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Probleme der demokratischen Legitimation politischer Herrschaft | APuZ 47/1975 | bpb.de

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APuZ 47/1975 Berufsausbildung in der Bundesrepublik 1975. Reform der Misere oder Misere der Reform? Probleme der demokratischen Legitimation politischer Herrschaft

Probleme der demokratischen Legitimation politischer Herrschaft

Werner Kaltefleiter

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Frage nach der Legitimität demokratischer Systeme teilt sich in die nach der Zustimmung zu der jeweiligen Regierung und der Zustimmung zu dem politischen System insgesamt. Beide finden ihren Ausdruck in Wahlen, in denen die konkurrierenden politischen Eliten um den mehrheitlichen Konsens werben. Das Recht der Mehrheit, zu entscheiden, kann aber von der Minderheit nur akzeptiert werden, wenn sie selbst die Chance sieht, einmal Mehrheit zu werden. Eine reale Chance des Machtwechsels ist damit wesentliche Voraussetzung für die Legitimität des politischen Systems, definiert als ein System wechselnder Parteiregierungen. Diese Legitimierung des politischen Systems insgesamt ist gefährdet, wenn die konkurrierenden politischen Eliten keine inhaltlichen Alternativen zu den zentralen Problemen einer Gesellschaft anbieten. So hat die weitgehende Akzeptierung wohlfahrtsstaatlicher Politik in verschiedenen west-und mitteleuropäischen Ländern zu einer Legitimationskrisis des politischen Systems insgesamt geführt. Dabei kommt der internen Organisation der politischen Parteien eine zentrale Bedeutung zu, um sie reagibel und sensibel für die Probleme der Bevölkerung zu machen. Die aus dem vergangenen Jahrhundert überkommenen Organisationsstrukturen der politischen Parteien in Deutschland sind nur bedingt geeignet, diesen Anforderungen gerecht zu werden.

I. Grundlagen demokratischer Legitimation

Eine erste umfassende Analyse der Frage nach der Legitimation demokratischer Herrschaft erfolgte vor etwa fünfzig Jahren durch Max Weber, jenem großen Gelehrten, der zu Anfang dieses Jahrhunderts als einer der ersten demokratische Prozesse in Deutschland verstanden und nicht nur in ihrem formalen Rahmen beschrieben hat. Weber gehörte auch zu denen, die die wesentlichen Elemente der Weimarer Verfassung mitgeprägt haben In seiner Typologie der Herrschaft unterscheidet er die rationale (bürokratische), die traditionale und die charismatische Die demokratische Herrschaft ist bei Max Weber in dieser Typologie nicht explizit enthalten, sie umfaßt Elemente aller Herrschaftsformen, die in seiner Typologie enthalten sind. Die demokratische Herrschaft ist zunächst eine Form der rationalen, die im Rechtsstaat und der Formalisierung der Entscheidungsprozesse ihren Ausdruck findet. Darüber hinaus gibt es auch Elemente der traditionalen und charismatischen Herrschaft, die sich im demokratischen Prozeß widerspiegeln. Die Antwort auf diese Frage gibt Max Weber in seiner brillanten Analyse des britischen Regierungssystems

Es ist die zweite, nach der fünfzig Jahre zuvor in England von Walter Bagehot verfaßten, in der nicht formale Regeln beschrieben, sondern das Wirken und Funktionieren dieses Systems analysiert und verstanden wird.

Dieses politische System wird von Max Weber in einem kennzeichnenden Satz zusammengefaßt: In einer parlamentarischen Demokratie „folgt die Masse der Deputierten dem oder den wenigen Leadern blind, solange sie Erfolg haben" Was heißt Erfolg? Erfolg ist die Zustimmung der Mehrheit, die in Wahlen ausgedrückt wird. Sie ist Ausdruck der aktiven Zustimmung zu einer politischen Führung und damit das Selektionsinstrument für die Auswahl der politischen Eliten. Das gilt im doppelten Sinne: Der Wahlerfolg bestimmt einmal, welche der konkurrierenden politischen Eliten, d. h.der Parteien, die Regierung bilden, zum zweiten aber beeinflußt der Wahlerfolg oder Nichterfolg auch, wer die Führung innerhalb einer Partei übernehmen kann. Die Debatten in der Konservativen Partei 1974 und 1975 in Großbritannien veranschaulichten die Auswirkungen des ausgebliebenen Wahlerfolges auf die innerparteiliche Machtverteilung: Die Masse der Deputierten der Konservativen Parlamentsfraktionfolgte Mr. Heath nicht mehr , blind', weil er in einem Jahr zwei Wahlen verloren hatte. Das gleiche ließ sich in der Bundesrepublik 1961 bis 1963 bei der Ablösung Adenauers, 1966 bei der Erhards, und 1974 beim Sturz Brandts beobach-ten. Umgekehrt stabilisierte der Erfolg Wilsons 1974 seine Führungsposition in der Labour Party, die zuvor stark umstritten war. Erfolg, die Mehrheit in freien Wahlen zu gewinnen, veranschaulicht die demokratische Legitimation in ihrer ersten einfachen, aber auch zentralsten Form.

Für Max Weber war diese demokratische Legitimation sehr eng mit seinem Begriff der charismatischen Führung verbunden, d. h.der Anziehungskraft, der Führungsfähigkeit, der Autorität usw., die — und das ist in der Demokratie das Entscheidende — freiwillig akzeptiert wird, die in Wahlen gewonnen wird, die von den Regierten ausgesprochen wird

Diese Mehrheitsbildung durch Konsens, ausgedrückt in Wahlen, bildet zunächst die Grundlage der Legitimierung einer Regierung. Wie aber erfolgt die Legitimierung eines politischen Systems? Hierfür reichen 51 % nicht aus. Mit einer Mehrheit kann man zwar regieren, aber das System bedarf eines weit darüber hinausgehenden Konsensus sonst fehlt die generelle Legitimation, die über die Zeit der jeweiligen Regierung hinausgeht, und die jeweilige Minorität am System festhalten läßt. Die demokratische Legitimation setzt voraus, daß die jeweilige Minderheit akzeptiert, daß die Mehrheit regiert. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, trägt die Opposition ganz erheblich zur Legitimierung eines Systems bei; sie prägt das System in gleichem Maße wie die Regierung. Beide sind gleichwertige Faktoren in einem demokratischen System.

