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Möglichkeiten einer UN-Politik für die Bundesrepublik Deutschland | APuZ 38/1973 | bpb.de

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APuZ 38/1973 Möglichkeiten einer UN-Politik für die Bundesrepublik Deutschland Die Funktion der Vereinten Nationen im Nord-Süd-Konflikt

Möglichkeiten einer UN-Politik für die Bundesrepublik Deutschland

Helmut Bley

/ 16 Minuten zu lesen

Die Diskussion um die Konsequenzen des UN-Beitrittes für die Bundesrepublik Deutschland begann mit einer bedenklichen Verspätung, hat aber mit wachsender Beschleunigung in den letzten Monaten mehrere Phasen durchlaufen:

I.

Abbildung 1

Zunächst trat mit der Verabschiedung des Aufnahmeantrags, nach dem das Bundesverfassungsgericht den Terminvorstellungen der Bundesregierung gefolgt war, Erleichterung darüber ein, die wesentlichen Stationen der Ost-und Deutschlandpolitik durchlaufen zu haben. In den Zusammenhang der Entspannungs-und Normalisierungsbemühungen gehörte auch das Ende des unnormalen Zustandes, kein ordentliches Mitglied in der Welt-organisation zu sein, obwohl es seit Jahren eine aktive westdeutsche Mitwirkung in den Unterorganisationen gab. Lediglich die Frage des Wettbewerbs mit der DDR, ihres vermuteten Vorsprungs bei der Aufnahme in den Weltsicherheitsrat, bildete politisch Unbehagen. Zu diesem Gefühl der Problemlosigkeit des deutschen UN-Eintritts trug maßgeblich bei, daß mit dem Ende des militärischen US-Engagements in Vietnam eine schwierige Option vermieden werden konnte. Damit entfiel ein Konflikt, von dessen Brisanz die innenpolitische Auseinandersetzung um das offizielle Schweigen Brandts zu der amerikanischen Bombardierung von Kambodscha einen Vorgeschmack gegeben hatte. Der bundesdeutsche Beitrag zur Welthandelspolitik und zur Strategie in der zweiten Entwicklungsdekade sowie die entwicklungspolitische Aktivität im Rahmen der Assoziierungsverhandlungen der erweiterten EG vor allem mit den afrikanischen Staaten, trug ebenfalls zu der Erwartung einer problemlosen UN-Rolle der Bundesrepublik bei. Vorbildlichkeit der Grundpositionen der deutschen Entwicklungspolitik und das damit verbundene internationale Renomme Epplers, sowie das Prestige, daß von der deutschen Ostpolitik und dem Nobelpreisträger Brandt ausging, waren die Grundlagen dieser optimistischen Einschätzung.

Indessen, bereits im Januar 1973 war zu erkennen, daß zumindest aus dem Bereich der Afrikapolitik ein Zwang zum überprüfen der deutschen Positionen ausgehen könnte. Damals hatten die Führer der Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika, die Freiimo für Mozambique, die MPLA für Angola und die PAICC für Guinea-Bissau Mitgliedern des Parteivorstandes und der Bundestagfraktion der SPD angekündigt, sie würden über die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) darauf hinwirken, daß in der UN-Aufnahmedebatte die Frage nach der deutschen Portugal-und Südafrikapolitik aufgeworfen werden würde, wenn nicht die indirekte Unterstützung Portugals im Rahmen der NATO beendet würde. Es ließ sich auch bereits erkennen, daß das „Nicht" -Verhältnis zu Guinea in der Frage der UN-Aufnahme relevant werden könnte. Bereits im Januar wiesen FRELIMO und MPLA kategorisch jede Annahme deutscher direkter oder indirekter Hilfe für ihre Organisationen ab, solange dieser Kurswechsel in der deutschen Afrikapolitik nicht glaubwürdig vollzogen sei. Insofern bedeutete die deutliche Absage der FRELIMO nach den jüngsten Gesprächen Wischnewskis nichts Neues. Der wiederholte Versuch, die FRELIMO ohne diese Korrektur zur Annahme von Hilfe zu verleiten, hat die Beziehungen eher verschlechtert als verbessert; denn gerade eine Befreiungsbewegung ist auf moralische Integrität angewiesen und kann keine Politik des doppelten Standards zulassen.

