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Um die Zukunft unserer Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung Prognosen für das Schicksal des Kapitalismus | APuZ 20/1973 | bpb.de

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APuZ 20/1973 Artikel 1 Um die Zukunft unserer Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung Prognosen für das Schicksal des Kapitalismus Überwindung der Spaltung Europas und Deutschlands durch demokratischen Sozialismus Anworten auf die Kritik an den „Anregungen zu einer konkreten Utopie"

Um die Zukunft unserer Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung Prognosen für das Schicksal des Kapitalismus

Karl C. Thalheim

/ 49 Minuten zu lesen

Es ist nun schon weit mehr als ein Jahrhundert verstrichen seit jener Wirtschaftsordnung, für die sich seit Marx-Engels, Sombart und Max Weber die Bezeichnung „Kapitalismus" eingebürgert hat, zum ersten Male der sichere Untergang vorausgesagt wurde. Im Revolutionsjahr 1848 schrieben Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest":

Mit der Entwicklung der großen Industrie wird ... unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich." 1913 lesen wir bei Rosa Luxemburg in „Die Akkumulation des Kapitals": „Der Akkumulationsprozess hat die Bestrebung, überall an Stelle der Naturalwirtschaft die einfache Warenwirtschaft, an Stelle der einfachen Warenwirtschaft die kapitalistische Wirtschaft zu setzen, die Kapitalproduktion als die einzige und ausschließliche Produktionsweise in sämtlichen Ländern und Zweigen zur absoluten Herrschaft zu bringen. Hier beginnt aber die Sackgasse. Das Endresultat einmal erreicht — was jedoch nur theoretische Konstruktion bleibt — wird die Akkumulation zur Unmöglichkeit: Die Realisierung und Kapitalisierung des Mehrwertes verwandelt sich in eine unlösbare Aufgabe ... die Unmöglichkeit der Akkumulation bedeutet kapitalistisch die Unmöglichkeit der weiteren Entfaltung der Produktivkräfte und damit die objektive geschichtliche Notwendigkeit des Untergangs des Kapitalismus."

In seiner im Frühjahr 1916 entstandenen Imperialismus-Schrift bezeichnete Lenin den Imperialismus als höchstes — und damit auch letztes — Stadium des Kapitalismus, als „verfaulenden Kapitalismus" Auch er sagte dem Kapitalismus den nahen Untergang voraus: „Aus allem, was über das ökonomische Wesen des Imperialismus gesagt wurde, geht hervor, daß er charakterisiert werden muß als Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbender Kapitalismus."

Vorsichtiger, aber trotzdem hinsichtlich der Zukunft des Kapitalismus ziemlich skeptisch, urteilten zwei der großen Gelehrten, die sich in unserem Jahrhundert besonders intensiv mit der theoretischen Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystems beschäftigten:

Sombart und Schumpeter. In dem 1927 erschienenen Schlußband seines monumentalen Kapitalismuswerkes „Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus" bezeichnete Werner Sombart alle Auffassungen als irrig, die für die Zukunft die Alleinherrschaft eines Wirtschaftssystems voraussagen; im Wirtschaftsleben der Zukunft würden alle Wirtschaftsarten nebeneinander bestehen, also neben dem Kapitalismus (in der spezifisch Sombartschen Auffassung dieses Begriffes) u. a. Genossenschaftswirtschaft, Gemeinwirtschaft und Eigenwirtschaft. „Sie werden sich innerlich umbilden. Sie werden ihre Anteile verschieben. Aber sie werden da sein." Und weiter erklärte Sombart: „Alle diejenigen irren, die einen gewaltsamen Umsturz der bestehenden Wirt-Schaftsverfassung und eine plötzliche Änderung der Grundlagen des Wirtschaftslebens erwarten. Auch diese Ansicht verkennt das Wesen der wirtschaftlichen Entwicklung, die immer in der Gestalt einer allmählichen, .organischen'Umbildung bestehender Zustände sich vollzieht."

Skeptischer noch zeigt sich Joseph A. Schumpeter in seinem 1942 erschienenen, aber in wesentlichen Teilen schon früher geschriebenen Werk „Capitalism, Socialism and Democracy" das, wie immer man zu seinen Schlußfolgerungen stehen mag, zu den noch immer (und wohl noch auf lange hinaus) bedeutendsten Analysen unserer Epoche gehört. Bei ihm heißt es u. a. „Dem kapitalistischen System wohnt eine Tendenz zur Selbstzerstörung inne, die in ihren ersten Stadien sich sehr wohl in der Form einer Tendenz zur Verlangsamung des Fortschritts äußern kann ... Der kapitalistische Prozess zerstört nicht nur seinen eigenen institutioneilen Rahmen, sondern schafft auch die Voraussetzungen für einen andern. Zerstörung ist vielleicht letzten Endes nicht das richtige Wort. Vielleicht hätte ich von einer Wandlung sprechen sollen.

Das Ergebnis des Prozesses ist nicht einfach eine Leere, die mit irgend etwas, was gerade auftaucht, ausgefüllt werden könnte;

Dinge und Seelen werden in solch einer Weise umgewandelt, daß sie der sozialistischen Form des Lebens zugänglicher werden."

Freilich sieht ein so bedeutender Denker wie Schumpeter — ähnlich wie Sombart — viel zu sehr die Vielschichtigkeit der Bedingungen, unter denen sich menschliche Existenz entwickelt, als daß er für die Zukunft des Kapitalismus eine einzige Möglichkeit akzeptieren würde. Drei Einwände macht er selbst:

„Erstens, daß wir einstweilen nichts über die Art des Sozialismus erfahren haben, der in der Zukunft dämmern mag . ,. Zweitens, daß wir gleicherweise noch nichts über den genauen Weg wissen, auf dem das Kommen des Sozialismus zu erwarten sein mag, außer daß es eine Unzahl von Möglichkeiten geben muß, die sich von einer allmählichen Bürokratisierung bis zur farbigsten Revolution erstrecken . .. Drittens, daß die verschiedenen Komponenten der Tendenz, die wir zu beschreiben versucht haben, zwar überall sichtbar sind, aber sich noch nirgends voll enthüllt haben." So gibt es denn auch nach seiner Auffassung „keine rein wirtschaftlichen Gründe, weshalb der Kapitalismus nicht noch eine weitere erfolgreiche Runde bestehen sollte"

Im Vergleich zu einer so differenzierten Betrachtung erscheint die Kapitalismusanalyse des Sowjetkommunismus grobschlächtig, un-differenziert, eingleisig. In der Nachfolge Lenins ist sie ganz auf die These von dem nahe bevorstehenden, geschichtsnotwendig eintretenden Ende des Kapitalismus eingeschworen. So prophezeit das 1961 angenommene Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in der Überschrift seines ersten Abschnittes „die historische Unvermeidlichkeit des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus", und es heißt darin : „Ein Drittel der Menschheit baut unter dem Banner des wissenschaftlichen Kommunismus ein neues Leben auf. Die ersten Kolonnen der Arbeiterklasse, die das Joch des Kapitalismus abgeschüttelt haben, erleichtern neuen Kolonnen ihrer Klassenbrüder den Sieg. Die Welt des Sozialismus dehnt sich aus, die Welt des Kapitalismus schrumpft. Der Sozialismus wird unausbleiblich überall den Kapitalismus ablösen. Das ist ein objektives gesellschaftliches Entwicklungsgesetz."

Wenn heute die „Neue Linke" — meist recht unreflektiert und in undifferenzierter Generalisierung von Tatbeständen, die im einzelnen richtig sind, nicht aber in solcher Verallgemeinerung — unsere gesellschaftliche Situation als „Spätkapitalismus" bezeichnet, so zeigt sich in der Verwendung dieses Terminus ebenfalls die Auffassung, daß der Kapitalismus in ein Stadium nahe vor seinem Ende eingetreten sei. Gegenstand der Diskussion kann dann höchstens noch die Frage sein, ob die „Systemüberwindung" durch gewaltsame Revolution oder durch kontinuierlich fortschreitende „Reformen" erreicht werden kann oder soll.

Eine solche Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung ist, wenn wir in sie die heutige Realität des Ost-West-Verhältnisses einführen, eine sehr einseitige Konvergenz-theorie: nicht Entwicklung beider Systeme aufeinander zu, sondern völlige Verdrängung des „kapitalistischen." durch das „sozialistische" System. Sie ist damit das genaue Gegenbild jener westlichen Auffassungen, die lange Zeit hindurch an den unausbleiblichen Zusammenbruch der „östlichen" sozialistischen Systeme glaubten. Solche Erwartungen waren sicherlich viele Jahre hindurch sowohl ideologisch als auch politisch relevant; sie sind aber im Westen inzwischen zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. In den kommunistisch regierten Ländern dagegen spielt die Lehre von dem geschichtsnotwendig kommenden Zusammenbruch des Kapitalismus und dem ebenso geschichtsnotwendigen Übergang zum Sozialismus noch immer eine sehr bedeutende Rolle

Vergleicht man die heutige Wirklichkeit mit den zahlreichen Prognosen, die den nahe bevorstehenden Untergang des Kapitalismus mit Gewißheit voraussagen zu können glaubten (hier konnten dafür nur einige Beispiele gebracht werden), so muß es erstaunen, daß in den meisten entwickelten Industrieländern ein Wirtschaftssystem sich zu halten vermochte, das durch überwiegendes Individualeigentum an Produktionsmitteln, Unternehmer-initiative sowie Markt-und Preismechanismus charakterisiert ist, das also „kapitalistisch" ist (wieweit der Begriff „Kapitalismus" noch auf unsere heutigen Ordnungen zutrifft, wird an späterer Stelle zu erörtern sein). Freilich wird niemand so töricht sein zu bestreiten, daß auch diese Ordnung der „unternehmerischen Marktwirtschaft" im Laufe der letzten Jahrzehnte erhebliche Veränderungen durchgemacht hat; und ebenso ist es offenkundig, daß auch die Wirtschaftssysteme in den kommunistisch regierten Ländern Wandlungen erlebt haben, die nicht nur formalen Charakter tragen Daß durch diese Wandlungen eine Annäherung der Systeme erfolge, ist die zentrale These der Konvergenztheorie. Ihre Vertreter denken dabei in der Regel nicht nur an die Wirtschaft, wenn sie auch meist auf die Veränderung des Wirtschaftssystems das entscheidende Gewicht legen.

Ein neuer Aspekt der Konvergenztheorie

Horst Heimann Überwindung der Spaltung Europas und Deutschlands durch demokratischen Sozialismus.................................... S. 22 Dokumentarischer Anhang....................... S. 33

Horst Heimanns Schrift „Demokratischer Sozialismus in Ost und West" mit der er „Anregungen zu einer konkreten Utopie" geben und zugleich einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung über die Deutschland-und Ostpolitik liefern will, ist in die oben besprochenen groben Schemata, die entweder nur eine „Liberalisierung" der sowjetsozialistischen Systeme oder einen ausschließlichen Sieg des „Sozialismus" über den „Kapitalismus" erwarten, nicht einzuordnen. Sein Ziel ist echte Konvergenz: beide Systeme, das kapitalistische des Westens und das sich sozialistisch nennende des Ostens sollen eine „Annäherung durch inneren Wandel" erleben: „eine Art Synthese zwischen Sozialismus und Kapitalismus . . ., bei der die Vorzüge beider Syteme zusammengefaßt, ihre Nachteile aber eliminiert werden" eine „Synthese von Freiheit und Sozialismus" Und nicht nur dieses Ziel, sondern „auch der Weg, die Mittel und Methoden zu seiner Verwirklichung" sollen demokratische sein, also friedliche Reformen. Die Revolutionskonzeption der jungen Generation erscheint Heimann irreal, weil „in den hochentwickelten Industrie-gesellschaften keine revolutionäre Situation besteht und revolutionäre Erhebungen daher keine Erfolgschancen haben" Viele und große Hoffnungen verbinden sich für den Autor mit einer solchen, auf beiden Seiten sich vollziehenden Entwicklung zum „demokratischen Sozialismus": vor allem die friedliche Überwindung des Ost-West-Gegensat-zes, darüber hinaus aber auch die Schaffung der Voraussetzungen für eine friedliche Wiedervereinigung beider Teile Deutschlands. Dieses wiedervereinigte Deutschland des demokratischen Sozialismus würde damit Modellcharakter für die Entwicklung im Osten wie im Westen gewinnen

Diese Vision Heimanns ist so bedeutsam, daß sie einer gründlichen Überprüfung bedarf; denn hier wird den Menschen, die heute in einer sehr unheilen, von tiefen und lebens-gefährdenden Gegensätzen zerrissenen Welt leben müssen, das Bild einer heilen Zukunftswelt gezeichnet — noch dazu ein Bild, in dem auch die Lösung unseres schwierigsten und bedrückendsten nationalen Problems, die Wiedervereinigung, seinen Platz findet. Und für den Verkünder dieser nahezu chiliastisehen Hoffnung ist sie eine „konkrete Utopie", eine realisierbare Utopie also. Bisher Menschen dieses schlimmen -wir waren Jahr hunderts daran gewöhnt, daß moderne Utopien — im Gegensatz zu den meisten des 18. und 19. Jahrhunderts — eine düstere Zukunftswelt der Unfreiheit und Inhumanität zeichneten, mochte es sich nun um die „brave new world" des Aldous Huxley oder um die Welt von 1984 George Orwells handeln. Im Gegensatz zu solchen pessimistischen Utopien wagt es nun Horst Heimann, sein Zukunftsbild nach dem „Prinzip Hoffnung" zu gestalten.

