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Zeitgeschichte und Zeitperspektive Versuch einer didaktischen Ortsbestimmung <fussnote> Leicht gekürzte Fassung eines Vortrages zur Ein-Nttung der Jahrestagung des Landesverbandes 195rhein-Westfälischer Geschichtslehrer am 10. 3. </fussnote> | APuZ 22/1975 | bpb.de

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APuZ 22/1975 Artikel 1 Zeitgeschichte und Zeitperspektive Versuch einer didaktischen Ortsbestimmung Leicht gekürzte Fassung eines Vortrages zur Ein-Nttung der Jahrestagung des Landesverbandes 195rhein-Westfälischer Geschichtslehrer am 10. 3. Bürger oder Bourgeois? Eine literatursoziologische Studie zu Thomas Manns „Buddenbrooks"

Zeitgeschichte und Zeitperspektive Versuch einer didaktischen Ortsbestimmung <fussnote> Leicht gekürzte Fassung eines Vortrages zur Ein-Nttung der Jahrestagung des Landesverbandes 195rhein-Westfälischer Geschichtslehrer am 10. 3. </fussnote>

Erich Kosthorst

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Zusammenfassung

Zur Bestimmung von Ort und Ansatz einer zeit-und sachgerechten Didaktik der Zeitgeschichte bedarf es zweier gedanklicher Schritte: a) des Ausleuchtens des Horizonts der Zeitperspektive; b) der Justierung der zeitgeschichtlichen Thematik durch Einstellung in diese Perspektive. Unter Zeitperspektive ist zu verstehen das in der jeweiligen Gegenwart erlebte Bezogensein auf die Vergangenheit und auf die Zukunft. Von der Art dieses Vergangenheits-und Zukunftsbezuges hängt die Handlungsmoral ab. Die gegenwärtige Zeitperspektive stellt sich dar in einer alternativischen Konfiguration von Fortschrittspathos und Nostalgie. Das nostalgische Phänomen ist der Reflex auf eine seelische Überspannung durch strapaziöse Inanspruchnahme von rapiden Veränderungsprozessen. Das Fortschrittspathos demonstriert sich als forcierter Aversionsaffekt zur Vergangenheit hin und hat im Drang, die „Zeitmauer" nach vorn zu durchbrechen, Züge neurotischer Fixierung entwickelt. Als genereller Befund ist eine allgemeine Identitätskrise mit Ziellosigkeit und der Gefahr ideologischer Neustiftung von Identität zu konstatieren. Geschichte und Geschichtsunterricht können die notwendigen Zielwerte für eine rationale Zukunftsund Handlungsorientierung nicht bereitstellen, sie können aber Identifikationshilfe leisten, indem sie ein aufgeklärtes Verhältnis zur Vergangenheit herstellen. Mit der Überschreitung der Schwelle der Ostverträge und des Grundvertrages mit der DDR ist eine Identitätsfindung für die Bundesrepublik erst recht dringlich geworden. Sie ist aber auch eher möglich als bisher: Es geht darum, eine aufgeklärt-gerechte Beziehung zur eigenen Geschichte zu gewinnen und sich von dem nationalen Masochismus zu befreien, in den der frühere nationale Narzißmus umgeschlagen zu sein scheint. Die Fixierung auf eine negative Singularität der eigenen Geschichte muß aufgegeben und eine Gleichbehandlung der deutschen Geschichte im Vergleich mit der Geschichte der anderen Völker und Staaten erreicht werden. In dem Buch von Ernst Nolte „Deutschland und der Kalte Krieg" ist beispielsweise eine solche didaktische Chance zur Befreiung von der bloßen Umkehrung der nationalistischen Überheblichkeit und zur Annahme der deutschen Geschichte in ihrer Totalität angebahnt. In Rücksicht auf die Vergangenheit dürfen wir im Geschichtsunterricht die Klärung der fundamentalen Frage, wer wir als dieser Staat Bundesrepublik sind, was wir sein können und sein wollen, nicht mehr länger vor uns herschieben. Mit dieser Forderung ist die Frage verbunden, ob wir noch eine Nation sind und sein wollen. Was gesucht wird, ist nicht das Surrogat einer Integrationsideologie, sondern die mit dem Vergangenheits-bezug verbundene Zukunftsorientierung und politische Handlungsmoral. Die notwendige Klärung darf also nicht mit einer von oben gesetzten, wie auch immer ideologisch motivierten, Identifikationsveranstaltung verwechselt werden. Sie muß in Gang kommen durch einen rationalen Diskurs zwischen Politikern und Bürgern, zwischen Lehrern und Schülern. Der mit den Reden des Bundeskanzlers, des Oppositionsführers und des Abgeordneten Gradl in der deutschlandpolitischen Debatte des Bundestages am 30. Januar 1975 sowie mit den Stellungnahmen des Bundespräsidenten am 20. Dezember 1974 und 6. Mai 1975 gegebene Anstoß sollte didaktisch aufgenommen werden. Daraus ergeben sich bildungspolitische und schulorganisatorische Konsequenzen: Der Geschichtsunterricht darf nicht in eine Randposition gedrängt, die Zeitgeschichte nicht vom Sozialkundeoder Politikunterricht absorbiert werden.

I.

„Ob eine Nation reif werden könne, ist eine wunderliche Frage. Ich beantworte sie mit Ja, wenn alle Männer als dreißigjährig geboren werden könnten; da aber die Jugend vorlaut, das Alter kleinlaut ewig sein wird, so ist der eigentlich reife Mann immer zwischen beiden geklemmt und wird sich auf eine wunderliche Weise behelfen und durchhelfen müssen."