Indessen, die deutsche Haltung in der Grenzkrise zwischen Zambia und Rhodesien signalisierte eine Bereitschaft zum Engagement, die auf Umorientierungsfähigkeit schließen ließ. Die Bundesregierung gewährte unkonventionelle Finanzhilfe für Zambia, um die Lasten der Grenz und Transportprobleme zu mildern, und sie machte allem Anschein nach ihren Einfluß in Pretoria geltend, daß jedes Spielen mit Interventionsabsichten gegenüber Zambia zur grundsätzlichen Überprüfung deutscher Positionen führen müsse.

Aber dies alles war mehr Geheimdiplomatie und der Versuch, die Mehrgleisigkeit der deut-sehen Politik aufrechtzuerhalten unter Ausnutzung des Umstandes, daß nicht öffentlich, nämlich vor dem Forum der Vereinten Nationen, eine verbindliche Festlegung notwendig war.

II.

Parallel und nur teilweise ausgelöst durch diese Vorgänge lief die amtliche Vorbereitung auf den UN-Beitritt an. Als ihr erstes Ergebnis hat Außenminister Scheel in einer Grundsatz-rede über die „Möglichkeiten der Mitarbeit in den Vereinten Nationen" (30. Mai 1973) vor der Deutschen Gesellschaft der Vereinten Nationen die Positionen des Auswärtigen Amtes vorgezeichnet Diese Rede signalisierte das Bewußtsein, daß mit dem UN-Beitritt der Bundesrepublik ein großer Erwartungsdruck in Hinblick auf internationale Initiativen insbesondere in Richtung auf mehr Solidarität unseres reichen Industriestaates mit der Dritten Welt ausgelöst werden könnte, dem rechtzeitig entgegenzuwirken wichtig sei.

Scheel geht davon aus, daß kein Zwang zur Neuorientierung der deutschen Außenpolitik in Hinblick auf die 2/3 Mehrheit des Südens in den UN bestehe und begründet dies mit zwei Überlegungen: Er warnt einmal vor einer Überschätzung der UN. Die UN habe als politisches Organ zur Regelung der eigentlichen politischen Konflikte weniger Kraft aufgebracht, als in der Gründungsphase erhofft worden sei. Alle wesentlichen militärischen und sicherheitspolitischen Entwicklungen seien an den UN vorbeigegangen: der Vietnamkrieg, der Nahostkonflikt, der Dialog der Weltmächte über die strategischen Waffen, die deutsche Ostpolitik und die europäische Sicherheitskonferenz. Das ist zweifellos richtig; daraus darf allerdings nicht die Folgerung gezogen werden, daß Vollversammlung und Sicherheitsrat wegen ihres geringen Durchsetzungsvermögens für das politische Generalklima in der Welt relativ unbedeutend sind.

Die zweite Überlegung ging von der Tatsache aus, daß die Bundesrepublik schon in den an Stelle des Sicherheitsrates und der Vollversammlung immer wichtiger werdenden Unter-organisationen vertreten sei, also jenen Organisationen, die im wesentlichen der Milderung des Nord-Südkonfliktes dienen. Die Bundesrepublik sei in den UN also „kein unbeschriebenes Blatt" mehr. Insofern sei der bundesdeutsche UN-Beitritt keine besonders einschneidende Zäsur.

Dennoch setzte sich Scheel dezidiert mit den Grundsätzen des deutschen Abstimmungsverhaltens auseinander, anerkannte insofern eine Zäsur, als auf den neuen Zwang zur öffentlichen verbindlichen Festlegung in vielen Konflikten reagiert werden muß. Und hier lese ich eine starke Tendenz heraus, diesem Druck nach Abstimmungseindeutigkeit auszuweichen bzw. sich darauf vorzubereiten, daß die deutsche UN-Haltung auf internationalen und auch auf innenpolitischen Widerstand stoßen werde. Das deutsche Abstimmungsverhalten werde auf dreierlei Weise bestimmt werden:

1. Die Bundesrepublik habe ihre Interessen als Industriestaat durchzusetzen und gerate zwangsläufig in Gegensatz zur 2/3 Mehrheit des Südens.