Wer würde bestreiten, daß dies ein Zukunftsbild ist, das begeistern könnte? Bei seiner Verwirklichung wären in der Tat die Gegensätze und Widersprüche zwischen Kapitalismus und Sozialismus auf einer höheren Ebene „aufgehoben", das Reich der Freiheit wäre nahe herangekommen. Aber ist das wirklich eine „konkrete Utopie", wie es der Titel der Heimannschen Schrift verspricht? Oder ist es nicht doch eine bestimmte Ausprägung des „realitätsfernen Utopismus", den Heimann — mit Recht — der Protestbewegung der „kritischen jungen Generation" vorwirft

Für eine kritische Analyse der Heimannschen Ideen ist es zunächst nötig, die Kräfte zu untersuchen, die nach seiner Meinung zur Konvergenz der Systeme führen werden. Ein großer Teil der westlichen Konvergenztheo-retiker glaubt, daß es die Gesetzmäßigkeiten der modernen Industriegesellschaft sind, die — ob gewollt oder nicht — zu konvergenter Entwicklung zwingen Dieser Auffassung ist Heimann nicht. Für ihn handelt es sich dabei nicht um einen determinierten, vom Wollen und Handeln der Menschen mehr oder weniger unabhängigen Prozeß. Die west-östliche Konvergenz und damit „eine friedliche, gerechte und humane Gesellschaft" könne, so meint er (S. 17), „nur das Ergebnis bewußten und zielstrebigen politischen Handelns" sein. Ein auf dieses Ziel gerichtetes politisches Handeln bejaht er aber nicht nur als Voraussetzung einer deutschen Wiedervereinigung, sondern auch um seiner selbst willen; denn nur durch die von ihm für notwendig gehaltene „Überwindung des Kapitalismus" könne „die notwendige Synthese von Freiheit, Demokratie und Sozialismus" geschaffen werden (S. 28).

Gibt man aber die These auf, daß Konvergenz das Ergebnis der Sachzwänge moderner Industriegesellschaften ist und als solche geschichtsnotwendig, unabhängig von den heute herrschenden Gesellschaftsund Wirtschaftssystemen, die Entwicklungen im Osten ebenso wie im Westen bestimmt, dann macht man ihre Verwirklichung zu einer Sache voluntaristischer Entscheidungen. Die Beantwortung der Frage, ob es zur Konvergenz kommt oder nicht, bekommt damit einen erheblichen Unsicherheitsgrad. Da Heimann aber — nach meiner Meinung zu recht — selbst nicht an die Zwangsläufigkeit der Konvergenz glaubt, bewegt er sich mit seinen Thesen auf schwankendem Boden. Die Erfüllung seiner Forderungen müßte für unsere eigenen Ordnungen sehr schwerwiegende Konsequenzen haben. Nur dann könne, so sagt Heimann selbst, die westliche Politik wirksam zur Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und damit zur Neuvereinigung Deutschlands beitragen, wenn sie „durch systemüberwindende innere Reformen das kapitalistische Wirtschafts-und Gesellschaft-system schrittweise verändert". Nur wenn sich die westlich-kapitalistische Gesellschaft zum demokratischen Sozialismus entwickele, könnten sich in Osteuropa die Anhänger eines demokratischen Sozialismus mit menschlichem Gesicht durchsetzen (S. 20).

Ich will hier die Frage nicht erörtern, ob dieses so apodiktisch behauptete „Nur wenn ..." gerechtfertigt ist. Die Auseinandersetzung darüber wird durch die mangelnde begriffliche Präzision der Aussagen Heimanns über den Sozialismus erschwert; davon wird noch die Rede sein. „Systemüberwindende Reformen" bedeuten für Heimann aber doch offensichtlich Reformen, die zum Sozialismus hinführen, also doch mindestens für große Teile der Ordnungen menschlichen Zusammenlebens Kollektivierung bedeuten. Ist aber die Annahme so völlig unrealistisch, daß eine nichtkollektivistische Ordnung, im Wirtschaftsleben also eine unternehmerische Marktwirtschaft, wenn sie mit einem entsprechenden Maß sozialer Sicherungen und Interventionsmöglichkeiten ausgestattet ist, die Massenwohlstand, ein hohes Maß individueller Freiheit und ein ausreichendes Maß sozialer Sicherung bietet, nicht auch für die Masse der Arbeitnehmer attraktiv sein kann?

Mindestens die USA bieten doch ein Beispiel dafür; trotz der Existenz zahlenmäßig nicht unbedeutender Gruppen von Unterprivilegier-

ten haben hier sozialistische, geschweige denn kommunistische Ideen nie nennenswert Boden gewinnen können, sie haben sich als Basis der Bildung politischer Parteien ganz unbrauchbar erwiesen, und die amerikanischen Gewerkschaften treten zwar sehr massiv für die Verbesserung der Arbeitsund Lebensbedingungen ihrer Mitglieder ein, der Gedanke an „systemüberwindende Reformen"

liegt ihnen und offenbar dem größten Teil ihrer Mitglieder jedoch sehr fern.

Aber auch wenn man die Meinung akzeptiert, daß die Menschen in den osteuropäischen Ländern in ihrer Mehrheit für eine nichtsozialistische Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung nicht zu gewinnen seien: wer gibt auch nur eine bescheidene Sicherheit dafür, daß von solchen systemverändernden Reformen in Westeuropa wirklich eine „ansteckende" Wirkung auf die übrigen Länder des östlichen Paktsystems ausgehen würde? Heimann glaubt, das vom Beispiel der Tschechoslowakei 1968 behaupten zu können, ohne aber einen Beweis dafür zu bringen. Es liegt mir fern, die Möglichkeit einer solchen „Ansteckung" bestreiten zu wollen;

noch weniger aber darf man, so meine ich, , die Hemmungskräfte für ihre Ausbreitung übersehen und die Machtmittel unterschätzen, die den Herrschenden mit den heutigen politischen Systemen im Osten in die Hand gegeben sind Schon die unbedingte Herr-17) schäft über die große Mehrzahl der Informationsmedien würde es diesen Herrschenden ermöglichen, die Information der Beherrschten in engen Grenzen zu halten. Man sehe sich dazu einmal die Informationen an, die die Bevölkerung der DDR in der Zeit des „Prager Frühlings" von ihren eigenen Massenmedien über die Verhältnisse in der Tschechoslowakei und die Ideen der tschechoslowakischen Reformer erhielt!

Mir scheint, daß Heimann — und bei ihm als Politologen wirkt das seltsam — den Faktor der Macht hier beträchtlich unterschätzt. Die neuen Führungsschichten in Osteuropa, die durch das, was sie Sozialismus nennen, in den Besitz der Macht gekommen sind, werden gewiß nicht freiwillig auf diese Macht und all die Annehmlichkeiten, die deren Besitz und Gebrauch mit sich bringt, verzichten. Die „führende Rolle der Partei" (das bedeutet: der Führungsgremien der Partei) gehört zu den eisern behaupteten Grund-dogmen, und die Gefährdung dieser Führungsrolle durch den Emanzipationsprozeß, der sich in der Tschechoslowakei abspielte, ist sicherlich der entscheidende Grund für die militärische Intervention des 21. August 1968 gewesen; ich bin überzeugt davon, daß die Wirtschaftsreformen allein — so wenig sympathisch sie sicherlich der Führung im Kreml waren — eine so extreme Reaktion nicht hervorgerufen hätten.

Die Bedeutung dieses Tatbestandes wurde in den Diskussionen, die damals SED-Ideologen mit den tschechoslowakischen Reformern führten, sehr deutlich’. Ein Beispiel dafür; Nach dem Einmarsch der Truppen des War-schauer Paktes in die Tschechoslowakei veröffentlichte Prof. Dr. Gerhard Schulz vom Institut für Gesellschaftswissenschaften der SED im „Neuen Deutschland" einen langen Artikel unter dem Titel „Die untaugliche Konzeption Ota Siks", in dem er ik und seine Gesinnungsgenossen als Kräfte bezeichnete, „die nicht von marxistisch-leninistischen Grundpositionen ausgingen und deren Vorschläge daher auf eine Unterhöhlung der entscheidenden Grundlagen des Sozialismus hinausliefen". Kennzeichnender Weise stellte Schulz an der Spitze der Vorwürfe, die er Sik machte, nicht ökonomische, sondern politische Argumente, nämlich Untergrabung der führenden Rolle der Partei „auf dem entscheidenden Gebiet der Gesellschaft, in der Wirtschaft", sowie Abbau der ökonomischen Rolle des sozialistischen Staates, vor allem der zentralen staatlichen Planung und Leitung. An dieser Auffassung der kommunistischen Führungsschichten hat sich in den seither vergangenen 41/2 Jahren kaum etwas geändert — ganz bestimmt nicht in der DDR. Das zeigt die kompromißlose Schärfe, mit der gerade jetzt im Zeichen der neuen Ostpolitik der Bundesrepublik, der Verhandlungen zwischen Bundesrepublik und DDR und des Grundvertrages die Notwendigkeit entschiedener ideologischer Abgrenzung betont wird. So sagte Erich Honecker, der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED, in einer Rede in der Parteihochschule der SED „Karl Marx" zwar, daß friedliche Koexistenz mehr sei als nur ein Zustand des Nichtkrieges, daß sie auch Zusammenarbeit bedeute und daß deshalb die Rede sei von einem friedlichen Nebeneinander, ja Miteinander. Gewiß im Vergleich zur Vergangenheit bemerkenswerte Worte Aber Honecker beeilte sich hinzuzufügen: „dazu stehe die objektiv vorhandene Abgrenzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus nicht im Widerspruch, sie sei vielmehr eine Grundbedingung für unsere konstruktive Politik der friedlichen Koexistenz. Friedliche Koexistenz bedeute aber kein Verwischen ideologischer Gegensätze. Sie schließe die ideologische Auseinandersetzung nicht aus, sondern setze zielstrebige Arbeit bei der Verbreitung unserer sozialistischen Ideologie in der DDR und im Kampf gegen die imperialistischen Versuche ideologischer Diversion voraus."