Mit diesen Sätzen aus Goethes „Maximen und Reflexionen" 1a)'charakterisierte kürzlich Hans-Peter Schwarz in der von ihm gemeinsam mit Richard Löwenthal herausgegebenen Bilanz der Bundesrepublik das derzeitige Handeln unserer repräsentativen Politiker, gleichgültig ob konservativ, liberal oder linksliberal Nicht viel anders stellt sich nach der Arretierung weit in die Zukunft greifender, gesellschaftsverändernder Konzepte der Spielraum der politischen Pädagogik dar. Die Ge-

schichte, speziell die Zeitgeschichte, ist wieder auf den Plan gerufen — nicht zuletzt die jüngste deutschlandpolitische Debatte im Bundestag vom 30. Januar 1975 zeugt davon.

Zwischen „vorlauter Jugend" und „kleinlautem Alter" eingeklemmt, mit „wunderlichem" Behelfswerk für die Reifung der Nation zu wirken — eine solche Position hat in unserer aufgeregten Zeit wenig Aufregendes an sich.

Einer forschen Emanzipatorik ohnehin suspekt, mag sie auch diejenigen enttäuschen, die angesichts der vielberufenen Tendenzwende bereits die Wiedergeburt der Geschichte aus dem Geist der Nostalgie fest in ihre'politische und pädagogische Rechnung eingesetzt haben.

Eine didaktische Position zwischen Progressis-

mus und Konservativismus ist also gewiß prosaisch, aber sie scheint mir hinreichend realistisch zu sein, um in der zwischen progressivem Gestus, nostalgischem Sehnen und neue-ster Psi-Gläubigkeit weitgespannten geistigen Landschaft der Bundesrepublik didaktisch Po-sto fassen zu können.

Mit anderen Worten: Zur Bestimmung von Ort und Ansatz einer zeit-und sachgerechten Didaktik der Zeitgeschichte als eines Kerns, tük-kes rationaler politischer Urteilsbildung bedarf es zweier Schritte:

1.des Ausleuchtens des Horizonts der Zeit-perspektive; 2.der Justierung der zeitgeschichtlichen Thematik durch Einstellung in diese Perspektive. Unter Zeitperspektive wird hier im Sinne Lewins verstanden „das in der jeweiligen Gegenwart (dem . psychischen Felde zu einer gegebenen Zeit ) erlebte (nicht notwendigerweise bewußte] Bezogensein auf einen mehr oder weniger großen, in bestimmter Weise strukturierten . Zeitraum des Vergangenen und Zukünftigen. ..'", von welchem „die für das Erreichen zukünftiger Ziele erforderliche Motivation oder . Moral'bestimmt wird" In Ergänzung zu dem vom Sozialpsychologen Lewin wie von der Psychologie überhaupt bevorzugt beschriebenen Zukunftsbezug muß der Historiker darauf hinweisen, daß jede Zukunftssicht immer nur als schon vorgeformt, d. h. als vergangenheitsbezogen zu denken ist. Ohne Vergangenheitsbezug gibt es kein Zukunftserleben, weder für Individuen noch für Gruppen. Daraus folgt, daß Motivation und Handlungswille, „hohe Moral" im Sinne Lewins, entscheidend von der Vergangenheit mit bestimmt werden, sei es beflügelnd oder auch hemmend.

Nun können Vergangenheitsund Zukunftsbezug in einem ausgewogenen Verhältnis stehen — Menschen und Gesellschaften von „Maß und Mitte", in ruhigen Zeitläuften; nicht selten aber und zunehmend unter dem starken Veränderungsdruck der modernen Industriesy4 steme geraten die Komponenten dieser Grund-befindlichkeit in solch starke Spannung, daß ein Pendeln der Zeitperspektive zwischen Vergangenheits-und Zukunftsbezug einsetzt. In den Grundfiguren dieses Prozesses, wie sie die Individualpsychologie schon vor eineinhalb Jahrzehnten als „nostalgisches Phänomen"

und „Fortsdirittsgestus" gekennzeichnet hat, finden wir uns nun als bundesrepublikanische Gesellschaft wieder: schwankend zwischen vorwärtsjagendem Fortschrittsimpetus und rückwärtsgewandtem Sehnen.

Es wird höchste Zeit, diese Konfigurationen zur Kenntnis zu nehmen, damit wir aus dem Staunen über den unerwarteten Pendelsdilag endlich herauskommen und die politische Pädagogik unter dieser Perspektive neu justieren können. Konkret heißt das: Die Geschichte mit der Zeitgeschichte ist wieder gefordert wie seit zwei Dezennien nicht mehr (vergleichbar etwa mit der Situation Anfang der fünfziger Jahre, als Hans Rothfels die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte herausbrachte). Freilich — sie ist eingeklemmt zwischen „Vorlaut" und „Kleinlaut", und zum Jubel ist kein Anlaß. Daß speziell die Zeitgeschichte auf den Plan gerufen ist und nicht etwa der Politikunterricht oder die Sozialkunde (die sich beide bekanntlich Stücke von Zeitgeschichte einverleibt haben, zumeist als handhabbares Material) liegt zum einen darin begründet, daß es vordringlich um konkrete geschichtliche (auch von der Psychologie nicht zu leistende) Analyse sozialer Prozesse im Lichte gegenwärtiger Erfahrungen geht; und zum anderen darin, daß die Zeit-geschichte als die der obersten Zeitschicht zugewandte historische Teildisziplin die darunter liegenden und sich mit bewegenden geschichtlichen Formationen im Unterschied zu den systematischen Sozialwissenschaften mit thematisieren kann. Daß sich aus diesem Befund auch ein Votum für einen unverkürzten Geschichtsunterricht ergibt, sei hier nur angedeutet. 4 Schauen wir uns zunächst die offenbar zusammenhängenden elementaren sozialpsychologischen Reaktionen von Nostalgie und Fortschrittspathos etwas näher an: Das „nostalgische Phänomen“, 1961 von dem Psychologen Ch. Zwingmann als Signal individueller Lebenskrise beschrieben inzwischen zu einem liebevoll gepflegten publizistischen Thema geworden, ist, wie sich zeigt, ein Syndrom, in welchem ein Gemisch von Enttäuschung über die Realität der Gegenwart und unbestimmter Furcht vor der ungewissen Zukunft ein dif-fuses Sehnen nach der — guten, vesseren, leichteren — Vergangenheit hervorruft: Insofern dies als die elementarseelische Grundlage des Konservativismus als menschlicher bzw. gesellschaftlicher Haltung bezeichnet werden kann liegt hier mehr als nur ein soziokultureller Modewechsel oder eine „spät• kapitalistische Dekadenzerscheinung" vor.