2. Die Bundesrepublik werde geschlossen mit der EG abstimmen, nachdem in der UN-Gruppe der Neun ein Kompromiß in der Abstimmungsfrage gefunden sei, dies allerdings, ohne daß über die Bereitschaft zur Bündniskonformität hinaus Kriterien sichtbar würden, nach denen die Bundesrepublik auf die EG einwirken wird. 3. Die Bundesrepublik werde sich durch das Abstimmungsverhalten nicht zu ihren wichtigsten Verbündeten, den USA, in Gegensatz bringen lassen. Die Bundesrepublik müsse die Tatsache berücksichtigen, daß 2/3 der politisch wichtigen Resolutionen der letzten Vollversammlung gegen die Stimme der USA entschieden worden seien.

Andere Politiker, insbesondere Willy Brandt, haben als 4. Punkt hinzugefügt, daß man sich nicht auf einen Wettbewerb mit der DDR um die UN-Mehrheit einlassen werde. Außerdem verfüge auch die DDR über weniger Spielraum in den UN als gemeinhin angenommen werde. Auch sie werde ihre Industriestaatsinteressen wahrnehmen und werde, wie Brandt prognostizierte, zusammen mit den westlichen Industriestaaten oder wegen der relativ geringen Entwicklungshilfe auch ohne diese Industriestaaten gelegentlich auf der „Anklagebank" sitzen. Insbesondere die Ankündigung, daß das bundesdeutsche Abstimmungsverhalten sich äußerst stark an den wichtigsten Bündnispartnern orientieren wird — insgesamt Bündnis-sicherung wichtiger sei als ein originärer Beitrag der Bundesrepublik zu den Problemen des Nord-Süd-Konflikts — deutet auf eine Status-quo-Politik hin, in der oft schlecht definiertes Kompensationshandeln an Stelle von Sachbeiträgen zu der Vielzahl der komplizierten internationalen Probleme treten dürfte. Prägnant formulierte Scheel diesen Vorrang der Bündnispolitik als Maßstab auch für das Abstimmungsverhalten in der UN mit dem Satz: „Die Tatsache, daß die Großwetterlage der UNO von nord-südlichen Klimafronten beherrscht wird, ändert nichts an den festen Strukturen, die das ost-westliche Gleichgewicht in Europa bestimmen." Die sich daraus ergebende internationale Belastung in den UN werde man zu tragen haben.

III.

Eine dritte Phase in der bundesdeutschen UN-Debatte wurde im August eingeleitet. Ausgangspunkt war wiederum die afrikanische Frage. Ausgelöst durch die Flut der Informationen über die Greuel des portugiesischen Kolonialkrieges, an dem nach Augenzeugenberichten der letzten Wochen auch die Rhodesische Armee beteiligt zu sein scheint, wurde zumindest die Neuorientierung der deutschen Politik gegenüber den Kolonial-und Minderheitsregimen des südlichen Afrikas zu einem innenpolitischen Thema auch im Hinblick auf den bevorstehenden UN-Beitritt. In diesem Zusammenhang gehören die deutlichen Aussagen Epplers zur Rolle Portugals in Afrika, dann die bereits erwähnten demonstrativen, wenn auch mißglückten Wischnewski-FRELIMO-Gespräche und schließlich die Diskussion in der OAU, ob ohne deutschen Richtungswechsel in diesen Fragen dem UN-Beitrittsantrag zugestimmt werden solle. Die Aussicht, daß die BRD zumindest einige wenige Stimmen weniger als die DDR erhalten könnte, falls nicht per Akklamation abgestimmt würde, hat diese Debatte zusammen mit dem herannahenden Eintrittstermin vorangetrieben.