Ganz ähnliche Gedanken waren im Herbst 1972 in der „Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus" und der vom Zentralkomitee der SED herausgegebenen Zeitschrift „Einheit" vertreten worden, in deren Heft 8 des Jahrgangs 1972 sich mehrere Aufsätze mit dem Thema der „friedlichen Koexistenz" beschäftigten. U. a. hieß es darin in einem von einem Autorenkollektiv (Joachim Böhm, Bruno Mahlow, Manfred Uschner) verfaßten Aufsatz „Leninsche Politik der friedlichen Koexistenz im Klassenkampf der Gegenwart" „Der Klassenfeind ist... nicht untätig. Er versucht, die abnehmende Ausstrahlungskraft seines eigenen Systems durch steigenden Aufwand und zunehmende Raffinesse seiner Propaganda wettzumachen und sich in den Argumenten und Methoden des ideologischen Kampfes auf die heutigen Bedingungen einzustellen, um die ideologische Offensive des Sozialismus, wenn nicht zu verhindern, so doch abzubremsen. Dazu dient das in seinem Wesen heuchlerische und gefährliche Schlagwort von der ideologischen Koexistenz'. Diese Forderung widerspricht dem Sinn der friedlichen Koexistenz, denn dieser bedeutet ja, daß der Kampf der beiden Systeme auf allen Gebieten außer dem militärischen, also gerade auch auf ideologischem Gebiet, geführt wird. Sie steht auch der Politik der friedlichen Koexistenz darum entgegen, weil der ideologische Kampf, wie wir gesehen haben, notwendige Voraussetzung für deren Realisierung ist. Die Forderung nach . ideologischer Koexistenz'hat also lediglich den Zweck, den Sozialismus am offensiven ideologischen Kampf zu hindern, Raum für das Eindringen imperialistischen Gedankengutes zu schaffen."

Diesen wenigen Beispielen könnten aus der DDR, der Sowjetunion und den anderen Ostblockländern unzählige andere an die Seite gestellt werden. Heimann verschließt sich nicht der Einsicht, daß die Konvergenztheorie von den kommunistischen Parteien Osteuropas scharf abgelehnt wird, und er stellt selbst die Frage, ob daraus nicht die Schlußfolgerung gezogen werden muß, „daß es illusionär wäre, eine friedliche Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und die Neu-vereinigung Deutschlands durch eine Synthese beider Systeme für möglich zu halten." Er ist auch realistisch genug, in diesem Zusammenhang an die Intervention in der Tschechoslowakei am 21. August 1968 zu erinnern.

Aber er glaubt trotz dieser Ablehnung der Konvergenztheorie durch die östlichen Machthaber die Möglichkeit der Realisierung seiner Vision bejahen zu können, da sie „eine Konzeption und eine praktische Politik für die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes nicht unmöglich" mache. Der Grund für die östliche Ablehnung der Konvergenztheorie sei nicht in einem unabänderlichen theoretischen Prinzip zu sehen, sondern in dem verstärkten politischen und ideologischen Erosionsprozeß innerhalb des sozialistischen Lagers, „also in realen politischen Faktoren, die sich ändern können“. Eine solche Änderung, so meint Heimann, wäre vor allem dann zu erwarten, wenn das westliche kapitalistische System sich zum Sozialismus entwickele.

Zum Begriff des demokratischen Sozialismus

Die Auseinandersetzung mit dieser für Heimanns Gedankengang zentralen These wird freilich dadurch erschwert, daß er einige dafür sehr wichtige Begriffe nicht oder nur undeutlich definiert, nicht zuletzt den Begriff des „demokratischen Sozialismus" in Abgrenzung gegenüber dem Kommunismus sowjetischer Unter Prägung, „Sozialismus" subsumiert er (S. 26) so verschiedene „Strömungen" wie „die sozialdemokratische, die christliche, die kommunistische und die Neue Linke", und er postuliert, daß sie zusammengefaßt „trotz unterschiedlicher Tendenzen" zu einer politischen Kraft werden könnten, die stark genug wäre, „in Ost und West systemüberwindende Tendenzen in Richtung eines demokratischen Sozialismus durchzusetzen". Das kann aber doch nur bedeuten, daß nach Heimanns Meinung die Verwandtschaft zwischen all diesen von ihm dem Sozialismus zugerechneten Richtungen größer ist als zwischen ihnen und irgendeiner nichtsozialistischen Form des Wirtschaftsund Gesellschaftssystems.

Diese These Heimanns erschreckt mich. Ich glaubte bisher — was mir nach wie vor durch viele Aussprüche führender westdeutscher Sozialdemokraten bekräftigt zu sein scheint —, daß die westdeutsche Sozialdemokratie mit dem Kommunismus in allen seinen uns bisher bekannten realen Erscheinungsformen wesentlich weniger verwandt ist als mit einer „bürgerlichen" Demokratie. Für sie beide ist doch die Bejahung der westlichen Formen der Demokratie und die Erhaltung einer optimalen Freiheitssphäre des Individuums ein zentrales Anliegen; für den realen Kommunismus ist sie es nicht. Selbst in der „liberalsten" Form, in der uns Kommunismus heute begegnet, der jugoslawischen, werden der intellektuellen Auseinandersetzung und der Wirksamkeit autonomer gesellschaftlicher Kräfte relativ enge Grenzen gezogen. Hier macht sich nun eben die Unschärfe bemerkbar, mit der Heimann den Begriff „Sozialismus" behandelt. Der Autor weiß doch genau, wie vieldeutig und schillernd dieser Begriff in der Geschichte der Sozialwissenschaften und der Gesellschaftspolitik gewesen ist. Ein so guter Kenner dieser Geschichte wie Carl Grünberg schrieb vor 40 Jahren

„Was den Begriff des Sozialismus anbelangt, so identifiziert ihn der herrschende Sprachgebrauch regelmäßig mit dem des Kommunismus. Er umfaßt jene Theorien und jene Massenbewegungen, die — in bewußtem Gegensatz zum Privateigentum als der überlieferten Grundlage unserer herrschenden Gesellschafts-, Wirtschafts-

und Rechtsordnung — den Neuaufbau der letzteren auf Basis des Gemein(Kollektiv-) -

eigentums fordern und anstreben. Diese Forderung eignet sämtlichen sozialistischen Doktrinen und sie bildet das Kriterium für die Zugehörigkeit eines Systems gesellschaftlicher Reform zum Sozialismus".

Dies ist offensichtlich nicht der Sozialismus-begriff Heimanns. Für ihn sind Sozialismus und Kommunismus nicht identisch wie es Grünberg vom (damals) herrschenden Sprachgebrauch feststellte, sondern der Kommunismus ist für ihn eine der verschiedenen Subkategorien des Sozialismus. Auch das von Grünberg so stark betonte Kollektiveigentum an Produktionsmitteln spielt für Heimann keine zentrale Rolle. Er sagt dazu (S. 22):

„Wenn auch im Rahmen systemüberwindender Reformen die private Verfügungs-gewalt der wenigen Eigentümer über die Produktionsmittel abzubauen ist, so wird doch die Verstaatlichung nur von den Apologeten des Kapitalismus und von den Vulgärmarxisten als Hauptproblem angesehen."

Was aber ist Sozialismus dann? Man wird schwerlich behaupten können, daß die von Heimann auf diese Frage gegebene Antwort sehr klar und exakt sei. „Eine gesellschaftlich geleitete und kontrollierte Wirtschaftsordnung", die neue Kriterien für ökonomische Entscheidungen und Prioritäten erforderlich macht, Sozialismus als „nicht nur ein institutionelles und technokratisches, sondern auch ein normatives Problem" (S. 22) — das sind Formulierungen, mit denen recht verschiedene Vorstellungen von der Realisierung des Sozialismus in den Ordnungsformen menschlichen Zusammenlebens verbunden werden können.

Deutlicher wird die Einstellung des Autors allerdings, wenn man den mehrfach wiederkehrenden Terminus der „systemüberwindenden Reformen" einbezieht. Heimann sagt ganz deutlich, daß er darunter die Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftsund Gesellschaftssystems", d. h. auch des heutigen Wirtschaftsund Gesellschaftssystems der Bundesrepublik Deutschland versteht. Nun gibt er freilich für den „Kapitalismus" genau so wenig eine klare Definition wie für den „Sozialismus". Aber die Notwendigkeit der „Überwindung" dieses Systems wird von ihm eindeutig bejaht; sie erscheint ihm so selbstverständlich, daß er auf die Beibringung von Argumenten zum Beweis dieser Notwendigkeit fast ganz verzichtet.

In der Tat ist ja die Gleichsetzung der Wirtschafts-und Gesellschaftssysteme der entwik-kelten westlichen Industrieländer mit „Kapitalismus", meist unter Anwendung der oben schon erwähnten Bezeichnung „Spätkapitalismus", für die „Neue Linke" generell geradezu ein Axiom, das keiner Diskussion bedürftig ist. Aber ist denn unser heutiges „System" wirklich noch identisch mit dem, was Marx als die „kapitalistische Produktionsweise", was Sombart, Max Weber und unzählige andere als „Kapitalismus" bezeichneten? Sind seine Angriffsflächen die gleichen und gleich groß wie vor 125 Jahren, als Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest" den schärfsten Angriff gegen die bürgerliche Klassengesellschaft richteten und mit ihrer Verheißung der an ihre Stelle tretenden „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist", eine ähnlich heile Welt der Zukunft verkündeten, wie Horst Heimann das, wenn auch mit anderen Worten, tut? „Kapitalismus" bedeutet, wie auch immer man sonst dies vieldeutige Wort auslegt, ein Wirtschaftssystem, in dem Menschen, die keine Produktionsmittel besitzen, als Arbeiter oder Angestellte ihre Arbeitskraft an die Eigentümer der Produktionsmittel verkaufen und dadurch die Grundlage ihrer materiellen Existenz (oder doch wenigstens für deren entscheidenden Teil) erarbeiten. Solche Menschen — und nur solche Menschen, nicht aber kleine Selbständige, deren materielles Niveau vielleicht ebenso schlecht oder noch schlechter war — nannte Marx Proletarier.

Die Kritik am Kapitalismus richtete sich zunächst gegen die materielle und soziale Lage der Proletarier, die auf Grund ihrer Eigentumslosigkeit den privaten Eigentümern der Produktionsmittel unterlegen waren und deshalb von ihnen „exploitiert", ausgebeutet wurden. Dabei übersahen Marx und Engels keineswegs die von der „Bourgeoisie" erbrachte ökonomische Leistung Aber infolge der „Ausbeutung" konnte nach der Auffassung der geistigen Väter des klassischen Marxismus im „Kapitalismus" die Lage des Proletariats niemals grundsätzlich verändert werden, da in diesem System der „Grundwiderspruch des Kapitalismus — der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Form der Aneignung" — nicht überwunden werden könne. Das kann nach der Meinung aller Marxisten (und nicht nur der Marxisten) nur durch „Systemüberwindung" erreicht werden.

Kapitalismus ist nach dieser Aufassung also eine Weise des Wirtschaftens, die den Kapitalbesitzern nicht nur ein überdurchschnittlich hohes Einkommen, sondern auch eine Machtposition verschafft, die zunächst ökonomische Macht ist, allerdings im Marktgeschehen sehr eingeschränkt durch die Konkurrenz, sicherlich aber ökonomische Macht gegenüber den kapitallosen Arbeitnehmern, die aber darüber hinaus auch in politische Machtpositionen transformiert werden kann. Den grundsätzlich gleichen Charakter glaubt die „Neue Linke" auch der heutigen Epoche zusprechen zu dürfen; wenn sie diese als „Spätkapitalismus" bezeichnet, so liegt in dieser Formulierung bereits die These, daß diese Wirtschaftsweise ihrem Ende zugeht — einem Ende, das durch einen revolutionären Umbruch herbeigeführt werden soll. Die Annahme der Notwendigkeit eines revolutionären Umbruchs bezieht sich, wie ausdrücklich bemerkt sein mag, nicht auf Heimann, der in der Kategorie der „systemüberwindenden" Reformen denkt — aber eben doch mit dem Ziel der Systemüberwindung.

Solche „Systemüberwindung" ist aber nicht vorstellbar ohne Veränderung der Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln, wenigstens an deren überwiegendem Teil Insofern scheint mir die ältere Grünbergsche Definition des Sozialismus für die Erkenntnis des Wesens einer sozialistischen Ordnung wesentlich fruchtbarer als die recht unbestimmten Heimannschen Formulierungen. Reformen der Art, an die Heimann offenbar denkt, können sehr wohl innerhalb des Systems einer unternehmerischen Marktwirtschaft realisiert werden, sie setzen keine „Systemüberwindung" voraus — es sei denn, man setze das heutige Wirtschaftssystem immer noch mit dem liberalen Kapitalismus des beginnenden 19. Jahrhunderts gleich.