Voraussetzung für diese Integration der Opposition in das System wiederum ist, daß die Minderheit die Hoffnung hat, morgen Mehrheit zu werden. Darauf beruht die Anerkennung des Mehrheitsprinzips. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, kann man einen demokratischen Staat nicht organisieren. Wenn eine Gesellschaft z. B. über einen antagonistischen Konflikt gespalten ist mit der Folge, daß die Mehrheitsverteilung auf unübersehbare Zeit zementiert erscheint, fehlt der Minderheit die Hoffnung, Mehrheit werden zu können, und sie wird das System nicht akzeptieren. Nordirland ist dafür ein aktuelles Beispiel. Eine Konflikt-struktur, die von der Minderheit auch nur als antagonistisch empfunden wird, schließt die Legitimierung des demokratischen Systems aus. Demokratie beruht auf dem Wechsel der Parteiregierungen In diesem Sinne kann man die Regierung adäquat als die „Regierung von heute" und die Opposition als die „Regierung von morgen" bezeichnen Nur wenn die Opposition „Regierung von morgen" ist, also eine reale Chance des Machtwechsels besteht, kann man von der Minorität heute erwarten, daß sie das Mehrheitsprinzip anerkennt und daß sie die Mehrheit regieren läßt. Der Wechsel ist das fundamentale Prinzip dieses Systems; die Akezptierung des Wechsels als Prinzip bildet die demokratische Legitimation, die dem ganzen System die Verankerung gibt.

Wie kann diese Legitimierung durch den Wechsel im Machtbesitz erreicht werden? Max Weber dachte dabei zunächst an die charismatische Führurg, die in der Tat eine wesentliche Komponente zum Mehrheitsgewinn ist. Verfügen die konkurrierenden politischen Eliten über vergleichbare Führungspotentiale, so erhöht das die Wahrscheinlichkeit des Wechsels. Nicht weniger wesentlich ist aber die traditionale Herrschaft, die in dem demokratischen System der Gegenwart auch ihren Platz findet. Gesellschaften, deren Konflikt-struktur ein solches alternierendes Parteiensystem ermöglicht, können im Regelfall in drei große Gruppierungen eingeteilt werden: auf der einen Seite die Stammwähler und Sympathisanten der einen Partei (oder Parteigruppierung), auf der anderen Stammwähler und Sympathisanten der anderen Partei, dazwischen die dritte große Gruppe, die im Regelfall etwa ein Drittel der Wählerschaft umfaßt: die potentiellen Wechselwähler. In den Stammwählern spiegelt sich die traditionale Herrschaft wider. Für sie ist die Zugehörigkeit zu einer Partei eine Selbstverständlichkeit; sie wird nicht in Frage gestellt, sie ist akzeptiert qua Sozialisationsprozeß, qua Rollenzuweisung, qua Gruppenzugehörigkeit in dem jeweiligen sozialen System Was aber bestimmt die politische Orientierung der Wechselwähler zwischen diesen beiden Gruppen? Die modernen Sozialwissenschaften sprechen hier von der Personalisierung der Politik, was aber kaum etwas anderes ist als das, was Max Weber die charismatische Führung nannte. Die politischen Prozesse in ihrer Kompliziertheit überfordern im Regelfall das Verständnis des einzelnen. Es ist eine bekannte psychologische Erkenntnis, daß die Reaktion auf eine solche Diskrepanz zwischen Komplexheit und Verständnisfähigkeit ist, daß der zu verstehende Prozeß personalisiert wird. Zustimmung oder Ablehnung erfährt die Person, die die Politik der Parteien jeweils repräsentiert. Die Wahl bedeutet die Artikulation von Vertrauen in die sachliche Leistungsfähigkeit und die persönliche Integrität der Spitzenperson

Was bedeutet sachliche Leistungsfähigkeit? Es ist zunächst das Vertrauen in die generelle Problemlösungskompetenz einer Person bzw.der Regierung, die diese Person repräsentiert. Diese Kompetenz ist aber selten losgelöst von den jeweils als relevant empfundenen Problemen zu verstehen. Das bedeutet, daß die Art der Leistungsfähigkeit, die erwartet und gefordert wird, von der konkreten Problemlage eines Landes und einer Periode abhängt. Dennoch kann man über einen längeren Zeitraum eine Kontinuität in der Erwartungsstruktur gegenüber der Leistungsfähigkeit beobachten, weil in der Regel ein Thema, wenn auch in verschiedenartiger Ausprägung, das Problem-feld beherrscht: die Sicherung der ökonomischen Zukunftserwartungen. Das eine oder andere Thema, dessen Relevanz sich im Zeitablauf ändert, mag dann wechselnd hinzukommen. Diese Leistungserwartung kann einmal dadurch erfüllt werden, daß dem politischen Führer eine eigene Kompetenz in diesem Themenbereich zugesprochen wird; es läßt sich aber auch beobachten, daß sie der Fähigkeit zugeordnet wird, anerkannte Fachkompetenz an dieser Aufgabe arbeiten zu lassen und dessen Lösungsvorschläge politisch zu realisieren. Das Zusammenwirken von Adenauer und Frhard in den fünfziger Jahren ist ein Beispiel für diese zweite Form — der Erfüllung der Er-* Wartungsstruktur auf sachliche Leistungsfähigkeit im Bereich der ökonomischen Zukunftssicherung

Das Vertrauen in die persönliche Integrität ist häufig identisch mit der Sympathie, die man einem Politiker entgegenbringt, geht aber darüber hinaus: Es ist das Vertrauen, daß die Ergebnisse der politischen Prozesse, die man nicht überschaut und die dadurch ein gewisses Unbehagen auslösen, nicht zu einseitigen Begünstigungen von Minoritäten, insbesondere der jeweils Regierenden, führt. Es ist zugleich Ausdruck des Vertrauens, daß diese Regierung und das gesamte politische System die Fragen aufgreift und löst, die der Wählerschaft als relevant erscheinen. Zerbricht dieses Vertrauen, so entsteht eine Legitimationskrisis des Systems. Die Reaktion auf die mit dem Namen Watergate verbundenen Ereignisse in den USA verdeutlicht das: Aus dem Vertrauenssturz Nixons erwuchs eine Legitimationskrise des amerikanischen politischen Systems.