In Konsequenz seiner Linie, dem internationalen und innerpolitischen Erwartungsdruck im Hinblick auf das deutsche Abstimmungsverhalten nicht nachzugeben, hat Scheel, soweit aus den Nachrichten über den Tenor der ersten Entwürfe zur Rede vor der Vollversammlung erkennbar wird, aus dieser jüngsten Entwicklung den Schluß gezogen, eine weitere Grundposition bezüglich der Dritten Welt in den Mittelpunkt zu stellen: Anraten des Gewaltverzichtes auch bei essentiellen Konflikten. Mit dem Hinweis auf den Kernpunkt der deutschen Ostpolitik — Gewaltverzicht in der Frage der deutschen Einheit zu üben und Annäherung auch bei extrem kontroversen Gegenpositionen zu praktizieren — sollte der Aufforderung nach Parteinahme für die Befreiungsbewegungen in Afrika, im Grunde auch noch in Südostasien und künftig möglicherweise in Lateinamerika ein Gegen-oder auch Ausweichkonzept entgegengehalten werden.

Gegenstand der politischen Kontroverse wird deshalb auch werden, ob wirklich das mitteleuropäische Modell des Gewaltverzichtes, das hier eine Lebensfrage ist, auf die Zuspitzung der Konflikte im südlichen Afrika, in Südostasien und anderen Regionen anwendbar ist, nämlich dann, wenn es um Durchbrechung innenpolitischer Herrschaftsverhältnisse und doch auch von der Bundesrepublik anerkannter unerträglicher Ungerechtigkeiten geht und der Herrschaftsapparat nicht nur ständig auf „struktureller Gewalt", sondern auf direkter Gewalt beruht. Die Frage nach der Konsistenz eines solchen Postulates nach universalem Gewaltverzicht im Zusammenhang der Debatte um militante Demokratie zur Verteidigung der Grundrechte, insbesondere der Würde der Person, der Kriegs-und Rassenhetze, wird noch zu erörtern sein.

IV.

In der Schlußphase der Debatte um den UN-Beitritt spielte die Frage, wie weit nicht doch mit dem UN-Eintritt Fragen der Neuorientierung an die deutsche Außenpolitik herangetragen worden sind, die dominierende Rolle, wie dies auch in den politischen Auseinandersetzungen um die Übereinstimmung der Reden Scheels und Brandts zum Ausdruck kam. Neuorientierung natürlich nur in dem begrenzten Sinne, daß zu den bisherigen Fixpunkten der westdeutschen Politik: Bündnissicherung, westeuropäische Integration und Offenhalten der deutschen Option eine konsistente Dritte-Welt-Politik kommen müsse, die dann auch Auswirkungen auf den Interessenausgleich im Bündnis der NATO und in der EG haben muß. Die Frage, wie stark dieser Zwang zur Neuorientierung wirklich ist, hängt letztlich davon ab, welches Bild von der langfristigen Welt-entwicklung gerade im Hinblick auf den Nord-Süd-Konflikt den politischen Überlegungen zugrunde liegt.

Der Abriß der außenpolitischen Debatte zum UN-Beitritt — außerordentlich stark überlagert durch eine Debatte um den Neutralismusvorwurf, den Zweifel am Willen zur Europapolitik und den neuen Belastungen, denen die Ost-politik in der Berlinfrage ausgesetzt war — sollte dazu dienen, die westdeutschen politischen Positionen zum UN-Beitritt und ihre allmähliche Entfaltung unter dem Drude der Ereignisse mit wichtigen denkbaren Alternativen zur Entwicklung des Nord-Süd-Konfliktes zu konfrontieren.

Die Aussagen, die in diesem Rahmen gemacht werden können, gehen — auch im Interesse der leichteren Zugänglichkeit — von den vielfältigen Aussagen des nachfolgenden Beitrags von Peter Pawelka aus, der sich im wesentlichen, wenn auch sehr abstrakt formuliert, auf die Funktion der UN in den denkbaren Entwicklungen des Nord-Süd-Konfliktes bezieht, also die Optionsmöglichkeiten theoretisch und ohne Zusammenhang mit diesem Beitrag entwickelt hat. Seine Analyse, der ich im wesentlichen zustimme und die ihrer Anlage nach als Hilfe für die Entwicklungsländer angelegt ist, sei auf die deutschen Möglichkeiten in den UN angewandt.