Ist „Systemüberwindung" notwendig?

Gerade die Gleichsetzung der heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der meisten entwickelten westlichen Industrieländer, darunter auch der Bundesrepublik Deutschland, mit dem liberalen Kapitalismus ist der Irrtum, durch den ein großer Teil der Kritik der „Neuen Linken", aber auch mancher Anhänger eines demokratischen Sozialismus, die sich keineswegs zur „Neuen Linken" rechnen, unrealistisch wird. Die wirtschaftliche und soziale Welt von 1973 ist recht verschieden von der Welt des Jahres 1848, in dem Marx und Engels das Kommunistische Manifest schrieben. Eine umfassende Auseinandersetzung mit der heutigen „Kapitalismus" -Kri-tik wäre in der hier vorgelegten kleinen Studie schon aus räumlichen Gründen unmöglich. Sechs nach meiner Auffassung erstrangig wichtige Punkte möchte ich jedoch hervorheben: 1. Die staatliche Sozialpolitik und Sozialversicherung haben in die Marktwirtschaft und damit auch in den Arbeitsmarkt weit mehr soziale Sicherungen eingebaut, als Marx und Engels das vermutlich je für möglich gehalten hätten. Die Marktstellung der „Arbeitnehmer" ist dadurch im Vergleich zu früher beträchtlich verbessert worden. 2. Eine kaum geringer zu wertende Verbesserung ist durch das Wirken der Gewerkschaften erreicht worden, deren Bedeutung für die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeitnehmer von Marx beträchtlich unterschätzt wurde.

3. Eine der Grundannahmen der Marxschen Theorie, die Existenz und wachsende Bedeutung einer „industriellen Reservearmee"

in den industriell entwickelten Ländern, ist durch die Tatsachen weitgehend widerlegt worden. Dauernde Massenarbeitslosigkeit bzw. Unterbeschäftigung ist heute gerade für viele industriell unterentwickelte Länder charakteristisch.

4. Fast in allen entwickelten westlichen Industrieländern befinden sich nicht geringe Teile des Produktivkapitals in öffentlichem Eigentum.

5. Die durch Technik und Wirtschaftssystem ermöglichte gewaltige Produktionssteigerung verbunden mit dem Wandel der Sozialstruktur (starke Zunahme des Anteils der Unselbständigen) ließ die Nachfrage der Arbeitnehmer und damit deren Kaufkraft zu einem wichtigen Element kontinuierlicher Wirtschaftsentwicklung werden.

Der Lohn ist also auch für die Unternehmer nicht mehr nur Kostenfaktor, sondern auch Kaufkraftträger.

6. In einer parlamentarischen Demokratie mit allgemeinem gleichem Stimmrecht hat die Arbeitnehmerschaft auf Grund ihrer beträchtlichen Zahl — auch wenn sie verschiedenen Parteien angehört — einen bedeutenden Einfluß auf die Gesetzgebung.

Durch all diese und noch andere Entwicklungen — es handelt sich bei den genannten sechs Punkten keineswegs um eine vollständige Aufzählung — ist (namentlich seit dem Ende des Ersten Weltkrieges) sowohl die ökonomische als auch die politische Machtstellung der Kapitaleigner so erheblich eingeschränkt worden, daß mindestens für einen Teil der entwickelten Industrieländer die mit soviel Emotionen befrachtete Bezeichnung „Kapitalismus" nicht oder nur noch sehr bedingt zutrifft. Daß eine solche Feststellung nicht „bürgerliche Apologetik" ist, dafür möge ein bedeutender sozialistischer Denker, Eduard Heimann, Zeugnis ablegen. In seinem 1961 abgeschlossenen Buch „Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme" heißt es: „Die Wirklichkeit ist in ihrer Kombination von Tatsachen viel weniger streng als die Theorie, und jedenfalls hat das System, in welchem die kapitalistischen Institutionen von Privat-und Aktieneigentum, Markt, Konkurrenz und Monopol heute angetroffen werden, sie mit so vielen Institutionen anderen Ursprungs und Zweckes kombiniert oder durch diese reguliert, daß selbst der alte Name Kapitalismus in seiner Gültigkeit für das neue System zweifelhaft wird."

Der subtile Gedankengang Eduard Heimanns, den er zuerst in seinem 1929 erschienenen Buch „Soziale Theorie des Kapitalismus" entwickelte, besagt, daß der Kapitalismus ohne die Hereinnahme der sozialen Sicherungen nicht hätte weiterleben können, obwohl er gerade dadurch entscheidend umgewandelt, d. h. immer weniger „Kapitalismus" wurde. Diese im System vor sich gegangene Veränderung will freilich ein großer Teil seiner heutigen antikapitalistischen Kritiker nicht sehen. Wenn diese so gern und oft bei Andersdenkenden „undifferenzierten Antikommunismus" feststellen wollen, so kann ihrer Kritik an unserem Wirtschaftsund Gesellschaftssystem mit nicht geringerem Recht „undifferenzierter Antikapitalismus“ vorgeworfen werden.

Die heutige Kritik am „Kapitalismus" richtet sich im allgemeinen kaum gegen seine ökonomische Leistungsfähigkeit. Diese Leistungsfähigkeit war ja, wie sich aus dem Zitat in Anm. 25 ergibt, auch von Marx anerkannt worden. Man muß schon recht blind gegenüber der Wirklichkeit sein, wenn man nicht sieht, welch gewaltige dynamische Kräfte durch die unternehmerische Marktwirtschaft entfesselt worden sind und noch immer entfesselt werden.

Deshalb richtet sich auch die Kapitalismus-kritik vor allem gegen die behaupteten Auswirkungen dieses Systems auf die soziale Lage der Arbeitnehmer und auf die Grundbefindlichkeiten menschlicher Existenz, für die heute immer häufiger der vieldeutige Ausdruck „Qualität des Lebens" gebraucht wird;

oder aber es wird, noch fundamentaler, der Wert dieser ökonomischen Leistung in Zweifel gezogen oder negiert. Man kann unter „Qualität des Lebens" sehr viel verstehen;

„Umweltfreundlichkeit" der wirtschaftlichen Prozesse und der Anwendung ihrer Ergebnisse (vor allem des PKWs), genügend Freizeit ebenso wie deren sinnvolle Nutzung, Befreiung von der „Entfremdung", Berücksichtigung ästhetischer Werte und noch manches andere mehr. Negativ ist darunter vor allem zu verstehen, daß der Sinn menschlicher Existenz nicht nur in maximaler Produktion und maximalem Konsum materieller Güter bestehen darf. Verfolgt man diesen Gedanken aber weiter, so kommt man bald an die Grenzen der Möglichkeiten, die sich durch die Gestaltung der Wirtschaft ergeben. Ein noch so gutes Wirtschaftssystem kann immer nur die Grundlagen für sinnerfüllte menschliche Existenz schaffen, niemals aber selbst der Existenz der Mehrzahl der Menschen Sinn geben. Sicherlich steckt in der genannten Kritik an ungünstigen Wirkungen der modernen Wirtschaft und Technik Richtiges und Wesentliches, und ebenso sicher ist dieses Richtige und Wesentliche in der Vergangenheit vielfach übersehen oder zü gering eingeschätzt worden Ebensowenig soll bestritten werden, daß ein Wirtschaftssystem, in dem Gewinnerzielung eine der wichtigsten motorischen Kräfte ist, solcher Überbewertung der materiellen Werte Vorschub leistet, ja sogar im Interesse der Gewinnerzielung Wertloses mit allen Künsten der Reklame in den Rang von Wertvollem oder sogar Notwendigem zu erheben versucht. So gewiß diese Tatbestände eine der unerfreulichen Seiten unserer Wirtschaftsordnung bilden, so wird doch ihre größenmäßige Bedeutung von vielen Kapitalismus-Kritikern erheblich überschätzt. Der Verzicht auf das Unnötige, in einigen Fällen sogar Schädliche würde nur einen kleinen Teil der Arbeitsleistung ersparen, die heute den Menschen in den fortgeschrittenen Industrieländern abverlangt wird — es sei denn, ein großer Teil dieser Menschen wäre bereit zu einem puritanischen Dasein, in dem wirtschaftliche Tätigkeit nur das Lebensnotwendige bereitzustellen hätte. Und dafür, daß in naher Zukunft ein großer Teil der lebenden Menschen einen derartigen Puritanismus zu akzeptieren und zu realisieren bereit wäre, scheint mir keinerlei Wahrscheinlichkeit gegeben zu sein.

Hier könnte der Einwand kommen, daß bei einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung, vor allem durch Beschränkung der Besitzeinkommen, der Luxuskonsum vor allem der „müßigen Reichen" beschränkt werden könne. Diese These ist zwar an sich richtig, nicht aber die . daraus gezogene Konsequenz. Es wird dabei etwas übersehen, was an sich eine Banalität ist (aber bei der weitverbreiteten Unkenntnis auch banaler wirtschaftlicher Tatbestände und Zusammenhänge ist es leider notwendig, auch Banalitäten immer wieder zu sagen): ein beträchtlicher Teil der höheren und hohen Einkommen wird nämlich nicht zur Konsumfinanzierung verwendet, sondern in Kapital umgewandelt und dient damit der Investitionsfinanzierung. Eine völlig gleichmässige Einkommensverteilung, bei der die niedrigen Einkommen fühlbar stiegen, würde deshalb mit Sicherheit sogar zu einer insgesamt vergrößerten Nachfrage nach Konsumgütern (unter Einschluß der für die individuelle Bedarfsdeckung bestimmten Dienste, z. B. Wohnraumversorgung und Tourismus) führen; damit würde es notwendig, neue Wege (z. B.der Besteuerung) zu finden, um die Mittel für die Investitionsfinanzierung sicherzustellen. Investitionen sind aber eine mit keiner Dialektik hinwegzudiskutierende Notwendigkeit, solange Bevölkerung, Bedürfnisse und Wirtschaft wachsen.

Hier höre ich schon den Einwand: aber warum muß denn die Wirtschaft wachsen? Wenn heute in den entwickelten Industrie-ländern zwischen einem Fünftel und einem Viertel des Volkseinkommens für Investitionen (die sozialistische Theorie sagt „Akkumulation") aufgewendet werden so könnte der Verzicht auf Wachstum doch die auf den Menschen liegende Arbeitslast beträchtlich verringern. Eine solche Kritik findet um so mehr Gehör, als seit einiger Zeit die Sorge vor den negativen Wirkungen eines weiteren raschen Wachstums beträchtlich zugenommen hat, da offenbar die Gefahren der „Umweltverschmutzung" und des Raubbaus an den natürlichen Ressourcen unseres Planeten um so größer werden, je rascher das Wachstum ist.

Besonders alarmierend haben in dieser Beziehung die Ergebnisse einer am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge durchgeführten Untersuchung gewirkt, die auch in deutscher Übersetzung erschien Die sehr pessimistischen Schlußfolgerungen des an dieser Untersuchung beteiligten Forscherteams von Naturwissenschaftlern sind jedoch bei anderen hochqualifizierten Fachleuten, besonders Nationalökonomen, auf scharfen Widerspruch gestoßen. Der in London lehrende englische Nationalökonom Wilfred Beckerman, langjähriges Mitglied der Royal Commission on Environmental Pollution, hat diese Untersuchung kürzlich in einem am Institut für Weltwirtschaft in Kiel gehaltenen Vortrag bezeichnet als „ein so dreistes und schamloses Stück Unsinn..., daß es unmöglich von jemandem ernst ge-nommen werden könnte", und er belegt diese sehr harte Kritik mit einer ganzen Anzahl von sehr eindrucksvollen Argumenten.