Es tritt eine anthropologische Unterströmung an die Oberfläche, die das Bewußtsein aufnimmt und dieses drängt, in der verworrenen Gegenwart auf Traditionsleitung umzustellen, obwohl zugleich das dumpfe Gefühl mitzuschwingen scheint, daß ein solcher Versuch heute allein nicht mehr weiterführen kann. Die nostalgische Rückwendung, deren schwache Schubkraft zumeist nur bis zu den Außenseiten der Vergangenheit führt, ist denn auch weniger Signal für das Wiedererwachen des historischen Sinnes in gegenwartsmüden Seelen als vielmehr Reflex auf eine seelische Überspannung durch strapaziöse Inanspruchnahme von rapiden Veränderungsprozessen und zusätzlicher Überflutung von einer verbalen Fortschrittskampagne. Dennoch sollte das nostalgische Sehnen als Indikator eines vernachlässigten seelischen Grundbedürfnisses ernst genommen werden: Es verweist einerseits auf die voraussehbaren gesellschaftlich-

politischen Folgen anhaltender Geschichtsvergessenheit oder gar schulpolitisch organisierter Geschichtsverdrängung und ist andererseits zugleich eine didaktische Chance, wenn man das schweifende Sehnen nicht nur auf geschichtliche Oberflächenreize auflaufen, sondern auf geschichtliche Substanz treffen ließe.

Der progressive Überschwang ist das genaue Gegenstück des nostalgischen Phänomens. Im seelischen Habitus der radikalen Träger der Französischen Revolution sind die Bestandteile des psychologischen Syndroms „Gestus der Fortschrittlichkeit" zum erstenmal modern ausgeprägt: Anullierung der Vergangenheit (aber nicht in Tabuisierung, sondern in stets wiederholter verbaler Verwerfung) — der hinter abgebrochenen Brücken forcierte Zukunftsvorgriff und die . Instrumentalisierung'der gegenwärtig Lebenden — die gedankliche Anti zipation einer neuen (harmonischen) Welt mi neuen (vom alten Dreck gereinigten, guten Menschen — enthusiastischer Aktivismus.

Man reibt sich die Augen: eben dies ist an un vorübergerauscht, ohne daß wir begriffe!

was wir erlebten. Die Historiker hatten in de Analyse der Französischen Revolution die bi grifflichen Kategorien zwar bereitgestellt, abi der Vergessenheit anheimfallen lassen. Vc ler Sozialpsychologie sind sie bereits vor dem Einsetzen der Studentenbewegung wieder aufjegriffen und psychologisch transformiert wor-len — man hat sie nicht beachtet. So sei als Postskriptum hier mitgeteilt, was der Sozial-Psychologe Heinz Wiesbrock bereits 1964 — inte portas — schrieb und was sich wie eine Prognose unserer gegenwärtigen Misere liest: . Namentlich im Rückschlag der seelischen Überspannung treten oft innere Leere und De-ätismus ... oder neurotische Ungeduldshal-ungen an den Tag ... Die Wiedererweckung les abflauenden transformierenden Uberschwangs wird teils versucht durch immer er-reut nachvollzogenen Absprung von der Ver-jangenheit; ein ständig erneuerter Aversions-iffekt zur Vergangenheit hin bedeutet aber ün Stück neurotischer Fixation, seelischei Rigidität, das in einer Art Wiederholungszwang unfrei macht. Andernteils ist auch der Versuch, den enthusiastischen Griff in die ideale Zukunft stets zu erneuern, ausgesprochen konfliktgeladen: das Grundgefühl des , noch nicht', der unendlichen Distanz zum Verheißenen führt zum fiebrigen Drang, die , Zeitmauer'dorthin zu durchbrechen ..."

Die sozialpsychologische Bestimmung dieser von alternativischen Konfiguration Nostalgie und Fortschrittspathos als aktualisierter Elemente der Zeitperspektive ist zweifellos ein» zeitgeschichtliche Diagnose, derer sich die Zunft der Historiker unverzüglich bedienen muß. In Zeitperspektive gilt es nunmehr diese die Zeitgeschichte (im engeren Sinn der historischen Teildisziplin) mit ihrem wissenschaftlichen Frageansatz wie mit ihrem didaktischen Auftrag für Schule und Öffentlichkeit einzustellen. Eine neuerdings auftretende, virulente dritte Komponente, der Okkultismus, als Versuch des Aussteigens aus der Zeit überhaupt kann hier nur noch erwähnt, aber nicht mehr erörtert werden.