Pawelka geht in seinem Beitrag von zwei alternativen Weltstrategien aus: Es bestände für die Industriestaaten die Möglichkeit, ihre Stellung gegenüber der Weltperipherie — d. h. jenen Staaten, die am Rande des Weltwirtschaftssystems stehen — dadurch noch mehr zu konsolidieren oder gar zu verewigen, daß sie sich das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung von ökonomischen Systemen nutzbar machten, das auch für die Länder der Dritten Welt gelte.

Um dem wachsenden Druck einer geschlossenen Dritten-Welt-Opposition zu entgehen, könne man nach sicherheits-, rohstoff-und absatzstrategischen Überlegungen jene Zentren oder Wachstumspole der Dritten Welt aus der Südfront ausgliedern, die für diese Überlegungen von zentraler Bedeutung sind und Hilfe und Einfluß auf sie konzentrieren. Gerade wirtschaftlich bevorzugte Länder der Dritten Welt würden so in die Versuchung geführt, selbst eine Oligarchie oder besser eine Sub-Oligarchie mit Sonderbindung an die Industriestaaten zu bilden — wobei im Falle von Interessengegensätzen mit den Industriestaaten diese das Schwergewicht der Investitionen und der Hilfe von einem Mitglied dieser Suboligarchie auf das andere verlagern könnten — eine wirksame Sanktionsmöglichkeit. Für den Rest gäbe es dann die Armenhaushilfe.

Diese Möglichkeit würde dadurch verstärkt, daß auch die sozialistischen Industriestaaten, wie das Abstimmungsverhalten in der UN erkennen ließe, immer mehr zu einer diskreten Unterstützung der kapitalistischen Industriestaaten in Fragen der Weltwirtschaftspolitik tendierten.

Diese Möglichkeiten also einer umfassenden Industriestaatenstrategie würden durch den Mangel an Kommunikation und Handel zwischen den Ländern der Dritten Welt noch verstärkt. Außerdem wirke das gegenwärtige Übergewicht der Vertreter der Industriestaaten in allen strategischen Positionen der Unter-organisationen in die gleiche Richtung. Verfüge doch z. B. die von den großen Industrienationen kontrollierte Weltbankgruppe bereits heute über ein umfassenderes Datensystem für die Dritte Weltökonomie als diese Länder selbst. Hinzu käme die wachsende Kohärenz des westlichen Wirtschaftssystems, die sich daraus ergäbe, daß nur noch 17 Staaten ein größeres Bruttosozialprodukt aufwiesen als General Motors und die multinationalen Konzerne bereits 23 % des Bruttosozialproduktes der nicht-sozialistischen Länder kontrollierten. Demgegenüber entwickele sich mit überraschendem Erfolg die Gegenstrategie der Länder der Dritten Welt, wie dies etwa in der gemeinsamen Olpolitik, der gemeinsamen Ablehnung der handelspolitischen Vorschläge der EG durch die afrikanischen Länder und die Rohstoffsicherungspolitik, wie sie auf der Konferenz von Algier, aber auch in der Ausweitung der Drei-Meilenzone zum Ausdruck kommt.

Nun ist die Hoffnung auf Isolation der strategisch wichtigen Wachstumspole eine nicht nur große Versuchung, sondern auch bereits praktizierte Politik, wie die Investitionszahlen, die private Entwicklungshilfe und staatliche Ausfallbürgschaften für Brasilien, den Iran, das südliche Afrika und anderer kleinerer Rohstoffbasen zeigt. Dies wird um so leichter möglich, als die Tendenz eines Parallelverhaltens der sozialistischen Industriestaaten wächst. Geht doch jetzt bereits die Nachricht durch die Presse, daß selbst China im Interesse der Sicherung der strategisch wichtigen Chrom-versorgung die UN-Sanktionen gegen Rhodesien auf dem Umweg über portugiesisch Macao durchbreche, ebenso wie dies durch deutsche Firmen auf dem Umweg über Mozambique und Südafrika geschieht.