Häufig wird nun die Frage gestellt, welche Wählergruppe — die Stammwähler oder die Wechselwähler — für das Funktionieren dieses Systems wesentlicher sei. Schon diese Fragestellung verrät ein Mißverständnis: Ohne Stammwähler wie ohne Wechselwähler kann man Demokratie nicht praktizieren. Die Stammwähler sichern einer Partei, auch wenn sie schwere Fehler gemacht hat, daß sie nicht unter jenes Minimum absinkt, das eine wirkungsvolle Opposition garantiert Die Wechselwähler ihrerseits machen den Wechsel zwischen den alternierenden Parteien erst möglich. Zwar schauen Parteiführungsstäbe gelegentlich genauso verachtungsvoll auf die Wechselwähler, die sie dann Flugsand nennen, wie diese mit anmaßender Arroganz auf die Stammwähler blicken, die angeblich nicht unabhängig seien; das System aber braucht beide

Wie funktioniert dieses System? Partei A (oder eine zusammengehende Parteigruppierung) hat in einer Wahl, zumeist nicht zuletzt aufgrund der Attraktivität ihres Spitzenkandidaten (Elemente charismatischer Führung), einen ausreichenden Teil der Wechselwähler an sich gezogen, um die Mehrheit im Parlament zu gewinnen. Mit der Aufnahme ihrer Regierungstätigkeit beginnt sie Enttäuschung zu produzieren. Häufig wird das jedoch erst nach einer gewissen Zeit wirksam, da im Anfang ein Vertrauensvorschuß für die neue Regierung hinzukommt und der Amtsbonus des politischen Personals insbesondere dem jeweiligen Regierungschef zusätzliche Zustimmung verschafft. Dennoch wächst mit jeder Regierungsentscheidung die Zahl derer, die in Distanz zu dieser Regierung stehen. Keine Regierung kann vermeiden, oppositionelle Tendenzen im Wählerverhalten auszulösen.

Zunächst werden diese Regierungsanhänger Enttäuschungen nicht wahrhaben wollen; sie werden nach Entschuldigungsgründen suchen und die Informationen anzweifeln Schließlich aber werden sie die eingehenden Informationen wieder in Einklang mit ihrer politischen Grundeinstellung bringen, indem sie zur Opposition wechseln.

Die Opposition ist die Alternative zu der jeweils amtierenden Regierung. Ihre zentrale Funktion ist das Auffangen von mit der Regierung Unzufriedenen. Wenn das der Opposition nicht gelingt, werden die mit der Regierung Unzufriedenen in Opposition zum System gestoßen. Deshalb ist es verfehlt zu fragen, ob eine Opposition in irgendwelchen programmatischen Details eine Alternative anbietet; wesentlich ist, ob die Wählerschaft in der Opposition diese Alternative sieht, und das beweist sie durch ihr Wahlverhalten.

Die Frage, ob Alternativen bestehen, kann nicht durch einen Programmvergleich oder ähnlichem beantwortet werden, sie wird durch die Perzeption der Wählerschaft entschieden. Fehlt die Alternative im System in diesem Sinne, ist das demokratische System gefährdet. Das wird besonders deutlich am Beispiel des Unterganges der Weimarer Republik Die Regierung von 1928 von Hermann Müller ist treffend als die „Koalition aller Vernünftigen“ bezeichnet worden. Sie umfaßte die verschiedenen Parteien der Weimarer Republik, die das politische System der Weimarer Repu-blik grundsätzlich akzeptierten, und sie ließ damit der Systemopposition ein Monopol an Opposition. Die Folge war, daß eine Opposition im System fehlte, um die mit der jeweiligen Regierung Unzufriedenen aufzufangen. Als die Zahl dieser Unzufriedenen unter dem Einfluß der Weltwirtschaftskrise massenhaft anschwoll, kam es zu den massiven Stimmen-gewinnen der NSDAP und schließlich zum Zusammenbruch des Systems. Nicht zeitgeschichtliche Einzelheiten wie etwa die Frage, daß man sich über Bruchteile von Prozenten bei der Arbeitslosenunterstützung nicht hat einigen können und die entsprechenden persönlichen Unzulänglichkeiten der agierenden Politiker sind für den Untergang der Weimarer Republik entscheidend; wichtiger ist, daß die Weimarer Verfassung vor dem Hintergrund der Sozialstruktur der Weimarer Republik ein Wechselspiel zwischen demokratischer Regierung und demokratischer Opposition nicht ermöglichte. Die zeitgeschichtlichen Einzelheiten waren Anlaß, Ursache des Zusammenbruchs aber waren diese Strukturbedingungen.

Das wird besonders an einem Vergleich mit der Entwicklung des amerikanischen Systems in der gleichen Periode deutlich. 1928 hatten die Repulikaner die Präsidentschaftswahlen gewonnen, und so waren die Demokraten die natürliche Alternative im System. Die relative wirtschaftliche Entwicklung in den USA war mit der in der Weimarer Republik vergleichbar, die Wählerbewegung, die die Unzufriedenheit über diese wirtschaftliche Entwicklung widerspiegelte, ebenfalls. Der entscheidende Unterschied war die Existenz einer Alternativepim System; die mit den Republikanern Unzufriedenen strömten zur Demokratischen Partei und wählten 1932 Roosevelt. Die Struktur und Motivation der Wechselwähler von den Republikanern zu den Demokraten unterscheiden sich nicht von denen, die zwischen 1928 und 1932 in der Weimarer Republik die demokratischen Parteien verließen und zur NSDAP wechselten.

Von 1966 bis 1969 wiederholte sich diese Entwicklung en miniature in der Bundesrepublik Als Folge der Anpassungsstrategie der SPD, die ihrerseits wiederum Folge der Asymmetrie des deutschen Parteiensystems war das sich 1953 und 1957 herausgebildet hatte, war in den sechziger Jahren in der deutschen Wählerschaft die Perzeption der SPD als Alternative zur CDU/CSU-geführten Regierung zurückgegangen. Die große Koalition jenes Kartell der Alternativlosigkeit, formalisierte im Herbst 1966 schließlich diese in der Perzeption der Wählerschaft ohnehin bereits bestehende Alternativlosigkeit. Vor diesem Hintergrund reichte die Unzufriedenheit aus, die die wirtschaftliche Stagnation des Jahres 1966/67 in der deutschen Wirtschaft auslöste, um erneut Wechselwähler aus dem System heraus wechseln zu lassen. Das erklärt die Erfolge der NPD. Ihre Wählerschaft zeichnete sich nicht durch irgendwelche Ideologien aus; mit einem einfachen Rechts-Links-oder Konservativ-Progressiv-Schema kann man diese Wählerschaft nicht erklären. Ein großer Teil von ihnen kam aus dem Wählerpotential der Sozialdemokratie — wie gerade die Landtags-wahl in Baden-Württemberg vom Frühjahr 1968 zeigte, wo die NPD mit rund 10 °/o ihr bestes Ergebnis erzielte und in dem die SPD auf unter 30 0/0 gedrückt wurde — wie auch aus früheren Wählern der CDU/CSU und FDP. Es waren Wechselwähler, die unter den Bedingungen der Alternativlosigkeit zur Opposition zum System wechselten und die, als es nach 1969 wieder ein wirksames Spannungsverhältnis zwischen Regierung und Opposition in Deutschland gab, von der neuen Opposition wieder in das System zurückgeführt wurden Es kann vorausgesagt werden, daß die gleichen Wähler, wenn die CDU/CSU eine Zeitlang die Regierung bilden wird, wiederum zur SPD wechseln werden. All das kann man nicht mit ideologischen Kategorien erklären, sondern allein durch eine empirische Analyse, die sich an der Struktur der Wählerschaft und den Funktionsbedingungen des politischen Systems orientiert.