Die dargestellte Oszillation in der Zeitperspektive signalisiert eine fundamentale Krise. Wo die Komponenten der Zeitperspektive — Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft — derart auseinanderklaffen, kann keine Handlungsorientierung Zustandekommen, ist die Identität von Personen und Gruppen in Gefahr. Die Identitätskrise als Folge der Unfähigkeit, mit dem Tempo der nach Exponentialkurvenmuster ablaufenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozesse zurechtzukommen, und der Kurzschluß einer kompensatorischen Neu-Stiftung von Identität mit ideologischen Mitteln sind u. a. von dem Philosophen Hermann —----------

Lübbe präzise beschrieben worden Weil wir mit Lübbe der Überzeugung sein dürfen, daß Historie als Medium der Idendifikation fremder und eigener Identität ein wesentliches Moment des Aufbaus und der Selbsterhaltung der je eigenen Identität von Einzelnen wie Gesellschaften ist, kann nunmehr genauer nach der spezifischen Identifikationshilfe für unsere Gesellschaft und unseren Staat gefragt werden. Dabei sollte klar sein, daß wir nicht die Historie um ihrer selbst willen suchen, sondern ihren Beitrag zum Zwecke einer rationalen Handlungsorientierung, die die Bundesrepublik nicht länger entbehren kann, will sie nicht in den Sog von irrationalen Integrationsideologien oder in bloßen Dezisionismus geraten. Diese Aufgabe ist selbstverständlich der ganzen Historie gestellt, doch ist die Zeitgeschichte in erster Linie aufgerufen. Gefragt ist also nach ihrer identitätsdefinierenden Funktion unter der beschriebenen Zeitperspektive.

II.

Wollte man es gründlich machen, so müßte man jetzt die Phasen und Formen der deutschen Identitätskrise seit dem sogenannten 1945 ihre Nullpunkt von und Spiegelungen in der zeitgeschichtlichen Forschung und Didaktik durchlaufen, um den Punkt zu bestimmen, an dem wir stehen und von dem aus es neu anzusetzen kann jedoch gilt. Soweit hier nicht ausgeholt werden. Ich konzentriere mich darum auf zwei exemplarische Themen, von deren wissenschaftlicher und didaktischer Behandlung nahezu alle übrigen mitberührt waren und und sind — den Nationalsozialismus die deutsche Frage.

In unserem Land, das den Nationalsozialismus hervorgebracht hat und mit ihm sich und Europa in die Katastrophe gestürzt hat, mußte in der Tat der Nationalsozialismus zentrales Thema für die historische Forschung und den Geschichtsunterricht in den Schulen sein. Die Erkenntnis der Bedingungen der Möglichkeit des auf deutschem Boden Geschehenen war zwar nicht die einzige, aber die erste und wichtigste Voraussetzung, sollte ein Selbstreinigungsprozeß in Gang kommen. Die Didaktik der intensiven Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war so sicherlich — psychologisch gesprochen — aversionstherapeutisch angesetzt. Aber sie ist doch von vornherein nicht in der Registrierung deutscher Verführbarkeit und Schuld befangen geblieben, sondern hat darüber hinaus gefragt nach auto-ritär-totalitären Dispositionen auch jenseits der deutschen Grenzen und in der modernen Industriegesellschaft überhaupt: Die Schizophrenie des Spießers Höß signalisiert eben nicht nur deutsche Charakterschwächen, sondern allgemeine anthropologische und soziale Gefährdungen unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts, wie sie die Ergebnisse des Milgram-Experiments dann fürchterlich bestätigten

War der in solcher Weise arbeitende zeitgeschichtliche Unterricht immer schon politische Bildung par exellence und griff er in dieser Hinsicht über den spezifisch deutschen Rahmen hinaus, so blieb, um ein pädagogisches Schlüsselwort von Herwig Blankertz zu gebrauchen, die edukative Intentionalität doch vornehmlich auf die deutsche Geschichte bezogen und mußte es auch sein — mit der didaktisch freilich kaum vermeidbaren Folge einer psychologischen Fixierung der Jugendlichen auf eine negative Singularität der deutschen Geschichte. Die Uberdimensionalität der nati nalsozialistischen Perversion mit der Frage nach den auf sie zulaufenden Tendenzen der eigenen Geschichte und den von ihr herrührenden Konsequenzen wirkte wie eine Blockade der deutschen Geschichte im ganzen. Damit hängt es wohl auch zusammen, daß es bisher nicht gelungen ist, das nachhaltig gestörte Verhältnis unserer Gesellschaft zu Staat und Nation zu normalisieren.

Dies feststellen heißt nicht, nachträglich einen anderen Weg als den beschrittenen für wünschbar zu halten. Individuen und Gruppen können negative Phasen verdrängen, indem sie diese in Tabubereiche verbannen, wie dies die Sowjetunion mit dem Stalinismus tut. Auf diese Weise werden zwar Krisen unterbunden, zugleich aber auch Emanzipation und Mündigkeit verhindert. Von der Maxime, daß nur die Wahrheit frei macht, können auch Völker und Staaten nicht suspendiert werden. Mit dem „sapere aude“ des Kantischen Aufklärungspostulats, dem wir gefolgt sind, müßte unter der Zeitperspektive indessen zugleich die Frage nach dem Zukunftsbezug eingestellt werden. Einzelmenschen und Völker sind nur lebensfähig, wenn sie in der Konfrontation mit dem Gewesenen diesen Zukunftsbezug nicht verlieren, wenn es ihnen in der „Trauer-Verarbeitung gelingt, in Anknüpfung an di ungeteilte Tradition der eigenen Geschieht neue Zielwerte zu finden.

Eben dies aber haben wir bisher nicht zuweg gebracht — einerseits, weil mit dem auf der Bankrott des Nationalsozialismus folgende)

Verlust der Staatlichkeit und deren schließ lieh nur partiellen Wiederherstellung zusätz liehe Barrieren entstanden; andererseits, wei die politische Pädagogik, Frageansätze de Zeitgeschichte vereinfachend und kritische Teilergebnisse verabsolutierend, vielfach eine total negative Kontinuität der deutschen Ge schichte statuierte, innerhalb derer der Natio nalsozialismus nur als zwangsläufiges Schluß stück auf einer tausendjährigen schiefen Bahr und die Bundesrepublik als deren letzter Aus läufer galt. Die hessischen Rahmenrichtlinier für Gesellschaftslehre und die zurückgezogenen Rahmenlehrpläne für Gesellschaft/Politik für die NRW-Gesamtschulen sind Paradestücke solcher Sichtweisen, für die es keinen prinzipiellen Unterschied macht, ob der deutsche Faschismus (ggf. mit seinem „imperialistischen" Anhängsel Bundesrepublik) als determinierter Endpunkt des Kapitalismus oder als Produkt jahrtausendalter deutscher Servilität, Hörigkeit bzw. antidemokratischer Affekte gewertet wird.