Dennnoch, diese Strategie scheint auf Grund einer Reihe von Indizien — ganz abgesehen von den moralischen Implikationen eines Rest-Weltarmenhauses — nicht nur langfristig sondern auch mittelfristig als wenig aussichtsreich. Um wiederum von Pawelkas Organisationsanalyse auszugehen: Es wäre ein Trugschluß, aus der Unfähigkeit der UN, in zentralen machtpolitischen Fragen sich durchzusetzen, auf eine Abschwächung der Tendenzen zu universalen Organisationen zu spekulieren, wenn auch die Mehrzahl dieser Organisationen zunächst im Interesse der komplexeren Industriesysteme errichtet werden. Ganz im Gegenteil, seit dem 19. Jahrhundert hätten sich mit wachsender Intensität fast 100 Superorganisationen gebildet, die teilweise oder ausschließlich aus transnationalen Einheiten bestünden. Gerade das Scheitern der UN in der politischen Kontrollfunktion hätte diese Tendenz ver-stärkt. Diese Superorganisationen, seien mehr und mehr auf Konsensusbildung angewiesen, die bevorzugt in den Unterorganisationen der UN praktiziert werde, Unterorganisationen, die immer ausschließlicher zu Instrumenten der Entwicklungshilfepolitik des Südens geworden seien, und deren Etat das mehrfache der Zentralorganisation betrage.

Selbst in dem so häufig abgewerteten Vermögen der UN, Konflikte zu regeln, würde die Kraft der informellen Kommunikation unterschätzt. Es lasse sich der Nachweis führen, daß das Verhalten der UN innerstaatlich immer mehr antizipiert würde, auch wenn nur die Hälfte der Weltkonflikte von der UN aufgegriffen und davon nur ein Drittel gelöst werde. Dies alles trage insbesondere zur Kohärenz der Politik der Länder der Dritten Welt bei. Mittelfristig wird von den Industriestaaten vor allem die Fähigkeit der Entwicklungsländer zur potentiellen Gegenstrategie unterschätzt.

Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung kann sich auch durch eine Hegemoniebildung von Ländern der Dritten Welt untereinander auswirken, die den Wachstumspolen Emanzipationsmöglichkeiten und damit Alternativen gegenüber der Abhängigkeit von den Industriestaaten anbieten. Schließlich, bei der Abhängigkeit der Industriestaaten von Wachstumserfolgen für die innenpolitische Macht-sicherung, wird die ungleichmäßige Entwicklung auch nicht vor den Industriestaaten halt-machen und Einheitsfronten zerbrechen lassen, d. h. Koalitionen in Rohstoff-und Investitionsfragen mit Ländern der Dritten Welt suchen lassen.

Am gravierendsten für eine Debatte über den Zwang zur Umorientierung ergeben sich Konsequenzen aus einer Politik, die ein Rest-Armenhaus in Kauf nehmen würde. Die Konsequenzen für den Weltfrieden sind unkalkulierbar. Um dies zu illustrieren, braucht man nur die Kraft, die von der Verzweiflung der doch wirklichen kleinen Gruppe der Palestinenser ausgeht, auf die Hundert-Millionen-Dimension umzudenken, die für viele Mittel-staaten der Dritten Welt gilt.

Wie weit diese Oligarchiebildung und Armenhausperspektive bereits gediehen ist, hat Eppler in seinem dramatischen Appell auf der UNIDO-Weltkonferenz im Juli 1973 ausgesprochen. Zum Thema des Transfers einer auf die Bedürfnisse der Dritten Welt angepaßten Technologie meinte er, er sehe „für viele Länder nur noch wenig Hoffnung", wenn dieser Transfer nicht gelinge. D. h. er hielt bereits aus diesem Grunde die Armenhausentwicklung für kaum noch aufhaltbar und fügte hinzu, daß es sein Eindruck sei, daß es „mächtige Interessen in den Industrieländern gibt, die das Entstehen einer solchen Technologie nicht wünschen"

Eine Mehrheit der Länder der Dritten Welt „ohne Hoffnung", das ist eine Perspektive des Jahres 1973, die in der Tat einen Zwang zur Umorientierung aus Anlaß des UN-Beitritts auslösen muß.