II. Eine Krisis der demokratischen Regierungsformen?

Wirft man einen Blick auf die gegenwärtige Arbeitsweise der Parteiensysteme in den westlichen Demokratien, so drängt sich der Eindruck auf, daß dieses Modell alternierender demokratischer Führung kaum noch der Wirklichkeit entspricht. In Großbritannien z. B. scheint auf den ersten Blick eine schwere Krise in der Legitimation des demokratischen Systems zu bestehen. Die Labour Party gewann zwar in der zweiten Wahl des Jahres 1974 wiederum eine absolute Mehrheit der Mandate im englischen Unterhaus und beendete damit die kurze Periode einer Minderheitsregierung. Die Unterstützung, die sie gefunden hat, ist jedoch gering. Sie gewann etwa 39 % der abgegebenen Stimmen, was angesichts der Wahlbeteiligung von etwa 70% eine Unterstützung durch etwa nur ein Viertel der Wahlberechtigten bedeutet. Die Konservativen haben fast den gleichen Anteil bekommen. Das bedeutet, daß fast 50 % der wahlberechtigten englischen Bevölkerung weder Labour noch Konservative gewählt haben. Hier-, in spiegelt sich eine tiefe Legitimationskrisis des britischen Systems. Es ist allein dem englischen Wahlrecht zu verdanken, daß unter diesen Bedingungen doch noch einmal eine regierungsfähige Mehrheit im englischen Unterhaus zustande gekommen ist. Bei jeder Art eines proportionalen Wahlrechtes wäre das Ergebnis eine Zersplitterung des englischen Parteiensystems gewesen, in dem eine Mehrheitsbildung im Unterhaus kaum erkennbar wäre.

Eine ähnliche Situation läßt sich in Dänemark beobachten. Erstmalig im Dezember 1973 und dann erneut im Januar 1975 konnte eine typische Protestpartei das dänische Parteiensystem durcheinanderwirbeln. Das schwedische Parteiensystem ist durch ein lähmendes Patt gekennzeichnet. Auch das norwegische Parteiensystem scheint sich in einer schweren Krise zu befinden, die durch die Volksabstimmung über den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft offenkundig wurde. Italien ist der sichtbarste Ausdruck eines nicht mehr arbeitsfähigen Parteiensystems, und in den Niederlanden ist eine tiefgreifende , Versäulung’ aller politischen und sozialen Strukturen an die Stelle eines alternierenden Parteiensystems getreten.

Dieser kurze Überblick wirft die Frage auf, ob es eine generelle Ursache für die Krisis der europäischen Parteiensysteme gibt. Insbesondere das skandinavische und 'das britische Parteiensystem scheinen gemeinsame Krisen-ursachen aufzuweisen, während im italienischen und niederländischen Fall aufgrund der dortigen Konfliktstruktur zusätzliche Elemente relevant geworden sind.

In Skandinavien und England ist das Parteien-system in seiner jetzigen Form auf der Basis einer Konfliktstruktur entstanden, die sich unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise herausgebildet hat. In der Weltwirtschaftskrise zerbrach die grundlegende liberale Philosophie über das Verständnis einer Gesellschaft und der Funktionen des Staates. Es entwickelte sich jene gesellschaftspolitische Konzeption, die man Wohlfahrtsstaat (Welfare State) nennt, nach der auch die individuelle Daseins-vorsorge ebenso Aufgabe des Staates sei wie die weitgehende Nivellierung sozialer Unterschiede Gebot sozialer Gerechtigkeit. Mit dieser Konzeption'ist es gelungen, die zentralen Probleme der dreißiger Jahre, nämlich Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit, zu beseitigen, was dazu führte, daß dieses Konzept mehr oder weniger ausgeprägt generell akzeptiert wurde. Seit der Weltwirtschaftskrise prägte dieses politische Verständnis die „Depressionsgeneration"

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann man sehr zögernd die Kosten dieser Politik zu überdenken, nachdem der Anteil jener Bevölkerungsgruppen, die die unmittelbare Erfahrung mit der Weltwirtschaftskrise und der Massenarbeitslosigkeit gemacht hatten, sank. Es wuchs eine neue Generation heran, die die Kosten wohlfahrtsstaatlicher Politik immer weniger bereit war zu tragen: steigende Preis-steigerungsraten, steigende Steuerlasten und ein wachsendes System administrativer Eingrenzung des individuellen Entscheidungsspielraumes. Diese Kosten des Wohlfahrtsstaates waren zunächst oppositionsauslösende Faktoren, wie sie zu dem Modell alternierender Regierungsweise gehören, und so kam es denn in den fünfziger und sechziger Jahren in fast all diesen Ländern zu einer Ablösung der sozialdemokratischen und sozialistischen Regierungen, die diese Wohlfahrtsstaatspolitik auf ihre Fahnen geschrieben hatten, durch bürgerliche Regierungen der verschiedensten Arten. -Das Kennzeichnende aber war, daß diese Regierungen sich stets beeilten, sofort zu betonen, daß die „sozialen Errungenschaften" nicht abgebaut würden, und sie setzten die Politik des „mehr Staat, mehr Steuern, mehr Inflation" fort. Die Folge war, daß die konservativen und bürgerlichen Parteien nicht mehr als Alternative zu dieser Politik aufgefaßt wurden. Im Sommer 1970 versprach Edward Heath der britischen Bevölkerung, die Inflation mit einem Streich zu beenden und als er fast vier Jahre später Neuwahlen ausfief, waren die Inflationsraten höher Die Folge ist, daß all diesen Oppositionsströmungen der Gegenwart — und das kennzeichnet die Liberalen in England genauso wie die Anhänger Glistrups in Dänemark — die Opposition gegen die Philosophie des „mehr Staat, mehr Steuern, mehr Inflation" gemeinsam ist. Es ist der Protest gegen die Alternativlosigkeit im System. Zwar gibt es konkurrierende Parteien, aber sie haben sich aus der Perzeption des Wählers der gleichen Ideologie verschrieben und bieten für die zentralen Probleme, wie sie der Wähler empfindet, keine Alternativen an. Daraus folgt, daß eine Stabilisierung der Parteiensysteme in diesen Ländern nur gelingen wird, wenn es wieder eine Alternative zu dieser Philosophie des Wohlfahrtsstaates gibt und sie realisiert wird.