Gab es früher eine deutsche Überheblichkeit, die die Welt am deutschen Wesen genesen sehen wollte, so scheint sie in der politischen Pädagogik in den letzten Jahren in ihr Gegenteil, einen nationalen Masochismus umgeschlagen zu sein. Wie dem auch sei, eine „Germano-zentrik", wie der französische Politikwissenschaftler Grosser den deutschen Habitus nennt, ist geblieben — jetzt indessen mit negativem Vorzeichen und gegenüber früher nun von heillosem Provinzialismus. Ausbruchsversuche in die „Wunsch-Zeitlichkeit" einer harmonischen Zukunft oder einer heilen Vergangenheit sind in solcher Seelenlage als Korrekturversuche einer gestörten psychischen Ökonomie anzusehen.

In dieser verfahrenen Situation ist die Zeitgeschichte erneut gefordert. Allerdings ist mit noch so artifiziellen Lernzielsetzungen nichts zu verändern. Eine Wendung in der Sache tut not. überraschend bietet sich mit einem neuen Werk der zeitgeschichtlichen Forschung eine Hilfe an, die geeignet ist, den zeitgeschichtlichen Unterricht in einen anderen Aggregatzustand zu bringen und die motivierende Kraft der eigenen Geschichte wieder lebendig zu machen. Es handelt sich um die soeben von dem bekannten Faschismusexperten Ernst Nolte herausgebrachte umfassende historische Darstellung und geschichtsphilosophisch unter-baute Wertung des kalten Krieges „als Epochenproblem und Weltanschauungskonflikt" (unter dem bescheidenen Titel „Deutschland und der Kalte Krieg"). In dieser voluminösen Arbeit, die von H. -P. Schwarz als dem wohl sachkundigsten Rezensenten als „eine der wirklich bedeutenden zeitgeschichtlichen Neuerscheinungen der letzten Jahre", als „großen Wurf" bezeichnet wurde, ist im Schlußkapitel („Die Anerkennung der Teilung Deutschlands und ihre Bedeutung im Rahmen der anderen Hauptresultate des kalten Krieges") eine neue Ortung des Nationalsozialismus vorgenommen worden, die mir für die Justierung der Didaktik der Zeitgeschichte von größter Bedeutung zu sein scheint.

Mit dem Abschluß der Ostverträge und des Grundvertrages mit der DDR sei für die Bundesrepublik, so setzt Nolte an, eine Schwelle überschritten, hinter der die bisherigen Staats-ziele zurückgeblieben seien. Aus dieser Tatsache ergebe sich neben einer Grundschwierigkeit, von der später noch zu reden ist, jetzt die Grundmöglichkeit, die deutsche Geschichte, die einem großen Teil der intellektuellen Schichten verdächtig geworden sei, wieder in ihrer Totalität anzunehmen und die einseitige und moralisierende Isolierung ihrer Fehlentwicklungen aufzugeben. Wenn die Befreiung von der bloßen Umkehrung der nationalistischen Überheblichkeit vollzogen sei, dann erscheine z. B. das Mißlingen der frühzeitigen Nationalstaatsbildung auf deutschem Boden nicht mehr als Fehlentwicklung, und das Bismarckreich stelle sich im Rahmen Europas und der Welt — keineswegs nur im Vergleich mit dem zaristischen Rußland, sondern auch vor dem Hintergrund Frankreichs und der USA — weder als besonders aggressiv noch als besonders unmodern dar. Am schwierigsten und zugleich am notwendigsten sei die Anwendung des Postulats der Gleichbehandlung der deutschen Geschichte in bezug auf das nationalsozialistische „Dritte Reich".

Hier wird von Nolte unsere Fragestellung also unmittelbar aufgenommen; ich zitiere darum die entscheidende Passage wörtlich:

„Der ägyptische Präsident Sadat soll den Ausspruch getan haben: . Unsere Hitlerzeit endet erst jetzt'. In der Tat hat jeder bedeutende Staat der Gegenwart, der sich ein außerordentliches Ziel setzte, seine Hitlerzeit mit ihren Ungeheuerlichkeiten und ihren Opfern gehabt, und es hing nur von seiner Größe und von seiner Situation ab, welche Folgen daraus für die Welt im ganzen resultierten. Eine Art itlerzeit waren der Stalinismus mit seinem Willen zu einer ganz ungewöhnlichen Macht-und Potenzsteigerung eines imperialen Groß-reichs, der Maoismus mit seiner Tendenz, China wieder zum Zentrum der Welt zu machen und über Gebietsverluste . Rechnungen vorzulegen', der Nasserismus mit seinem Streben nach der Vernichtung eines Nachbarstaates ... Die These von der Pluralität der Hitler-zeit bedeutet keine . Rechtfertigung'des Nationalsozialismus, so wenig sie eine Rechtferti--gung des Stalinismus intendiert. Sie bedeutet ganz im Gegenteil die entschiedene Verwerfung des Prinzips der Vernichtung von Menschen durch Menschen, welches als ideologisches Postulat sich qualitativ von der Realität der Tötung von Menschen durch Menschen in Kriegen und Aufständen unterscheidet... Aber erst wenn eingesehen ist, daß der Drang nach nationaler Integrität und Größe sowie nach der Zerschlagung ihrer angeblichen Feinde, daß Fremdenhaß und Austreibungen, ja selbst die , Oradours‘ und Genozide verbreitete Realitäten auch der Zeit nach 1945 waren — erst dann kann einleuchtend gemacht werden, daß der Nationalsozialismus noch mehr war als eine Kombination von all dem, ... in dem Augenblick, wo der Verzicht auf die frühere Realität Deutschlands ausgesprochen ist, kann die Totalität der deutschen Geschichte einschließlich des Dritten Reiches von national-pädagogischen Zwängen und Ängsten frei werden. Damit wird die Bundesrepublik zur Stätte der Möglichkeit der Wahrheit und insofern auch des Daseins Deutschlands — freilich einer schwierigen Wahrheit und eines gar nicht mehr staatlich fixierten Deutschland, dessen Definition erstmals so umfassend ist, daß sie niemanden und nichts ausstößt, sofern die Selbstbezeichnung .deutsch'gegeben war: weder Friedrich Barbarossa noch Heinrich den Löwen, weder Karl V. noch Luther, weder Metternich noch Marx, weder Friedrich Ebert noch Adolf Hitler, weder die Bundesrepublik noch die DDR. Und darin würde sich keine nationalistische Nabelschau durch die Vergegenwärtigung des Vergangenen vollziehen, denn nichts antizipiert so sehr eine künftige Einheit der Welt im Spannungsreichtum ihrer verschiedenen Staaten, Ideologien und Interessen wie die so verstandene deutsche Geschichte."