Für die deutsche Politik ergeben sich daraus im wesentlichen zwei Möglichkeiten, wenn man die verschiedenen Varianten von Mehrgleisigkeit nicht einrechnet:

Entweder die Bundesrepublik schwimmt in enger Fühlung mit der EG-Zentrale und deren besonderer Empfänglichkeit für industrielle und agrarische Lobby in einem Geleitzug, der auf eine Oligarchiebildung in der Dritten Welt hinwirkt. Sie wäre dabei wegen der sicherheitspolitischen Verwundbarkeit und der Tradition der Hypostasierung dieser Verwundbarkeit sehr anfällig, die Interessen der übrigen Industriestaaten in vielen Einzelfragen vorrangig wirksam werden zu lassen, ganz zu schweigen von der geringen Manövrierfähigkeit für den Fall des Koalitionszwanges mit Wachstumspolen in der Dritten Welt, falls die Suboligarchie sich in Einzelfällen emanzipiert. Demgegenüber bliebe die bisherige Entwicklungspolitik als eines mehr auf Appeasement der Dritten Welt denn als auf grundsätzlichen Wandel gerichteten Nebenstranges erhalten. Oder aber die BRD praktiziert — getragen von dem bedeutenden Beitrag zur Entspannungspolitik, manövrierfähig durch den Status als Mittelmacht und als hochentwickelte industrielle Großmacht innerhalb des Bündnisses, der EG und dann der UN — Initiativen, die gegen diese Obligarchiebildung und den voraussehbaren Gewaltausbruch des Welt-Armenhauses angelegt sind.

Um wieder auf die Systematik Pawelkas zurückzukommen: Die Glaubwürdigkeit einer Politik der „Solidarität mit der Dritten Welt", wie sie auch Scheel formuliert hat, wird sich daran messen lassen, ob 1. die wenigen Wachstumspole der Dritten Welt weiter so bevorzugt behandelt werden wie bisher;

2. ob mit allem Nachdruck die bundesdeutsche Bürokratie in den Unterorganisationen so eingesetzt wird, daß sie Chancengleichheit für die Weltwirtschaft der Dritten Welt durch Zu-arbeit anstreben (Organisations-Solidarität) oder ob die bundesdeutschen UN-Experten vornehmlich Aufgaben zugewiesen werden, die überwiegend den Interessen der Industriestaaten zugute kommen;

ob sich die Bundesrepublik an die Entwicklungsstrategie der UN-Vollversammlung hält und mindestens 0, 6 °/o ihres Bruttosozialproduktes als Entwicklungshilfe aus öffentlichen Mitteln leistet, statt des bisherigen Beitrages von 0, 34— 0, 31 °/o (und Zielvorstellungen bis 1978 von 0, 42 °/o, d. h.dem Stande von 1969 3) 4. ob westdeutsche Initiativen in der NATO und der EG sichtbar werden, die sich mit dem Druck der Commonwealthpartner Englands, Neuseelands und Kanada in der Rhodesien-frage im August 1973 vergleichen lassen, ohne daß die Bündniskonformität als Deckmantel für Passivität und Industriestaatsegoismus verwendet werden;

5. ob sich westdeutsche Initiativen in der Menschenrechtsfrage nicht nur gegen die DDR und die Sowjetunion, sondern auch gegen das südliche Afrika und Portugal richten;

6. ob sich die Bundesrepublik parteilich erhalten wird, wenn die Befreiungsbewegungen Gewalt anwenden und diese Gewalt eindeutig Gegengewalt gegen die strukturelle ungerechter Systeme ist. Als Maßstab für die Beurteilung von struktureller Gewalt eignet sich der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes. Diese Punkte weisen sicher nicht auf umwälzende Schritte, sondern auf Indizien zu Tendenzen der Umorientierung. Umwälzende Maßnahmen wie die Veränderung der Terms of Trade, der planmäßigen Strukturpolitik unter Aufgabe von Wirtschaftszweigen, die Standortvorteile in der Dritten Welt hätten, oder das Vorantreiben einer internationalen Gewerkschaftsbewegung, die das Ausspielen der Arbeitskräftereserven gegeneinander minimieren könnte, sind bei der gegenwärtigen Interessen-und Bewußtseinslage noch ohne reale Aussichten.