Die pessimistische Betrachtung des Wirtschaftswachstums und seiner Konsequenzen ist wieder einmal ein Beweis dafür, wie rasch sich die (in wirtschaftlichen Dingen oft nicht sehr gut orientierte)" öffentliche Meinung“ wandeln kann. Noch vor wenigen Jahren war rasches Wirtschaftswachstum ein allgemein anerkanntes Ziel, dem in dem sog. „magischen Viereck" der Ziele der Wirtschaftspolitik — Vollbeschäftigung, kontinuierliches Wachstum, stabiler Geldwert, ausgeglichene Zahlungsbilanz — erstrangige Bedeutung zugemessen wurde. Längere Zeit hindurch erschien es nicht ungerechtfertigt, von einer Fetischisierung des Wirtschaftswachstums zu sprechen; der Erfolg der Wirtschaftspolitik wurde weitgehend am Wachstum des Bruttosozialprodukts gemessen Damals mußte ein besonnener, nicht „eindimensional" denkender Nationalökonom eher auf die negativen Konsequenzen des Wachstums und die ihm zu ziehenden Grenzen hinweisen. Heute, da das Pendel nach der anderen Seite aus-schlägt, scheint es dagegen eher geboten, die noch immer gegebene Notwendigkeit des Wachstums zu betonen — auch wenn man über die sinnvollerweise anzustrebende Rate dieses Wachstums versthiedener Meinung sein kann.

Diese Notwendigkeit ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß in allen Entwicklungsländern das materielle Niveau der großen Mehrheit der Menschen noch weit unter dem liegt, was nach westlichen Begriffen als menschenwürdig angesehen werden kann und was auch in aller Regel von ihnen selbst als notwendig angestrebt wird. Daß das nicht ohne Entwicklungshilfe der entwickelten Länder erreicht werden kann und daß der bisherige Umfang diese Hilfe nicht ausreicht, um in einem vernünftigen Zeitraum eine Angleichung zu erzielen, wird schwerlich bestritten werden können. Das bedeutet aber, daß in den entwickelten Ländern das Sozialprodukt als Quelle für die Entwicklungshilfe wachsen muß, es sei denn, ihre Bürger wären, um ausreichende Hilfe zu ermöglichen, mit einer Senkung ihres materiellen Standards einverstanden — eine wohl recht unrealistische Annahme. Das Gleiche gilt für alle an Zahl wachsenden Völker; auch sie haben nur die Wahl zwischen Vergrößerung des Sozialprodukts und damit mindestens gleichbleibendem Standard oder verringerter Konsumquote je Kopf.

Hinzu kommt, daß selbst in den wirtschaftlich am höchsten entwickelten Ländern noch keineswegs die Gesamtheit ihrer Bürger ein sie voll befriedigendes materielles Niveau erreicht hat; denn auch in dem reichsten Land der westlichen Welt, den Vereinigten Staaten, gibt es noch Armutsinseln, und nicht unerhebliche Schichten bleiben noch hinter dem erstrebten Minimum (das allerdings nach westeuropäischen Maßstäben sehr hoch liegt) zurück. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik läßt immer wieder neue Güter und neue Bedürfnisse entstehen, letztere keineswegs nur durch künstliche Manipulation. Und schließlich: Gerade die Reformen, die von den Kritikern unserer heutigen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung so dringend gefordert werden (z. B. im Bildungs-und Gesundheitswesen und für de Umweltschutz), stellen erhebliche Ansprüche der Finanzierung und damit an das Sozialprodukt.

Noch also leben wir in einer Welt, in der wirtschaftliches Wachstum als unabdingbare Notwendigkeit erscheint in der also Dynamik am Werke sein muß. Diese Dynamik war bisher in einer unternehmerischen Marktwirtschaft am stärksten entwickelt; die Versuche des Sowjetkommunismus, für sein System eine stärkere Dynamik nachzuweisen, müssen — gleichen Einsatz von Ressourcen und gleiche „Entbehrungsquote" der Bevölkerung vorausgesetzt — als gescheitert angesehen werden Bleibt man realistisch, so kommt man, populär gesprochen, um die Feststellung nicht herum: in der unternehmerischen Marktwirtschaft ist der Kuchen zwar ungleichmäßiger verteilt als in einer sozialistischen Ordnung; die Dynamik dieses Systems läßt den Kuchen aber rascher wachsen, so daß alle ein absolut größeres Stück des Kuchens erhalten als im Sozialismus.

Vielen Kritikern, nicht nur aus den Reihen der „Neuen Linken", wird der Zugang zu dieser Einsicht versperrt, weil sie die Bedeutung der individuellen Initiative, vor allem der unternehmerischen Initiative zu gering einschätzen. Die Unternehmer bzw. Untemeh-mensleiter waren und sind in erster Linie die Verursacher der Innovationen, der „neuen Kombinationen" Schumpeters Alle bisherige Erfahrung spricht dafür, daß ein Übergang zum „Sozialismus" im Sinne Horst Heimanns — soweit der Begriff Sozialismus in seiner Schrift überhaupt klar definiert ist — zu einem Nachlassen der wirtschaftlichen Dynamik und damit zur Verringerung der Möglichkeit ständiger Erhöhung des materiellen Niveaus der breiten Massen führen muß. Es geht also bei den von Horst Heimann zur Erreichung des Ziels der west-östlichen Synthese für notwendig gehaltenen Vorleistungen des Westens um mehr als um den Verzicht auf die „Erhaltung des privatkapitalistischen Wirtschaftssystems", wie Heimann auf S. 20 recht aggressiv formuliert. Es geht aber auch um mehr als um materielles Niveau und Lebensstandard.

Mit dem bisher Gesagten soll nun gewiß nicht unsere heutige Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung als vollkommen und jeder Kritik standhaltend bezeichnet werden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn Horst Heimann die heutige VermögensVerteilung in der Bundesrepublik Deutschland als „ungerecht", also als reformbedürftig bezeichnet, so wird ihm wohl kein objektiver Beurteiler widersprechen wollen. Hier und in nicht wenigen anderen Punkten sind Veränderungen, sind Reformen und Korrekturen notwendig. Die entscheidende Frage aber ist: Sollen diese Reformen und Korrekturen das bestehende System verbessern, es vor allem unter Aufrechterhaltung seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit menschlicher machen — oder soll ihr Ziel die Systemüberwindung sein?

Die Kritik der „Neuen Linken", aber ebenso auch die Kritik Horst Heimanns zielt eindeutig auf Systemüberwindung. Das wäre dann gerechtfertigt, wenn einmal die Grundprinzipien dieses bestehenden Systems sich durch Erfahrung und intellektuelle Kritik als unhaltbar erwiesen hätten und wenn der Nachweis erbracht worden wäre, daß unabdingbare Reformen innerhalb dieses Systems nicht realisierbar wären. Die zweite Voraussetzung ist, daß die Ordnungsformen, zu denen die „Systemüberwindung" führen soll, eindeutig als den bisherigen überlegen, als für die große Masse der Menschen lebensfördernder nachgewiesen werden könnten. Den ersteren Nachweis hat Horst Heimann mit seiner recht pauschalen und wenig in die Tiefe gehenden Kritik am „Kapitalismus" nicht geführt. Die zweite Frage — die nach dem Nachweis der Überlegenheit des Sozialismus — wird im folgenden zu untersuchen sein.

Die Verheißungen des Sozialismus und die Wirklichkeit

Wenn Heimann wie so viele andere Kritiker unserer westlichen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung das Ziel der „Überwindung" dieses Systems geradezu als Axiom betrachtet, so erscheint ihm auf der anderen Seite der „Sozialismus" als nahezu problemlose heile Welt der Zukunft. Wie steht es in dieser Beziehung mit dem Verhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit? An diesem Punkte unseres Gedankengangs muß nachdrücklich auf eine wissenschaftlich unhaltbare Methode hingewiesen werden, die der amerikanische Nationalökonom Gregory Grossman folgendermaßen gekennzeichnet hat

„Es ist legitim, ideale oder reine Systeme zu vergleichen, oder aktuelle Volkswirtschaften untereinander, oder ein aktuelles System mit seinem eigenen Idealtyp. Es ist nicht legitim, eine aktuelle Volkswirtschaft mit einem Idealmodell von anderer Art zu vergleichen (beispielsweise die amerikanische Wirklichkeit mit einem abstrakten Modell des Sozialismus, oder die sowjetische Wirklichkeit mit einem Idealtyp des Kapitalismus), obwohl oft nicht sehr bedenkliche oder einfach gedankenlose Politiker und Propagandisten ihre Zuflucht gerade zu diesem Trick nehmen."

Nicht nur in den USA, sondern auch bei uns wird nicht selten dieser „Trick" verwendet, eine konkret existierende Ordnung, z. B. eine existierende unternehmerische Marktwirtschaft, einem idealtypischen Modell, z. B. einer Synthese von Sozialismus, Demokratie und Freiheit gegenüberzustellen. Natürlich fährt dann die Realität schlecht; denn jede real existierende Ordnung, sei sie politisch oder wirtschaftlich, ist, da sie Menschenwerk ist, immer eine unvollkommene, mit vielen Mängeln und Schwächen behaftete Ordnung. Mögen wir noch so sehr nach dem Ideal streben: in der unvollkommenen Wirklichkeit können wir doch immer nur nach der unter den gegebenen Verhältnissen am wenigsten schlechten Ordnungsform suchen und versuchen, sie durch Reformen zu verbessern. Auch die gläubigen Vertreter des Sozialismus müssen sich deshalb einen Vergleich ihrer Idealvorstellungen mit den realen sozia listischen Ordnungen, die wir auf unseren Planeten vorfinden, gefallen lassen. Ich wil dabei gar nicht beim Stalin-System ansetzen das man wohl als entsetzliche Perversion ei ner großen Idee ansehen kann: welch furcht barer Weg von der Marxschen Hoffnung au „eine höhere Form menschlicher Freiheit* (Milovan Djilas) zu den Zwangsarbeitslageri Stalins! Ich will auch nicht die große Zah der intellektuellen Exkommunisten als Eides helfer aufrufen, die aus tiefer Enttäuschung über den Unterschied zwischen Ideal unc Wirklichkeit entweder zu militanten Anti kommunisten oder zu geistig heimatloser Wanderern zwischen den Welten geworder sind. Es genügt mir völlig, die heute existierenden sozialistischen Ordnungen — alsc etwa auch die der Sowjetunion in der nach-stalinistischen Periode — nüchtern zu analysieren und zu ihrer Bewertung die Meinungen solcher kritischen Betrachter zu hören,, die selbst auf dem Boden des Sozialismus stehen. Dabei will ich mich nur kurz mit materiellem Niveau und Lebensstandard beschäftigen — einmal deshalb, weil darüber schon in den vorhergehenden Abschnitten einiges gesagt wurde, zum anderen, weil ich in einem materiellen Rückstand des Sozialismus allein noch keinen entscheidenden Einwand gegen eine sozialistische Ordnung sehen würde, sofern diese sich in anderen Bereichen menschlicher Existenz und vor allem menschlichen Zusammenlebens als leistungsfähiger erweisen würde.