III.

Mit der didaktischen Loslösung von der Singularität der deutschen Geschichte in ihrer negativen Thematisierung wird nun nicht nur der Blick auf die deutsche Vergangenheit in ihrer Ganzheit wieder frei (so wie der Bundespräsident es neulich forderte) zugleich wird auch der Zukunftsbezug wieder offen. Damit ist gewiß die Krise unserer Identität noch nicht behoben, aber die Verkrampfung ist nun lösbar, so daß wir jetzt, in Rücksicht auf die ganze Vergangenheit, die fundamentale politische Frage neu stellen können, wer wir als dieser Staat Bundesrepublik eigentlich sind, was wir sein können und sein wollen. Das heißt u. a. auch, zu klären — und zwar nicht nur in esoterischen politischen Zirkeln, sondern an der sogenannten Basis, z. B. in den Schulen —, ob wir noch eine Nation sind und sein wollen. Was hier gesucht wird, ist nicht das Surrogat einer Integrationsideologie, sondern die uns bisher fehlende Zukunftsorientierung, die „Handlungsmoral" und Motivation im Sinne Lewins, das dynamische Zentrum des mit sich ins Reine gekommenen Volkes und seines Staates bzw.seiner Staaten.

Hier ist nun allerdings Zeit im Verzüge. Nicht nur, weil die DDR — entgegen der verbreiteten Meinung, sie sei mit der Streichung des Artikels 8, Absatz 2 ihrer Verfassung vom Zug der gemeinsamen Nation abgesprungen — erneut zu einer nationalpolitischen Offensive ansetzt und gerade eben in repräsentativen Zeitungsaufsätzen die „westdeutsche Bourgeoisie" des „nationalen Verrats" bezichtigt sondern auch, weil bei uns in der Bundesrepublik irrational gespeiste zeitgeschichtliche Wertungen neuerlich Verwirrung stiften. Dafür ein Beispiel: Die Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt haben als Libelli-Jahresgabe soeben das Werk von Rudolf Buchner „Deutsche Geschichte im europäischen Rahmen" zugeschickt bekommen. Hier findet sich im Schlußstück unter dem Titel „Gesamtbilanz und Ausblick“ folgende, für einen historisch geschulten Leser überraschende, politisch brisante Aussage: -„Harry Keßler hat das harte Urteil ausgesprochen, Deutschland sei dank seiner Fürsten , das gebildetste (?), aber rückgralloseste Volk Europas'geworden. Wird dies Urteil nicht erschütternd bestätigt durch die Tatsache, daß dieses Volk sich so widerstandslos zwischen Amerika und Rußland, zwischen kapitalistischer und kommunistischer Lebensordnung hat auseinanderdividieren lassen? Wie in der Uberhe-bung der Hitlerzeit, so hat der politische Instinkt der Deutschen auch in der Erniedrigung der selbstverschuldeten Katastrophe vollkommen versagt. Oder kann man sich vorstellen, daß die Franzosen sich längs einer Linie Le Havre-Toulouse, die Engländer längs einer Linie Dover-Liverpool, die Russen längs einer Linie Leningrad-Odessa, jeweils mit der Zweiteilung der Hauptstadt, hätten auseinander-reißen lassen, ohne mit allen Mitteln, notfalls mit Gewalt resistance zu leisten? Während wir Deutschen in aller Gemächlichkeit beginnen, in beiden Teilstaaten ein gesondertes, ja entgegengesetztes Staatsbewußtsein zu entwikkeln! Dennoch muß gefragt werden: Ist die Teilung eine Lösung des Problems? Ist sie endgültig? Kann sie Bestand haben?"

Als Lösung der deutschen Frage, als politische Zukunftsorientierung bietet Buchner den Weg über Moskau an, weil nur dieses, nicht aber Washington, die Wiederverbindung der zwei deutschen Staaten gewähren könne. Man könnte dieser These zustimmen, wenn dann eine rationale Erörterung denkbarer politischer Modalitäten folgte. Statt dessen verflüchtigt sich das Problem in der vagen Feststellung, daß im Falle der Orientierung anMoskau die Wiederherstellung des kapitalistischen Systems in Ostdeutschland schwerlich damit verbunden sein werde; daß aber auch, wie das Beispiel Österreichs und Finnlands zeige, die Einführung des kommunistischen Systems damit nicht notwendig verbunden sein müsse. Einen anderen — wirtschaftlichen oder politischen — Preis würden wir allerdings zu zahlen haben