In diese außenpolitische Betrachtung sind moralische Positionen eingegangen. Als Schlußüberlegung seien deshalb über das Verhältnis von Interessenpolitik und moralischen Positionen einige Feststellungen getroffen, die für die künftige UN-Politik von Bedeutung sind.

Sowohl Brandt (Die Bundesrepublik werde „von ihrer Interessenlage ausgehen, von nichts anderem") als auch Scheel haben sich mit deutlicher Akzentuierung gegenüber einem moralisch motivierten Erwartungsdruck zugunsten der „Interessenpolitik" entschieden.

Der Ruf nach einer „Interessenpolitik" am Vorabend des UN-Beitrittes hat eine ideologische Funktion. Er will dem moralischen Postulat nach Chancengleichheit der Dritten Welt ausweichen. Ebenso ist die starke Betonung der moralischen Positionen durch Vertreter der Dritten Welt, die ihrem innenpolitischen Standard nicht immer entspricht, aus der Position des Ohnmächtigen abzuleiten und dient der Integration der Ohnmächtigen so, wie Solidarität der Kampfruf der Arbeiterbewegung in Europa war, ohne daß aus dem Versagen einzelner der Verzicht auf Emanzipation abgeleitet werden kann.

Soweit nun das Erbe des Kolonialismus und des Rassismus hineinspielt, dient die moralische Abwehr und Ablehnung etwa des weißen Südafrika nicht nur Sicherheitsinteressen des unabhängigen Afrika, sondern sie leiten aus der Existenz und Förderung dieser Systeme den Verdacht ab, daß nach wie vor auch die eigene Menschenwürde in Frage gestellt wird. Die Duldung der Rassenpolitik in Südafrika durch Europa, auch die Verurteilung der Gewaltanwendung, wirkt als Dolchstoß gegen die neue Identität nicht nur des unabhängigen Afrikas sondern der Entkolonisierten dieser Welt schlechthin. Führende Intellektuelle der Dritten Welt haben dies der deutschen Regierung und der Öffentlichkeit durch die Massenmedien und die Kirchen immer wieder klar-zumachen versucht. Welche Kräfte aus einer solchen Versagung der Identität erwachsen können, läßt sich daraus ermessen, was aus der vergleichsweise geringfügigen Verletzung der deutschen Identität durch den Schuld-spruch von Versailles erwachsen ist, als sich diese mit einer sozialen Krise verband.

UN-Politik muß im strategischen Interesse des Weltfriedens — nämlich im Interesse der Kommunikationsmöglichkeit mit der Dritten Welt — moralische Politik sein. Sie hat in so später Stunde, in der die Strukturschwächen der Welt-gesellschaft kaum noch rechtzeitig überwindbar scheinen, die entscheidende Funktion für Zeitgewinn durch Vertrauensgewinn und ist in diesem Sinn ohnehin „Interessenpolitik". Bei dem Zwang zu immer weiterer Universalität — mit oder ohne Suboligarchien — wird internationale Solidarität auch an der moralischen Integrität der deutschen Position gemessen werden. Hier liegen Möglichkeiten gerade für den Mittelstaat Bundesrepublik, gerade auch im Rahmen des Bündnisses und der EG. Die deutsche Außenpolitik benötigt eine neue Dimension und diese Dimension wird das Bündnissystem mit umschließen und verändern müssen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine ausführliche und kritische Auseinandersetzung mit dieser Rede siehe: Helmut Bley, Gibt es ein Regierungskonzept zum deutschen Abstimmungsverhalten in den UN?, in: Die Neue Gesellschaft, Heft 9, 1973 (September) S. 673— 677.

  2. Bulletin der Bundesregierung, Nr. 87 vom 13. Juli

  3. Angaben bei Hans Martin Schmid, Neue Aspekte der Entwicklungspolitik, in: Die Neue Gesellschaft, Nr. 9, September 1973, S. 669.

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