Gerade hinsichtlich der materiellen Leistung für den Lebensstandard der breiten Massen der Arbeitnehmer ist die Überlegenheit der unternehmerischen Marktwirtschaft eindeutig nachweisbar. Eigentlich müßte man doch annehmen — und das war ja auch in Vergangenheit und Gegenwart die Überzeugung zahlreicher Sozialisten —, daß die Beseitigung der „kapitalistischen Ausbeutung" zu einer Erhöhung des Lebensstandards der solcherart befreiten Werktätigen führen müsse. Bisher ist aber in allen Ländern mit sozialistischer Ordnung der Lebensstandard der Werktätigen niedriger als in vergleichbaren Ländern mit unternehmerischer Marktwirt-schäft; das gilt auch dann, wenn man die kollektiven Leistungen — Gesundheitswesen, Bildung usw. — einbezieht. Der Vergleich der beiden Teile Deutschlands ist in dieser Beziehung besonders aussagekräftig, weil es sich dabei um Gebiete handelt, in denen vor dem Zweiten Weltkrieg das durchschnittliche Niveau etwa gleich hoch war Die Reallöhne sind bei einem Vergleich der offiziellen Statistik beider Teile Deutschlands in der „kapitalistischen" Bundesrepublik eindeutig höher als in der „sozialistischen" DDR. In dieser betrug im Jahre 1971 das durchschnittliche monatliche Arbeitseinkommen aller Arbeiter und Angestellten in der Industrie 798 Mark; in der Bundesrepublik Deutschland betrug im gleichen Jahre der monatliche Durchschnittsverdienst der Arbeiter in der Industrie 1. 278 DM, der kaufmännischen und technischen Angestellten in Industrie und Handel 1. 410 DM Selbst wenn man unterstellt — für die DDR wahrscheinlich etwas zu günstig —, daß die Kaufkraft einer Mark für den durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalt in der DDR ebenso hoch ist wie in der Bundesrepublik, ist der Unterschied der realen Arbeitseinkommen beträchtlich, und er ist in den letzten Jahren nicht geringer, sondern größer geworden. Ähnliches gilt aber auch für zwei Bereiche, die für die „Qualität des Lebens" eine wesentliche Rolle spielen: die Versorgung mit Wohnraum und die Altersversorgung. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf der Bevölkerung belief sich im Jahre 1968 in der DDR auf 18, 6 qm, in der Bundesrepublik auf 23, 0 qm; im Jahre 1950 war die durchschnittliche Wohnfläche je Kopf in beiden Teilen Deutschlands noch ungefähr gleich groß gewesen (14, 7 gegen 14, 9 qm) Die Bundesrepublik hat diese bessere Versorgung mit Wohnraum trotz beträchtlicher Bevölkerungszunahme infolge des hohen Anteils des Wohnungsbaus an den Gesamtinvestitionen erreicht, während in der DDR die Bevölkerungszahl 1968 beträchtlich niedriger war als 1950 (17, 1 Mill, gegen 18, 4 Mill.)

Im Jahre 1971 betrugen die durchschnittlichen monatlichen Altersrenten: in der DDR im Durchschnitt aller Altersrenten der Sozialversicherung 209, 69 Mark, in der Bundesrepublik in der Rentenversicherung der Arbeiter 328 DM, der Angestellten 546 DM Die Ausgaben für die soziale Sicherung betrugen im Jahre 1969 in °/o des Bruttosozialproduktes in der DDR 12, 4 °/o, in der Bundesrepublik 18, 1 °/o; bei den Barleistungen war das Verhältnis 8, 6 zu 13, 3, bei den Renten 6, 3 zu 9, 7 %

Kann es da eigentlich noch einen Zweifel darüber geben, daß für die weitaus überwiegende Mehrheit der Arbeiter und Angestellten die materielle Lage in der Bundesrepublik sowohl während ihres Arbeitslebens als auch im Rentenalter beträchtlich besser ist als in der „sozialistischen" DDR? Heimann selbst ist ja auch der Überzeugung (S. 19), daß „die für die innere Stabilität des Ostblocks gefährliche Anziehungskraft des Westens ... sich vor allem aus der materiellen Überlegenheit der höher entwickelten und stärker konsolidierten westlichen Konsumgesellschaft" ergibt.

Könnte nun aber nicht dieser Rückstand im materiellen Niveau ausgeglichen werden durch Vorzüge immaterieller Natur, z. B. Beseitigung oder doch wenigstens Abbau der „EntfTemdung“, die für Marx — namentlich den jungen Marx — eine so große Rolle spielte? Wir rühren damit an ein Problem, das ebenso bedeutsam wie schwer lösbar ist. Der Grad der Entfremdung ist statistisch nicht meßbar, da es sich dabei ja um ein in höchstem Maße qualitatives Problem handelt, und es gibt kaum empirisch-soziologische Untersuchungen aus irgendeinem der Länder mit sozialistischer Ordnung, die ein durch Fakten fundiertes Urteil darüber gestatten würden. Wenn Marx als einen der wesentli-chen Aspekte der Entfremdung ansah, daß die Waren, die der Arbeiter produziert, ihm als „entfremdete Gewalten" gegenüberstehen, so muß doch gefragt werden, ob das auf das Wirtschaftssystem oder auf die moderne Technik mit der Unabdingbarkeit der Arbeitszerlegung im Produktionsprozeß zurückzuführen ist. Auf diese läßt sich, wenn man ein hohes Maß ökonomischer Effizienz erreichen will — und daß diese unter den heute gegebenen Voraussetzungen notwendig ist, wurde an früherer Stelle dieses Aufsatzes nachgewiesen — keinesfalls verzichten.

Marx sah eine weitere Quelle der Entfremdung in der Tatsache der Warenproduktion. Der „Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist kann nur beseitigt werden, wenn die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses ... als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmässiger Kontrolle steht." Die Warenproduktion als solche könnte aber erst im Zustande des Vollkommunismus aufgehoben werden — und bis zu diesem wäre es noch ein sehr langer und mühevoller Weg, wenn man überhaupt glaubt, dass ein solcher Zustand je erreicht werden kann.

In der Wirklichkeit der sozialistischen Länder von heute ist der arbeitende Mensch jedenfalls — wenn wir einmal von Jugoslawien absehen — ebenso als ein kleines Glied in den arbeitsteiligen Produktionsprozess gestellt und der betrieblichen Hierarchie unterworfen, die im sowjetischen Prinzip des „Jedino-natschalije", der Einzelleitung des Betriebes, besonders deutlich zum Ausdruck kommt

Damit stellt sich aber eine für die Beurteilung des Heimannschen Gedankenganges erstrangig wichtige Frage: wieweit zeigen uns die bisher realisierten sozialistischen Ordnungen die Möglichkeit einer Synthese von Sozialismus, Demokratie und Freiheit, die Heimann als Ergebnis der auf beiden Seiten vor sich gehenden Wandlungen erhofft?

Lassen wir dazu vier Autoren sprechen, die, Reformen verschiedener Art bejahend, dennoch sämtlich Sozialisten geblieben sind!

Bei Ota Sik, dem hinsichtlich der Wirtschaftsreformen führenden Mann der tschechoslowakischen Reformbewegung, heißt es „Noch nie in der Geschichte wurde die Wirtschaft durch die Politik derartig vergewaltigt wie im heutigen bürokratischen Sozialismus, und noch nie konnte eine politische Macht durch ihre gewaltige, mehr als religiöse Ideologie die Menschen so lange mit Versprechungen und zukünftigen Erfolgen abspeisen."

Die beiden jungen polnischen Kommunisten Jacek Kuron und Karol Modzelewski, 1964 wegen ihrer Anschauungen aus der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ausgeschlossen, schrieben: „In unserem System ist die Parteielite gleichzeitig die Machtelite; alle staatlichen Entscheidungen werden von ihr getroffen . .. Indem sie die staatliche Macht ausübt, verfügt die Machtelite gleichzeitig über die Gesamtheit der verstaatlichten Produktionsmittel, entscheidet sie über den Anteil der Akkumulation und des Konsums, über die Richtung der Investitionen, iber den Anteil der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen am Volkseinkommen. Mit einem Wort: sie allein entscheidet über Aufteilung und Verwendung des ganzen gesellschaftlich erzeugten Produktes. Die Entscheidungen der Elite sind eigenmächtig, frei von jeder Kontrolle von seifen der Arbeiterklasse und der übrigen gesellschaftlichen Klassen und Schichten. Die Arbeiter haben auf sie keinen Einfluss, die Gesamtheit der Parteimitglieder ebenfalls nicht..

Milovan Djilas, einer der Männer, die zusammen mit Tito den kommunistischen Staat in Jugoslawien geschaffen h. aben, schreibt in seinem 1969 in deutscher Übersetzung in Wien erschienenen Buche „Die unvollkommene Gesellschaft. Jenseits der . Neuen Klasse"'(S. 158 — 160):

„Die marxistisch-leninistischen Ideen, die real und ideal waren, solange sie die. Massen in Bewegung setzten und veralterte und aussichtslose Ordnungen zerstörten, haben sich in Dogmen und Mythen verwandelt, mit deren Hilfe heute die Kommunisten sich und die anderen täuschen und ihre monströse Realität rechtfertigen. Sie behaupten, dass ihr System mit seinem angeblich gesellschaftlichen Eigentum unvergleichlich grössere Möglichkeiten für den technischen Fortschritt und für die soziale Gerechtigkeit bietet, als es je in anderen Gesellschaftsordnungen gab, gibt und geben wird... Die Wirklichkeit sah, wie gewöhnlich, anders aus: der Kommunismus leidet heute an all den Übeln, die er mit Recht am Kapitalismus angeprangert hat;

und eine gründlichere Untersuchung seiner Eigentumsverhältnisse offenbart auch, dass die politische, die Parteibürokratie ihre eigenen Ideale zerstört, indem sie das Monopol der Handhabung und Kontrolle über die Wirtschaft für sich in Anspruch nimmt.

Die italienische Kommunistin Rossana Rossanda hat in einem kürzlich erschienenen wichtigen Aufsatz die Wirklichkeit der heute bestehenden sozialistischen Länder als „ein Dilemma der Europäischen Linken" bezeichnet. Es heißt da: „Das Verhältnis zu den sozialistischen Ländern, und damit zu den „anderswo" durchgeführten Revolutionen, macht nun schon seit über fünfzig Jahren einen Teil der Ge-* schichte der europäischen Linken aus, die es zu ihrer eigenen Revolution nicht gebracht hat. Dieses Verhältnis kennt Hoffnungen und Enttäuschungen, Solidarisierungen und Absagen, begeisternde Utopien Und deprimierende Einsichten in die Realitäten. Aber da es schier immer ein unterwürfiges, ein subalternes Verhältnis war, ist es schliesslich zu einem Moment der Niederlage der Linken in den . spätkapitalistischen Ländern’ geworden ... Jene . anderen'Revolutionen sind geschehen, sie sind da, und sie bestimmen die Welt, in der wir leben. Sie haben ihre Rückwirkungen, ob uns das lieb ist oder nicht. Wir kommen nicht um sie herum."

Und an einer anderen Stelle heißt es:

„Wieder einmal fegen die Gründe der Geschichte die Illusionen der Ideologie hinweg. Die Europäer sehen sich vor die Probleme von eh und je gestellt, nur daß sie um eine Erfahrung reicher geworden sind:

was die Linke hier für Knoten und Sackgassen der . anderen'gehalten hatte, sind auch unsre eigenen; das hat sich im Wechsel von Auf-und Abstieg der Bewegung gezeigt. Nichts ist überwunden, kein Problem gelöst. Der Moment der Hoffnung auf eine eigene Revolution, die sich ihr Maß selber setzen könnte, war kurz. ”

Dies und manches andere, was in der genannten Ausgabe des „Kursbuchs" steht, ist ein bemerkenswerter Beweis für die Enttäuschung, die sich aus dem Zusammenprall von Idee (oder Vision) und Realität bei Kommunisten ergibt, die noch nicht so dogmatisiert sind, daß sie die Fähigkeit — oder die Bereitschaft — zum kritischen Denken völlig verloren hätten.

In den realen sozialistischen Systemen von heute ist jedenfalls die Synthese von Sozialismus, Freiheit und Demokratie nicht gelungen. Wenn Heimann (S. 18/19) die These aufstellt, daß die Idee eines freiheitlichen und demokratischen Sozialismus 1956 auch in der Sowjetunion und vor allem in der DDR „zu einer realen politischen Kraft innerhalb der kommunistischen Parteien" wurde, so scheint mir das ein Beweis für ein gefährliches Wunschdenkens, das (sicherlich unbewußt, das sei Heimann ohne weiteres zugestanden) den geschichtlichen Ablauf nach den eigenen Wünschen zurechtbiegt. In der DDR beschränkten sich solche Gedankengänge innerhalb der SED auf sehr kleine Kreise, die keineswegs eine reale politische Kraft bildeten, die denn auch sehr bald von der herrschenden Machtelite zum Schweigen gebracht wurden. Wo Heimann in der Sowjetunion 1956 derartige Tendenzen sieht, ist mir unerfindlich. Vielleicht meint er den XX. Parteitag der KPdSU und die berühmte Geheimrede Chruschtschows, in der dieser die Schandtaten des Stalin-Terrors enthüllte. Darin aber bereits den Anfang eines „freiheitlichen und demokratischen Sozialismus" zu sehen, scheint mir schlechthin utopisch. Und Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei, die Heimann ebenfalls in diesem Zusammenhang nennt? Gewiss, in Polen und Ungarn gab es 1956 Anfänge einer solchen Entwicklung. Aber in Polen hat auch das damals installierte Gomulka-Regime nach einem verheissungsvollen Beginn bald wieder das Heil bei den alten Methoden gesucht, und das Schicksal des „freiheitlichen Sozialismus" in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968 ist ja wohl zur Genüge bekannt.