Die Bedeutung der Existenz von Alternativen im politischen System wird auch am belgischen Beispiel deutlich. Das belgische Parteiensystem zeichnete sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst durch einen sehr hohen Konzentrationsgrad aus, bei dem auf der einen Seite die Christdemokraten, auf der anderen Seite die Sozialisten die tragenden Pfeiler eines potentiell alternierenden. Systems waren, bis es 1961 zur großen Koalition zwischen die-sen beiden Partnern kam mit der Folge, daß in den nächsten Wahlen regionale und radikale Parteien substantielle Stimmen gewannen und die stolzen Alternierungsparteien der fünfziger Jahre zu Minoritätsparteien reduzierten

Die Koalition Tindemans im Frühjahr 1974 beendete dieses Kartell der Alternativlosigkeit; als es ihm gelang, eine knappe Mehrheit ohne die Sozialisten zu bekommen, schuf er die Grundlagen für eine Restabilisierung eines alternierenden Systems. Die Sozialisten erhielten die Chance, die mit der Regierung Tindemans Unzufriedenen ins System zu integrieren. Die nächsten Wahlen werden zeigen, wie schnell ein solcher Wandel sich vollziehen kann.

Die Bundesrepublik erscheint im Vergleich zu diesen Ländern nahezu als eine Oase demokratischer Stabilität. Die CDU/CSU verlor 1969 letztlich die Wahl, weil sie die Erwartungsstruktur in der deutschen Wählerschaft, die damals mit dem Begriff der Modernitätsorientierung beschrieben werden konnte, nicht mehr ansprach. Sie hielt nach wie vor an Formeln der Macht Konrad Adenauers aus den Jahren 1953 und 1957 fest: Integration ins westliche Bündnissystem und wirtschaftlicher Wiederaufbau durch Soziale Marktwirtschaft. Beides aber war in der Perzeption der Wählerschaft seit Anfang der sechziger Jahre erreicht. Es war die Frage nach neuen Zielen deutscher Politik gestellt, die die CDU/CSU nicht beantwortete.

Nach der kurzen Legitimationskrise der großen Koalition führte 1969 die knappe Regierungsbildung aus SPD und FDP wieder zu einem scharfen Spannungsverhältnis zwischen Regierung und Opposition. Die Wählerschaft versteht dieses Spannungsverhältnis inhaltlich jedoch nicht nur als eine Stilfrage der streitenden Parteien. Als Substanz dieses Spannungsverhältnisses hat sich — nachdem der heftige Streit um die Ostpolitik abgeflaut ist — die Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik erwiesen, wobei es letztlich auch um die Alternative zum Wohlfahrtsstaat geht. Zumindest bis 1966, aber weitgehend auch noch bis 1969, wurde eine wohlfahrtsstaatliche Politik in der Bundesrepublik nur in Ansätzen betrieben. Die durchschnittlichen Preissteigerungen von 1949 bis 1969 von etwa 2, 5 0/0 verdeutlichen, daß diese Kosten des Wohlfahrtsstaates in der Bundesrepublik kein relevanter Faktor für Protestverhalten waren. Der Anteil der öffentlichen Hand am Bruttosozialprodukt lag bei ca. 37 °/o. Die soziale Marktwirtschaft vermied die Wucherungen wohlfahrtsstaatlicher Politik, da sie der öffentlichen Hand eine subsidiäre, nicht eine dominierende Rolle zu-wies

Insbesondere nach 1972 kam es in der Bundesrepublik zu bis dahin nicht beobachteten Preis-steigerungsraten und damit verbunden wachsenden Steuerlasten. Der Anteil der Öffentlichen Hand am Bruttosozialprodukt stieg bis 1975 auf über 47 °/o und führte zu einer Krisis der öffentlichen Finanzen, die die Alternativen deutscher Politik deutlich macht: Verfestigung der wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben und Inflation durch massive Steuererhöhungen oder Entrümpelung der öffentlichen Aufgaben. Was immer die Ursachen dieser Entwicklung im einzelnen waren, sie führten in der deutschen Bevölkerung zu Reaktionen, die denen in anderen Ländern auf die Realisierung der Kosten des Wohlfahrtsstaates vergleichbar sind.

Zunächst führten die wachsenden Preissteigerungsraten zu substantiellen Stimmengewinnen der Opposition, die noch größer wurden, als die Sorge um die Vollbeschäftigung hinzu kam. Auf der Grundlage dieser Entwicklung mag die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Machtwechsels, wann immer er eintritt, recht groß erscheinen. Das verdeutlicht zugleich aber auch die Problematik. Wenn die CDU/CSU gewinnt, ist sie mit der Erwartungsstruktur konfrontiert, aufgrund derer ihre Wähler zu ihr gewechselt sind: eine substantielle Reduktion der Inflationsraten sowie ein hohes Beschäftigungs-und Wachstumsniveau. Gelingt es ihr nicht, dieses Ziel zu erreichen, dann ergibt sich in der Bundesrepublik eine ähnliche Situation wie in den anderen Ländern Nord-und Westeuropas heute: Das Fehlen von Alternativen im System zu den zentralen Problemen der Wählerschaft führt zu Oppositionstendenzen, die einer Alternative zum System zugute kommen. *

