Hrsg.), Erziehung und Veränderung, Frankfurt/M. 1973, S. 27.

  25. Ebd„ S. 23.

  26. Gewalt gegen Kinder (Anm. 21), S. 120.

  27. P. Brückner, Gewalt in der Sozialisation. Zur Situation der Familie, in: Sozialarbeit (Anm. 24), S. 117 ff.

  28. Ebd., S. 122.

  29. Ebd., S. 127.

  30. Ehd s 129

  31. Hollstein (Anm. 24), S. 43.

  32. A. Berger, Sozialklempner oder Anwalt der Betroffenen?, in: Kursbuch Nr. 40 (1975), S. 37.

  33. Ebd., S. 46.

  34. C. Offe, Politische Herrschaft und Klassen-strukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme, in: G. Kress, D. Senghaas (Hrsg.), Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, Frankfurt/M. 1969, S. 155 ff.

  35. Ebd., S. 184.

  36. H. P. Widmaier, Restriktive Bedingungen der Sozialpolitik. Kritische Analyse der Interaktion von Wissenschaft und Praxis am Beispiel der Sozialpolitik, unveröff. Manuskript, Nov. 1974, S. 16.

  37. Offe (Anm. 34), S. 177.

  38. K. Meschkat, O. Negt (Hrsg.), Gesellschaftsstrukturen, Frankfurt/M. 1973.

  39. F. Deppe, Das Bewußtsein der Arbeiter. Studien zur politischen Soziologie des Arbeiterbewußtseins, Köln 1971.

  40. Jaeggi (Anm. 10), S. 242.

  41. Ebd., S. 37, nach Tjaden-Steinhauer/Tjaden, Zur Analyse der Sozialstruktur des deutschen Kapitalismus, in: Das Argument 61, 1970, S. 654.

  42. Gesellschaftsstrukturen (Anm. 38), S. 10.

  43. Rote Hilfe West-Berlin, Staatsgewalt, Reformismus und die Politik der Linken, in: Kursbuch Nr. 31 (1973), S. 42.

  44. J. Ritsert, C. Rolshausen, Zur Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland, in: Gesellschaftsstrukturen (Anm. 38), S. 29.

  45. Ebd., S. 38.

  46. H. Kern, M. Schumann, Zum politischen Verhaltenspotential der Arbeiterklasse, in: Gesellschaftsstrukturen (Anm. 38), S. 132.

  47. Ebd., S. 154.

  48. Vorwort zu Gesellschaftsstrukturen (Anm. 38), S. 10.

  49. Zit. nach A. und G. Schwan, Sozialdemokratie und Marxismus. Zum Spannungsverhältnis von Godesberger Programm und marxistischer Theorie, Hamburg 1974, S. 233.

  50. W. Abendroth, B. Dietrich, Chancen des Grundgesetzes, in: F. Hitzer und R. Opitz (Hrsg.), Alternativen der Opposition, Köln 1969, S. 103.

  51. B. Winterer, Traktat über Elend und Bedürfnis. Vorüberlegungen zu einer Theorie der Verelendung, Hamburg 1973, S. 40.

  52. So die von der Linken verhöhnte Formel des Bundesverfassungsgerichts im Urteil über den Radikalenerlaß 1975.

  53. Krüger (Anm. 19), S. 102.

  54. H. M. Enzensberger, Palaver. Politische Überlegungen, Frankfurt/M. 1974, S. 206.

  55. Winterer (Anm. 51), S. 94.

Weitere Inhalte

Kurt Sontheimer, Dr. phil., geb. 1928 in Gernsbach/Baden; von 1962 bis 1969 Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, seit 1969 am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München. Veröffentlichungen u. a.: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, 19682; Deutschland zwischen Demokratie und Antidemokratie, Studien zum politischen Bewußtsein der Deutschen, München 1971; Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 19765; Die DDR — Politik, Gesellschaft, Wirtschaft (mit W. Bleek), 19754.