Ich stimme mit Heimann darin überein,, daß die militärischen Interventionen in Ungarn und der Tschechoslowakei in erster Linie deshalb erfolgten, „weil dieser vom Volk unterstützte Sozialismus mit menschlichem Gesicht eine ernsthafte Gefahr für die privilegierte und demokratisch nicht legitimierte und kontrollierte Schicht der im Osten politisch herrschenden Bürokratie... wurde." (S. 19).

Wieso aber die Vertreter dieser bürokratischen Herrschaft in Osteuropa die Intervention auch deshalb forderten, weil durch den demokratischen Sozialismus die Schicht „der im Westen ökonomisch herrschenden Kapitaleigner" gefährdet wurde, ist mir schlechtterdings unverständlich — ganz abgesehen davon, daß die „ökonomische Herrschaft der Kapitaleigner" im Westen doch etwas wesentlich anderes, sich innerhalb wesentlich engerer Grenzen Auswirkendes, mit wesentlich mehr Gegenmächten (denken wir allein an die Gewerkschaften!) Konfrontiertes ist als die Herrschaft der Machtelite in den kommunistisch regierten Ländern Ost-und Südosteuropas. Die Machtelite mit „Bürokratie" gleichzusetzen, scheint mir im übrigen viel zu undifferenziert; Männer wie Chruschtschow, Breschnew, Tito oder Ceausescu sind doch gewiss keine „Bürokraten" (womit nicht bestritten werden soll, daß in der Tat die Rolle der Partei-und Staatsbürokratie in der

Verfassungswirklichkeit dieser Länder recht bedeutsam ist).

Heimann fordert im Interesse der west-östlichen Konvergenz Vorleistungen des Westens „durch systemüberwindende innere Reformen ..., ohne daß dabei die liberalen und demokratischen Rechte eingeschränkt oder aufgegeben werden." Zwei schicksalsschwere Fragen stellen sich dabei. Erstens: ist überhaupt ein Sozialismus möglich, bei dem die liberalen und demokratischen Rechte nicht eingeschränkt werden? Die Beantwortung dieser Frage wird freilich durch die Unschärfe des Heimannschen Sozialismusbegriffs erschwert. Wenn man aber Sozialismus mit Systemveränderung gleichsetzt, dann gehört dazu doch offenbar die „Vergesellschaftung"

eines grossen Teils der Produktionsmittel und die weitgehende Ausserkraftsetzung des Marktmechanismus durch eine Form der zentralen Planung Beides bedeutet ipso facto zweierlei: eine ungeheure Verstärkung der Staatsmacht, da der Staat als Eigentümer des grössten Teils der Produktionsmittel für die Masse der Bevölkerung Arbeitgeber, außerdem aber auch Arbeitsgesetzgeber ist und als Träger der Planung die Ziele festsetzt, auf die das Wirtschaften ausgerichtet werden soll. Für das Individuum sowohl in seiner Eigenschaft als arbeitender Mensch wie auch als Konsument bedeutet diese Machtkonzentration beim Staat zwangsläufig eine beträchtliche Einschränkung seiner Freiheitssphäre. Bedenkt man ferner, wie schwierig heute bereits die demokratische Kontrolle allein des Staatshaushalts in einem hochentwickelten Industrielande geworden ist, so kann es kaum als zweifelhaft erscheinen, dass die demokratische Kontrolle eines noch viel umfassenderen Volkswirtschaftsplanes schlechterdings unmöglich wird.

Die zweite, mindestens ebenso schwer wiegende Frage ist: wer kann auch nur ein Mindestmaß von Sicherheit dafür geben, daß Vorleistungen der Bundesrepublik an „systemüberwindenden Reformen" auf der Seite der DDR ebenfalls Reformen in Richtung auf einen freiheitlich-demokratischen Sozialismus auslösen werden? Allein diese können ja doch eine wirkliche Konvergenz bewirken. Bei den gegenwärtigen Machtverhältnissen und bei den Auffassungen der Machtelite der SED erscheint mir das als blanke Utopie. Gerade in dem Zeitpunkt, in dem dieser Aufsatz abgeschlossen wurde, brachte das „Neue Deutschland" einen Bericht über die Rede, die Albert Norden, Mitglied des Politbüros der SED, also der höchsten Machtspitze in der DDR (es zählt gegenwärtig 16 Mitglieder und 7 Kandidaten), über die „ideologische Offensive gegen den Imperialismus" gehalten hat. Es heißt darin: „Ausführlich setzte sich Albert Norden mit der von imperialistischen Kreisen propagierten These des .freien Austausches von Ideen'auseinander. , Die Prediger der Freizügigkeit sagen Austausch von Ideen und meinen — sie gestehen es ganz offen — Raum für ihre reaktionäre Ideologie, Raum für geistige Konterbande zur Unterwühlung des Sozialismus. Natürlich gibt es gerade und besonders auf dem Gebiet der gegensätzlichen Ideologien weder Konvergenz noch Austausch oder Annäherung, sondern Divergenz, Abgrenzung und entschiedene weltanschauliche Auseinandersetzung; denn der Imperialismus hat sein Wesen in keiner Hinsicht geändert'."

Wenn auch die Bundesrepublik Deutschland dabei nicht ausdrücklich genannt wird, so kann es wohl kaum zweifelhaft sein, daß auch die heutige, von der sozialliberalen Koalition regierte Bundesrepublik von Albert Norden zu dem „Inperialismus, der sein Wesen in keiner Hinsicht geändert hat", gerechnet wird.

* Für die heutige SED-Führung kann es also keine Konvergenz in dem Sinne geben, daß auch sie sich wandelt — geschweige denn, daß sie bereit wäre, auch bei sich selbst „systemüberwindende Reformen" durchzuführen. Eine Neuvereinigung Deutschlands wäre nach ihren Vorstellungen nur dann möglich, wenn die Bundesrepublik bereit wäre, ihr eigenes politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches System völlig dem der DDR anzugleichen.

Dann aber wären wir weit von dem entfernt, was Heimann als Synthese von Sozialismus, Demokratie und Freiheit anstrebt. Von Freiheit und Demokratie könnte nur noch sehr wenig die Rede sein; und die dann in ganz Deutschland realisierte Form des Sozialismus wäre sicherlich sehr verschieden von dem, was die Mehrheit der westdeutschen Sozialisten als bessere und gerechtere Form der Ordnung menschlichen Zusammenlebens erhofft.

Auch Heimann will ein in solcher Form und unter solchen Vorzeichen wiedervereinigtes Deutschland sicherlich nicht; aber unter den heute gegebenen Voraussetzungen würde das die Wirklichkeit sein und nicht der freiheitlich-demokratische Sozialismus.

Heimann wirft dem Denken, das der gescheiterten früheren Wiedervereinigungspolitik zugrunde lag, vor, es sei irrational und emotional gewesen Für seine eigene Vision, so fürchte ich, gilt das ebenfalls.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Berlin 1913 (Ausgabe 1923), S. 335, zitiert nach Paul Jostock, Der Ausgang des Kapitalismus, München und Leipzig 1928, S. 109.

  2. Wl. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. In: Lenin, Werke, dt. Ausgabe, Bd. 22, Berlin(-Ost) 1960, S. 191— 309.

  3. 2. Halbband, S. 1009/1010, München und Leipzig 1927.

  4. Deutsche Übersetzung: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. 2., erweiterte Auflage Bern 1950.

  5. Ebda. S. 261/262.

  6. A. a. O„ S. 262- 264.

  7. Zitiert nach Boris Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU 1903- 1961, Köln 1962, S. 144.

  8. Wie Brzezinski-Huntington ausführen, „ist die Konvergenztheorie nicht nur eine abstrakte intellektuelle Position, sondern auch eine Quelle des Optimismus für viele und eine Quelle der Rechtfertigung für alle. /Die einzigen, die sich der Theorie augenscheinlich nicht anschließen, sind die Sowjets selbst, die entschieden an ihrem eigenen , Schwarz-Weiß-Bild‘ von der Welt festhalten ... Und doch haben selbst die Sowjets ihre eigene These einer . Konvergenz auf weite Sicht': nämlich die, daß die ganze Welt schließlich kommunistisch sein werde." (Zbigniew K. Brzezinski und Samuel P. Huntington, Politische Macht. USA/UdSSR. Ein Vergleich. Köln 1966, S. 26/27).

  9. Vgl. als neueste zusammenfassende Darstellung: H. -H. Höhmann, M. C. Kaser, K. C. Thalheim (Herausgeber), Die Wirtschaftsordnungen Osteuropas im Wandel. Ergebnisse und Probleme der Wirtschaftsreformen. 2 Bde., Freiburg i. B. 1972.

  10. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 36— 37/72 vom 2. 9. 1972.

  11. Heimann, a. a. O., S. 15. Heimann zitiert hier westliche „linke Theoretiker"; doch entspricht die von ihm wiedergegebene Auffassung sicherlich auch seiner eigenen.

  12. Ebda., S. 19.

  13. Ebda., S. 25.

  14. Nur am Rande sei angemerkt, daß Heimann gegenüber dem Ost-West-Gegensatz, den er durch Konvergenz in Richtung auf demokratischen Sozialismus beseitigen will, den „Nord-Süd-Gegensatz", d. h. das Problem des Verhältnisses der entwickelten Industrieländer zu den wirtschaftlich unterentwickelten Ländern, ganz unberücksichtigt läßt.

  15. Heimann, a. a. O., S. 24/25.

  16. Vgl. dazu die umfassende und gründliche Untersuchung von Kurt Dopfer, Ost-West-Konvergenz. Werden sich die östlichen und westlichen Wirtschaftsordnungen annähern?, Zürich und St. Gallen 1970.

  17. An anderer Stelle (S. 25) prägt Heimann selbst die ausgezeichnete Formulierung, daß der „herrschende Kommunismus ... noch immer der Kommunismus der Herrschenden ist."

  18. „Neues Deutschland" vom 21. 9. 1968.

  19. „Neues Deutschland" vom 6. 2. 1973.

  20. Im Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion von 1961 heißt es im Kapitel VIII des ersten Teils (nachdem kurz vorher „die heutige rechte Sozialdemokratie" als „die wichtigste ideologische und politische Stütze der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung" bezeichnet wird): „Die friedliche Koexistenz bildet die Grundlage des friedlichen Wettbewerbs zwischen Sozialismus und Kapitalismus im internationalen Maßstab und stellt eine spezifische Form des Klassenkampfes zwischen ihnen dar. Indem die sozialistischen Länder sich konsequent für die friedliche Koexistenz einsetzen, streben sie nach unablässiger Festigung der Positionen des sozialistischen Welt-systems in seinem Wettstreit mit dem Kapitalismus. Bei friedlicher Koexistenz hat die Arbeiterklasse der kapitalistischen Länder günstigere Kampfmöglichkeiten, fällt es den Völkern der kolonialen und abhängigen Länder leichter, für ihre Befreiung zu kämpfen." (Zitiert nach Boris Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 bis 1961, Köln 1962, S. 184).

  21. a. a. O„ S. 979.

  22. Heimann, a. a. O., S. 16 ff.

  23. Im Artikel „Sozialistische Ideen und Lehren. I. Sozialismus und Kommunismus", Wörterbuch der Volkswirtschaft, 4. Auflage. Bd. 3. Jena 1933, S. 273.