III. Parteistrukturen als Krisenursache

Unabhängig davon, ob es der CDU/CSU gelingen wird, diese Alternative zur wohlfahrtsstaatlichen Politik zu realisieren, das viel-, faltige Versagen demokratischer Parteien, ihrer Aufgabe der Präsentation realer Alternativen im System gerecht zu werden, führt zu der Frage, wie innerhalb eines Parteiensystems die Wahrscheinlichkeit erhöht werden kann, daß die konkurrierenden Parteien inhaltlich zu den zentralen Fragen der Politik alternative Konzeptionen entwickeln — im Rahmen des Handlungsspielraums, der in einem komplexen politischen und sozialen System besteht. Die Erfahrungen in den skandinavischen Ländern und Großbritannien zeigen, daß die Parteiführungsstäbe — trotz aller entwickelten Methoden der Demoskopie -— nicht oder zu’spät realisierten, daß die Bevölkerung nicht mehr bereit war, die Kosten des Wohlfahrtsstaates zu zahlen. Der Mannheimer Parteitag der CDU, der die „neue soziale Frage“ zu einem Zeitpunkt entdeckte, als die Krisis wohlfahrtsstaatlicher Politik auch in der Bundesrepublik bereits erkennbar war, verdeutlicht ebenso wie die Reaktion der Bundesregierung und insbesondere von Teilen der SPD auf diese Finanzkrise, daß auch die deutschen Parteien vor diesen Gefahren nicht geschützt sind. Die Ideologie der Parteien von dem, was sein sollte, entfernte sich in wachsendem Umfange von dem, was die Bevölkerung wünschte oder zumindest zu akzeptieren bereit ist. Das bedeutet, daß die Parteien ihre zentrale Funktion, die Präferenzstrukturen, wie sie in der Bevölkerung bestehen, zu artikulieren, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und auf dieser Grundlage der Bevölkerung Führung anzubieten, nicht erfüllen. Die Reagibilität der Parteiorganisation erweist sich als unzureichend; sie sind mehr Instrumente, um die Parteiführung von der Bevölkerung abzuschotten. Ein Blick in die Bundesrepublik zeigt, welche strukturellen Grundlagen diese Gefahr für die deutschen Parteien bewirken: Bei einer wahlberechtigten Bevölkerung von ca. 40 Millionen sind etwa 2 Millionen Mitglied einer politischen Partei. Aber diese Ziffer vermittelt eine Fiktion, da die tatsächliche Mitarbeit in einer Partei von höchstens zehn Prozent dieser Mitglieder erfolgt.

Das ist nicht nur ein quantitatives, sondern vor allem ein qualitatives Problem. Alle innerparteilichen Diskussionsprozesse, seien sie nun programmatischer oder personeller Art, vollziehen sich in einem kleinen Zirkel von Aktivisten. Die Bedeutung, die z. B. ein quantitativ kleiner Teil des linken Flügels der SPD bekommen konnte ist in der Tatsache begründet, daß die Masse der sozialdemokratischen Mitglieder nicht aktiv an den parteiinternen Diskussionen und Wahlen teilnimmt.

In diesem Beispiel spiegelt sich ein institutionalisiertes Spannungsverhältnis, das alle Parteien in einem alternierenden Parteiensystem kennzeichnet. Die Willensbildung erfolgt in jenen Gruppierungen, die am stärksten in der Partei engagiert sind und damit die größte Distanz zur anderen Partei aufweisen. Die aktiven Minderheiten beherrschen die Willensbildung in der Partei. Um Wahlen zu gewinnen, bedarf es aber einer Politik, die sich am Wechselwähler orientiert. Dieses institutionalisierte Spannungsverhältnis ist um so größer, je ausgeprägter und differenzierter die ideologische bzw. theoretische oder auch weltanschauliche Basis einer Partei ist. Das bedeutet, daß im Regelfall sozialistische oder sozialdemokratische Parteien stärker unter diesem Problem leiden als konservative und liberale Parteien Auch wenn diese parteiinternen Willensbildungsprozesse nicht in solch extreme Kanäle gehen wie in vielen Bereichen der SPD heute, so zeichnen sich doch die aktiven Minderheiten häufig durch eine Weltfremdheit gegenüber der Präferenzstruktur der Bevölkerung, insbesondere der Wechselwähler aus.

Demgegenüber wird häufig argumentiert, daß alle Bürger die Möglichkeit hätten, Parteimitglied zu werden, und gerade die zum Wechselwahlverhalten Neigenden werden aufgerufen, in die Parteien hineinzugehen und die Parteien so zu verändern, daß sie ihren Vorstellungen entsprechen. Das ist ein sehr theoretischer Appell. Die Verfassungswirklichkeit der Organisationstrukturen deutscher Parteien, insbesondere der kommunalen und lokalen, zeichnet sich dadurch aus, diese Gruppierungen eher abzustoßen. Wenn angesichts der geringen Parteimitgliedschaft und der noch geringeren Partizipationsbereitschaft der Parteimitglieder argumentiert wird, aus historischen und sonstigen Gründen sei die Bereitschaft zu politischem Engagement in der Bundesrepublik gering, dann mag das für die ersten zwanzig Jahre richtig gewesen sein; insbesondere die Bundestagswahl 1972 hat diese These aber widerlegt. Die massenhafte Partizipation an diesem Wahlkampf, der fast amerikanische Formen annahm, zeigte, daß es heute ein Partizipationspotential in der Bundesrepublik gibt, das durch die Kanäle der Parteien nicht aufgefangen wird. Das aber ist eine Herausforderung für die Parteiorganisationen, die es sich zu leicht machen, wenn sie die politische Bereitschaft des Bürgers in Frage stellen, nicht aber ihre eigene Struktur.

Die gegenwärtigen organisatorischen Strukturen der großen Parteien lassen sich teilweise bis in das vergangene Jahrhundert zurückverfolgen, bei der SPD bis hin zur Zeit der Sozialistengesetze, als diese Strukturen aufgebaut wurden; bei der CDU/CSU in einigen Bereichen bis hin zum Zentrum unter den Bedingungen des Kulturkampfes. Während sich darüber hinaus in der CDU und CSU noch große Elemente der Honoratiorenparteien des vergangenen Jahrhunderts widerspiegeln, erhielt die SPD ihre Prägung durch den Typ einer Funktionärspartei, wie er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde. Weder Honoratioren-noch Funktionärsparteien entsprechen aber den Anforderungen einer modernen Industriegesellschaft mit einem massenhaften Potential politischer Partizipation

Diese gewachsenen Strukturen sind nicht attraktiv für die Mitarbeit in politischen Parteien. Das hat auch Rückwirkungen auf die Qualität der politischen Eliten. Zu häufig werden von den Parteien Menschen angesprochen, die sich durch ihre Mitgliedschaft berufliche Vorteile versprechen. Nicht angezogen werden Menschen, die aufgrund ihrer persönlichen Kompetenz den Parteien zur Problemlösung behilflich sein können. Die Basis der Parteielite ist damit zu eng. Sie umfaßt selten den, der nicht von der Politik, sondern für die Politik lebt — um auch unter den Bedingungen des „Berufspolitikers" an diese bekannte Formulierung Max Webers anzuknüpfen Wesentlicher als die finanzielle Abhängigkeit des Politikers von seiner Tätigkeit ist heute, daß der Beruf des „Nur-Politikers" einseitige Rekrutierungsmuster nahelegt; das Übergewicht von Beamten, insbesondere Lehrern, in vielen Landtagen verdeutlicht dies. Im Gegensatz dazu ist die Spitze der politischen Elite der Bundesrepublik noch durch Rekrutierungsmuster mit vielfältigen Rollenerfahrungen gekennzeichnet