Mit solchen Verkürzungen des deutschen Problems, wie sie dieses Beispiel zeigt, wird keineswegs ein „Beitrag zur Heilung des seit 1945 schwer gestörten deutschen Geschichtsbewußtseins" geleistet, wie der Verfasser dieser Sonderausgabe für die Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft glaubt Würde nicht eine deutsche Politik, die unter den Bedingungen des kalten Krieges die Wiedervereinigung nicht zum „obersten", sondern zum „ersten" Ziel erklärt und den Osten gegen den Westen auszuspielen versucht hätte, mit höchster Wahrscheinlichkeit den „kalten" Krieg in einen „heißen" verwandelt haben? Dieser rhetorischen Frage Noltes ist wohl nichts hinzuzufügen Es bedürfte nicht dieses besonders eklatanten Beispiels einer nichtstimmigen zeitgeschichtlichen Analyse, um feststellen zu können, daß unser politisches Bewußtsein dem Faktum der Ostverträge und des Grundvertrages mit der DDR bisher nicht gefolgt ist. Wir sind in eine neue. Phase, um nicht zu sagen Epoche unserer Geschichte eingetreten, ohne zugleich diesen Schritt mental nachvollzogen zu haben. Wenn die Bundesrepublik und die DDR zwei Staaten mit allen Elementen der Staatlichkeit sind — welchen Charakter hat und wie begründet sich dann die Deklaration der „besonderen Beziehungen", die u. a. keinen normalen Botschafteraustausch zuläßt? Ist die These von einer in zwei Staaten auseinandergetretenen, aber weiterhin bestehenden deutschen Nation, wie sie in den nach den Ostverträgen abgegebenen Regierungserklärungen der letzten Jahre und auch in dem den Verträgen nachgereichten „Brief zur deutschen Einheit" vertreten wurde, realitätsangemessen? Ist sie „Wille und Vorstellung" oder Rückzugsformel einer politischen Absetzbewegung? Ist sie das erstere, dann bedürfte eine solche, auf lange Fristen hin angelegte politische Konzeption einer kritischen politischen Pädagogik — die dafür verantwortlichen Länderkultusverwaltungen haben aber bisher kaum etwas getan, um einen pädagogischen Kommunikationsprozeß in dieser Frage in Gang zu bringen. Die allgemeine Unsicherheit in der deutschen Frage hat — im Gegenteil — statt zu einem didaktischen Diskurs zu einem pädagogischen , laisser-faire, laisser-aller'und dadurch faktisch zur Begünstigung eines irrationalen didaktischen Trends geführt, der, wenn nicht gegengesteuert wird, die objektiv gegebene Chance zur Lösung der Identitätskrise zerstören könnte.

Der Klärungsprozeß darf jedoch nicht mit einer von oben gesetzten und wie auch immer ideologisch motivierten Identifikationsveranstaltung verwechselt werden. Er ist zu verstehen als ein rationaler Diskurs zwischen Politikern und Bürgern, zwischen Lehrern und Schülern, bei dem der geschichtlichen Aufklärung die ihr zugeschriebene identitätsstiftende Funktion (Lübbe) zukommen könnte.

Die Aufgabe und das Problem eines hierher gehörenden zeitgeschichtlichen Unterrichts habe ich andernorts in seinen verschiedenen Dimensionen einmal zu konkretisieren versucht es sei mir erlaubt, hier dies zu wiederholen: Der pädagogische Ansatz eines solchen zeitgeschichtlichen Unterrichts zielt, wie angedeutet, auf die Ermöglichung einer rational-kritischen Identifikation mit der Bundesrepublik, bei der zugleich die gesamtnationalen und die supranationalen Komponenten mit im Bewußtsein bleiben. Er legt also mit der historischen Analyse nur die Bedingungen einer solchen Möglichkeit offen und stellt sie nicht in den Dienst einer platten Legitimierungsfunktion. Er darf auch, um die Zielsetzungen noch schärfer gegen Mißverständnisse abzugrenzen, nicht verwechselt werden mit einer pädagogischen Veranstaltung zur Herstellung einer Status-quo-Loyalität, die nichts weiter wäre als die Übertragung der Anerkennung eines erfolgreichen gesellschaftlich-ökonomischen Lenkungssystems auf die staatlichen Institutionen — der Habitus des Wohlstands-oder Schönwetterdemokraten. Konkreter: Wenn hier von der identitätsstiftenden Wirkung der kritischen Beschäftigung mit der Geschichte der Spaltung der deutschen Nation, der Entstehung der beiden deutschen Staaten DDR und Bundesrepublik mit ihren konträren ökonomisch-gesellschaftlichen Systemen gesprochen wurde, dann ist eben nicht eine bloß kopfnickende und nichts besagende und nichts bewegende Zustimmung intendiert, sondern eine rationale Entscheidung im kritischen Nachvollzug der transnationalen und nationalen Entscheidungsprozesse, welche drüben die DDR mit der ihr verordneten Lenkungswirtschaft und hier die Bundesrepublik mit der ihr zugeschriebenen Marktwirtschaft konstituiert haben. Thema und Lernpotential ist also nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch die DDR.

Es darf erwartet werden, daß in der Durchführung eines solchen didaktischen Ansatzes die Heranwachsenden nicht nur ein Informationswissen, sondern in und mit den Informationen Kategorien eines eigenen Urteils gewinnen, durch die sie instandgesetzt werden, mit darüber zu entscheiden, daß das, was ist — nämlich diese gesellschaftlich-staatliche Ordnung — auch sein soll bzw. wie sie human verändert und verbessert werden kann. Die nationale Frage erreicht damit eine neue Dimension: eine Aufnahme der gesellschafts-politischen Herausforderung durch das politische System der DDR. Das, wovon die Jugendlichen objektiv betroffen sind, davon sollten sie auch subjektiv betroffen werden. Vielleicht gelingt so die Entfaltung eines neuen, sozial und demokratisch festgegründeten Patriotismus, den der Franzose Grosser der Bundesrepublik wünscht und der nicht zu verwechseln ist mit einem Neo-Nationalismus.