  24. Sie waren es auch für Marx nicht. In seinen aus dem Nachlaß herausgegebenen Bemerkungen „Zur Kritik des sozialdemokratischen Parteiprogramms" (des „Gothaer Programms") unterschied er die erste und die höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft. In der Sprache des So-

  25. Im „Kommunistischen Manifest" heißt es: „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen, als alle vergangenen Generationen zusammen."

  26. So im Programm der KPdSU von 1961; Meissner, a. a. O., S. 147.

  27. Vgl. dazu als kritische Analyse u. a. Christian Watrin, Spätkapitalismus? In: Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft, Köln 1968, S. 40— 61.

  28. Hier ist nur ein Hinweis auf die wichtige Frage möglich, ob sich aus den Lehren des klassischen Marxismus die Forderung totaler „Vergesellschaftung" der Produktionsmittel ergibt oder ob diese nicht auch nach den genannten Lehren mindestens in den Fällen in Privateigentum belassen werden könnten, in denen ihre Nutzung ausschließlich durch den Eigentümer erfolgt (Kleinbauern, Einzelhandwerker) .

  29. Tübingen 1963, S. 139.

  30. Horst Heimann (S. 20- 22) beschränkt seine Kritik am Kapitalismus im wesentlichen auf die ungerechte Vermögensverteilung, die Herausnahme der wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse aus demokratischer Meinungs-und Willensbildung und Kontrolle, die Orientierung ökonomischer Entscheidungen am Gesichtspunkt des höchsten Profits und, daraus resultierend, eine Produktion „an den wirklichen Bedürfnissen vorbei". So sicher in allen 4 Punkten Richtiges steckt, so sicher lassen sich auch in allen Punkten schwerwiegende Einwände gegen die Heimannsche Argumentation machen. So geht Heimann z. B. bei seiner Kritik an der Vermögensverteilung von den bekannten Krelleschen Zahlen über die Verteilung des industriellen Produktiv-vermögens aus, argumentiert aber im weiteren so, als ob es sich um die Vermögensverteilung schlechthin handele. Auch die Behauptung vom Vorbeiproduzieren an den wirklichen Bedürfnissen ist in dieser Form undifferenziert und weit übertrieben.

  31. In der Bundesrepublik Deutschland wurden in den letzten Jahren z. T. noch höhere Anteile erreicht. So verteilte sich im Jahre 1971 z. B. das Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik Deutschland in Höhe von 756, 1 Mrd. DM folgendermaßen:

  32. Dennis Meadows u. a.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart 1972. Dieser Bericht wird von Horst Heimann (S. 22) als Beweis für den „durch die Orientierung am Profit bedingten Sachzwang des privatkapitalistischen Wirtschaftssystems“ angeführt. Heimann übersieht dabei völlig, daß es gerade die sowjetkommunistischen Länder sind, die das Wirtschaftswachstum geradezu zum Idol ihrer Wirtschaftspolitik gemacht haben. Die Probleme der Umweltverschmutzung beschränken sich auch keineswegs auf „kapitalistische" Länder; sie machen z. B.der Führung in der DDR nicht geringe Sorgen. Vgl. dazu auch Hans Hermann Hohmann und Gertraud Seiden-stecker: Umweltschutz und ökonomisches System in Osteuropa. Berichte des Bundesinstituts -für ost-wissenschaftliche und internationale Studien 49/1972, Köln 1972.

  33. Wilfred Beckerman, Naturwissenschaftler, Wirtschaftswissenchaftler und Umweltkatastrophe. (Kieler Vorträge, N. F. 73) Tübingen 1972.

  34. Der ökonomische Wettkampf zwischen West und Ost hat dabei eine nicht geringe Rolle gespielt, da der Sowjetkommunismus die ökonomischen Vorzüge seines Wirtschaftssystems durch das angeblich raschere Wirtschaftswachstum zu begründen suchte und das „Einholen und Überholen der entwickelten kapitalistischen Länder" schon unter Stalin, dann aber besonders unter Chruschtschow in der Sowjetunion und Ulbricht in der DDR zur „ökonomischen Hauptaufgabe" erklärt wurde.

  35. Ob es in einer ferneren Zukunft einmal eine Lage der Menschheit geben kann, in der wirtschaftliches Wachstum nicht mehr nötig ist, muß hier aus räumlichen Gründen unerörtert bleiben.

  36. Ebenfalls aus Gründen räumlicher Beschränkung muß hier auf einen Nachweis verzichtet werden; dieser ist aus einer ganzen Reihe von Gründen mit vielen teils in der Sache, teils in der Möglichkeit der statistischen Berechnungen liegenden Komplikationen verbunden. Jedoch sei wenigstens auf zwei grundsätzliche wichtige Erwägungen hingewiesen, die in der öffentlichen Diskussion leicht übersehen werden: 1) ein Vergleich der Wachstumsgeschwindigkeit ist nur dann sinnvoll, wenn es sich um Volkswirtschaften mit annähernd gleichem Entwicklungsstand handelt, also z. B. zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland oder zwischen der Tschechoslowakei und Österreich. 2) Ein Urteil über die

  37. Hier ist der Einwand zu erwarten, daß heute auch in den entwickelten westlichen Industrie-ländern Unternehmerfunktionen in der Großwirtschaft nicht mehr, wie im Modell des klassischen Liberalismus, von den Kapitaleignern, sondern von Angestellten wahrgenommen werden (was z. B. von einem nichtsozialistischen Nationalökonomen wie John Kenneth Galbraith in seinem weitverbreiteten Buche „Die moderne Industriegesellschaft", deutsch 1967, sehr stark betont wird). Das ist richtig, aber nicht entscheidend. Einmal ist der Entscheidungsspielraum der angestellten Unternehmensleiter im „Kapitalismus" erheblich größer als der der „sozialistischen Manager"; zum anderen wird dabei der Wirtschaftsbereich, in dem noch persönliches Unternehmertum wichtig ist, unterschätzt.

  38. Joseph Schumpeter hat in seinem Frühwerk „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" (1912, 5. Aufl. 1952) diese Rolle des Unternehmers als desjenigen, der „die neuen Kombinationen" durchsetzt, mit besonderem Nachdruck herausgearbeitet.

  39. Gregory Grossman, Economic Systems. Englewood Cliffs 1967, S. 3. (Übersetzung des obigen Zitats von mir. Th.)

  40. Um jedes Mißverständnis auszuschließen, möchte ich ausdrücklich feststellen, daß ich den hier verwendeten Begriff „Sozialismus" nicht mit den wirtschaftspolitischen und erst recht nicht mit den politischen und gesellschaftspolitischen Zielen eines großen Teiles der westlichen Sozialdemokratie gleichsetze.

  41. Wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß es schwierig (nach meiner Meinung jedoch nicht unmöglich) ist, objektive Kriterien für die generelle ökonomische Effizienz von Wirtschaftssystemen zu finden. Sehr viel geringer ist diese Schwierigkeit jedenfalls beim Vergleich des materiellen Standards der Arbeitnehmer.

  42. Ich übersehe dabei nicht, daß die Startbedingungen in der DDR ungünstiger waren als in der Bundesrepublik; aber zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Reparationsperiode — das war 1953 — kann dies nicht mehr als wesentliche Erklärung für die noch immer beträchtliche Differenz im materiellen Niveau (z. B. auch in der Arbeitsproduktivität) herangezogen werden, über die Fakten vgl. vor allem: Bericht der Bundesregierung und Materialien zur Lage der Nation, hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1971; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DDR-Wirtschaft. Eine Bestandsaufnahme. Frankfurt a. M. 1971.

  43. Bezogen auf „die vollbeschäftigten Arbeiter und Angestellten der volkseigenen Betriebe".

  44. Quellen: Statistisches Jahrbuch 1972 der DDR, S. 73; Statistisches Jahrbuch 1972 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 472 und 479.

  45. Quelle: Bericht der Bundesregierung, a. a. O., S. 365.

  46. Es soll nicht übersehen werden, daß die Mieten in der DDR beträchtlich niedriger sind als in der Bundesrepublik. Dies ist beim Kaufkraftvergleich jedoch berücksichtigt. Außerdem gehen die niedrigen Mieten z. T. auf Kosten der Erhaltung des Wohnungsbestandes.

  47. Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR 1972, S. 432; Statistisches Jahrbuch 1972 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 389.

  48. Quelle: Bericht der Bundesregierung, a. a. O., S. 398.

  49. Karl Marx, Das Kapital. Bd. 1 (Ost-) Berlin 1947, S. 78.

  50. Ebda. S. 85.

  51. Auf das (im übrigen auch von Horst Heimann nicht erwähnte) jugoslawische System einzugehen, ist in diesem Aufsatz aus räumlichen Gründen leider nicht möglich. Gerade in dem Zeitpunkt, in dem der Aufsatz niedergeschrieben wird, erscheint das Schicksal dieses im Vergleich zum Sowjetkommunismus zweifellos wesentlich freiheitlicheren sozialistischen Systems wieder in Frage gestellt. Es wird auch von den zahlreichen westlichen Sympathisanten dieses Systems in der Regel übersehen, daß die jugoslawischen Werktätigen in erheblichem Maße am Risiko des unter Arbeiterselbstverwaltung stehenden Unternehmens beteiligt sind, da ihr Arbeitseinkommen wesentlich von der Höhe des Unternehmens-gewinns abhängt.

  52. Dabei soll, was die DDR anlangt, die Mitwirkung der Gewerkschaften (vor allem durch die betrieblichen Gewerkschaftsleitungen) sowie bestimmter Vertretungsorgane der Belegschaften (Produktionskomitees in Großbetrieben, Gesell-

  53. In: Der Strukturwandel der Wirtschaftssysteme in den osteuropäischen Ländern, Zürich 1971, S. 38.

  54. In: Monopolsozialismus. Offener Brief an die Mitglieder der Grundorganisation der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und an die Mitglieder der Hochschulorganisation des Verbandes sozialistischer Jugend an der Warschauer Universität, Hamburg 1969, S. 13.

  55. In: Kursbuch No. 30, Dez. 1972, S. 1. Das gleiche Heft des gewiß nicht antikommunistischen „Kursbuchs" enthält außerdem 5 Aufsätze über die DDR, die CSSR, Korea und Kuba, in denen die Wirklichkeit dieser sozialistischen Länder recht kritisch beurteilt wird.

  56. Ebda. S. 16/17.

  57. Letzteres wird zwar von Heimann nicht ausdrücklich erwähnt, ergibt sich aber zwangsläufig aus seinen Vorstellungen über die „Überwindung" der heutigen westlichen Wirtschaftssysteme, auch aus seiner Formulierung einer „gesellschaftlich geleiteten und kontrollierten Wirtschaftsordnung", in der „neue Kriterien für ökonomische Entscheidungen und Prioritäten erforderlich sind." (S. 22)

  58. Das ist allerdings beim jugoslawischen System der Arbeiterselbstverwaltung der Betriebe anders. Doch hat dieses wieder seine spezifischen Probleme und Schwierigkeiten, wie oben (Anm. 51) kurz angedeutet wurde.

  59. Vom 23. 2. 1973.

  60. Heimann, a. a. O., S. 8.

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Karl C. Thalheim, Dr. rer. pol., em. o. Prof., Nationalökonom, geb. am 26. Mai 1900 in Reval (Estland), Mitgründer und langjähriger Leiter der Abteilung für osteuropäische Wirtschaft des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin, Mitglied des Direktoriums des Ostkollegs der Bundeszentrale für politische Bildung in Köln, des Forschungsbeirates beim Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen und des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Mitherausgeber der Zeitschrift „ Osteuropa-Wirtschaft". Veröffentlichungen u. a.: Sozialkritik und Sozialreform bei Abbe, Rathenau und Ford, 1929, Autarkie — weder Ziel noch Schicksal, 1933; Grundzüge des sowjetischen Wirtschaftssystems, 1962; Die Wirtschaft der Sowjetzone in Krise und Umbau, 1964; Beiträge zur Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsordnung. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, 1965. Zahlreiche Beiträge in Sammelwerken und Zeitschriften.