Stellt man die Frage, wie eine Parteiorganisation aussehen soll, die den Anforderungen des Systems eher entspricht, so bieten die amerikanischen Parteien mit ihrer viel lockeren Struktur einen ersten Hinweis, obwohl man natürlich nicht übersehen kann, daß diese Struktur auch die Folge und Voraussetzung für das präsidiale Regierungssystem ist und nicht ohne weiteres den Anforderungen einer parlamentarischen Demokratie gerecht wird Aber gerade die Offenheit dieser Parteien und die niedrige Schwelle für den Eintritt und für die Mitarbeit stehen in einem auffälligen Kontrast zu den deutschen Parteien. Während die deutschen Parteien Schwierigkeiten haben, ihre Mitglieder für die Partei-arbeit zu aktivieren, ist es das zentrale Problem jeder amerikanischen Partei, ihre Aktivisten adäquat zu beschäftigen. Das bedeutet, daß das formale Institut der Parteimitgliedschäft, das in Deutschland eine so hohe Schwelle für die Mitarbeit in einer Partei setzt, reduziert werden muß.

Zum zweiten ist die Gliederung der Parteien auf der Grundlage von Nachbarschaftsbezirken in Frage zu stellen. In einer mobilen Gesellschaft wohnt man nicht mit den Menschen zusammen, deren Interesse man teilt und mit denen man Freundschaften schließt. Der organisatorische Aufbau der deutschen Parteien hält aber an dieser Fiktion fest. Die Folge davon ist, daß man in der lokalen Parteiorganisation stets jene Menschen nicht findet, mit denen man zusammenarbeiten könnte und möchte, sondern häufig abgestoßen wird von dem dort herrschenden „Mief".

Die Alternative ist die Ergänzung — nicht unbedingt sofort die Ersetzung — dieser lokalen Orientierung durch funktionale Organisationsformen, die sich an bestimmten permanenten oder ad hoc anstehenden Arbeitskreisen orientieren. Solche Arbeitskreise gibt es zwar heute in allen Parteien, jedoch ohne institutionalisierten Einfluß auf die Willensbildung. Deshalb ist es wesentlich, daß die Zahl der Delegierten, die zu überregionalen Parteitagen entsandt wird, abhängt von der Zahl der Mitglieder, die die alten lokalen Organisationen und die neuen funktionalen Organisationen in Konkurrenz miteinander anzuziehen vermögen. Eine solche Reorientierung ermöglicht auch die Mitgliedschaft auf Zeit — ohne daß es zu so dramatischen Entscheidungen wie Austritt oder gar Ausschluß kommt. Wenn ein Problem, für das man sich engagiert hat, überholt ist, zerfällt dieser Organisationskreis, und die Mitarbeit schläft wie die Mitgliedschaft ein. Lokale und funktionale Parteiorganisationen konkurrieren miteinander um die Zahl der Mitglieder, um adäquate Delegiertenrepräsentanz zu bekommen. Wenn die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, daß die funktionalen Organisationseinheiten gerade jene Wählerschichten ansprechen, die den Wechselwählern näherstehen, bekommt man auf diese Weise auch ein Instrument, um die Präferenzstruktur der Bevölkerung in die Willensbildungsprozesse der Partei eingehen zu lassen, die Reagibilität der Parteien wird erhöht.

Man kann diese Parteistruktur durch eine Reihe ergänzender Maßnahmen weiter vitalisieren, z. B. durch die Umstellung des Systems der Subventionierung politischer Parteien aus öffentlichen Mitteln. In der gegenwärtigen Form wird aus den Bundes-und Landeshaushalten an die zentralen Parteiführungsstäbe gezahlt. Das amerikanische Modell würde diese Reagibilität der Parteien weiter vergrößern: Dort kann der Bürger einen Teil seiner Steuerpflicht den Parteien seiner Wahl zuweisen, wobei dann zusätzlich nach den Organisationseinheiten differenziert werden kann; die den Betrag erhalten.

Unser demokratisches Regierungssystem gewinnt seine Legitimation aus dem Wechselspiel konkurrierender Gruppierungen. Dieses Wechselspiel droht zu einem formalen Spiel zu werden, wenn die konkurrierenden Parteien in den zentralen Fragen der Politik keine alternativen Konzeptionen anbieten. Die Legitimationskrise vieler westeuropäischer Parteiensysteme, ausgelöst durch die Krisis einer überholten gesellschaftspolitischen Konzeption, des Wohlfahrtsstaates, verdeutlicht diese Gefahr. Zur Vermeidung kann man an die Verantwortlichkeit der Parteiführungen appellieren. Erfolgversprechender erscheinen Reformen der Parteiorganisation; um die strukturelle Reagibilität der Parteien zu vergrößern. Aus den Honoratiorenparteien des vergangenen Jahrhunderts und den Funktionärsparteien müssen die Parteien weiterentwickelt werden zu , „Partizipationsparteien“, die auf die Präferenzstrukturen und ihre Veränderungen in der Bevölkerung wirksam reagieren und sie in alternative politische Führung umsetzen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. M. Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, in: Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1958, 2. Aufl., S. 233— 279; auch: Deutschlands künftige Staatsform, ebd., S. 436— 471.

  2. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Kap. III: Die Typen der Herrschaft, 5. rev. Aufl., Tübingen 1972, S. 122— 176.

  3. F. A. Hermens, Verfassungslehre, Köln und Opladen 1968, S. 38— 41, weist daraufhin, daß die Verwendung des Begriffes Herrschaft zur Kennzeichnung demokratischer Strukturen irreführend sei und schlägt dafür den Begriff Führung vor, um schon in der Begriffswahl den grundsätzlichen Unterschied zwischen demokratischen und nichtdemokratischen Systemen deutlich zu machen.

  4. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Halbb. 8. Abschn.: Die rationale Staatsanstalt und die modernen politischen Parteien und Parlamente, 5. rev. Aufl., Tübingen 1972, S. 815— 868.

  5. W. Bagehot, The English Constitution, London 1896. Zur Bedeutung der Analyse von Bagehot für die Entwicklung der demokratischen Theorien, s. F. Nuscheler, Walter Bagehot und die englische Verfassungstheorie, Meisenheim am Glan 1969, Heidelberger Politische Schriften.

  6. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 850.

  7. Das betont F. A. Hermens, Verfassungslehre, a. a. O„ S. 42— 46.

  8. F. A. Hermens, Verfassungslehre, a. a. O., S. 38— 41.

  9. C. J. Friedrich, Man and his Gouvernment, New York, 1963, S. 239; S. M. Lipset, Political Man, New York 1973, S. 64 ff.