IV.

Wer die Bundestagsdebatte zur Deutschland-politik vom 30. Januar 1975 verfolgt hat, wird erfahren haben, daß unsere politischen Repräsentanten bei aller Verschiedenheit in der Akzentsetzung der zeitgeschichtlichen Retrospektive eine solche Prospektive gemeinsam ansteuern wollen. „Ich für meine Person — das mag mancher altmodisch finden — bin überzeugt", so erklärte der Bundeskanzler, „daß sich die Nation auch in Zukunft als ein starkes Element erweisen wird. Aber wir müssen das Unsere dazu tun!" Und der Oppositionsführer fügte, noch feinen Schritt weitergehend und emotionaler argumentierend, hinzu, daß die notwendige Besinnung darauf, was es denn besage, deutsch zu sein, zu einer erneuerten Vaterlandsliebe führen müsse Daß dies alles mehr als die sonst wohl üblichen rheto-rischen Deklamationen in einer einschlägigen Debatte waren, hat nicht nur der persönliche Zusatz des Bundeskanzlers, „das mag mancher altmodisch finden", sondern vor allem die Aufforderung des Bundestagsabgeordneten Johann Baptist Gradl zu einem interfraktionellen Gespräch über die Bestimmung der Lehrpositionen in Schulen und Hochschulen deutlich gemacht Daß die Bundesdeutschen einem dramatischen Wettbewerb um die deutsche Nation überhaupt entgegengehen, den sie noch gar nicht recht in ihr Bewußtsein aufgenommen haben, mit dieser Bemerkung hat der Abgeordnete Gradl die Geschichtsdidaktik unmittelbar in die Schranken gerufen.

Die Didaktik der Zeitgeschichte, die in Kontakt mit den vitalen Interessen der Politik steht, aber doch auch mehr ist, als ihr bloßes Echo und Medium, ist also aus mehreren Gründen nachdrücklich aufgefordert, den erörterten Klärungsprozeß zügig voranzutreiben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hamburger Goethe-Ausgabe (Hg. E. Trunz), Bd. XII, Nr. 155. 5953, Dienzweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik. sneBilanz, Stuttgart 1974.

  2. Wia , arim abschließenden Essay unter dem Titel:

  3. Vgl. die vorzügliche Darstellung des Lewinschen Ansatzes mit Schlußfolgerungen für die Bundesrepublik von Heinz Wiesbrock, der meine eigene Darstellung wesentliche Anregungen verdankt: „Zeitperspektive, Motivation und politische Pädagogik", in: Politische Erziehung als psychologisches Problem (Bd. 4 der Schriftenreihe Politische Psychologie), Frankfurt 1966, S. 133 ff., hier S. 144 ff.

  4. Das nostalgische Phänomen, in: Zur Psychologie der Lebenskrisen, hrsg. von Ch. Zwingmann, 1962, zitiert bei Wiesbrock, a. a. O., S. 147.

  5. Vgl. H. Wiesbrock, a. a. O., S. 147.

  6. Ebda, S. 156.

  7. Hermann Lübbe, Was heißt: „Das kann man nur historisch erklären?“, in: Geschichte-Ereignis und Erzählung, München 1973, S. 542 ff.

  8. An der Yale-Universität von dem amerikanischen Verhaltensforscher Milgram Mitte der 60er Jahre veranstaltetes Experiment über das Gehorsamsverhalten der „durchschnittlichen, anständigen amerikanischen Bürger“; 1972 von der Forschungsstelle für Psychopathologie und Psychotherapie in der Max-Planck-Gesellschaft mit ähnlichen Ergebnissen wiederholt; s. dazu den Bericht in der FAZ vom 7. 3. 1972.

  9. So H. -P. Schwarz in seiner Rezension in der FAZ vom 13. Dez. 1974.

  10. Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, München 1974, S. 601— 603.

  11. Vgl.seine Ausführungen in der ZDF-Sendung „Journalisten fragen, Politiker antworten" am 20. 12. 1974 und seine Rede zum 30. Jahrestag der Kapitulation in der Schloßkirche Bonn am 6. Mai 1975.

  12. Vgl. die Artikel der Professoren Kosing und Walter Schmidt vom Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED in „Neues Deutschland“ vom 15. /16. Februar 1975 mit dem Titel: „Nation und Nationalität in der DDR" sowie den Aufsatz von W. Schmidt in der theoretischen Zeitschrift der SED „Einheit" mit dem Titel: „Nationalismus und Klassenkampf in unserer Zeit", Februar 1975.

  13. A. a. O., S. 475.

  14. Ebda., S. 483.

  15. Ebda., S. 10.

  16. Siehe Nolte, a. a. O., S. 315.

  17. S. Erich Kosthorst, Die Teilung Deutschlands unedscdhiiechtEsunntstete rhriuchntg, zweier deutscher Staaten, in: Inhalte und Ziele, hrsg. von Rohlfes und K. E. Jeismann, Beiheft zur Zeit-sChrift GWU, Stuttgart 1974, S. 151— 162; vgl. fer-ner 1974d, ers., in: „Politik, und Kultur" (Berlin), 1. Jg.

  18. Stenographische Berichte, 146. Sitzung, S. 10040.

  19. Ebda., S. 10045 f.

  20. Ebda., S. 10116.

Weitere Inhalte

Erich Kosthorst, Dr. phil., geb. 1920 in Bocholt (Westfalen); o. Prof, für Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte sowie Politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe, Abteilung Münster. Veröffentlichungen u. a.: Die deutsche Opposition gegen Hitler zwischen Polen-und Frankreichfeldzug, Bonn 1957 3; Von der Gewerkschaft zur Arbeitsfront und zum Widerstand, Bonn 1963; Jakob Kaiser. Der Arbeiterführer, Stuttgart 1970 2; Jakob Kaiser. Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen 1949— 1957, Stuttgart 1972.