  10. Th. Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1973, S. 205.

  11. H. Arendt, Parteien und Bewegungen, in: Die Wandlung, 4. Jg. 1949, 6. Heft, S. 460— 461.

  12. Vgl. z. B. für Großbritannien: D. Butler und D. Stokes, Political Change in Britain, London 1969, S. 65 ff.; für die USA: Campbell, Converse, Miller, Stokes, The American Voter, 4. Aufl., Michigan 1966, S. 120ff.; für die Bundesrepublik: M. Kaase, Wechsel von Parteipräferenzen, Meisenheim 1967, sowie W. Kaltefleiter, Im Wechselspiel der Koalitionen. Eine Analyse der Bundestagswahl 1969, Jahrb. Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Bd. 1/1970, sowie ders., Zwischen Konsens und Krise. Eine Analyse der Bundestagswahl 1972. Jahrb. Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Bd. 1/1973.

  13. So schon C. J. Friedrich, The New Belief in the Common Man, Brattleboro 1949.

  14. Ähnliches gilt für die Rolle Schillers im Wahlkampf 1969.

  15. Als z. B. 1964 die Republikaner Goldwater und 1972 die Demokraten McGovern nominierten und damit auf ihre Stammwählerschaft reduziert wurden, blieb ihnen dennoch eine Stärke, die eine wirkungsvolle Opposition ermöglichte.

  16. Eine umfassende Übersicht über die wesentlichen theoretischen Ansätze zur Analyse des wechselnden Wahlverhaltens ist bei M. Kaase, Wechsel von Parteipräferenzen, a. a. O., zu finden.

  17. L. Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford/Calif. 1957, S. 18 ff.

  18. F. A. Hermens. Wirtschaftliche und staatliche Stabilität, Frankfurt/M., Bonn 1964, S. 13, sowie W. Kaltefleiter, Wirtschaft und Politik in Deutschland, Köln und Opladen 1968, S. 88 ff.

  19. S. V. Gemmecke und W. Kaltefleiter, Die NPD, in: Jahrb. VerfAwsung und Verfassungswirklichkeit, Jahrbuch 1967, Teil I, S. 23— 45, sowie H. D. Klinge-mann, F. Pappie, Politischer Radikalismus, München, Wien 1972.

  20. Darauf hat R. Wildenmann, in „Macht und Konsens als Problem der Innen-und Außenpolitik", Köln/Opladen 1963, S. 48 ff., schon frühzeitig hingewiesen.

  21. Vgl. W. Hennis, Große Koalition ohne Ende, München 1968.

  22. L. Eltermann, H. Jung, W. Kaltefleiter, Drei Fragen zur Bundestagswahl 1972, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B. 46/73.

  23. Diese zeigt dann auch, daß diese Gruppe dadurch gekennzeichnet ist, daß sie durch die Mobilität einer modernen Industriegesellschaft überfordert und damit für Protestwahlverhalten besonders anfällig sind.

  24. Berelson/Lazarsfeld/McPhee, Voting. A study of Opinion Formation in a Presidential Campaign, Chicago/London 1954.

  25. D. Butler und M. Pinto-Duschinsky, The British General Election of 1970, London 1971.

  26. Vgl. D. Butler und D. Kavanagh, The British General Election of February 1974, London, 1974, S. 13 (danach stieg der Index der „retail prices“ von 100 im Jahre 1970 auf 133 am Ende des Jahres 1973).

  27. Was häufig als . Endideologisierung der Politik mißverstanden wird; s. D. Rostow, Democracy Consensus and the New States, Brüssel, 7th IPSA, 18— 23 Sept. 1967.

  28. H. D. Schmidt, Struktur-und Funktionsbedingungen des belgischen Regierungssystems, in Vorbereitung.

  29. Man muß sich daran erinnern, daß diese Regierungsbildung nur möglich wurde, weil die NPD die 5 " /»-Klausel um wenige zehntel Prozent verpaßte und die FDP sie um etwa die gleiche Marge übersprang.

  30. Vgl. L. Erhard und A. Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, Frankfurt, Berlin, Wien 1972, sowie W. Engels, Soziale Marktwirtschaft, Stuttgart 1972.

  31. Vgl. J. Raschke, Innerparteiliche Opposition. Die Linke in der Berliner SPD, Hamburg 1974.

  32. Vgl. z. B. das Tagebuch von Beatrice Webb, das in gleicher Form von einer engagierten Jungsozialistin heute geschrieben werden könnte. S. dazu M. Cole, Beatrice Webb s Diaries 1912— 1924, London, New York, Toronto, 1952; dies., Beatrice Webb's Diaries 1924— 1932, London, New York, Toronto 1956.

  33. Audi auf diese Problematik hat Max Weber bereits hingewiesen, als er SPD und Zentrum als typische „Minoritätsparteien" kennzeichnete (M. Weber, Gesammelte Politische Schriften, 3. Aufl., Tübingen 1971, S. 542). CDU/CSU und anschließend ab 1959 auch SPD haben ihr Wählerpotential verbreitert, sind potentielle Mehrheitsparteien geworden, aber ihre organisatorischen Strukturen haben sich kaum verändert. S. dazu W. Kaltefleiter, Wandlungen des deutschen Parteiensystems 1949 bis 1974, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, B 14/75.

  34. Max Weber, Politik als Beruf, in: Politische Schriften, 2. Aufl., Tübingen 1958, S. 501.

  35. S. dazu W. Kaltefleiter, The Recruitment of the German Political Elite, in: M. Cudnowski und H. Eula, The Recruitment of the Political Elite, im Drude.

  36. Vgl.den Bericht der APSA: Toward a More Responsible Two-Party System. A Report of the Committee on Political Parties, The American Political Science Review, Vol. XLIV, September 1950, No. 3, Part 2, Menasha/Wisconsin.

Weitere Inhalte

Werner Kaltefleiter, Dr. rer. pol., geb. 1937 in Hagen, o. Professor für Politische Wissenschaften an der Universität Kiel, Direktor des Seminars für Wissenschaft und Geschichte der Politik, vom 1. 7. 1970 bis 30. 6. 1975 Leiter des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 1. 6. 1975 Vizepräsident der Universität Kiel. Veröffentlichungen u. a.: Zwischen Konsens und Krise. Analyse der Bundestagswahl 1972, 1973; Das labile Gleichgewicht. Das amerikanische Parteiensystem nach den Wahlen von 1972 (zusammen mit Edward Keynes), 1973; Geheimhaltung und Öffentlichkeit in der Außenpolitik (zusammen mit Peter Krogh), 1974; Minoritäten in Ballungsräumen. Ein deutsch-amerikanischer Vergleich (zusammen mit M. G. Eisenstadt), 1975.